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Zeitschrift für Sprachein der deutschen Schweiz<strong>SchweizerDeutsch</strong>1/<strong>13</strong>Dialekt und sprachkulturelleVerständigungUufpassä, nüd aapassä!Ernst BurrenJulian DillierMeinrad Lienertzüritüütschi wortfamilie


MULTILINGUA – DIALEKT UNDSPRACHKULTURELLE VERSTÄNDIGUNGTAGUNGMontag, 24. Juni 20<strong>13</strong>, <strong>13</strong>.00 – 17.30 UhrHaus der Kantone, Speichergasse 6, Bernin Zusammenarbeit mitForum für ZweisprachigkeitCoscienza SvizzeraLCHSRG SSRrs. Als Kompetenzzentrum für sprachkulturelleVerständigung fördert dasFORUM HELVETICUM die Verständigungin Gesellschaft, Politik, Wirtschaftund Kultur. Es setzt sich insbesonderefür die Verständigung zwischen denSprachgemeinschaften in der Schweizund die nationale Kohäsion ein, unterBerücksichtigung der Stellung derSchweiz in der Völkergemeinschaft.Die Tagung in Bern gehört in denRahmen des umfassenderen Forum-Projekts MULTILINGUA – DIALEKTUND SPRACHKULTURELLE VERSTÄN-DIGUNG. Mit diesem Projekt will dasForum die neuen Entwicklungen imSpannungsfeld Dialekt/Hochdeutschund in der Verständigung zwischenden Sprachregionen aufgreifen undMassnahmen zur Verbesserung problematischerAspekte vorschlagen oderteilweise selbst umsetzen. Mit einigenStreiflichtern auf die Problemfeldermöchten wir einen Beitrag zur Vorbereitungdieser aktuellen und wichtigenTagung leisten und zur Teilnahmeaufrufen.Teilnehmerzahl beschränkt. Anmeldung über www.forum-helveticum.ch oder Telefon 062 888 01 25PROGRAMM<strong>13</strong>.00 Uhr Eröffnung<strong>13</strong>.15 Uhr WorkshopsThema: Dialekt und Hochdeutsch in der Deutschschweiz aus derPerspektive der Verständigung zwischen den Sprachregionen unddes nationalen ZusammenhaltsZiel: Bestimmung der Massnahmen aus dem Vorschlagskatalog, diekonkret umgesetzt werden können. Dieser Katalog zur Verbesserungoder Behebung problematischer Aspekte der Thematik wurde vonArbeitsgruppen in drei Sprachregionen vorbereitet.15.30 Uhr Zusammenfassungen der Workshop-Arbeiten16.00 Uhr PodiumsgesprächHans Ambühl, Generalsekretär Schweizerische Konferenz der kantonalenErziehungsdirektoren (EDK)N.N., Vertretung Französische SchweizVerio Pini, Vorstandsmitglied Coscienza Svizzera, Sekretär Deputazioneticinese alle Camere federaliMariano Tschuor, Mitglied Geschäftsleitung SRG SSR, Direktor RadiotelevisiunSvizra RumantschaBeat W. Zemp, Zentralpräsident Dachverband Schweizer Lehrerinnenund Lehrer LCHModeration: Christophe Büchi, Welschlandkorrespondent NZZ17.00 Uhr Diskussion mit dem Publikum17.30 Uhr Ende der Tagung<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>2


«Hochdeutsch und Mundart nichtgegeneinander ausspielen»«Mundart und Hochdeutsch geniessen in der Deutschschweiz beide einenhohen Prestigewert. Wir können uns freuen, zwei derart geschätzteSprachvarianten zu besitzen. Die Dialekte sollen weiterhin in ihrerVielfalt gepflegt werden und bessere Hochdeutschkompetenzen dürfennicht auf Kosten der Mundart erfolgen. Es ist nur kontraproduktiv, beider Debatte Mundart und Hochdeutsch gegeneinander auszuspielen.»(Stellungnahmen und Vorschläge 2)rs. Auch wenn noch 2005 die Hälfte der befragten Deutschschweizerdas Hochdeutsche als ihre «erste Fremdsprache» bezeichneten,bestätigt sich in den Vorgaben zur Forums-Tagung das geflügelteWort von Hugo Loetscher: «Wir sind zweisprachig innerhalb dereinen Sprache» – Hochdeutsch und Schweizerdeutsch sind Variantenein und derselben Sprache. Sie nicht gegeneinander auszuspielenist eine – ganz entscheidende – Haltung. Eine zweite liesse sichpositiv formulieren, nämlich: Schweizerdeutsch und Hochdeutschin ihren Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen zu sehen undzu brauchen.«Mundart und Hochdeutsch: jedes an seinem Ort» hiess eineMaxime vor hundert Jahren. «Mundart und Hochdeutsch sachundsituationsgerecht» könnte es heute heissen. Denn die beidenVarianten sind nicht in einfache Gegenüberstellungen wie «gesprochen– geschrieben», «Herz – Kopf», «spontan – strukturiert»zu fassen. Sowohl die Varietät «Mundart» wie die Varietät «Hochdeutsch»verfügen je für sich über ein reiches Repertoire von situativen,inhaltlichen und stilistischen Registern und Mustern.Meinungen und Einstellungen zur Sprache und ihren Formenstimmen oft nicht (oder nicht mehr) mit dem sprachlichen Verhaltenund sprachlichen Befunden überein. Sie gehören zu Konventionenund Erwartungen, die es von Zeit zu Zeit zu hinterfragen gilt,besonders wenn es um Leitlinien für den Sprachgebrauch und dieSprachbildung geht. Darum ist es ausserordentlich verdienstvoll,dass das Forum Helveticum zu einer solchen Standortbestimmungeinlädt. Die Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms habenneue Beurteilungsgrundlagen dafür bereitgestellt.Nationales Forschungsprogramm 56«Während die wissenschaftliche Erforschungder schweizerdeutschen Dialekteeinen sehr hohen Stand aufweist, istdas Schweizer Hochdeutsch vor allemin seiner gesprochenen Form fast gänzlichunerforscht. Diese Forschungslückefüllt das NFP 56 zu einem Teil. Dabeikann festgestellt werden, dass Deutschschweizerin der Lage sind, die Standardsprachesituationsgerecht und aufgutem Niveau zu verwenden – ob sie sienun als ihre «erste Fremdsprache» bezeichnenoder nicht. Die Erforschung deralltäglichen Verwendung des Standarddeutschenund seiner tatsächlichen Formsollte weitergeführt und vertieft werden,da in diesem Bereich viele unreflektierteMeinungen weitertradiert werden.»EMPFEHLUNGDie Untersuchung und ihre Ergebnissesind wichtig für eine zutreffendereBeurteilung der DeutschschweizerSprachsituation undeinen weniger dilettantischen Umgangmit ihr.3<strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


«Ab der Primarschule ist HochdeutschUnterrichtssprache»Eine Kantonsumfrage der EDK zum Schuljahr 2011-2012 zeigt,dass alle Deutschschweizer Kantone ab der Primarschule dieAnwendung von «grundsätzlich Standardsprache» oder «ausschliesslichStandardsprache» vorschreiben. Eine konsequenteAnwendung von ausschliesslich Hochdeutsch wäre zu begrüssen,einerseits im Sinne der Harmonisierung unter den Kantonen,andrerseits weil die Anwendung von Mundart bei gewissen Modulenund Fächern wieder die unter Punkt 3 erwähnte künstlicheAufteilung in «Herz- und Kopfsprache» mit sich bringt.(Stellungnahmen und Vorschläge 9)Vor und nach «PISA»Bis 2005 lag dem Lehrplan der ZürcherVolksschule im Bereich Spracheeine ausgewogene, auf die Sprachsituationund die Sprachbildung gleichermassenabgestimmte Zielsetzungzu Grunde:Für die individuelle Entfaltung der Persönlichkeitund auch für das spätereBerufsleben ist eine differenzierteAusdrucksfähigkeit in Mundart undHochdeutsch von grosser Bedeutung.Zum Bildungsauftrag der Schule gehörtdeshalb die Förderung der Ausdrucksfähigkeitin beiden Sprachformen.2005 strich der Zürcher Bildungsratin dieser Zielsetzung den Bezugauf die Mundart und reduzierte sieeinseitig auf eine «umfassende Förderungder standardsprachlichenKompetenz»:Durch konsequenten Gebrauch von Hochdeutschin allen sprachlichen Handlungsbereichen(Hören und Sprechen, Lesen,Schreiben) wird die standardsprachlicheKompetenz umfassend gefördert.Vgl. <strong>SchweizerDeutsch</strong> 3/11, Seite 17 f.Zwei Thesen der Tagungsunterlagen befassen sich mit der Spracheim Kindergarten und in der Primarschule – und schaffen eine fragwürdigeDiskrepanz. Nach der These für den Kindergarten strebtdieser eine ausgeglichene Förderung von Mundart und Hochdeutschan, nutzt die Chance, beide Sprachvarianten lustvoll undspielerisch einzusetzen und sieht eine Generation herauswachsen,die mit Hochdeutsch unbeschwert umgeht.Im Gegensatz dazu blendet die These für die Primarschuledas Ziel einer umfassenden Sprachförderung aus, beschränktsich auf die «Unterrichtssprache» und schreibtdafür eine «konsequente Anwendung von ausschliesslichHochdeutsch» vor. Als Argument dafür nennt sie als erstesdie «Harmonisierung unter den Kantonen». Das zweiteArgument ist zwar didaktischer Natur, vergisst aber den übergeordnetenVorsatz von These 2 des Tagungspapiers, Mundart undHochdeutsch nicht gegeneinander auszuspielen.Die Diskrepanz zwischen diesen beiden Thesen erinnert an denbedauerlichen Paradigmenwechsel, mit dem der Zürcher Bildungsratin seinem Lehrplan 2005 auf den sogenannten PISA-Schockreagiert hat. Er glaubte, das schreibsprachliche Manko im Hochdeutschen«durch konsequenten Gebrauch von Hochdeutsch inallen sprachlichen Handlungsbereichen» ausgleichen zu können,und vergass darüber, was im bisherigen Zürcher Lehrplan stand:«Zum Bildungsauftrag der Schule gehört die Förderung der Ausdrucksfähigkeitin beiden Sprachformen.» Dies gilt nicht für dieAusdrucksfähigkeit allein. Sprachunterricht in der Deutschschweizheisst, Mundart und Hochdeutsch in ihren formalen, rationalen,emotionalen und funktionalen Gemeinsamkeiten und Besonderheitenund in ihrer Wechselwirkung zu erfahren und zu fördern.<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>4


«Die Rolle der SRG im Zeichen desnationalen Zusammenhalts»«Aussagen zur Rolle der SRG bei der Anwendung von Hochdeutschund Mundart beim Deutschschweizer Radio und Fernsehen SRFsind allgemein sehr kontrovers.»«Gemäss zahlreicher Meinungen aus allen Sprachregionen tragendie nationalen elektronischen Medien eine grosse Verantwortungim Bereich der nationalen Kohäsion, wie sie in der SRG-Konzessionverankert ist.»(Stellungnahmen und Vorschläge <strong>13</strong>)Für die SRG bedeutet «nationale Kohäsion» die Stärkung des nationalenZusammenhalts durch gegenseitige Verständigung und durchAustausch unter den Landesteilen und Sprachgemeinschaften. 2012hat die SRG (in Erfüllung der Motion Maissen) ihre Leistungen fürden sprachregionalen Austausch ausführlich dokumentiert undweitere Massnahmen in Aussicht gestellt. Sowohl eine Publikumsbefragungwie die Stellungnahme des Bundesrats zum Bericht zeigen,dass die SRG bereits vielfältige und anerkannte Leistungen zursprachregionalen Integration erbringt. Handlungsbedarf bestehenoch in der publizistischen Aufarbeitung der Realitäten in den andernSprachgebieten. Dazu könnte man die Sprachregelung in denDeutschschweizer Programmen rechnen, auch wenn diese Fragenim genannten Bericht nicht angesprochen sind. Viele Beobachtungenzeigen aber, dass die Programmgestalter dafür durchaus sensibilisiertsind. Als Beispiel findet sich auf unserer Webseite die Antworteines Sportredaktors auf eine Hörerfrage, in der er begründet, warumes in den Live-Kommentaren zu den Ski-Weltcuprennen manchmalgezielte Sprachformwechsel zwischen Mundart und Hochdeutschgibt, ganz im Sinne eines Handbuchs für Programmmitarbeiter:«Die Wahl der Sprachform (Mundart oder Hochdeutsch) verlangtEntscheide, für die es keine Papier- oder Patentrezepte gibt, weilsie auf zahlreiche und oft gegenläufige Faktoren Rücksicht nehmenmuss.» (Ausbildung Radio und Fernsehen DRS, Radio Praxis).Auch bei der Diskussion von Sprachformregelungen für bestimmteSendungen wie die «Arena» oder «Meteo» sollte manauf die sprachlichen Gegebenheiten der Mitwirkenden Rücksichtnehmen und vor allem zwischen aktiver und passiver Sprachkompetenzunterscheiden.Aus der SRG-KonzessionIn ihren Programmen fördert [die SRG]das Verständnis, den Zusammenhaltund den Austausch unter den Landesteilen,Sprachgemeinschaften, Kulturen,Religionen und den gesellschaftlichenGruppierungen. Sie fördert die Integrationder Ausländerinnen und Ausländer inder Schweiz, den Kontakt der Auslandschweizerinnenund -schweizer zur Heimatsowie im Ausland die Präsenz derSchweiz und das Verständnis für derenAnliegen. Sie berücksichtigt die Eigenheitendes Landes und die Bedürfnisseder Kantone. (Art. 2, Abs. 2)Die SRG trägt bei zur:a) [ ... ]b) kulturellen Entfaltung und zur Stärkungder kulturellen Werte des Landes sowiezur Förderung der schweizerischen Kulturunter besonderer Berücksichtigung derSchweizer Literatur sowie des SchweizerMusik- und Filmschaffens, namentlichdurch die Ausstrahlung von veranstalterunabhängigenSchweizer Produktionenund eigenproduzierten Sendungen.(Art. 2, Abs. 4)5<strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


HELEN CHRISTEN« ... wiu me das vilich nid i dr ganze schwiz verschteit»Empirische Erkundungen zur sozialen Praxis despolydialektalen DialogsVon Ruedi SchwarzenbachWenn sich – wie in der sonntäglichen Talk-Sendung«Persönlich» von Schweizer Radio DRS – zweiDeutschweizer(innen) mit einer Moderatorin odereinem Moderator an den Tisch setzen und sich vorhundert Leuten in einem Saal und Hunderttausendenvon Hörern am Radio über sich selbst, überihr Leben, ihre Wünsche und Träume unterhalten,dann tun sie das in ihren Dialekten (Aargauer-,Thurgauer- und Zürcherdialekt beispielsweise) undes entsteht einer der «polydialektalen Dialoge», vondenen Helen Christen 75 Aufzeichnungen (zu fastso vielen Stunden) ausgewertet hat.Ihre Aufmerksamkeit richtet sich zunächst aufStellen, an denen die Gesprächsteilnehmer Dialektethematisieren, meistens im Sinne einer arealen Zuordnung.So sagt ein Basler Grossvater von seinemEnkel: De seit aso de BÖLLEN u nit BALLEN undreedet züritüütsch. Auch die sogenannte Qualitäteines Dialekts gibt Anlass zu Bemerkungen: Dieortsübliche Aussprache eines Ortsnamens lässt denModerator vermuten, sein Gast spreche «echten»Thurgauer Dialekt – was diesen veranlasst, mit gsaat‹gesagt› und ham ‹heim› gleich zwei Indikatoren für«noch besseren Dialekt» einzubringen. Es isch scho srichtig Tuurgauere, won i han.Am meisten zu reden gibt in diesen «Persönlich»-Sendungen die Verstehbarkeit von Dialekten. Inder Deutschschweiz gilt das «Jeder-spricht-seinen-Dialekt»-Prinzip, das mit der Erwartungshaltungverbunden ist, dass jemand, der von anderswo herkommt,auch einen eigenen Dialekt spricht. Manstellt sich auf areale Variation ein und erwirbt mitder Zeit eine entsprechende rezeptive Kompetenz.Man setzt auch voraus, dass es Dialekte gibt, dieman weniger gut versteht. Aber he, hallo, was solldas mit dem Nichtverstehen der St. Galler??? Es istja noch einigermassen logisch, dass man die Wallisernicht versteht. Aber wir St. Galler sind doch wirklichabsolut problemlos? (aus einem Blog)Die Gäste im «Persönlich» sind sich bewusst,dass sie in dieser Sendung von Hörern aus derganzen Deutschschweiz verstanden werden wollen.Mehr oder weniger bewusst werden sie alsoihre Ausdrucksweise entsprechend modifizieren.Anspruchsvoller ist die Aufgabe für die Moderatorinnenund Moderatoren. Sie müssen sicherstellen,dass die Voten für das Radiopublikum verständlichbleiben. Dafür setzen sie drei Strategien ein: Nachfragen,Neutralisieren und Inszenieren.Die Strategie des Nachfragens ist nur einmal belegt.Ein Gast vermutet, der Moderator kenne dasWort Ankebock nicht und fragt ihn deshalb nach derBedeutung dieses Worts.Unter der Strategie des Neutralisierens verstehtman die erläuternde Nennung einer Variante zumschwer verständlichen Wort, also es Schtuck Holz fürGretzu oder Schpargle für Schpaarse. Christen fragtsich, weshalb die Sprecherin aus Basel nicht zumvornherein die allgemeinverständliche Variantewählt. Der Umweg über den «eigenen» in-group-Ausdruck scheint für sie ebenfalls eine relevanteFunktion zu haben. Sie signalisiert damit «gutesBaseldeutsch» wie im Beispiel weiter oben die Thurgauerinmit gsaat und ham.In einem weiteren Basler Beispiel geht es umGluggere. Bevor der Gast eine Variante gefundenhat, helfen ihm die Moderatorin und der andereGast mit den Heteronymen Chrälleli, Chügeli undChlüüre aus andern Dialekten nach.<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>6


An anderer Stelle variiert eine Bernerin ihr Wortgränne für ‹weinen› mit brüele. Im Hinblick auf dieVerstehbarkeit wäre das nicht «nötig» gewesen, weilin jener Sendung auf dem Podium ohnehin nurBerndeutsch vertreten war. Christen sieht in der zürichdeutschenVariante aber «eine symbolische Hinwendungzu einer andersdialektalen Hörerschaft».Als Beispiel für die Strategie des Inszenierens isteine Anekdote angeführt, in der es um eine schwerverstehbare Äusserung im Rheintaler Dialekt geht.Ich zitiere den längeren Beleg hier in einer (leichtmodifizierten) Form der schriftdeutschen Übersetzung,die der Transkription beigegeben ist:ZHZGZHZGZHZGZHZGja ich wohne jetzt im Rheintal, aber ich habe gelernt dieSprache zu verstehendas ist dann nämlich noch ein weiterer Punkt gewesen,als ich da hinaus gekommen binda habe ich gedacht: wie sprechen denn die da, versteheich ja gar nichtvor allem habe ich eine Haushaltlehrtochter gehabt, dieist unglücklich gewesen, und dann hat sie geweint undhat gesagt: eni wel hoe und ich habe gesagt: was hastdu gesagt? aber das habe ich im Laufe der Zeit gelerntäni wel hoe?eni wel hoedas heisst?ich will nach Hause‹ich will nach Hause› – haben Sie sie nach Hausegelassenes wäre nicht mehr gegangennachdem Sie sie verstanden habenBemerkenswert ist in diesem Beispiel, dass der angeführterheintalische Schlüsselsatz der Anekdote eniwel hoe mit dem ungebräuchlichen Pronomen enifür ‹ich› nicht authentisch sein dürfte, sondern (auchim Tonfall) «inszeniert» ist, um den gewünschten Effektder Nichtverstehbarkeit zu produzieren.In ihrer Bilanz stellt Helen Christen fest, dass dieAnzahl der Stellen, an denen in den 75 Folgen derSendung «Persönlich» die Dialekte der Teilnehmerthematisiert oder die Verstehbarkeit sichergestelltwurde, mit wenig mehr als 30 Fällen verhältnismässiggering ist. Sie zieht daraus den Schluss, dass «dersoziale Umgang mit dialektaler Variation» konventionalisiertist. Den Deutschschweizerinnen undDeutschschweizern steht gleichsam ein Repertoirevon Erzähl- und Dialogmustern zur Verfügung, mitdenen sie routinemässig auf Dialekteigenarten undVerstehensschwierigkeiten hinzuweisen pflegen.Trotz der geringen Zahl von Sendungen, in denen‹schwierige› Dialekte vertreten waren, bestätigt dieUntersuchung, dass die «Sprecherinnen und Sprechervon mittelländischen Majoritätsdialekten tatsächlichgelegentliche Probleme mit der Verstehbarkeit vonvor allem alpinen Minoritätsdialekten haben».Die auch methodisch bemerkenswerte Untersuchunggreift Ansätze der ethnolinguistisch ausgerichtetenDialektforschung auf, knüpft an Ergebnisse vonVerstehbarkeitsuntersuchungen an und setzt Verfahrensweisender Dialoganalyse ein. Sie vermittelt soauch einen aufschlussreichen Einblick in aktuelle Fragestellungender Mundartforschung an unseren Universitätenund zeigt – im Zusammenhang mit demvorangehenden Beitrag über die Tagung des ForumHelveticum – auf, wie sich Haltungen und Strategiender Sprachgemeinschaft in der wissenschaftlichenAnalyse des sprachlichen Alltags – hier der Praxis inden elektronischen Medien – konkretisieren lassen.«...wiu mer das vilich nid ir ganze schwiz verschteit». EmpirischeErkundungen zur sozialen Praxis des polydialektalen Dialogs.In: Sociolinguistica 22 (2008), 24-47.7<strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


«Dialäkt Äpp»Gib öis dini Schtimmuzh. Unser Dialekt verrät unsere Herkunft. Doch woher kommt einSprecher, der vom Huusini, Bitzgi oder Göitschi redet, wenn er dasApfelgehäuse meint? Dialektforscher der Universitäten Zürich undBern haben eine App entwickelt, die die Herkunft von schweizerdeutschenDialekten bestimmt. Mit der App kann man auch dieeigene Aussprache aufnehmen, sie mit aktuellen sowie früherenAufnahmen anderer User vergleichen und somit Daten für die Dialektforschungsammeln.Bei den vielen Dialekten, die das Schweizerdeutsche umfasst, ist diegeografische Zuordnung mitunter anspruchsvoll. Von dieser Beobachtungausgehend, entwickelten Dialektforscher des PhonetischenLaboratoriums der Universität Zürich und Sprachwissenschaftlerder Universität Bern die «Dialäkt Äpp». Anhand der Aussprachevariantenvon 16 schweizerdeutschen Wörtern bestimmt die Appden Dialekt ihrer User. Diese können beispielsweise für das Wort«hinauf» zwischen «ufe», «ue», «ueche», «embrüf» oder «wuehi»die für sie zutreffende Aussprache auswählen und ihren Dialekt lokalisieren.Für die geografische Verortung verwendet die Applikationden Sprachatlas der Deutschen Schweiz, der die Dialekte vonfast 600 Gemeinden umfasst und das Schweizerdeutsche auf rund1500 Karten abbildet. 16 davon haben die Forschenden ausgewählt;anhand der Schnittmenge dieser Karten wird ein Dialekt verortet.Die Forschenden schicken voraus, dass die geografische Verortungnicht für alle Benutzer gleich präzise Resultate liefert, da derSprachatlas das Schweizerdeutsche um ca. 1900 dokumentiert.«Manche Dialekte haben sich in den letzten 100 Jahren weiterentwickelt,und manche Benutzer sprechen durch ihre Biographie bestimmteWörter anders aus, als diese in ihrer Region noch vor 100Jahren ausgesprochen wurden», erklärt Adrian Leemann vom PhonetischenLaboratorium der Universität Zürich. Deshalb kann derBenutzer nach jeder Dialektbestimmung angeben, ob das Resultatauch stimmt. Somit sammelt die App sprachwissenschaftliche Daten,die Aufschluss darüber geben sollten, ob sich die Mundart inden letzten 100 Jahren tatsächlich verändert hat. «Alle Daten werdengesammelt und je nachdem, ob diese stark vom Sprachatlas abweichen,werden wir die App anpassen», ergänzt Adrian Leemann.Benutzerinnen und Benutzer der «Dialäkt Äpp» können damitnicht nur ihren Dialekt bestimmen, sondern diesen auch aufnehmenund abhören, wie andere Schweizer sprechen oder gesprochenhaben. Denn die «Dialäkt Äpp» enthält Aufnahmen aus demPhonogrammarchiv der UniversitätZürich. Wer sein Wissen über SchweizerDialekte erweitern will, wählt einenOrt aus und hört, wie man dortspricht. Ebenso kann er eine Wortvarianteabfragen, z.B. «Murmutz»für Apfelgehäuse, und erfährt, dasssie nur im Oberwallis gesprochenwird. Alle Aufzeichnungen der Usersowie jene des Phonogrammarchivsder UZH werden auf einer SchweizerKarte verlinkt, wo sie mittels Klickabgespielt werden können. Zudemwartet die App wöchentlich mit Informationenzu Herkunft und Bedeutungeines ausgewählten Dialektworts ausdem Schweizerdeutschen Wörterbuch(Idiotikon) auf. «So entdecken die Benutzerdie Vielfalt der Schweizer Dialektlandschaftauf spielerische Art undWeise», schliesst Marie-José Kolly,Doktorandin am Phonetischen Laboratoriumder Universität Zürich.Im Heft 3/12 haben wir von der Entwicklungder «DialäktÄpp» berichtet– jetzt ist sie zum Herunterladenbereit, vorderhand in einer Versionfür Apple I-Phones.<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>8


Renato KaiserUUFPASSÄ, NÖD AAPASSÄ!«Renato Kaiser bietet mit seinen Erzählungen aus der Selbsthilfegruppein Schrift und Ton moralische Stütze für OstschweizerExilanten in der restschweizerischen Diaspora», so das Vorwort– legen Sie die CD ein und wählen Sie Track 9 oder klicken Sieunter www.zeitschriftschweizerdeutsch.ch auf den Link: Dannhören sie den Text zu WOCHE 8, dessen Anfang wir hier als Kostprobeabdrucken.www.derkaiser.ch«Ich bin Spoken Word Künstler, habeeine Million Slams gewonnen (wirklich!),unter anderem in Zürich, Berlin,Hamburg und auf dem Mars und binmit dem Soloprogramm «Er war nichtso – ein Nachruf» unterwegs. Weiteresauf dieser Homepage, Facebook undTwitter.»In seinem Buch erzählt Renato Kaiserin Mundart von den Erlebnissen ausder Selbsthilfegruppe für AnonymeOstschweizer. Als Ostschweizer hatman es (mit seinem Dialekt) nicht leichtund am schwersten als emigrierter Ostschweizer.Renato Kaiser, selbst mitostrandständiger Herkunft Mitgründerder Berner Lesebühne «Rauschdichten»,erzählt ungeschminkt seine Geschichteals Ostschweizer in der Fremde.Renato Kaiser, Uufpassä, nöd aapasse! Erlebnisse ausder Selbsthilfegruppe für Anonyme Ostschweizer. MitAudio-CD. Luzern 2012, Verlag Der gesunde Menschenversand.CHF 28.-.ISBN 978-3-905825-46-6Zerscht hani gmaint, äs segi ä mega guäti Idee, s’Musigbistro z’Bärn als neui Hauptzentralä für d'AO Bärn vörzschloo. Wonidenn aber dött anägangä bi, zum rekognoszierä – konsequenterwiismitm FCSG-Trikot aa – bini schnell wider uf dä harti Bödä vodä Bärner Dialäkt-Doktrin-Realität zrugg gholt wördä. Blöderwiishätt a dem Òòbig im Musigbistro nöd wiä letscht Mol än PoetrySlam schtattgfundä, sondern äs sogenannts Open Mic. Wo jedä,wo will, cha ufd Büüni und öppis machä. I main, i ha jò nöd wörkliwölä. Aber womi diä Bärner uf d'Büüni zerrt und gsait hend, siwürdet mier dä Bärner Bär uf d'Zunge tättowiärä, wenni nöd wörfolgä, isch mier nüt anders übrig blibä als mitzmachä. Diä gemaineChögä hend mi däzuä zwunge, än Text z'schriibä, wo füüf Begriffirer Waal vörchömäd. I dem Fall sind das gsi: BVG-Umwandlungssatz,Suurächabisuflouf, Kaffiraamtächäli, Alphatier und Abschtiig.Mit all denä Wörter hani natürli nüt chönä aafangä. I main, zwaidävo sind scho ämöl i sonäre urvölkischä Barbaräschpròòch gsi,woni nöd verschtandä ha, s'Wòrt ‹Alphatier› überhaupt zsägä, hättüüs dä Dani verbötä, usserd är selber segi im Ruum, s'Wòrt ‹Abschtiig›törf än igflaischte FC-Sanggallä-Fan ee nöd kenä, geschwaigedenn luut uusschprächä und was dä BVG-Umwandlungssatz söttsi, waiss eh niämert wörkli so gnau.Als ‹chlini Hilf› hends mier ä Fläschä Rotwii gee. Diä pärvärsäSiechä! Das hani doch mit mim Schützägartä-Glaubä nöd chönäveriibarä! Aso bini rächt uufgschmissä gsi und dementschprächendfascht verzwiiflät.Aber denn ... denn isch mier ufzmòl öppis in Sinn choo. ÄnSatz, wo ämòl us zwannzg Oschtschwizer EngelsCheelänä im BärnerHauptbaanhof gsungä wòrdän isch, i cha mi nò guät erinnärä,wiäs tönt hätt:‹Niä meee, niä meee, niä meee alai z'Bärn!›9<strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


Neu im Schweizerischen LiteraturarchivArchiv Ernst BurrenEin Markstein in der Sammeltätigkeit des SchweizerischenLiteraturarchivs: Zu den Neuerwerbungen 20<strong>13</strong> gehört jetztauch das Archiv eines Mundartschriftstellers.Bild: www.menschenversand.chSchweizerisches LiteraturarchivNachlässe und SammlungenNeuerwerbungen 20<strong>13</strong>Ernst Burren übergibt sein Archivdem Schweizerischen Literaturarchiv.Der gebürtige Solothurner gilt als Erneuererder Mundartliteratur in der Schweiz.Sein Archiv umfasst Manuskriptheftemit Entwürfen und Typoskriptfassungen.Seine literarische und persönliche Korrespondenzenthält Briefwechsel u.a. mitGerhard Meier. Persönliche Dokumenteund Fotos aus der Jugend, der Lehrertätigkeit,Urkunden und Preise dokumentierenBurrens biographischen Weg.Eine vollständige Sammlung von Rezensionen,Belegexemplare, audiovisuelleDokumente und Widmungsexemplarerunden den Bestand ab.www.nb.admin.ch/sla«Der Chronist vom Lande»rs. So überschreibt Thomas Widmer sein treffliches Porträt desSchriftstellers im Tages-Anzeiger vom 12.12.2012. «Wer erfahrenwill, wie es um unser Land, seine Menschen, seine Dörfer steht, liestBurren. Oder besucht ihn in seinem Oberdorf nahe Solothurn», woer 1944 zur Welt gekommen und in der Wirtschaft zum «Sternen»aufgewachsen ist. «In der Wirtschaft hat er als Kind beobachten gelernt,hat er jene kleinen Geschichten gesehen und gehört, die er nunselber verfasst als Chronist vom Lande und Chronist des Landes.»■Burren erzählt von seiner Kindheit als Bauernsohn. «Im Sommergingen wir zu zehnt das Heu kehren. Die Landwirtschaft ohne Maschinenwar enorm anstrengend. Heute sieht man auf dem Feldeinen einzelnen Bauern auf dem Traktor.» Oberdorf damals warein Dorf mit vielen kleinen Läden, es genügte sich selber. Oberdorfheute ist Agglo, ein, wie Burren sagt, «Vorort von Solothurn».■«Solothurn und Bern, das sind benachbarte und doch verschiedeneSprachwelten. Das Berndeutsche riecht nach wie vor nach demChauvinismus des einstigen Patrizier-Grossreichs. Der KantonSolothurn hat keine Imperialgeschichte. Sein Dialekt spiegelt mehrUmbruch und Erschütterung: Solothurn von Olten bis Grenchenist geprägt durch die Industrialisierung, durch Fabriken, Steinbrüche,Arbeiter. Es gebe, erläutert Burren, nicht einmal eine SolothurnerGrammatik. Er hat sich selber zurechtgelegt, wie er seineWörter buchstabiert. Manieriert ist da gar nichts, diese Spracheschwelgt nicht und feiert nicht sich selber; es geht darum abzubilden.Die Oberdörfer.»■«Ernst Burren hat nie über Politik geschrieben; er ist kein SPler, ehemaligerBundesrats-Redenschreiber, Essayist wie Peter Bichsel, ebenfallsSolothurner, ebenfalls Dichter. Und doch erfährt man aus Ernst BurrensGeschichten präzis, wie es um dieses Land, seine Menschen, seineDörfer steht. Und also ist er doch ein politischer Schriftsteller.»Thomas Widmer, Der Chronist vom Lande. Tages-Anzeiger vom 12. 12. 2012, Seite 8.<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>10


Ernst BurrenDr Troum vo ParisGeschichten, in kraftvoller, ungestelzterMundart, deren Treffsicherheitbewundernswert istVon Jürg BleikerErnst Burren, geb. 1944 im solothurnischen Oberdorf, wohntimmer noch dort, schreibt seine Bücher nur in solothurnischerMundart – jemand, der diesen Schriftsteller trotz seiner zahlreichenPublikationen und beeindruckenden Auszeichnungen nichtkennen sollte, könnte vermuten, es handle sich um einen Heimatdichtermit engem Blickwinkel und starkem Hang zur Nostalgie.Einem solchen «Nesthöck» könnte wohl einmal ein Traum vonParis, Sehnsucht einmal nach dieser Grossstadt, aufsteigen, das begreiftman. Nur: mit diesen Annahmen läge man vollständig schief.Wenn man das Buch öffnet, bietet sich die nächste Gelegenheitfür ein Vorurteil. Viel Weiss um den Text – aha: moderne Gedichte.Satzzeichenlos, kein Reim, kein Rhythmus, keine Strophen:wen wundert’s. Das, was heute so oft als «Lyrik» angepriesen wird.Schon wieder eine Annahme, die ganz daneben liegt; ein Warnzeichenwäre ja da: die Texte sind nicht als Gedichte, sondern alsGeschichten bezeichnet.Und dann noch Mundart. Die kann ja niemand lesen. Oderdoch? Ohne Zusatzzeichen oder exotische Buchstabenformen, jedochmit Kleinschreibung der Substantive lesen sich diese Texteausserordentlich leicht. Die lautlichen Besonderheiten des Solothurnischensind problemlos eingefangen: d frou, en angeri frou,sunndig, und das velare l erscheint als u: häufe (helfen), chüuche(Kirche), und so eingewöhnt erkennt man auch «die Sonntagsschule»:sunndigschueu und stutzt nur kurz beim Ausdruck sensibus,den man aus dem Zusammenhang und mit Betonung in derMitte aber leicht entschlüsselt: es ungloublich sensibus ching.Die Grafik der Kurzzeilen, bei Burren nichts Neues, ist auch alszwingend richtige Form einsichtig. Sie dient als Tempobremse,ermöglicht die notwendigen Pausen, kürzere bei ein, zwei Zeilen,grössere bei den vielen Abschnitten. Sie lässt die kurzen Aussagenaufwachsen, und das brauchen diese Zeilen, denn sie sindnicht fliessende Erzählprosa, sondern aufsteigende Gedanken,manchmal kurz im Zusammenhang, dann wieder abschweifend,anderes antippend, wiederkehrend, nagend, irritierend, werdengedreht und gewälzt, angezweifelt, bestätigt, bösartig, zerstöre-Ernst Burren, Dr Troum vo Paris. Mundartgeschichten.2012 Cosmos Verlag AG Muri bei Bern.ISBN 978-3-305-00416-4. CHF 29.-11<strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


Ungeschminkt, unzensiert, ohne Rücksicht auf das, wasandere davon halten könnten, ohne Einschränkungen,aber auch nicht ohne Verwunderung über Vorgänge,die einem nicht verständlich werden wollenrisch, erschreckend, unbelehrbar, brutal, dann wiedereinsichtig, verständnisvoll – und fügen sich sozu Geschichten, in kraftvoller, ungestelzter Mundart,deren Treffsicherheit bewundernswert ist.Hier erleben wir, was wir gelegentlich in Wirklichkeiterleben möchten: Zu erfahren, was einerwirklich denkt. Wie wenn man einem Mikrophoneoder Sensoren an den Schädel kleben könnte, diedann nicht Hirnströme, sondern die Gedanken aufzeichnen,lesbar, hörbar. Ungeschminkt, unzensiert,ohne Rücksicht auf das, was andere davon haltenkönnten, ohne Einschränkungen, aber auch nichtohne Verwunderung über Vorgänge, die einem nichtverständlich werden wollen, über die merkwürdigverhängten Schicksale, mit Aufbegehren, mit Widerstand,mit Angst, und zur Hilfe auch mit Spott.Die so denkende Person weiss natürlich, dass ihreGedanken nicht nach aussen dringen; es sind Gedankennur für sie selbst. Vor- oder Rücksicht erübrigtsich somit.Aber doch nicht – der Leser wird unweigerlichhineingezogen. Er vergleicht die Gedanken mit eigenenErfahrungen, er stimmt zu, er lehnt ab, er ärgertsich, er schüttelt den Kopf über unlogische Verbohrtheitenund Uneinsichtigkeit, und dann wiederertappt er sich beim Weiterlesen, dass er selber inVorurteilen gefangen war, seine Kritik daneben traf.Und dann begegnen sich irgendwie zwei Menschen– der Leser und der Denker im Buch – und beidestehen vor dem Rätsel, wie es denn eigentlich um denMenschen und sein Leben beschaffen sei.Da ist nun der geographische Horizont belanglos;die Menschen sind wohl überall im Grunde ziemlichgleich. Aber der Blick in die Tiefe macht schwindlig;die vielfältigen Themen zunächst aus der gegenwärtigenAktualität – und da wird nichts ausgelassen– sind oft bloss Auslöser für weitergesponnene Überlegungen,die zu etwas führen oder auch nicht, undalles kreist letztlich um die Frage, was eigentlich derSinn, die Aufgabe, die Möglichkeit des Lebens seinkönnte.Man muss aber nicht immer in die Tiefe abtauchen.Kurze und prägnante Formulierungen könnenauch wohl tun, wenn etwa eine Zeitmode scharf gezeichnetwird, zum Beispiel der heutige Kindergarten:Die arme öutere müesse jo schtändigim chindsgi atrabe für go z losedass wider öppis mit dene chline chnöpfnit stimmi und me se unbedingtfür ne therapii sötti amäude (S.20)Und über einen lokalen Münchhausen heisst es:Dr miggu hets nie chönne begrifedass es i dr wirtschaftplötzlich wieder eine het gäwon em het gseitmiggu verzöu mir nid e settige blödsinnso öppis isch nit möglichfür e miggu ischs aber nie wichtig gsidass öppis genau eso isch passiertwien ärs het verzöutwenn är sini gschichte het verzöutisch är e dichter gsi und glücklichwenn men em het gseitmiggu du chasch eifach mehaus nume brot frässe (S. 26)Und wie steht’s nun eigentlich mit dem «Troum voParis»? Das muss man schon selber nachlesen. Einkleines Schmunzeln dürfte nicht ausbleiben!<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>12


«In solchen Versen weiss man sich zu Hause»Julian Dillier (1922–2001)Von Barbara TraberEr war das Gegenteil eines «Heile-Welt-Heimatdichters» und hatimmer laut und deutlich gesagt und geschrieben, was er dachte, waser für richtig fand: ein durch und durch politischer, kämpferischer,eigensinniger, neugieriger, weitsichtiger und sehr einfühlsamerMensch! Julian Dilliers Weltoffenheit bis in die Mundart – geradedort ausgeprägt – beeindruckt heute noch. Grenzen gab es für ihnauch bei Dialekten keine. Geradezu abwegig sei es, die Mundartdichtungnur noch regional zu beurteilen, fand er – und wurdeMitinitiant des Internationalen Dialektinstituts IDI (heute Institutfür regionale Sprachen und Kulturen), der interdisziplinären Forschungs-und Dokumentationsstelle für Dialekt, Dialekt literaturund Minderheitensprachen, die er ab 1986 präsidierte. Er wohnte ab1969, als er Redaktor bei Radio DRS wurde, in Basel, im Dreiländereck,das passte zu ihm. Anderseits habe ich anlässlich einer Generalversammlungdes Innerschweizer Schriftstellervereins, dem er von1979–85 vorstand, miterleben dürfen, wie sehr er seiner Heimat, derLandschaft, den Menschen dort verbunden blieb. Seine hochdeutscheErzählung «Frau Bartsch» sei die «schönste Liebeserklärung,die je ein Autor an Sarnen gemacht» habe, findet Romano Cuonz.Julian Dillier, am 26.2.1922 in Sursee geboren, wuchs im RathausSarnen auf, wo die Familie des Obwaldner Landweibels Dillierwohnte, und das muss ihn früh geprägt haben. Jahrzehntelangwar er im Staatsdienst tätig (Kanzlist des Verhöramts Obwalden,Kanzleisekretär der Staatskanzlei und stellvertretender Landschreiber,zuletzt Sekretär des kantonalen Erziehungsdepartements).Parallel zu seiner beruflichen Tätigkeit setzte er sich fürs Laientheaterein, als Regisseur und Spielleiter, Autor und Übersetzer (indie Obwaldner Mundart) und sogar als Schauspieler. Bereits in den40er-Jahren schrieb er Theaterstücke und Hörspiele in Sarner Dialektund historische Festspiele, die mit grossem Erfolg aufgeführtwurden. Ab 1968 bis zu seiner Pensionierung war er als Redaktorbei Radio DRS in Basel für das Hörspiel und den Dialekt zuständig,förderte unzählige Mundartschreibende aus dem ganzen deutschsprachigenRaum und gab ihnen eine Plattform. Später gründeteund führte er mit seiner Frau, Emma Dillier-von Rotz, die ihn im-Foto: BUREAUDILLIER Thomas Dillier, BaselIch träim i derä SprachIch muäss mich nid andersch aaleggä,wen ich so redä.Ich muäss mich nid strählä,wen ich so redäund ich cha mit bluttä Fiässädurs heech Gras und under d Lyt,wen ich so redä.Muäss nid scheen tuä,wen ich eppis gäärä ha.Es tuäts, wenn ich sägä:Ich mag dich wohl.UndIch traim i dere Sprach.<strong>13</strong><strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


Gute Gedichte bleiben, vor allem jene von Julian Dillier.Sie sind zeitlos, unverwechselbar, «in Worte gefassteHerzschläge, Atemzüge, Augenblicke».Äs buächigs BlattIch haas Blatt uifgläsäi der Neechi vonerä BuächäUndha meh drus uisä gläsäas us mängem Buäch:Vo Gruch inerä Friäligsnachdvo Wind im Summertagvo Farbäträim im Herbschd.Und aivonerä Raschdz zwäitwo Zyt hed brochäfir ne Ewigkäit.Scheen und gsundScheeni Alpäsuibers Wasser –und mäischderhafdsind ysi Jasser,ysi Schwingerund JodlerUms Verrodemäin ich drum:Ysi Schwyzisch häillos gsund.mer unterstützt hat, den Nussbaum Verlag, in dem er Texte undLyrik von Innerschweizer Autorinnen und Autoren publizierte:Karl Imfeld, Romano Cuonz, Heidy Gasser, Christa Ettlin, JosefFanger, Anni Wallimann-Küng …Die überragende, eigenständige Leistung des vielseitigen Kulturvermittlersist jedoch die Mundartlyrik. Gute Gedichte bleiben,vor allem jene von Julian Dillier. Sie sind zeitlos, unverwechselbar,«in Worte gefasste Herzschläge, Atemzüge, Augenblicke», bezeichneteer sie selber, berührend, manchmal kritisch-anklagend, manchmalstimmungsvoll oder wehmütig – von einem, der «seine Mundartnicht pflegt, sondern braucht», wie Dieter Fringeli treffend sagte.«Wenn Gedichte nicht in jeder Witterung bestehen und verwitternkönnen, sind sie unbrauchbar», stellte der Dichter fest und erfülltediesen Anspruch. «Ich will mit meinen Gedichten keinen Unterschlupfbieten. Unterschlupf: gleichbedeutend mit heiler Heimat,satter Geborgenheit und harmloser Gemütlichkeit», schrieb er 1973im Vorwort zu seinem ersten Lyrikband Gedankä, wo barfuess chemid.Und weiter bekannte er: «Die Mundart liegt uns am nächsten;zwischen Mund und Herz liegt nichts, besonders dann nichts, wennman sie braucht wie ein treues Werkzeug. Mit der Mundart kannman nicht flunkern, nicht propagieren und auch nicht prahlen.» Sägidwas iär wend / Ich ha nes Rächt uf my Sprach / uf my Redensart /ufmys Wort heisst es in seinem wichtigen Gedicht Ds Rächt uf d Sprach.Bereits 1974 erschienen kritische, träfe, witzige Sprüche undAphorismen von Julian Dillier unter dem Titel So z sägä. Es paarSprych, ein Genre, das dem Innerschweizer besonders lag. Es folgteStimmrächt (1984); Aphorismen veröffentlichte er auch im «Nebelspalter».Uber d Nasa n uis gsee / isch faschd, was e Wäldräis.Beinahe einen Skandal löste er mit seinem Gedicht Betruf1976 uf der Alp Glaubenbielen aus, mit dem er gegen die geplanteLagerung von Atommüll auf einer Alp anschrieb. Man warf ihmsogar vor, die (letzte) Zeile AVE, AVE NAGRIA! sei blasphemisch,und es kam im August 1977 zu einer Demonstration von Heimatschützern,von Mitgliedern der Vereinigung Unterwaldner JodlerKlubs auf der Alp Lütholdsmatt!<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>14


Karl HenslerMeinrad LienertDie Februarveranstaltung der Gruppe Zürich des Vereins Schweizerdeutschwar Meinrad Lienert gewidmet. Es sprach Karl Hensler,Einsiedeln.LanzigGlyeinist wird’s Lanzig.Es ist mer scho tanzigIm Härz und im Bei.Und ’s Schnäggli und ’s Gspüsli,Chunt alls us em Hüsli,D’ Zugvögel chönd hei.D’ Waldfinkli und d’ Spätzli,Am Bach d’ Widechätzli,Ist alls wider hie.D’ Lüt juzed bim Wärche.Au styged hür d’ LärcheSä höich uf wie nie.Lanzig: Lenz, FrühlingGspüsli: SchätzchenZweierlei MusigNüd as Chrüz und Lyde!Wie lang goht’s, wie lang goht’s?’s Läbe lang, ’s Läbe lang!Brummt dr Baß und där verstoht’s.Was sait ’s Schwäbelpfyffli?Gump und tanz, gump und tanz!Gugg ist Glas, gugg is Glas!Isch verhyt, wird ’s niemeh ganz.’s Schwäbelpfyffli: Schwegelpfeiflein (Querpfeife)Von Heinz GallmannMeinrad Lienert (1865-1933) wuchs im Klosterdorf Einsiedeln aufund besuchte daselbst die Schulen. Nach einem Welschlandaufenthaltund ersten Veröffentlichungen im Feuilleton der NZZ holteihn der Vater Konrad Xavier Lienert, Landschreiber und Kantonsrat,in seine Amtsstube. Meinrad amtete darauf als selbständigerNotar in Einsiedeln. 1893 heiratete er die Nachbarstochter MarieGyr; der Ehe entsprossen drei Kinder.Im Jahre seiner Heirat wurde Meinrad Lienert für vier JahreMitinhaber und Redaktor des Einsiedler Anzeigers, in dem eineReihe früher Gedichte und Erzählungen erschienen sind. In derFolge zog er nach Zürich, wohnte in Hottingen, aber sein Herzblieb im Klosterdorf, was sich immer wieder in seinem Werkzeigt. Fast ein Vierteljahrhundert lebte er in Zürich, wo er auchdas Bürgerrecht erhielt, kurz nachdem ihm die Ehrendoktorwürdeder Universität Zürich verliehen worden war. Nachdem er wiedereinige Jahre in Einsiedeln Wohnsitz hatte, lebte er die letzten Jahrein Küsnacht.Ab 1887 erschienen im Feuilleton der NZZ einige Kurzgeschichtenaus der Feder von Meinrad Lienert. Vier davon erschienen 1891unter dem Titel Flüehblüemli. Erzehlige us dä Schwyzerbärge. DasBändchen fand ein sehr positives Echo, so rühmte Carl Spitteler inseiner Buchbesprechung die «quellfrische Sprache», aber Spitteler,zu dem sich eine freundschaftliche Beziehung ergab, riet ihm vonweiterer Dialektprosa ab.Stellvertretend für seine weitere Prosa hier eine Kostprobe ausseinem Roman Der doppelte Matthias (1929):Die kleine Sulamith liess sich auch gar nicht übel an, also dass derStump mit Stolz und grossen Erwartungen auf sie sah. Aber als sieheranwuchs, zeigte es sich recht bald, dass sie für eine Blume zu Saronnicht das Zeug hatte. Sie ward von einer eigentümlichen Rundlichkeit,also dass sie alle Ecken, die sonst neben den Häusern undanderem, auch die Menschen wohl sichtbar zu zeigen pflegen, innerhalbzu haben schien. Nach und nach kam sie der rohgeschnitztenBauernmuttergottes im Heiligenstöcklein zu Hagelrain zu gleichen,und auf einmal aber, als sie volljährig und ausgewachsen war, zeigte<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>16


Die eingehende Beschäftigung mit einem Heimatdichter,der vor einem Jahrhundert eine heute kaum vorstellbareBreitenwirkung hatte, scheint uns richtig undnotwendig zu sein, besteht doch der Trend,Heimatdichtung zu verniedlichenund zu popularisieren.es sich, dass sie gar massig und oben und unten gleichdick aussah. So geschah es, dass die Leute, denen derTaufname Sulamith nicht mundgerecht werden wollte,sie einfach Salami nannten,was ihr übrigens nicht schlechtanstand, denn sie war nicht nurgleichmässig rund, sie war auchdurch und durch gesalzen undwenn sie wollte, rässen Mundes.Geschichtliches Interesse führtezu einer Reihe von Werken, diegrosse Verbreitung fanden. Ambekanntesten und verbreitetstensind wohl die 1914 erschienenenSchweizer Sagen undHeldengeschichten, aber auchdie Zürcher Sagen (1919), beideBände mit dem Untertitel «DerJugend erzählt».Einen besonderen Stellenwerthat zu seiner Zeit und bisheute Meinrad Lienerts Lyrikin seiner angestammten Mundart,wobei er fein unterscheidetzwischen seinem EinsiedlerDialekt und den Gedichten inIbergerisch. Der immense Bilderreichtumschöpft aus seinerHeimat – zu Recht wird Lienertals Waldstattdichter bezeichnet–, aus seiner Jugendzeit, der heimatverbundenenVergangenheit und immer wieder aus der schönenBeziehung zu seiner geliebten Marie. Sowohl ihr alsauch unserer Muttersprache gilt seine Sorge. Dienebenstehenden Beispiele sind dem folgenden BandD’MuettersprochVergoh mueß üsri Muettersproch!Mer fönd si a verlüre.Si chunt wie ’s ÄhnismuettersTracht,Zletzt hinder d’Chastetüre.Glych, d’Sproch, die hemmer lengertrait,Und ’s wurd au mit re meh abgleit.Si hät halt nüd blöiß ussevür,Äs wien ä alte Tschoppe.Si hät auch nüd blöiß ob dr Tür,Wie ’s Ähnis Heldewoppe.Wurd einist üsri Sproch usto,Müeßt us em Härz mängs Würzli no.Mängs Würzli wo drus ’s SchwyzergmüetIst cho wie ’s Bluest dur d Alpe.Die sältsne Blueme zehrt me us,Strählt d’Weide allethalbe.Fyfälterli, beit nu ä Rung,Gohst zletzt fürsust no ihrem Hung.entnommen: Meinrad Lienert: ’s Schwäbelpfyffli.Herausgegeben von Walter Haas und BernadetteKathriner. 4 Bände. Schwyz (Edition 91) 1992. Es istdas erste Werk der GesammeltenSchriften Meinrad Lienerts, veranstaltetvon der 1969 in Einsiedelngegründeten Meinrad Lienert-Stiftung.Karl Hensler, der Referent deseindrücklichen Abends in EinsiedlerMundart, wohnt im KlosterdorfEinsiedeln und befasst sich seit Jahrenmit Meinrad Lienert. Das fandseinen Niederschlag sowohl in eigenerLyrik als auch in der SchriftÜsere Dichter Meinrad Lienert. Einsiedeln(Waldfink-Verlag) 2010.Die eingehende Beschäftigungmit einem Heimatdichter, dervor einem Jahrhundert eine heutekaum vorstellbare Breitenwirkunghatte, scheint uns richtig und notwendigzu sein, besteht doch derTrend, Heimatdichtung zu verniedlichenund zu popularisieren. Schondie Lektüre der hier gegebenen Beispielezeigt, dass man Meinrad Lienertdamit nicht gerecht werdenkann. 2015 stehen Feiern zum 150.Geburtstag des Waldstattdichtersan, und es ist zu hoffen, dass es gelinge, den bedeutendenMundart- und Heimatdichter würdevoll zufeiern.17<strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


Idiotikon Band XVI vollendet!Ein Blick auf die abschliessendenHefte 220 und 221Von Alfred EgliWuescht • wüeschtWenige Monate nach der Feier des 150-Jahr-Jubiläums im Juni 2012 ist nun noch im gleichen Jahr der sechzehnteBand des Idiotikon-Monumentalwerks vollendet. Wir gratulieren herzlich! Der 15. Band war noch imalten Jahrhundert, 1999, erschienen; die intensive Arbeit an diesem neusten Aushängeschild schweizerdeutscherForschungstätigkeit hat somit dreizehn Jahre in Anspruch genommen. Es waren fruchtbare Jahre, diediesen vorletzten Band hervorgebracht haben, das heisst: Es waren Männer und Frauen am Werk, die keineMühe gescheut haben, den kaum zu überblickenden Reichtum unseres Deutschschweizer Sprachschatzes fürjeden, der es wissen will, zugänglich zu machen, zu ordnen, zu erklären und ins wissenschaftliche Licht zurücken. In den jüngsten Bänden XV und XVI sind nun sämtliche mit W- beginnenden schweizerdeutschenStichwörter – einschliesslich der Wortanfänge mit X- – erfasst. Der anschliessende, bereits in Angriff genommene17. und letzte Band ist ausschliesslich dem Buchstaben Z- vorbehalten.WueschtDem schweizerdeutschen (männlichen) Substantiv Wuescht wohnt ein gewaltiges negatives Sinnpotenzialinne. Beinahe alles, was für uns abstossend, hässlich oder unnütz ist, lässt sich unter diesem Stichwort subsumieren.Die Palette des Üblen ist wahrlich weit gefächert: Es kann sich um Abfälle, Schutt, Sand, Geschiebe,Staub, Unkraut, körperliche Ausscheidungen oder wertlose Dinge handeln. Die Vorstellung des Schmutzigen,Hässlichen und Unerwünschten überträgt sich auch auf die ethische Ebene, so dass das negativ besetzteWuescht zur Umschreibung von Unreinheit und Verdorbenheit gerät und sich schliesslich zum Schimpfwortfür Männer, Frauen und Tiere mausert: Ein wuost und unflat, das ist, unflätig mensch (Johannes Fries, 16.Jhdt.); Eyn gross schwyn und grober, unfletiger wuest (1582); Sy seigi schon lang ein hässige Wuest gsi (Zürich1680). In einer weiteren semantischen Entwicklungsphase nimmt Wuescht die Funktion eines Adjektivs imSinne von ‹verwünscht› an: Hette mer au die wueschts Chelechüechli diheime gloo! (Jakob Senn 1864).wüeschtDas Eigenschaftswort wüescht ist zweifelsohne zum helvetischen Grundwortschatz zu zählen. In der Ausgangsbedeutung«hässlich» ist wüescht seit Jahrhunderten in unserer alltäglichen Sprache gegenwärtig: DerVolksglaube etwa will, dass eine Schwangere nüüt Wüeschts und Chranks söl aaluege; und das AppenzellerSprichwort weiss: Os schööne Chende gäb s wüeschti Lüüt ond os wüeschte Chende schöö Lüüt. Sehr häufiggebraucht ist das Allerweltswort auch im Zusammenhang mit dem Wetter: Wüescht Wätter. Als wüescht, d. h.unanständig und grob, kann auch die Sprechweise eines Menschen gelten: wüescht flueche, wüescht rede, eswüeschts Säge. Unser Wort kann sich auch auf entlegene Orte oder brachliegendes Kulturland beziehen: Diesälbige kilch lyt auch wüest, die Moren hand ir vych darin. Breiten Raum beansprucht wüescht auf der Ebeneder Schilderung von Charakteren und Verhaltensweisen: S isch so wüescht von em! (Basel Stadt). Das muessdoch e wüeschte Giithung sii vo Maa (Gotthelf). Es ist nüt (nichts) wüesters als das zuvil fressen und überflüssigsuffen (Heinrich Bullinger 1553). Von der Charakterisierung zur – teilweise auch scherzhaft gemeinten –<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>18


SchweizerischesIdiotikonWörterbuchder schweizerdeutschenSpracheWueschte • Wetli und WoodtliBeschimpfung ist es ein kurzer Weg: Du wüeschte Pfüdi! Du wüeschts Pflaschter! Du wüeschte Ufloot! AuchKrankheiten und Verletzungen liegen im Wirkungsbereich von wüescht: Es hät ne wüescht ggää ‹Er wurdeschlimm verletzt›; Es het si lang wüescht gha ‹Sie war längere Zeit schwer krank›. Wüescht tue bedeutet zumeinen ‹sich austoben›, zum andern ‹laut schimpfen, aufbrausen›; im Sprichwort: Wüescht drab tue chunt auderzue ‹Was man früher tadelte, kann einem selbst zustossen›. Schliesslich entbehrt das Wort, in verstärkendemSinn gebraucht, nicht selten einer trocken-humoristischen Note, etwa wenn man von Menschen sagt:Gstorbe sind s nanig, si sind na wüescht läbig.Das Adjektiv wüescht hat sich in der deutschen Schweiz, am meisten in den Kantonen Luzern und Zürich,auch als Familienname (Wüst, Wüest) etabliert.Bei wüescht, das vom althochdeutschen wuosti abstammt und mit dem lateinischen vâstus ‹öde, roh›urverwandt ist, haben wir es übrigens mit einer weitverzweigten Wortfamilie zu tun, deren Umfang wir hierlediglich andeuten können: wüeschte heisst ‹beschädigen, verheeren, verletzen, übernutzen›; die Wüeschti istnicht nur (wie neuhochdeutsch) eine Wüste, sondern auch Umschreibung für ‹Hässlichkeit, Unzugänglichkeit,Versessenheit›; der in historischen Dokumenten häufig auftretende Begriff Wüstung schliesslich meint‹Beschädigung, Verletzung, Schaden›, speziell bezüglich des Waldes und des Viehs.WueschteDieses Wort ist nichts anderes als eine im Aussterben begriffene alte Nebenform von Hueschte. Von meinemKüsnachter Grossvater weiss ich, dass alte Leute um die vorletzte Jahrhundertwende noch von Wueschte(Er hät de Wueschte) sprachen. Diese altertümliche Lautung ist auch für das Nachbardorf Zollikon für dasausgehende 17. Jahrhundert schriftlich bezeugt: J. Kienasten Kind starb am Wuesten noch nicht jährig. DasNebeneinander von Hueschte und Wueschte lässt sich leicht erklären. Das Idiotikon (Band II) bezeichnetdie beiden Formen anschaulich als «Trümmer der ursprünglichen Konsonantenverbindung hw-», wie sieetwa noch in der altenglischen Lautung hwôsta begegnet, die ihrerseits das urgermanische hwôstan ‹Husten›fortsetzt. Zu Wueschte als Hauptwort gesellt sich das entsprechende Verb wueschte ‹husten›, dem allerdings,als Ableitung vom oben erwähnten Wuescht, auch die Bedeutung ‹Unkraut jäten› innewohnt. Es ist nichtauszuschliessen, dass die lautliche Nähe von Wueschte ‹Husten› zur oben erwähnten Wortgruppe wüescht,Wuescht dieser alten Nebenform das Wasser abgegraben hat.Wetli und WoodtliGanz besonders bei der Lektüre des Idiotikons lohnt es sich immer wieder, auch dem Kleingedruckten seineungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Im vorliegenden Heft 220, bei der Besprechung der Stichwörter mitder Lautfolge W-A-T, findet sich zum Beispiel ein zwar unauffälliger, doch aufschlussreicher Hinweis auf dieDeutschschweizer Familiennamen Wetli und Woodtli – zwei Namen, über deren Herkunft und Bedeutungsich bisher wohl die wenigsten von uns den Kopf zerbrochen haben.19<strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


SchweizerischesIdiotikonWörterbuchder schweizerdeutschenSpracheWaadt • Wetti • WätterAusgangspunkt der beiden Namen ist das Substantiv Waat ‹Stoff, kostbares Tuch›. Es ist heute in denschweizerdeutschen Mundarten nur mehr bruchstückhaft anzutreffen, war indes in mittelhochdeutscherZeit weit verbreitet. Der Zürcher Dichter Johannes Hadlaub sang etwa: Schön ougenweide bringt uns dermeie (Frühling), er spreit uf diu lant sin wât (‹Er spreitet über die Lande sein Kleid›). Eine wohlbekannteZusammensetzung mit ursprünglich Waat als Grundwort ist die Leinwand, die jahrhundertelang in derForm lîn-wât ‹Leinenstoff, Leinengewebe› existierte und ihre Gestalt erst dann an ‹Wand, Gewand› anlehnte,nachdem das Wortelement Wât unverständlich geworden war. In unseren Mundarten lebt diealte Liinwaat in Formen wie Liibet, Liiwoot, Liiwet weiter. Der Wandel von Liin-Waat zu Liin-Wand istein klassisches Beispiel für das latente Bedürfnis einer Sprachgemeinschaft, undurchschaubar gewordeneWörter oder Wortzusammensetzungen – und sei es an sich noch so ‹falsch› – notgedrungen an vertrauteBegriffe anzulehnen.Ganz im Gegensatz zum praktisch untergegangenen Waat hat sich das zugehörige Eigenschaftswortwaatli(ch) mit seiner überaus positiven Aussage im Schweizerdeutschen sehr gut erhalten. Es bedeutet ‹artig,umgänglich, tüchtig, stattlich› und wird in Bezug auf Menschen sowie auf deren Verhalten, aber auch imHinblick auf Kleider oder aufs Wetter gebraucht: Er isch doch e waatliche (ansehnlicher) Maa. Ähnlich wiebei wüescht, aber mit gegenteiligen semantischen Vorzeichen, hat das rühmende Adjektiv waatli zur Bildungder zwei erwähnten Familiennamen beigetragen, nämlich Woodtli im Aargau (mit regional üblicher ‹Verdumpfung›von aa zu oo) und Wetli (gesprochen Wèètli) vorab im Kanton Zürich.WaadtWer den französischen Namen des Kantons Waadt, Vaud, Laut für Laut unvoreingenommen ausspricht(W-a-u-d), kommt dessen Bedeutung mühelos auf die Spur. Es dürfte sich um nichts anderes als um einesehr frühe romanische Entlehnung des voralthochdeutschen Wortes Wald handeln. Nicht allein untersprachhistorischem, sondern auch im vegetationsgeschichtlichen Blickwinkel scheint es einleuchtend, dassunser heutiges Waadtland einst zu weiten Teilen von Wald bedeckt war, der für die wachsenden Ansprücheder Zivilisation erst mühsam gerodet werden musste.WätterEs gibt wohl kaum ein Heft unseres Wörterbuchs, in dem nicht irgendeinem bestimmten Begriff eine faszinierendeDominanz zukommt, die sich sowohl auf die lexikalische Differenziertheit wie auch auf die räumlicheAusdehnung (Spaltenzahl!) der Darstellung auswirkt. Ein solcher Begriff ist ohne Zweifel das Wetter. Soliegt es auf der Hand, dass dem Wetter in seiner Bedeutung als universaler Gesprächsgegenstand im Alltagwie auch in seinen weitverzweigten Bedeutungsnuancen im Heft 220 ein breiter Raum zugewiesen wird. Wiesehr das Wetter allenthalben Gegenstand des Nachdenkens ist, erhellt etwa aus Feststellungen wie Ds Wättermues me nèè wie s ischt u d Lüüt wie si sind (Graubünden); Das isch Wätter, mi jagti ke Hund veruse; Me sötts<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>20


SchweizerischesIdiotikonWörterbuchder schweizerdeutschenSpracheWätter • Wiitichöne aabönde (Man sollte das schöne Wetter‹anbinden› können, Appenzell). Aus dem Philosophieren überdas Wetter und seine Unerforschlichkeit erwächst das Bedürfnis, aus gemachten Erfahrungen Wetterregelnherauszudestillieren: Wänn de Guggich (Kuckuck) i s Dorf ie chunnd, se git s ander Wätter (Aargau); D Hüenergöö gern ii, s git schöön Wätter (Solothurn). Im Begriff Wätter steckt indes auch der Aspekt des Furchteinflössenden Unwetters, des Platzregens, Hagel- und Blitzschlags: Es Wätter hed mer s Huus verbrönnt(Luzern). Aus der Angst vor als dämonisch empfundenen Ungewittern haben sich gewisse Praktiken desAbwehrzaubers entwickelt, etwa das Läuten der Kirchenglocken (über s Wätter lüüte): Der Sigrischt isch i dChile gluffe und het due iber s Wätter gliitet (Uri).Das schweizerdeutsche Wätter birgt noch viele weitere Sinn-Nuancen. Wätter zielt auch, gänzlich losgelöstvom Meteorologischen, auf die Situation, die Umstände, die Stimmung: Am andere Tag hed schi due dsWätter gcheert ‹schlug die Stimmung um›; S ischd hüt nid guet Wätter um en ume (Aargau) ‹Er ist nicht gutgelaunt›. Angesichts des häufig negativ besetzten Sinngehalts des Wortes kann es keineswegs verwundern,dass sich Wätter landauf, landab zum – wenn auch unanstössigen – Fluch-, Kraft- und Scheltwort entwickelt:Du bischt en heikle Wätter! ‹ein schlimmer Kerl› (Zürich); Du chätzers Wätter! Du Wätters Chätzer! (Thurgau).Weit verbreitet ist der Ausruf Botz Wätter als Ausdruck der Überraschung oder auch des Unwillens,entstellt aus (verpöntem, da als blasphemisch geltendem) Gotts Wätter.Der hier zur Verfügung stehende Raum verbietet es, den fast unzähligen Zusammensetzungen von Wättermit weiteren Substantiven nachzuspüren. Verbindungen wie Uwätter, Ur-, Veech-, Fluder-, Gusel-, Heide-,Hudel-, Hagel-, Hunds-, Hurrli-, Chosel-, Muuder-, Biisiwätter und weitere Dutzende von ähnlichen Begriffenlegen immerhin Zeugnis ab von der Präsenz einer beeindruckenden Vielfalt von Bezeichnungen, in denender Deutschschweizer seinem Missvergnügen über das Wetter Ausdruck zu geben weiss.WettiUnser Wörterbuch erklärt den Ausdruck sehr treffend als «fingierten Namen für jemanden, dessen Rede sichim Hypothetischen ergeht; Möchtegern». Der launige Spitzname steht meist nicht allein, sondern in Gesellschafteiner zweiten hypothetischen (Konjunktiv-)Form: Der Hetti und der Wetti sii Brüeder gsii; Der Hettiun der Wetti sinn Armehüüsler; ... sind ghungerig Lüüt; ...händ nie e guldi Chetti (Horgen ZH).WiitiVom umfangreichen, Stichwörter wie wiit, wiiter(s), wiitere (Verb), wiitele und Wiiti umfassenden mundartlichenSinnkomplex entscheiden wir uns zur Betrachtung des zuletzt erwähnten Substantivs. Die Wiiti‹Weite› bezeichnet zunächst das Mass, die räumliche Ausdehnung von Grundstücken, sodann den wünschenswertenSpielraum, etwa in den historischen Wendungen wyte geben ‹weichen, das Feld räumen›, diewyte lân: Gang abhin und lass mir die wyte ‹Mach mir Platz› (Zürcher Ratsbuch 1440), ebenso in lebendigerMundart: Häsch nid Wiiti? ‹Hast du keinen Platz?› Die Wiiti umschreibt ferner die freie Landschaft, das freie21<strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


SchweizerischesIdiotikonWörterbuchder schweizerdeutschenSpracheWiiti • WittFeld: Uf der Wiiti werche ‹Feldarbeit verrichten› (Prättigau), in diesem Sinn bereits in Zwinglis Übersetzungdes 18. Psalms (1525): Und er fuort mich uss in die wyte, er reyss mich häruss, denn er hat lust zuo mir. Die Wiitikann sich auch auf einen freien Platz im Wald, eine Lichtung beziehen: Im Wald ischt e Wiiti, und därt isch meBäre bigegnet. Schliesslich weisen zahlreiche Belege auf die naheliegende Bedeutung ‹Ferne, Fremde› hin: Ufd Wiiti guu ‹auf Reisen gehen›. In Reiden (Luzern) kennt man die doppelsinnige Redensart Alt Lüüt gseendam beschte i d Wiiti ‹sind weitsichtig / haben weiten Blick›. – Vom Adjektiv wiit, vielleicht aber auch von derWiiti abgeleitet ist das aus Basel-Stadt stammende wiitele, dessen Bedeutung ‹nur aus der Entfernung schönaussehen› sich dem Nichtbasler nicht auf Anhieb erschliesst. Eine ältere Dame erwidert das Kompliment, siesehe immer noch jung aus, mit den Worten: He waisch, i wiitele.WittistNicht ohne gelindes Staunen entdeckt der Germanist bei der Lektüre des letzten Hefts von Band XVI (Lieferung221), dass in unseren Mundarten zuweilen längst totgeglaubte, dem Zürcher Dichter Hadlaub allerdingsnoch geläufige und für das mittelalterliche Deutsch noch reichlich bezeugte Wörter ein recht unauffälligesDasein fristen. Dies ist in exemplarischer Weise der Fall beim Substantiv Witt, einem Wort, welches das althochdeutschewitu ‹Holz› fortsetzt. Der seit Jahrhunderten fortschreitende Verdrängungsprozess hat dafürgesorgt, dass unser archaisches Witt heute fast nur noch bei den Südwalsern jenseits des Monte Rosa in derBedeutung ‹Brennholz, Leseholz im Wald› überlebt. Einzig in der urnerischen und berneroberländischenBenennnung Wittere ‹Brennholzschopf› hat das altehrwürdige witu einen prekären Unterschlupf gefunden.Nebenbei: Ein ungleich gnädigeres Schicksal hat ein und das selbe Wort im Englischen erfahren, wo aus demaltenglischen widu, wudu das heutige wood ‹Wald› hervorgegangen ist.WatzUnter dem Substantiv Watz versteht man die Schärfe, das ‹Gewetztsein› von Werkzeugen wie Sense, Sichel,Axt: D Stei nämed de Watz ‹Steine in der Wiese nehmen der Sense beim Mähen die Schärfe›. Gut bezeugt istdas Wort aber vor allem in übertragener Bedeutung im Sinne von ‹Mut, Unternehmungslust›: De Watz überchoo‹Lust und Mut bekommen›; das Gegenteil dazu ist de Watz laa ‹nachlassen, aufgeben, die Lust verlieren›.Neben dem Substantiv Watz gibt es das weit verbreitete, sich grosser Vitalität erfreuende Adjektiv watz,das in Grimms berühmtem Wörterbuch als alemannisches Wort charakterisiert wird und dessen Bedeutungenim Idiotikon mit ‹begierig, erpicht, gespannt, lüstern› umschrieben sind: Er ischt verdammt watz ufeneguets Tröpfli (Zürich). In der satirischen Schilderung der um einen Besuch des heiligen Geistes inbrünstigbetenden Neugläubigen im Hundsrugge irgendwo im Zürcher Oberland erzählt Jakob Senn ironisch-trocken:Aber dè Guet ischt nüd se (so) watz gsii, hät lang too, wie wän er nüüt ghööre woor oder vo de Hundsrügglerenüüt wett wüsse.<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>22


züritüütschi wortfamiliewörter de schtämm naa iiggräitvom Viktor SchobingerVon Ruedi SchwarzenbachIm Jahr 2001 eröffnete Viktor Schobinger seine räie züritüütschmit der Zürichdeutschen Kurzgrammatik und dem erfrischendunkomplizierten Wörterbüchlein für Zweifelsfälle säit me soo oderandersch? dialäkt zum naaschlaa wien im wörterbuech. Es folgtenzüritüütsch läsen und schriibe (2004) und Zürichdeutsch kurz undbündig (2006). Dann erschien 2010 das zweibändige Wörterbuchzüritüütsche grundwortschatz, ABC und theeme mit über 600 Seiten,schon ein Jahr darauf das dreibändige Wörterbuch züritüütschiwortfamilie mit ungefähr 50'000 Wörtern auf 1'900 Seiten – in50 Exemplaren. Von einer «Zusammenstellung» spricht der Verfasser,und bezeichnet sich selber schlicht nur als «Kompilator».Auch an «daatebänker» hätte man denken können, aber beidessind Untertreibungen. Gewiss wäre das Pensum ohne Datenbankauf dem Computer nicht zu bewältigen gewesen, aber sie zu füllensetzt einen derartigen Grad von Vertrautheit mit der Sprache undihren Strukturen voraus, wie sie nur einem Meister und Liebhaberseines Fachs gegeben ist, der zudem locker und mit Lust an Sacheund Formulierung an sein Pensum geht – die Zeit dafür («40 Wochen»)hat er sich über die Jahre hinaus zugemessen und eingeteilt.Zum Vorgehen: d wörter sind zoge us minere wörtersamlig, woni 1980 aagfange ha. Ich han uf ander dialäktwörterbüecher zrugggriffeund uf sèttig us de naachberschaft. Aufgenommen werden diegängigen Wörter, au sèttig, wo als schlächts züritüütsch gälted. Skriteeerium isch blos äis: säit men es woort oder säit me s nööd. Aufgereihtwerden sie unter ihrem Wortstamm.Am Beispiel der Zusammensetzung daatebank: ‹daate› ist Bestimmungswort.Es bestimmt das Grundwort ‹bank› näher, wärealso in der langen Liste der Wortfamilie mit dem Stamm bank einzureihenwie die Beispieleläid bank m. chilebank für truurlüütNazionaal bank f. bank wo für d schtabilitèèt luegetprivaat bank f. bank wo gsellschafter ghöörtrau bank f. langer hobelwerch bank m. arbetstisch mit schruubschtockAUS DEM VORWORT UND DER EIN-LEITUNG [frei übersetzt]Auf 1'900 Seiten sind über (geschätzte)50'000 zürichdeutsche Wörter ihren (geschätzten)mehr als 6'000 Grundwörternzugeordnet. Trotz der hohen Zahl ist dieZusammenstellung als eine erste Erfassunggedacht.Die Zusammenstellung dürfte eine derersten dieser Art für einen Dialekt sein.Sie zeigt den überraschenden Reichtumunseres Wortschatzes, freilich auch dievielen Beimischungen aus dem Schriftdeutschenwie auch aus dem Französischen,dem Lateinischen und dem Englischen.In den drei Bänden enthalten sind dieWörter unserer normalen Umgangssprache,auch die unbekannten, längstausser Gebrauch gekommenen «Heimatschutzwörter»,aber auch heute üblicheschriftdeutsche und englische Ausdrücke.«Wüste» Wörter wurden nicht ausgeschlossen.Die Auflistung zeigt die Wortbildung. Dasheisst, Vor- und Nachsilben sind abgetrennt.Das macht den Aufbau unseresWortschatzes durchsichtig, unter sichtfindet man beispielsweisesicht e tr. dureluegeab sicht f. s voorhaadurch sicht ig adj. transparäntDie typographische Darstellung ist eingerichtetfür Einträge mit einem einzigenWort (z. B. redwi) wie auch für solchemit vielen Wörtern (z. B. deren 80 unterbild).23<strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


Aagfange han i s Wortfamilie-Wörterbuech im april 2006; fèrtigwoordedemit bin i im auguscht 2011, im ganzen en uufwand vo 40 wuche.Lenger als e paar tääg isch die (fliiss)arbet nöd zum uushalte gsii;mängmaal bin i fascht vertschlaffen am kompjuuter.(Aus dem Vorwort)Der Stamm watz im Idiotikon(vgl. auch Seite 22 dieses Hefts)Watz I1. Schärfe, Gewetztsein, von Sense,Sichel2. Mut, Unternehmungslustwatza) begierig, erpicht auf, gespannt, auchlüstern, heftig verlangendb) lebendig, munter, gut aufgelegtwatzenreizen, provozierenWatz II1. Stoss, Schlag2. Kunstgriff, Kniffwatze IIlaufen, sich eilig wohin bewegenab-watzeaufbrechen, sich davon machenzüritüütschi wortfamilie zämegschtelt vomViktor Schobinger3 Bände. Zürich 2011, Schobinger Verlag.Zusammen CHF 99.–ISBN 978-3-908105-70-1Dass die ‹daatebank› in dieser Liste fehlt, ist weniger ein Mangel,sondern eine Bestätigung dafür, dass Vollständigkeit weder zuerreichen war noch erreicht werden sollte. S buech isch en eerschteversuech. Und man lächelt bei der Feststellung, dass das Wort danndoch noch auftaucht – nicht in der Stamm-Liste, sondern in einerBedeutungsangabe, nämlich jener zum Wort ‹datei› f. daatebank.In diesen Bedeutungsangaben erhalten die züritüütsche Wortfamilieeine gewinnende persönliche Note. Der Verfasser hat zuersterwogen, ob er sich mit einer nach Stämmen gegliederten Wörterlistebegnügen solle – ohne Worterklärungen. Aber mit sonereliischte, hät s mi tunkt, chönti niemert nüüt gschiids aafange. Sohat der Leser sein Vergnügen, die Definitionen – die sich normalerweiseauf eine Hauptbedeutung beschränken – nicht nur in ihrerinhaltlichen, sondern auch in ihrer mundartlichen Träfheit zugoutieren.Das Vorwort schliesst mit dem Dank an all die Vorgänger –weil niemand ein Wörterbuch allein machen könne. Au wän er eläischaffet, so hanget er doch ab vo dène, wo vor im gschaffet händ. Siesind im Literaturverzeichnis aufgeführt. Neben den eigentlichenWörterbüchern sind es mehrfach Anhänge mit Worterklärungenzu Mundartprosa wie den Idyllen von August Corrodi, demFlarzbueb von Ruedi Chägi oder den Cheleländer Stückli von JakobSenn. Ein wichtiges Referenzwerke ist (vor allem für die Systematik)das Wortfamilienbuch der deutschen Gegenwartssprache vonGerhard Augst und seinen Mitarbeitern.Auf die besondere Bedeutung des Idiotikons, des Wörterbuchsder schweizerdeutschen Sprache, für seine Unterfangen weistSchobinger selber hin: Mit öisem Idiotikon hämer ja en äigetlichswortfamilie-wörterbuech über all tüütschschwiizer dialäkt. Am Beispielwatz, das Schobinger als einziges Wort (mit dem Vermerkveraltet und der Bedeutung adv. versässe) aufnimmt, lässt sichzeigen, wie das Idiotikon alle stammverwandten Wörter in ihrergeschichtlichen Entwicklung und ihrer semantischen Entfaltungbelegt und beleuchtet.<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>24


Linard BardillDER KLEINE BUDDHAGeschichten, Lieder und Gedichtemit der CDDER KLI BUDDHALieder, Gschichte und viel mehVon Julia Bachmann-SchwarzenbachEin blonder Junge in blauer Latzhose und grünem Pullover zotteltauf einem Feldweg, den Blick auf den Boden gerichtet. Er wirktzufrieden und eins mit sich und mit der Umgebung, auch wennwir ihn nur von hinten sehen. Im Hintergrund ein Feld, ein Wald,Berge und Wolken. Die Sonne scheint auf den Nacken des Jungenund lässt sein Haar leuchten.Das Cover von Linard Bardills neustem Buch, erschienen Ende2012, lädt uns ein auf den Weg, den er mit seinem neunjährigenSohn Liun geht. Dass Liun ein Downsyndrom hat, hat Linard Bardillerst nach der Geburt von der Hebamme erfahren. Dass diese«Behinderung» aber mehr mit unserem eigenen Denken als mitdem Wesen des Kindes zu tun hat, durfte er in den folgenden Jahrentagtäglich erleben.«Kleiner Buddha» nennt er seinen Sohn, denn «in seiner Gegenwärtigkeithat er für mich etwas Erleuchtetes. Ich erfahre, wennich mit ihm zusammen bin, dass die Welt eins ist. Darum nenneich ihn meinen kleinen Buddha.» (S. <strong>13</strong>). Beim Lesen des Bucheswird der Name immer verständlicher: Der kleine Buddha lebt vollkommenim Jetzt, er hinterfragt nichts und niemanden, er fragtnicht nach dem Warum, er fragt nicht, ob man das darf. Er folgteinfach seinem Herzen, seiner Phantasie und findet die Welt gutso, wie sie ist. Sein Sohn sei der «Sargnagel seines Weltverbesserergehirns»(S.45), schreibt Linard Bardill. Er, der mit seinen Liedern,Kolumnen und Büchern immer wieder zeigt, wie die Welt dochauch ausschauen könnte. Doch wer die Welt einfach lieb hat undsie gut findet, so wie sie ist, kann mit den Weltverbesserungsgedankenseines Vaters wenig anfangen.Papa was soll man tunWenn man keine Zeit hatDen Vögeln zuzuhörenUnd den Käfern zuzusehen,Den BienenUnd den Würmern.Die haben immer ZeitPapa hier draussenSteht ein BaumDer scheint auch sehr viel Zeit zuhabenWollen wir nichtZu ihm gehen und ihn fragenWie er es machtMach das KindIch muss nur noch schnell ...TOURNEE Linard Bardill & Bruno Brandenbergeram KontrabassSamstag, 01.06.20<strong>13</strong> - 20.00 UhrWinterthur, Alte Kaserne,Samstag, 15.06.20<strong>13</strong> - 20.00 Uhr9410 Heiden, Kursaal HeidenSonntag, 03.11.20<strong>13</strong> - 10.30 Uhr4654 Lostorf, Ref. Kirche LostorfFreitag, 08.11.20<strong>13</strong> - 20.00 UhrHombrechtikon, Gemeindesaal, Bahnweg25<strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


Bardills Sprache ist bildhaft, verspielt und wunderbaralltäglich vertraut. Sie ist authentisch, wirktim Moment und ist doch zauberhaft gesetzt.Dies passt zu seinem im Jetzt lebenden Sohn, fürden nur der Moment zählt und wichtig ist.Der kleine Buddha sei in vielen Belangensein Lehrer, sein Meister. Werso im Moment lebt, wer einfach glücklichist mit dem, was ist, der ist docheine Art erleuchtet.Linard Bardill ist Theologe undVater von fünf Kindern und lebt als«Liederer» in Scharans, Graubünden.Er schreibt und vertont Mundartliederfür Kinder und für Erwachsene undwurde bereits mehrfach ausgezeichnet,zum Beispiel mit dem Schweizer Märchenoskar.Daneben schreibt er seit2007 wöchentlich eine Kolumne in derCoop-Zeitung. Eine über das, was eraus seinem Fenster sieht und beobachtet,zwei über seine Weltverbesserungsideenund eine über seinen Sohn mitDown-Syndrom. Auf letztere erhält erderart viele positive Rückmeldungen,dass in Zusammenarbeit mit dem Limmatverlagein Buch entstand. Es enthält,neben den Kolumnen über seinenSohn, auch Gedichte, welche poetischauf das Leben mit ihm antworten unddie Themen aufnehmen und ausweiten.Das Buch wird ergänzt durch eine CD, die am Arbeitstisch inScharans aufgenommen wurde. Sie enthält gelesene und gesungeneLieder, schweizerdeutsch und hochdeutsch, die einen Textefinden sich auch im Buch, andere lediglich auf dem Tonträger.Behutsam und vor allem liebe- und humorvoll erzählt LinardBardill die Geschichten aus dem Alltag mit seinem Sohn. Von dessenLeben im absoluten «Jetzt», vom Nichtverstehen der Wörtchen«aber» oder «erst in drei Wochen», vom Strahlen in seinenAugen, von den Grenzen, an die er und seine Frau als Eltern stossen,von der täglichen Konfrontation mit Liuns entwaffnenderDirektheit, vor allem aber von der grossen Liebe, die sie erfahrendürfen.Er erzählt von ganz alltäglichen Situationen wie der von BuddhasLiebe zum Wasser und dem Brunnen vor ihrem Haus: «Solangeer eine Badehose trägt, besteht auch kein Problem. Doch diepermanent nassen Kleider und triefenden Schuhe sind für unsereNerven grenzwertig. Das heisst, die Grenzen, die er nicht kennt,werden zu unseren. Und wohl oder übel werden sie dann zu seinen.Da kann es nach einigen ernsthaften Worten über Wasser,nasse Kleider und überhaupt denn sein, dass der kleine Buddhaan den Brunnen kommt, sofort die Kleider auszieht, die Schuhevon sich wirft und nackt den Brunnenrand besteigt. Was soll manda noch sagen? Pause einlegen – ‹Easy peasy – Häxeschuss› anstimmenund mit der Nachbarin einen Schwatz riskieren.» (S. 27)Bardills Sprache ist bildhaft, verspielt und wunderbar alltäglichvertraut. Sie ist authentisch, wirkt im Moment und ist doch zauberhaftgesetzt. Dies passt zu seinem im Jetzt lebenden Sohn, fürden nur der Moment zählt und wichtig ist.«Wir führen ein Leben, und in diesem Leben fängt das richtigeLeben erst später an.» Was zuerst merkwürdig klingt, wird in derKolumne «Das wahre Leben» (S.23) ausgeleuchtet: «Die Berufsleutedenken, nach der Pensionierung fängt das richtige Lebenan, die Lehrlinge und Studenten denken, nach der Ausbildungfängt das richtige Leben an, die Schüler denken, wenn die Lehrzeitkommt, fängt das richtige Leben an [...]. Das richtige Leben kommt<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>26


Sich Zeit nehmen für das Leben im Jetzt,Zeit für die Kinder und die nicht wiederkehrendenMomente, Zeit für die wirklichwichtigen Dingenicht, denn das Leben ist. Immer, überall und vorallem heute, gerade jetzt.»Die positive Aufnahme des kleinen Buches undder Tournee, mit der Linard Bardill in den nächstenMonaten unterwegs sein wird, überraschen dennnicht:«Die kurzen Geschichten in diesem Bändchenversammeln den ganzen Kosmos rund um das Lebenmit dem ‹Kleinen Buddha›, der ganz im Jetztlebt und seine Umgebung immer wieder mit grossenMomenten beschenkt und in Staunen versetzt.»Sempacher Woche/Luzerner Rundschau«‹Der kleine Buddha› eröffnet dem Sänger undErzähler Linard Bardill, der auf der Bühne vomgenialen Sidekick Bruno Brandenberger am Kontrabassergänzt wird, eine neue, entschleunigte Weltsicht.Eine, die auch auf das Publikum übergeht.»Tages-Anzeiger zum BühnenprogrammSich Zeit nehmen für das Leben im Jetzt, Zeitfür die Kinder und die nicht wiederkehrenden Momente,Zeit für die wirklich wichtigen Dinge, fürden Baum im Garten, für die Bienen auf der Wiese,für das Fussballspielen im Garten, für das Sammelnvon Steinen, für ein Bad im Brunnen, für den Regenbogen,der nicht auf später wartet. Das ist das, wasich ganz persönlich mitnehme aus der Lektüre vonLinard Bardills Buch.Linard Bardill, Der kleine Buddha. Geschichten, Lieder undGedichte. 96 Seiten, mit einer CD «Der kli Buddha. Lieder,Gschichte und viel meh». CHF 34.–ISBN 978-3-85791-686-1.Kulturwoche imUnterengadinmit demAllegri QuartetLondonvom 15. bis 21. Sept. 20<strong>13</strong>Die StreichquartettevonBeethovenKonzerte in den historischen KirchenScuol, Ftan, Sent, Ardez, Lavin, GuardaMusik - Natur - Erholungauf höchstem Niveauwww.allegra-allegri.chProspekte: info@allegra-allegri.choder Telefon +41 (0)52 319 21 79Em Tüüfel ab em Chare gheitMit däm isch nid guet Chirschi ässeDas geit uf ke ChuehutSuuffe win e BüürschtebinderEs isch gnue Höi dungerDiese und 69 andere Redensarten erklärt ChristianSchmid in seinem neuen BuchBlas mer i d Schue. 75 Redenarten – Herkunft undBedeutung,das wir in der nächsten Nummer vorstellen.Christian Schmid, Blas mer i d Schue. 75 Redensarten – Herkunftund Bedeutung. Muri bei Bern 20<strong>13</strong>, Cosmos Verlag.CHF 36.- ISBN 978-3-305-00437-9.27<strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


BÜCHERTISCHAchim ParterreTschüss zäme! Ein Dorfkrimi.Muri bei Bern 20<strong>13</strong>, Cosmos Verlag. CHF 25.-ISBN 978-3-305-00446-1vlg. Auf dem Weg von Gäziwil nach Konolfingenliegt er im Strassengraben, der alte Ramseier, zwischenden Zähnen sein letzter Stumpen und im Schädel«es Loch so gross wi ne Härdöpfu». Bärnhard, derdie Leiche gefunden hat, trinkt in der Dorfbeiz einenHärdöpfeler, derweil die 82-jährige Wirtin Marie-Claire eine Select raucht und von den KanarischenInseln träumt.Wer um Himmels willen hat den alten Ramseier,der in der Dorfbeiz so gern Geschichten erzählte,ins Jenseits befördert? Diesen Kriminalfall hat einerzu Papier gebracht, der selber fürs Leben gernGeschichten erzählt. Achim Parterre nimmt unsmit nach Gäziwil und zeigt uns liebevoll, aber schonungsloseine Idylle zwischen Kehrichtsammelstelleund Waldlehrpfad.Viktor SchobingerPsuech für der Ääschmen us de SüdseeZüri Krimi 24. Züri 20<strong>13</strong>. Schobinger Verlag. CHF 25.-ISBN 978-3-908-10524-4vlg. E versicherigsaagschtelti lüütet em Ääschmen aa.D Schanin Wèètli häisst wie de berüempt waffehändler,en alte chund vom Ääschme, isch aber nöd verwandtmit em. Trotzdèm sind iri schicksaal verhänktmitenand. Was händ die süüdseeinsulaaner z sueche zZüri? Werum mischt sich plötzli de Walter Fǜǜrscht ii,der oberscht vom Bundes-Sicherhäits-Dienscht? DerÄäschme probiert gägeschtüüt z gèè; vergäbe: s wirtgschossen und s git tooti.Gabriel VetterVive la résidence! Hörbuch.Luzern 20<strong>13</strong>, Verlag Der gesunde Menschenversand.CHF 28.- ISBN 978-3-905825-503vlg. Ganz nach dem Motto «Jetzt wird wieder in dieHände gespuckt, jetzt werden wieder Lyrik-Bändegedruckt», mischt auch der Grandseigneur desSchweizer Poetry Slams wieder im Literaturzirkusmit. Seine Botschaft: «Vive la résidence!», bereitssein drittes Soloalbum, live aufgenommen im ParterreBasel. Und damit ist man auch zuhause im Ohrensesselmittendrin in Vetters Schweiss treibenderPerformance, man hört ihn wettern und sinnieren,schmettern und philosophieren.Vordergründig ist es die gewohnt fulminanteSprechkunst, die Gabriel Vetter seinem Publikumverpasst. Dahinter zielen aber viele seiner Stücke mitspitzen Pfeilen auf die Schweiz, ihre guteidgenössischenKompromisse genauso wie auf den Kantönligeist.Max Frisch wird mit der Euromaus ver höhntund Metzgerlehrlinge durch den Fleischwolf derKunstkritik gescho ben. Da wird ganz nebenbei mitJesus das politische Wesen der Schweiz erklärt, eineTierkadaversammelstelle vor der Kleinkunst gerettetund ein Mähdrescher-Fahrer zum Philosophenerklärt. Ausserdem: eine Hommage ans Grosi undkurze Texte über die Liebe und den wilden Thurgau.Das Hörbuch ist angriffig, wütend, satirisch, aberauch versöhnlich humorvoll – Gabriel Vetter beweisteinmal mehr seinen Status als fideler Hofdichter amThron der untergehenden Abendunterhaltung.<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>28


edgar euelauch das ist kommunikationeine mobilfunkantenne, wieder eine neue:der aufschrei kommt alsbald und gleichhinterher die regelmäßige antwort derwissenschaft. unbedenklich, strahlungkaum messbar. schlafstörungen und dergleichen?müssen einbildungen sein.da war doch diese fotographie: herren inschwarzen anzügen, einer neben dem andernaufgereiht in der wüste von nevada,auf strandstühlen sitzend, sonnenbrillenauf den nasen. offensichtlich sind es geladenegäste, die den mächtigen weißen pilzansehen dürfen, den im bildhintergrundder atombombentest macht. man hat siein sichere distanz platziert, weit genugvon der erwarteten hitze und helligkeit.von der strahlenkrankheit wusste damalsdie wissenschaft noch nichts, und so dürftendie auserwählten allesamt nach dieservorführung qualvoll gestorben sein. wieauch kurz darnach hunderttausende inhiroshima und nagasaki.immer wenn die wissenschaft ungefährlichkeitattestiert, steht mir dieses bild vorden augen. und ich denke an das wort vonmani matter:wer glaubtzu wissenmuss wissendass er glaubtkürzlich habe ich in einer wissenschaftssendung*gehört, dass bienen nicht nurdurch farben und gerüche angezogenwerden, sondern dass sie auch anhandeines elektrischen feldes, das die einzelnenblumen aussenden, ablesen können,ob und wie viel nektar sie noch vorfindenwerden. so bleiben ihnen unnötige wegeerspart.ich glaube der wissenschaft nicht mehr,wenn sie sagt, strahlung unter einemgewissen grenzwert sei unbedenklich, essage niemand, auch niedere strahlungkönne die bienen nicht verwirren.edgar euel* «die gerettete sprache» im radio srf2 vom samstag,23. februar 20<strong>13</strong>, 12:40 uhr, beitrag «wenn bienenblüten besuchen funkt's»(http://podcasts.srf.ch/world/audio/Wissenschaftsmagazin_23-02-20<strong>13</strong>-1240.5.mp3)29<strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


DAS KREUZWORTRÄTSELwaagrecht1 wenn Knospen sprießen und Tulpen und Menschenihre Form finden8 diesmal kein ismus, sondern ein asmus10 eine der Dorfschönen, neben der Bärbel und derLore11 die kurze non-commitment-Nummer12 noch eine Schöne und insbesondere frühmorgens<strong>13</strong> der grüne Ort, wo Er dich weidet16 Autos mit dem Bock im Wappen17 macht sich gut auf Crêpes und Omeletten18 in der Mitte von Meran gelegen19 es churzes Tun(n)erwätter20 kämpft auf hohem Ross gegen das Böse21 bei Künstler(inne)n beliebter Vorname22 pflegt dann zu enden, wenn das wirkliche Lebenanfängt25 betitelt sich kurz, wer in Pension geht26 wo an der Tür stehen könnte «bin allein drin»27 eine Kon-stell-ation31 zwei Wörter in Gretchens Lied33 Dem Spielzeug fehlt ein Stein und kann’s nun auchein Wasser sein.34 und ist so trübe ach der Blick36 hat den Mantel gar nicht ausgezogen37 Wem ein solches Gut heranwächst, hat nicht allesgut gemacht.senkrecht1 hieß mein kleiner, lustiger Bruder2 Das ganze Leben sei ein …3 zwei Wörter für automobilistische Wunschträume4 wichtiger Antrieb unseres Tuns5 fühlen wir uns, wenn 4 senkrecht fehlt6 und endlich wird nun Lob gesprochen, Lebengewürdigt7 Kanton, der alle Motorfahrzeuge mit ‚geh leise!’anschreibt8 tun die Schwalben9 werden auf manchen Brettern gegeben14 Vorname, mit dem man’s hierzulande hoch hinaufbringen kann15 wird in drei Dimensionen ausgemessen20 Austragung; von einem Leben ins andere gleiten23 zu Hilfe!24 ein starkes Stück und kurz und rund28 Dürrenmattsche Figur, auf den Tod krank29 an dem sich das Abartige orientiert30 der zweite und nun geglückte Versuch (und siehe,es war gut)32 darf noch vor dem h-nology daherkommen35 kurvt mit der cyclette über Land oder neustensauch mit KE<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>30


KREUWORTRÄTSELVom Eise befreit ...1 2 3 4 5 6 78 9 1011 12 <strong>13</strong> 14 1516 17 1819 20 2122 23 2425 26 27 28 2930 31 32 3334 353637Lösungswort: SprachspieleWer das Lösungswort einsendet, nimmt an der Verlosung eines Bändchens Es Bröösmeli Ziit von ElsMorf-Bachmann teil: www.zeitschriftschweizerdeutsch.ch oder Post: VSD, Postfach 111, 8460 MarthalenDes Rätsels Lösung 3/12 Gefragt ist Kulturwaagrecht: 1 OUVERTURE 10 ALP <strong>13</strong> BRISANT 14 ES HAT 15 OROPAX 18 ESPOIR 22 NSI (peNSIon)23 CS 24 (homo) LUDENS 27 AT 28 NEID 29 SIGUNE 31 OPERNHAEUSER 35 MONO 36 KORR(igiert)37 ETPE (budgETPEriode) 39 AST (Florian) 41 MEUTERER 42 TRANS 43 INTRIG(EN) 45 ENDE (Michael)46 ADESSE 48 ANTEILNEHMENsenkrecht 1 OBOEN 2 UR 3 VIOLINEN 4 ESPACE 5 RA 6 TNX (thanks) 7 UTERUS 8 RESIDIERENDE9 ESPE 10 AHORN 11 LAIT 12 PT (Tschaikowsky) 16 RESTPOSTEN 17 ABSINKEND 19 RODERER21 OLDHOUSE 25 EG 26 SNE 27 AO (Alpha Omega) 30 USTER 32 ROMANE 33 ART 34 UERT (TREU)35 MANTA 38 PRISE 40 TRET 43 IAN 44 GEN 47 SM (short message)Dazu schrieb uns F.W. aus Hitzkirch: Das rätsel grenzte an seelische grausamkeit. Stunden, ungezählteanläufe während tagen benötigte ich, um die gute jungsängerin endlich alt aussehen zu lassen. Beimersten durchgang vermochte ich ausser russis kantonskennzeichen kein einziges auch noch so munzigesfeldchen auszufüllen. Es dauerte, bis ich den rätselmachern endlich auf die schliche kam. Wennder wind um die ohren pfeift: brisant! Darauf musste ich erst kommen. Vor der eintönigen mühle tratich die längste zeit von einem fuss auf den andern. Der gipfelpunkt der hirnmarter aber war das in derpension inbegriffene nsi.31<strong>SchweizerDeutsch</strong> 20<strong>13</strong> I 1


ABONNEMENTSBESTELLUNGwww.zeitschriftschweizerdeutsch.chZeitschrift für Sprachein der deutschen SchweizSchweizerDeutSch3/11Uri und seine MundartenViecher & VegetarierDIALEKTischS Nöi TeschtamäntZüritüütschVORAUSSICHTLICH IST DAS DER LETZTE JAHR-GANG DIESER ZEITSCHRIFT IN IHRER HEUTIGENFORM. MIT EINEM ABONNEMENT ODER EINEMGÖNNERBEITRAG HELFEN SIE UNS, IHN MITZWEI WEITEREN HEFTEN IN DER ART DER BIS-HERIGEN GUTEN MUTES ABZUSCHLIESSEN.BESTELLUNG☐ Jahresabonnement 20<strong>13</strong> für CHF 27☐ Gönnerabonnement 20<strong>13</strong> für CHF 50NAME .......................................................STRASSE ................................................... .PLZ ORT .......................................................................Auf unserer Webseite finden Sie:Ergänzungen zum vorliegenden Heft 1/<strong>13</strong>• die vollständige Einladung zur Tagung des ForumHelveticum vom 24. Juni 20<strong>13</strong> in Bern• den vollständigen Text des Aufsatzes von HelenChristen über polydialektale Dialoge (Seiten 6–7)• die Audiodatei zum Renato Kaiser-Text (Seite 9)• zwei weitere Gedichte von Meinrad Lienert• die Audiodatei zum Gedicht Ds Rächt uf d Sprachvon Julian Dillier (Seite 16)alle bisherigen Nummern der Zeitschrift<strong>SchweizerDeutsch</strong>• als PDF-Dateien zum Herunterladeneine Auswahl von Beiträgen aus den bisherigen5 Jahrgängen unserer Zeitschrift, zu finden in denDOSSIERS• SPRACHLEBEN• FORSCHUNG• NACHSCHLAGEWERKE• KINDERGARTEN UND SCHULE• MUNDARTLITERATUR• ORTS- UND FLURNAMEN• TONAUFNAHMENsowie die Rubrik AktuellesTELEFON......................................................................MAIL ........................................................................DATUM ........................................................Per Post an: Thomas Marti,Untere Hardegg 324600 OltenOder online überwww.zeitschriftschweizerdeutsch.ch<strong>SchweizerDeutsch</strong> 1 I 20<strong>13</strong>32


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IN DER NÄCHSTEN NUMMER1938 – 20<strong>13</strong>Vom Bund Schwyzertüsch zum Verein SchweizerdeutschOral History - LebensgeschichtenMit däm isch nid guet Chirschi ässeMundartkrimis

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