Lauffer PS <strong>Wortbildung</strong> SS 2009Menge aller Lexeme ist genau genommen nur sprachhistorisch beschreibbar, da diese Wörter früher gebildetwurden und seitdem mehr oder weniger verändert sein können.• Im Normalfall besteht eine morphologische Konstruktion aus zwei Teilen, ist also binär zu segmentieren:<strong>Wortbildung</strong>sanalyse < <strong>Wortbildung</strong>(s) + Analyse, usw. Dreiteilige Wörter sind in der Regel zweimal binärzu segmentieren (Fahrradschlauchreparatur), oder es eine Konstituente besteht aus einer Wortgruppe(Vierzylindermotor).• Die Konstituenten müssen existieren! Eine Segmentierung, die eine nicht belegbare Konstituente enthält, istfalsch: *Dach-decker.• Gibt es Beschreibungsalternativen, die sich formal nicht entscheiden lassen, kann oft die Semantik denAusschlag geben: fisch(en) < Fisch, und nicht umgekehrt.2. Bestimmung der Flexion.• Wenn dies nicht durch die Aufgabenstellung ausgeschlossen ist, sollte jedes Wort zunächst (im erstenSchritt und in der Regel nur hier!) nach seiner Flexionsform bestimmt werden. Wortformen innerhalbeines Flexionsparadigmas, die kein Flexiv enthalten, heißen auch unmarkiert (z.B. der/dem/den Tisch). DasAdjektiv in adverbialer oder prädikativer Verwendung ist unflektiert.• Beispiel: (dem) Lehrer: Deklination Subst. mask., Dativ Sing., unmarkiert.- (den) teuren (Autos):Deklination Adj. schwache.Flexion, Dativ Pl., Flexiv -en.3. Analyse der <strong>Wortbildung</strong>Erst nach der Bestimmung der Flexionsform folgt die Analyse der <strong>Wortbildung</strong>, und zwar für jedenSegmentierungsschritt getrennt nach drei Gesichtspunkten:(1) <strong>Wortbildung</strong>styp, z.B. Determinativkompositum, Derivation/Suffixbildung, Konversion, usf.(2) Morphologische Beschreibung der jeweiligen Konstituenten (in der Regel zwei, s.o.), z.B. Apfelbäumchen:Grundwort: Bäumchen, Substantiv, Bestimmungswort: Apfel, Substantiv.-Bäumchen: Basis Substantiv Baum, hier in der durch Umlaut mutierten Stammform Bäum- . Suffix(Derivativ) -chen. Keine Transposition.(3) Beschreibung der Motivationsbedeutung: „Paraphrase”Die semantische Paraphrase der <strong>Wortbildung</strong> erfolgt wie die formale Beschreibung für jede Analysestufegetrennt.Wichtig: Die „Paraphrase” soll nicht die aktuelle Bedeutung oder die lexikalisierteGebrauchsbedeutung(en) des Wortes beschreiben, sondern die strukturelle Bedeutung, die seiner Bildungzugrunde liegt (d.h. durch die es motiviert ist: „Motivationsbedeutung“). In der Regel sind die lexikalischenBedeutungen eines Wortes viel spezifischer als seine Strukturbedeutung. Idiomatisierung liegt vor, wennsich die lexikalische Bedeutung nicht mehr aus der Struktur der <strong>Wortbildung</strong>, d.h. aus der Bedeutung bzw.Funktion der Konstituenten + der Funktion der Bildungsregel erklären lässt. In solchen Fällen kann/soll aufeine Rekonstruktion der strukturellen Bedeutung verzichtet werden. Notwendig ist dann die Bemerkung„idiomatisiert”.Beachten Sie bei der Paraphrase unbedingt folgende Richtlinien:Komposition: Die Paraphrase soll(1) die Konstituenten des Kompositums (jeweils in ihrer Wortart!) enthalten,(2) in möglichst allgemeiner Form die semantische Beziehung zwischen ihnen rekonstruieren.Beispiel: Tischtuch: ”Tuch, das den Zweck hat, auf dem Tisch zu liegen” (finale+lokale Relation). WichtigeRelationen sind u.a.: Funktion, Medium (Instrument), Affiziertes Objekt, Effiziertes Objekt, Aktor, Ort, Zeitusw., s. dazu unten Punkt 4 Terminologie.Die Paraphrase durch ein Genitivattribut ist nicht ausreichend, da in einer solchen Konstruktion diesemantische Beziehung zwischen den Konstituenten nicht zum Ausdruck kommt: weder in Kindergeschreinoch in Geschrei der Kinder kommt die Agens-Rolle von Kinder zum Ausdruck!Derivation / Konversion: Die Paraphrase soll(1) die Basis enthalten (möglichst in der zugrunde liegenden Wortart!),(2) die Funktion des Affixes bzw. der Konversion wiedergeben. Beispiel: Les-ung: ”Tätigkeit zu lesen”(Nomen actionis, idiomatisiert).- Häus-chen: ”kleines/nettes Haus” (Diminutiv / Hypokoristikum), Lesen:Seite | 24
Lauffer PS <strong>Wortbildung</strong> SS 2009”Tätigkeit zu lesen” (Nomen actionis).(3) Wichtig ist in jedem Fall, dass in der Paraphrase die Wortart des zu paraphrasierenden Wortes zumAusdruck kommt! Also nicht durch Sätze paraphrasieren, z.B. für Lesung *“jemand liest etwas“ oder fürSchönheit *“etwas ist schön“!4. Terminologie zur Beschreibung der strukturellen Bedeutung komplexer WörteragentivBienenhonig. Dichterlesung, Säugetier(s. auch Nomen agentis. Als syntaktische Funktion typischerweise Subjekt)augmentativ Hochgenuß, Vollgas, Riesenfreude, Höllenkrach, Bullenhitze, Bombenrolle, endgeildiminutiv Kindchen, Männlein, kränkeln, Minirockdurativkränkelnfaktitiverhellen, zermürben,finalFischmesser, Kleiderschrank, Strandanzug, wasserdichtkausalSchmerzensschrei, Niespulver, regenfeuchtgraduativ blutjung, heilfroh, uralt, saubillig, superleicht, hypermodernhyponymisch Walfisch, Tannenbaum, Seidenstoffidentifikativ s. hyponymischinchoativ einschlafen, entbrennen, erklingeninstrumental Merkblatt, handgeschrieben, brieflich, Wecker, Hebel, telefonierenintensivierend befragen, verfolgeniterativGebelle, hüsteln, tröpfelnkausativbegradigen, verunreinigen, einschläfernkollektiv Menschheit, Lehrerschaft, Bürgertum, Laubwerk, Rechtswesen, Gebirgekomparativ Kugelfisch, Mondgesicht, grasgrün, löwenhaft, lehrbuchmäüig, närrisch, affig, monströs,monumentalkonsekutiv siedeheißkopulativ rotgrün, Nordost, Garmisch-PartenkirchenlimitativSehvermögen, denkfaul, lebensfremd, schulisch, ärztlich, verkehrsmäßig, finanzielllokalNomen lociBierfass, Büroarbeit, augenkrank, knietief, ofenwarm, seiltanzen, auslaufen, Aufwind, Schmiede,Gärtnerei, GefängnismaterialHolzfass, Blumenstrauß, holzgeschnitzt, golden, blechernmensurativ kilomerlang, tonnenschwermodalSilberstreif (s. auch komparativ)moviertStudentin, GänserichNomen acti Schwellung, ErzeugnisNomen actionis Behandlung, Lauferei, Pflege, Gesang, Reparatur, SchwimmenNomen qualitatis Schönheit, FanatismusNomen agentis Dichter, Lehrling, Wüterich, Dirigent, BibliothekarobjektivVolesungsverzeichnis, Umhängetasche, Brathering, danksagen, Lohnverzicht,steuerfrei, fälschungssicher (evtl. als zugrundeliegende Valenzbeziehung: Objekt)ornativDeckelvase, bekleiden, motorisieren, bebrillt, glücklich, tückisch, waldigpartitivBaumwurzel, Tischfuß. München-Pasing (s. kopulativ)pejorativ Getue, Gehämmere, Singereiperfektiv, resultativ erarbeiten, verheizen, ausheilen, zerdrücken, begradigen, mattierenpossessiv Gemeindewald, Rotkehlchen, Dickkopfprivativ, reversativ entkleiden, desinfizieren, schälen, sinnlos, unweit, asozial, inaktiv, dezentral, antidemokratischprohibitiv Beißkorb, Fliegengitterqualitativ, Schönwetter, Blaulicht, hellblau, glatthobeln. (s. auch Nomen qualitatis)prädikativresultativ s.perfektivsoziativMitschüler, mitmachentemporal Montagsauto, Abendessen, Sendetermin, nachtblindthematisch <strong>Wortbildung</strong>sseminar, BedeutungslehreVgl. auch Eichinger 2000 : 118-120, Altmann-Kemmerling 2000.Seite | 25