ganze Ausgabe im pdf-Format - Lehrerinnen

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13.07.2015 Aufrufe

42und Stein und nicht mit echten Kindern und echten Lehrernin echten Unterrichtsstunden, sondern aus bunten Bildernund klingenden Begriffen, in Power-Point-Präsentationen,in Videos, in Vorträgen und in Zeitungen, die noch nichterkannt haben, dass es sich bei dem Trend um nicht mehrals die Dampfplauderei von selbsternannten Prophetenhandelt. […] Lehren und Lernen gegeneinander auszuspielenund Lehrer als Ewiggestrige hinzustellen, die das Lernender Schüler verhindern, ist unseriös. […] Schaut man sich diePläne des Ministeriums zur künftigen Lehrerbildung an,dann findet man […] Folgendes: Lehrerinnen und Lehrer anGemeinschaftsschulen sollen nach und nach zu sogenanntenLernbegleitern umgebildet werden. Die Ausbildungzum Lernbegleiter […] hat den Charakter einer Umerziehungsmassnahme.Denn hinter dem Begriff «Lernbegleiter»steht eine völlig veränderte Lehrerrolle, die sich ableitetaus der Denkrichtung des Konstruktivismus und derAnnahme, dass man Kindern grundsätzlich nichts beibringenkönne. […] Die Rolle des Lehrers soll sich beschränkenauf das Begleiten der Schüler. Diese Neudefinition derLehrerrolle widerspricht jedoch nicht nur dem gesundenMenschenverstand, sondern auch eklatant allen Forschungsergebnissenzu Unterrichtserfolg. […] Dass die ideologischeForm der Gemeinschaftsschule […] ein Erfolgsmodellwerden wird, das ist kaum vorstellbar. Auf lange Sichtzählen eben nicht Hochglanzbroschüren und Power-Point-Vorträge, sondern Schülerleistungen. Und die hängen massivvon guten Lehrern ab, die schülerzentriert und lehrergelenktunterrichten […].»• Perle 3: «Nichts bearbeitet die grün-rote Landesregierungmit solcher Verve wie ausgerechnet die Bildungspolitik,die in Baden-Württemberg seit langem als erfolgreichund vorbildlich gilt. Das belegen harte Zahlen wie die geringeJugendarbeitslosigkeit, niedrige SchulabbrecherundWiederholerquoten sowie Spitzenplätze bei Studienim Ländervergleich. Umso mehr verwundert, unter welchemDruck nun der Umbau der Schullandschaft betriebenwird. […] Die versprochene «Neue Lernkultur» bedient sichvor allem einer neuen Sprache: Lehrer werden jetzt zuLernbegleitern umdefiniert, die Lernjobs verteilen, Lernarrangementsgestalten und Kompetenzdiagnose betreiben.Schüler, die nun Lernpartner heissen, führen Lerntagebücher,arbeiten Lernpläne in einzelnen Lernpaketen ab,füllen Checklisten aus und tragen ihre Lernfortschritte inKompetenzrastern ein. Diese zwischen Ökonomismus undreformpädagogischer Emphase schwankende Sprachekündigt das pädagogische Grundverhältnis auf. Die Pädagogikweiss seit Jahrhunderten, was heute viele Humanwissenschaftenbelegen: Erziehung, Bildung und Lernensind ein Beziehungsgeschehen zwischen Personen, die ihreAufmerksamkeit gemeinsam auf eine Sache richten. Hierwird aber der unabdingbare Zusammenhang von personalerBeziehung und fachlichem Sachanspruch zugunsteneiner kompetenzorientierten Selbststeuerung nach demModell des Projektmanagements aufgekündigt. So entlarvensich die Leitbegriffe der Reform, «Gemeinschaft» und«Individualisierung», als Marketingvokabeln: Zwar werdenKinder mit verschiedenen Fähigkeiten und Bedürfnissenin einem Raum zusammengefasst, doch bildet sich darauskeine Gemeinschaft, denn sie werden zu vereinzeltenLernplanbewältigern isoliert. […] Auch die moralischeÜberhöhung von sogenannten kooperativen Lernformen,in denen die Leistungsstarken mit «Könner»-Anstecker amRevers den Schwächeren als Hilfslehrer zur Seite gestelltwerden, vermag den Eindruck nicht zu tilgen, dass die«Neue Lernkultur» Gemeinschaft nur instrumentell undfunktional versteht – nicht als immer schon vorhandenerund zugleich pädagogisch zu gestaltender Grund von Bildung.Viele Studien belegen, dass ein von der Lehrpersonaktiv gelenkter Unterricht deutlich effektiver ist als eineReduzierung des Lehrers auf den Lernbegleiter. Mit solchenoffenen Lernformen kommen nur die besten Schülerzurecht, die schwächeren geben schnell auf. Ist das nunsozial gerechter als ein gut geführter Klassenunterricht,der fordert und ermutigt, der Gemeinschaftlichkeit aktivbildet? Bemerkenswert ist, dass diese Konzepte in Baden-Württemberg vor allem von dem schweizerischen BildungsunternehmerPeter Fratton propagiert werden. FrattonsThesen dürften einem wissenschaftlichen Diskurskaum standhalten: Provokant formuliert er etwa «vierpädagogische Urbitten» des Kindes: «Bringe mir nichtsbei», «Erkläre mir nicht», «Erziehe mich nicht» und «Motivieremich nicht». Diese krude Mischung aus Antipädagogikund Konstruktivismus enthält den ideologischen Kernder «Neuen Lernkultur»: Lernen geschieht angeblich alsautonome «Konstruktion» des Lerners – als habe die Schuledas Prinzip der Selbsttätigkeit erst durch Fratton entdeckt.Was zuvor zur pädagogischen Professionalität gehörte,gilt jetzt als übergriffig: die pädagogisch und didaktischsorgfältige Zuwendung zum Schüler. Der Schüler«steuert» sich nun selbst mit Hilfe von Computern, Lernbürosund Arbeitsplänen. Doch es ist wiederum Herr Fratton,der diese Lernumgebung einrichtet. Wer aber legitimiertdiesen Steuermann der «Selbststeuerung»? Dabei istdie Unterstellung, «Frontalunterricht» verdamme denSchüler zum passiven Aufnehmen, so alt wie falsch. «Auchwenn der Lehrer mir etwas erklärt, muss ich es selbst verstehen»,wendet der Erziehungswissenschaftler AlfredSchirlbauer treffend ein. Bildung vollzieht sich auch imvielgescholtenen Klassenunterricht immer und nur durchSelbsttätigkeit des Schülers. Gemeint ist vor allem eine

2013/14-0143innere Haltung, nicht ein äusseres Herumwuseln an «Lernstationen».Daher bedarf innere Selbsttätigkeit einer pädagogischenFührung und eines menschlichen Gegenübers,an und mit dem sich das eigene Denken reiben undentwickeln kann. Guter Unterricht lehrt Verstehen, durchZeigen und Erklären des Lehrers, durch gemeinsames Diskutierenund Überprüfen lernen Schüler zunehmend, eineigenes, sachlich fundiertes Urteil zu bilden. Das ist diegeistige Selbständigkeit, die sie für das Zusammenlebenin der Demokratie brauchen. Freiheit erwächst aus der pädagogischenBeziehung. Wer jedoch menschliche Bindungeneinfach auflöst, erzeugt nicht Selbständigkeit, sondernDesorientierung. Die wird dann durch Internet undLernsoftware gefüllt. Wem soll das nutzen? Insofern mussman die Landesregierung fragen, warum sie die Schülereinem Bildungsunternehmer anvertraut, der in der Landtagsanhörungzum Besten gab, er habe «keine Ahnung,was dabei herauskommt, aber schön falsch ist auch schön»?Warum wird eine ganze Schulreform auf solche Lehrengebaut? Warum setzt man nicht auf die Expertise renommierterFachleute aus den eigenen Hochschulen? Warumwendet man Steuergelder auf, um einen privaten Akteurzu bezahlen, dessen Agenda abseits der Wissenschaft verläuft?[…] Auch in der «Fortbildung» von Lehrern zu Lernbegleiternsetzt das Land auf Peter Fratton. Starterschulen,also die ersten Gemeinschaftsschulen, können Lehreran die von Fratton gestaltete «Freie Schule Anne-Sophie»in Künzelsau zur Fortbildung entsenden. Diese Lehrerfortbildungwird […] allein von Fratton entwickelt und geleitet.Zusätzlich sollen 30 Tandems zur Schul- und Unterrichtsentwicklungausgebildet werden, um die Starterschulenzu beraten. Die inhaltliche Gestaltung dieser«Qualifizierungsmassnahme» liegt auch hier bei einemprivaten Akteur, Andreas Müller vom Institut Beatenberg,der mit Fratton im Verwaltungsrat der «Impact Lern AG»sitzt. […] Ob Frattons aller pädagogischen Vernunft widersprechendessozialpsychologisches Grossexperiment tatsächlichdie erwarteten Ergebnisse bringt, darf bezweifeltwerden. So gibt es bereits Meldungen, dass an Schulen derFratton-Firma in der Schweiz knapp die Hälfte der Schülerdie Abschlussprüfung nicht besteht. Zu fragen wäre auch,wie Schüler einen Schulwechsel bewältigen sollen, wennsie die üblichen Lernformen nicht mehr kennen. Wie kommenLehrer zurecht mit ihrer verordneten Entprofessionalisierung,die ihnen verbietet, etwas beizubringen und zuerziehen? Wie sollen ohne Erziehung überhaupt die in derLandesverfassung verankerten Leitziele der Schule erreichtwerden, in der von Erziehung zur Nächstenliebe,Friedensliebe, sittlicher und politischer Verantwortlichkeitund freiheitlicher demokratischer Gesinnung die Rede ist?Solange die Fragen nach der tatsächlichen Leistungsfähigkeitdes Fratton-Modells nicht längerfristig empirisch geprüftsind, sollten die Schüler Baden-Württembergs vorfragwürdigen Experimenten geschützt werden.»• Perle 4: «Es war ein Abgang wie aus dem Lehrbuch fürPolit-PR. Noch hatte die Diskussion über den Schweizer BildungsunternehmerPeter Fratton gar nicht richtig Fahrtaufgenommen, da zog er auch schon Konsequenzen. […]Beim Reizthema Gemeinschaftsschule drohte dem KultusministerAndreas Stoch […] eine unliebsame Debatte überden von seiner Vorgängerin übernommenen Berater. Doch

42und Stein und nicht mit echten Kindern und echten Lehrernin echten Unterrichtsstunden, sondern aus bunten Bildernund klingenden Begriffen, in Power-Point-Präsentationen,in Videos, in Vorträgen und in Zeitungen, die noch nichterkannt haben, dass es sich bei dem Trend um nicht mehrals die Dampfplauderei von selbsternannten Prophetenhandelt. […] Lehren und Lernen gegeneinander auszuspielenund Lehrer als Ewiggestrige hinzustellen, die das Lernender Schüler verhindern, ist unseriös. […] Schaut man sich diePläne des Ministeriums zur künftigen Lehrerbildung an,dann findet man […] Folgendes: <strong>Lehrerinnen</strong> und Lehrer anGemeinschaftsschulen sollen nach und nach zu sogenanntenLernbegleitern umgebildet werden. Die Ausbildungzum Lernbegleiter […] hat den Charakter einer Umerziehungsmassnahme.Denn hinter dem Begriff «Lernbegleiter»steht eine völlig veränderte Lehrerrolle, die sich ableitetaus der Denkrichtung des Konstruktivismus und derAnnahme, dass man Kindern grundsätzlich nichts beibringenkönne. […] Die Rolle des Lehrers soll sich beschränkenauf das Begleiten der Schüler. Diese Neudefinition derLehrerrolle widerspricht jedoch nicht nur dem gesundenMenschenverstand, sondern auch eklatant allen Forschungsergebnissenzu Unterrichtserfolg. […] Dass die ideologischeForm der Gemeinschaftsschule […] ein Erfolgsmodellwerden wird, das ist kaum vorstellbar. Auf lange Sichtzählen eben nicht Hochglanzbroschüren und Power-Point-Vorträge, sondern Schülerleistungen. Und die hängen massivvon guten Lehrern ab, die schülerzentriert und lehrergelenktunterrichten […].»• Perle 3: «Nichts bearbeitet die grün-rote Landesregierungmit solcher Verve wie ausgerechnet die Bildungspolitik,die in Baden-Württemberg seit langem als erfolgreichund vorbildlich gilt. Das belegen harte Zahlen wie die geringeJugendarbeitslosigkeit, niedrige SchulabbrecherundWiederholerquoten sowie Spitzenplätze bei Studien<strong>im</strong> Ländervergleich. Umso mehr verwundert, unter welchemDruck nun der Umbau der Schullandschaft betriebenwird. […] Die versprochene «Neue Lernkultur» bedient sichvor allem einer neuen Sprache: Lehrer werden jetzt zuLernbegleitern umdefiniert, die Lernjobs verteilen, Lernarrangementsgestalten und Kompetenzdiagnose betreiben.Schüler, die nun Lernpartner heissen, führen Lerntagebücher,arbeiten Lernpläne in einzelnen Lernpaketen ab,füllen Checklisten aus und tragen ihre Lernfortschritte inKompetenzrastern ein. Diese zwischen Ökonomismus undreformpädagogischer Emphase schwankende Sprachekündigt das pädagogische Grundverhältnis auf. Die Pädagogikweiss seit Jahrhunderten, was heute viele Humanwissenschaftenbelegen: Erziehung, Bildung und Lernensind ein Beziehungsgeschehen zwischen Personen, die ihreAufmerksamkeit gemeinsam auf eine Sache richten. Hierwird aber der unabdingbare Zusammenhang von personalerBeziehung und fachlichem Sachanspruch zugunsteneiner kompetenzorientierten Selbststeuerung nach demModell des Projektmanagements aufgekündigt. So entlarvensich die Leitbegriffe der Reform, «Gemeinschaft» und«Individualisierung», als Marketingvokabeln: Zwar werdenKinder mit verschiedenen Fähigkeiten und Bedürfnissenin einem Raum zusammengefasst, doch bildet sich darauskeine Gemeinschaft, denn sie werden zu vereinzeltenLernplanbewältigern isoliert. […] Auch die moralischeÜberhöhung von sogenannten kooperativen Lernformen,in denen die Leistungsstarken mit «Könner»-Anstecker amRevers den Schwächeren als Hilfslehrer zur Seite gestelltwerden, vermag den Eindruck nicht zu tilgen, dass die«Neue Lernkultur» Gemeinschaft nur instrumentell undfunktional versteht – nicht als <strong>im</strong>mer schon vorhandenerund zugleich pädagogisch zu gestaltender Grund von Bildung.Viele Studien belegen, dass ein von der Lehrpersonaktiv gelenkter Unterricht deutlich effektiver ist als eineReduzierung des Lehrers auf den Lernbegleiter. Mit solchenoffenen Lernformen kommen nur die besten Schülerzurecht, die schwächeren geben schnell auf. Ist das nunsozial gerechter als ein gut geführter Klassenunterricht,der fordert und ermutigt, der Gemeinschaftlichkeit aktivbildet? Bemerkenswert ist, dass diese Konzepte in Baden-Württemberg vor allem von dem schweizerischen BildungsunternehmerPeter Fratton propagiert werden. FrattonsThesen dürften einem wissenschaftlichen Diskurskaum standhalten: Provokant formuliert er etwa «vierpädagogische Urbitten» des Kindes: «Bringe mir nichtsbei», «Erkläre mir nicht», «Erziehe mich nicht» und «Motivieremich nicht». Diese krude Mischung aus Antipädagogikund Konstruktivismus enthält den ideologischen Kernder «Neuen Lernkultur»: Lernen geschieht angeblich alsautonome «Konstruktion» des Lerners – als habe die Schuledas Prinzip der Selbsttätigkeit erst durch Fratton entdeckt.Was zuvor zur pädagogischen Professionalität gehörte,gilt jetzt als übergriffig: die pädagogisch und didaktischsorgfältige Zuwendung zum Schüler. Der Schüler«steuert» sich nun selbst mit Hilfe von Computern, Lernbürosund Arbeitsplänen. Doch es ist wiederum Herr Fratton,der diese Lernumgebung einrichtet. Wer aber legit<strong>im</strong>iertdiesen Steuermann der «Selbststeuerung»? Dabei istdie Unterstellung, «Frontalunterricht» verdamme denSchüler zum passiven Aufnehmen, so alt wie falsch. «Auchwenn der Lehrer mir etwas erklärt, muss ich es selbst verstehen»,wendet der Erziehungswissenschaftler AlfredSchirlbauer treffend ein. Bildung vollzieht sich auch <strong>im</strong>vielgescholtenen Klassenunterricht <strong>im</strong>mer und nur durchSelbsttätigkeit des Schülers. Gemeint ist vor allem eine

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