Lauffer PS <strong>Wortbildung</strong> SS 2009Häusermeer („Numerusfuge“), Kinderchen. In diesen Fällen dienen die Flexive allerdings nicht mehr dersyntaktischen Anpassung.Das Präteritum-Flexiv –t- in leg-t-est steht nicht am Ende der Konstruktion. Doch: es kann überhaupt nichtam Ende stehen! Und keinesfalls kann nach dem –t- ein Derivativ antreten. Die beiden Flexive von legtestehen also zusammen am Wortende.• KompositionalitätsprinzipDas Kompositionalitätsprinzip gilt bei der Flexion uneingeschränkt, die Konstruktion ist voll transparent.Derivationen unterliegen wie alle <strong>Wortbildung</strong>en dem Prozess der Idiomatisierung.• LexikalisierungFlexionsformen werden nicht lexikalisiert.• RestriktionenInnerhalb der Flexionsklassen gibt es keine Restriktionen wie bei der <strong>Wortbildung</strong>.4.2. ZuordnungsproblemeFolgende Formen erlauben ein zusätzliches adjektivisches Flexiv rechts von der Grundform:• Partizip II: das bestand-en+e Examen, ein geglück-t-es Examen• Partizip I: schnatter-nd+e Gänse• Gradation: eine größ-er+e Freude.Man kann die Suffixe –en, -et, -nd usw., die dem Adjektivflexiv vorausgehen, deshalb auch als adjektivbildendeDerivative und die Basis als Adjektiv auffassen. Sprachgeschichtlich wäre eine solche Analyse vorzuziehen, dadie Partizipien eigentlich Verbaladjektive sind, die nicht zum Flexionsparadigma des Verbs gehören.Das Partizip II ist heute allerdings wie der Infinitiv im Flexionsparadigma grammatikalisiert (bei denperiphrastischen Verbformen), so dass diese Formen in der Regel mit Recht zur Flexion gerechnet werden.4.3. Diachronische PerspektiveIn diachronischer Perspektive gibt es Übergänge vom Derivativ zum Flexiv (selten auch umgekehrt), z.B.• ge- als perfektivierendes Präfix > Flexiv zur Bildung des analytischen Perfekts• flug-s, eilend-s Flexiv > Derivativ• Passivparaphrasen wie Das Haus blieb ungebaut, Das Buch blieb ungelesen: hier erscheint das zur<strong>Wortbildung</strong> gehörende Präfix un- grammatikalisiert zusammen mit Kopula und Partizip II.4.4. Synchronische PerspektiveSynchronisch ergibt sich ein Kontinuum mit prototypischer Struktur:• Kasus sind flexivischer als Plural, das Diminutiv ist flexivischer als das Nomen agentis.• Skalenenden: Kasus ⇔ KompositumTeil II. Wortstammbildung (= <strong>Wortbildung</strong>)5 Theoretische Grundbegriffe der <strong>Wortbildung</strong>Analogie. Innerhalb der produktiven <strong>Wortbildung</strong>stypen folgen Neubildungen typischerweise dem formalenund semantischen Muster lexikalisierter Bildungen. Man spricht in solchen Fällen der Nachahmung einzelnerWörter von Analogie. Wenn das Muster nicht genau kopiert wird, können analogische Musternachahmungenauch zu Regelveränderungen führen.Inkorporation. Sonderfall der Univerbierung, s.d.Kern. Diejenige Konstituente einer Konstruktion, die die lexikalische Grundbedeutung trägt, z.B. die Basis vonSuffixbildungen: in Lehrer ist lehr- der Kern, -er der Kopf. Im einfachen Stamm und auch in bestimmtenkomplexen Wörtern fallen Kopf und Kern zusammen.Kopf. Diejenige Konstituente einer Konstruktion, die die Kategorie der Konstruktion festlegt, z.B. ein Suffix(freund-lich vs. Freund-schaft) oder die rechte Konstituente eines Kompositums (Eis-becher vs. eis-kalt). DerKopf (engl. head) fordert einen bestimmten Stamm-Typ als Komplement, z.B. -ung einen Verbstamm. Einemorphologische Konstruktion aus Kopf und Komplement ist ebenso aufgebaut wie eine syntaktischeKonstruktion aus Prädikat und Ergänzung (z.B. in Max gähnt).Lexikalisierung. Eigenschaft eines Wortes, bereits ”bekannt” zu sein, also zum ”mentalen” Lexikon derSprecher zu gehören. Die lexikalisierten Wörter einer Sprache heißen auch Lexeme. Sie sind häufigidiomatisiert, müssen es aber nicht sein. Ad-hoc-Bildungen sind neugebildete Wörter, die nicht lexikalisiertSeite | 6
Lauffer PS <strong>Wortbildung</strong> SS 2009sind, Neologismen hingegen sind zwar ebenfalls neue Wörter, aber sie gehören bereits zum sprachlichenRepertoire, sind also lexikalisiert.Modifikator/Modifikation. Modifikatoren sind Konstituenten, die einen Stamm erweitern und modifizieren,aber keinen Einfluß auf die Kategorie und die Grundbedeutung der Konstruktion haben, z.B. Verbpartikel,Präfixe oder die linke Konstituente von Komposita. Modifikatoren sind im Deutschen linksverzweigend undsetzen eine Einheit aus Kopf und Kern voraus. Bei <strong>Wortbildung</strong>sprozessen mit Modifikatoren spricht man vonModifikation oder Modifizierung.Hinweis: Bei Suffixbildungen wie kleinlich oder Zweiglein (Diminutiva) ändert sich durch das Suffix zwarebenfalls weder die Kategorie noch die Grundbedeutung, es liegt jedoch in solchen Fällen keine Modifikation unddamit auch keine Ausnahme von der angegebenen Regel vor.Motivierung, Demotivierung (=Idiomatisierung). Als voll motiviert gilt eine Weiterbildung, wenn ihreformale Struktur und ihre Bedeutung vollständig aus ihren morphologischen Konstituenten und der Funktion der<strong>Wortbildung</strong>sregel herleitbar ist („Kompositionalitätsprinzip“). Man spricht in diesem Fall auch von einertransparenten Bildung. Demotiviert oder idiomatisiert ist eine Weiterbildung dann, wenn eine solcheZurückführung nur noch teilweise oder gar nicht mehr möglich ist. Demotivierung ist ein diachronischer Prozeß,der sich kontinuierlich vollzieht. Manche unterscheiden deshalb zwischen voll-, teil- und demotiviert.Lexikalisierung zum Lexem kann, muß aber nicht mit Idiomatisierung einhergehen.• Ursache der Idiomatisierung sind alle Formen von Sach- bzw. Bedeutungswandel. Hinzutreten kannLautwandel: fahren-fertig, biegen-Bucht, Geselle-Saal.• Endpunkt der Idiomatisierung ist die Isolierung der Konstituenten (Nachtigall, Pausbacke,Heuschrecke, drollig, Argwohn, Stiefmutter; Gugelhupf) oder die völlige Verschmelzung zu einemunsegmentierbaren Stamm (heute, heuer, heint).• Idiomatisierung liegt auch vor beim Übergang vom Stamm zum Affix: -bar, -haft, -lich, -schaft,-heit, -mäßig, erz-, sau-, end- usw.FRAGE: Liegt in Fällen wie Stehsammler, Mausmatte, Warmduscher Idiomatisierung vor?Neubildungen von Wörtern haben in der Regel nicht eine "eigentliche" Bedeutung, die sich aus denKonstitutenten und der Bildungsregel ergibt, und die dann später der Idiomatisierung unterliegt.Vielmehr ist es normal, dass Neubildungen schon im Augenblick ihrer Prägung gegenüber der"wörtlichen" Bedeutung einen Mehrwert haben, also den Eindruck der Idiomatisierung erwecken.Beispiel Gutmensch, Warmduscher: Die usuelle Bedeutung von Wörtern wie Bahnhof, Fahrrad,Gutmensch, Warmduscher war also wahrscheinlich von Anfang an die normale und ist nicht ein Produktder Idiomatisierung.Frage. Wie sind die folgenden Wörter hinsichtlich ihrer Motivierung zu beurteilen: den Gedankengang erfassen,zum Lernen anspornen, eine Neuigkeit erfahren, ein Sprungbrett zum Erfolg? (nach Barz 2004)Produktivität. Eigenschaft einer Bildungsregel, die nach vorhandenen Mustern neue Wörter ”produziert”. Nurnoch schwach produktive Muster heißen auch ”aktiv”. ”Sehr produktiv” und ”unproduktiv” markierenEndpunkte eines Kontinuums. Von den regelhaft möglichen Wörtern werden nur diejenigen gebildet, für die einaktueller oder wiederkehrender Bedarf besteht.FRAGE: Welche der folgenden Suffixe zur Bildung von Substantiven sind heute noch produktiv:-e, -ung, -t, -nis?Restriktionen. "Potentielle" Bildungen können aus unterschiedlichen Gründen ungebräuchlich sein. Sofern derGrund dafür eine grammatische Regel ist (und nicht z.B. fehlender Bedarf für das Wort), nennt man solche FälleRegelbeschränkungen oder Restriktionen.Aufgabe. Ordnen Sie die ungebräuchlichen Bildungen ?Bächchen, Störrischheit, Gottkeit, Armheit, Arbeitung,Sterbung, Reiser, besen, beginnbar, unschwanger verschiedenen Restriktionstypen zu und geben Sie dafürBegründungen.Transposition. Veränderung der syntaktischen Kategorie bei der <strong>Wortbildung</strong>: die Zielkategorie ist nichtidentisch mit der Basiskategorie. Transposition liegt immer dann vor, wenn sich die Kategorie des<strong>Wortbildung</strong>sprodukts gegenüber der des zugrunde liegenden Worts oder Syntagmas verändert. Transpositionist typisch für Suffixbildungen: schön (Adj.) > Schönheit (Subst.). Hinweis: Konversion ist eine Bezeichnungfür einen <strong>Wortbildung</strong>styp, und zwar für solche Wörter, die allein auf Transposition beruhen (s. unten).Seite | 7