ganze Ausgabe im pdf-Format - Lehrerinnen

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13.07.2015 Aufrufe

16 Die Gretchenfrage des Lehrplans 21:«Wie hast du's mit der Kompetenz?»Von Roger von WartburgDie beiden Begriffe«Lehrplan 21» und«Kompetenzorientierung»treten diesen Sommermedial gewissermassen alssiamesische Zwillinge auf:Wo vom einen berichtetwird, bleibt der anderenicht unkommentiert.LCH-Präsident Beat W.Zemp bezeichnete imInterview mit der «NZZ»vom 28. Juni 2013 dieKompetenzorientierung alseinen der «entscheidendenFortschritte» im Vergleichzu den alten, kantonalenLehrplänen. Ob dieseretwaige Paradigmenwechselzur Kompetenzorientierunghin aber in derTat einen historischenSchritt zu besserem Unterrichtund grösseremBildungserfolg darstellt,ist umstritten, zumal einewissenschaftlicheKlärung der «Kompetenz»im Bereich der Bildungnoch keineswegs vorliegt.Insofern scheint dieentscheidendste Frage inBezug auf den Lehrplan 21jene zu sein, was denn nunin diesem Kontext genaugemeint ist mit der«Kompetenzorientierung».Und was nicht.Anwendung von Wissenim ZentrumLCH-Präsident Beat W. Zemp äussertsich im eingangs erwähnten Interviewwie folgt über die Kompetenzorientierungdes Lehrplans 21: «Das Könnenwird in den Mittelpunkt gestellt. Wirwollen wissen, was die Schülerinnenund Schüler effektiv können. Die Anwendungvon Wissen wird zentral –ebenso die Frage, ob Jugendliche mitkonkreten Problemsituationen undLernaufgaben angemessen umgehenkönnen.»Doch kein Paradigmenwechsel?Auf der offiziellen Website des Grossprojekts«Lehrplan 21» wird der Ballausgesprochen flach gehalten, wasdie Auswirkungen der medial breitgetretenenKompetenzorientierung betrifft:«Der Lehrplan 21 stellt transparent,verständlich und nachvollziehbardar, was die Schülerinnen undSchüler wissen und können. Mit derKompetenzorientierung im Lehrplan21 wird signalisiert, dass der Lehrplannicht bereits erfüllt ist, wenn der imLehrplan aufgelistete Stoff im Unterrichtbehandelt wurde, sondern erstdann, wenn die Kinder und Jugendlichenüber das nötige Wissen verfügenund dieses auch anwenden können.[…] Die mit der Kompetenzorientierungverbundenen Veränderungensind weder einschneidend noch bahnbrechend.Sie schliessen an Entwicklungenan, die an Schulen bereits heutestattfinden und die in der Aus- undWeiterbildung der Lehrpersonen undin neueren Lehrmitteln seit Längeremvermittelt werden. Es ist kein Paradigmenwechsel.»1Eine harmlose Umetikettierung?Wenn man diesen beschwichtigendenWorten der Lehrplan-21-ProjektleitungGlauben schenken mag, kannman also zur Ansicht gelangen, dasssich durch die Kompetenzorientierungnicht wirklich etwas Grundlegendesändern werde an den Schulen – vorausgesetzt,dass dort nicht mehr imgleichen Stil unterrichtet wird wie1874, als die Schulpflicht in der Schweizeingeführt wurde.Vielleicht ist es also so, wie es Dr. MatthiasBurchardt vom Institut für Bildungsphilosophieder Universität Kölnals Interpretations-Variante – an welcheer jedoch selber nicht glaubte –skizziert hat: «‹Kompetenz› […] hat esin den letzten Jahren in den Olymp derModebegriffe geschafft: Allenthalbenspriessen ‹Kompetenz-Zentren› hervor,werden durch ‹Kompetenz-Netzwerke›die viel beschworenen ‹Synergieeffekte›nutzbar gemacht. Politiker scharenin Wahlkampfzeiten ganze ‹Kompetenz-Teams›um sich […]. In langfristigerPerspektive mag dieses Phänomenan die Inflation der so genannten‹Schlüsselqualifikationen› erinnern, sodass es möglicherweise so erscheint, alsob nur der berühmte alte Wein in neuenSchläuchen serviert würde. […]Könnte man statt ‹Kompetenz› beispielsweiseeinfach ‹Bildung› sagen?» 2Die befürchtete Vernachlässigungdes WissensProf. Mathias Binswanger, Ökonom ander FHNW und der Universität St. Gallen,traut dieser harmlosen Aussendarstellungganz und gar nicht: «Das neueZauberwort in der Bildung heisst ‹Kompetenzorientierung›.[…] Zu dieser‹Kompetenzorientierung› gehört zwarauch noch etwas Wissen, doch dieseswird zunehmend in den Hintergrundgedrängt. Schliesslich gibt es heute dasInternet, wo man alles Wissenswertenachschauen kann, und da braucht mandas Gehirn nicht mehr mit Wissen zubelasten. […] ‹Kompetenzorientierung›bedeutet somit in der gelebten Realität,dass der Unterricht seines Inhaltsentleert wird. Das ist aber einer tatsächlichrelevanten Bildungsqualität nichtförderlich. Wir brauchen nicht Schüler,die lernen, wie man sich bestimmterWorthülsen bedient, ohne zu verstehen,was damit eigentlich gemeint ist.[…] Es ist gefährlich, die traditionelleWissensorientierung der Schule einemneuen Modebegriff wie der ‹Kompetenzorientierung›zu opfern.» 3

2013/14-0117Beat W. Zemp erwähnt im Interviewmit der «NZZ» ebenfalls das Internet alszeitgenössischen Faktenwissen-Lieferanten:«Ich denke schon, dass das reineFaktenwissen ein Stück weit an Bedeutungverloren hat. An Faktenwissengelangt man in wenigen Sekunden imInternet.» Trifft Mathias BinswangersBefürchtung hinsichtlich eines künftigenHintenanstellens der Wissensorientierungan den Schulen also zu?Unterstützung erfährt Binswanger vonHanspeter Amstutz, frisch pensionierterSekundarlehrer sowie ehemaligerKantons- und Bildungsrat des KantonsZürich: «Kompetenzen sind […] schwerzu beschreiben und können raschschwammig wirken. Anstatt dass manstoffliche Ziele festlegt, formuliert man‹Kompetenzziele›. […] Unser Grundauftragist ein anderer: In einer gutenSchule lernen die Kinder, konzentriertzu arbeiten und elementare Bildungsinhalteaufzunehmen. Heute, da dieJugendlichen so viel Ablenkung erleben,ist das besonders wichtig.» 4Und auch der Kommentar in der«NZZ» hält die «Lobhudeleien auf dieKompetenzorientierung» für «verfrüht»und mahnt: «Es besteht die Gefahr,dass das Faktenwissen in denHintergrund rückt. Die Welt allerdingswird nicht neu erfunden: Auch in Zeitendes Internets haben jene die Nasevorn, die sich mehr Wissen – besondersauch Faktenwissen – angeeignethaben. Schlau und gebildet ist nicht,wer am besten weiss, welchen Knopfer drücken muss.» 5Kompetenzen vs. WissenHiermit sind wir beim wahrscheinlichgrössten Knackpunkt der Debatteüber die Kompetenzorientierung angelangt:Der Frage, ob oder in welchemAusmass eine Fokussierung aufKompetenzen zulasten des klassischenWissenserwerbs zu gehen hat respektivegehen soll oder gar muss.In diesem Kontext weist Beat W. Zempauf ein konkretes Beispiel aus demLehrplan 21 hin, das mindestens unterden Geschichts-Lehrpersonen heiss diskutiertwerden dürfte: «Es steht zumBeispiel nirgends, dass die FranzösischeRevolution behandelt werden muss.Schülerinnen und Schüler müssen aberverstehen, wie es zu einer Revolutionkommt und was die Folgen sind. […]Der Lehrplan 21 schreibt den Stoffnicht vor.»Mathias Binswanger veranschaulichtseine ablehnende Haltung solchemVorgehen gegenüber ebenfalls anhandeines konkreten Beispiels: «Nehmenwir [...] den Religionsunterricht.[…] Dort lernte man in früheren Zeiten[…] vor allem die Geschichten der Bibelkennen, und dies auch noch völlig unreflektiertund ohne dass der Bibelandere Religionsentwürfe gegenübergestelltwurden. So etwas darf bei‹Kompetenzorientierung› nicht mehrsein. Deshalb ist Religionsunterrichtjetzt Teil des Kompetenzaufbaus ‹Natur,Mensch, Gesellschaft›, wozu derTeilbereich ‹Ethik, Religionen, Gemeinschaft(mit Lebenskunde)› gehört. Was

2013/14-0117Beat W. Zemp erwähnt <strong>im</strong> Interviewmit der «NZZ» ebenfalls das Internet alszeitgenössischen Faktenwissen-Lieferanten:«Ich denke schon, dass das reineFaktenwissen ein Stück weit an Bedeutungverloren hat. An Faktenwissengelangt man in wenigen Sekunden <strong>im</strong>Internet.» Trifft Mathias BinswangersBefürchtung hinsichtlich eines künftigenHintenanstellens der Wissensorientierungan den Schulen also zu?Unterstützung erfährt Binswanger vonHanspeter Amstutz, frisch pensionierterSekundarlehrer sowie ehemaligerKantons- und Bildungsrat des KantonsZürich: «Kompetenzen sind […] schwerzu beschreiben und können raschschwammig wirken. Anstatt dass manstoffliche Ziele festlegt, formuliert man‹Kompetenzziele›. […] Unser Grundauftragist ein anderer: In einer gutenSchule lernen die Kinder, konzentriertzu arbeiten und elementare Bildungsinhalteaufzunehmen. Heute, da dieJugendlichen so viel Ablenkung erleben,ist das besonders wichtig.» 4Und auch der Kommentar in der«NZZ» hält die «Lobhudeleien auf dieKompetenzorientierung» für «verfrüht»und mahnt: «Es besteht die Gefahr,dass das Faktenwissen in denHintergrund rückt. Die Welt allerdingswird nicht neu erfunden: Auch in Zeitendes Internets haben jene die Nasevorn, die sich mehr Wissen – besondersauch Faktenwissen – angeeignethaben. Schlau und gebildet ist nicht,wer am besten weiss, welchen Knopfer drücken muss.» 5Kompetenzen vs. WissenHiermit sind wir be<strong>im</strong> wahrscheinlichgrössten Knackpunkt der Debatteüber die Kompetenzorientierung angelangt:Der Frage, ob oder in welchemAusmass eine Fokussierung aufKompetenzen zulasten des klassischenWissenserwerbs zu gehen hat respektivegehen soll oder gar muss.In diesem Kontext weist Beat W. Zempauf ein konkretes Beispiel aus demLehrplan 21 hin, das mindestens unterden Geschichts-Lehrpersonen heiss diskutiertwerden dürfte: «Es steht zumBeispiel nirgends, dass die FranzösischeRevolution behandelt werden muss.Schülerinnen und Schüler müssen aberverstehen, wie es zu einer Revolutionkommt und was die Folgen sind. […]Der Lehrplan 21 schreibt den Stoffnicht vor.»Mathias Binswanger veranschaulichtseine ablehnende Haltung solchemVorgehen gegenüber ebenfalls anhandeines konkreten Beispiels: «Nehmenwir [...] den Religionsunterricht.[…] Dort lernte man in früheren Zeiten[…] vor allem die Geschichten der Bibelkennen, und dies auch noch völlig unreflektiertund ohne dass der Bibelandere Religionsentwürfe gegenübergestelltwurden. So etwas darf bei‹Kompetenzorientierung› nicht mehrsein. Deshalb ist Religionsunterrichtjetzt Teil des Kompetenzaufbaus ‹Natur,Mensch, Gesellschaft›, wozu derTeilbereich ‹Ethik, Religionen, Gemeinschaft(mit Lebenskunde)› gehört. Was

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