ganze Ausgabe im pdf-Format - Lehrerinnen

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13.07.2015 Aufrufe

14sitätsklinik Zürich) sowie Jürg Jegge(ehemals Stiftung Märtplatz).Die Brisanz dieses MemorandumsLiest man das Memorandum, kannman leicht den Eindruck gewinnen,der Text sei der Mitgliederversammlungeiner Lehrerorganisation entsprungen:So werden etwa mehr«bottom up» statt «top down», eineEntschleunigung des grassierendenReformwahns und grösseres Gewichtfür das Know-how der «Praktiker ausden Klassenzimmern» zulasten der«Schreibtischtäter» gefordert. Kontrastiertwird dieser Eindruck aberdadurch, dass unter den Mitgliederndes «Vereins Bildungs-Reformen-Memorandum»gerade keine Volksschullehrpersonen,sondern Hochschuldozentenzu finden sind.Doch das ist kein Zufall, sondern Absicht,wie Prof. Dr. Walter Herzog aufRückfrage bestätigte: «Es ging unsgerade darum, von wissenschaftlicherbeziehungsweise universitärer Seiteher einen Akzent zu setzen. Bisherhat die Bildungsforschung die Bildungspolitikweitgehend kritiklos unterstützt(tut es weiterhin); kritischeStimmen aus akademischen Kreisenblieben ungehört oder wurden vonden Reformern bewusst marginalisiert.[…] Ziel ist, zur Besinnung überdie wesentlichen Aufgaben von Bildungund Schule anzuhalten und derReformhektik der jüngsten Zeit Einhaltzu gebieten. […] Unseres Erachtenswird gerade die Basis in denSchulen kaum ernst genommen. Wirplädieren dafür, Reforminitiativen«von unten» ernster zu nehmen undBildungsreform zu betreiben, die «vorOrt» initiiert und nicht «von oben»verordnet wird.»¹Ein vermeintlicher Grabenwird überwundenWas Prof. Dr. Herzog in diesem Interviewausspricht, ist deshalb geradezuspektakulär, weil es eine vermeintlichexistierende Kluft zwischen LehrerundDozentenschaft zu überwindenvermag, die bis anhin einen Teil desbildungs(reform)politischen Diskursesmitprägte: auf der einen Seite diefundiert Forschenden, die angeblichevidenzbasiert ganz genau wissen,wie es eigentlich ginge; auf der anderenSeite die Lehrpersonen mit ihrem«üblichen Gejammer eines notorischveränderungsunwilligen Berufsstandes»².Doch siehe da: Die Haltung innerhalbder dozierenden Zunft istaugenscheinlich keinesfalls so homogen,wie bisher oft der Eindruck erwecktwerden sollte. Nach der Publikationdieses Memorandums kanndies unter keinen Umständen mehrbehauptet werden.Keine bildungswissenschaftlicheGesinnungsdemokratie!Bildungspolitiker beschliessen ihreReformen mit dem Segen von Bildungsforschernoder sogar mit derenaktiver Unterstützung. Diese Konstellationist alles andere als unproblematisch,wie der frühere LCH-ChefpädagogeAnton Strittmatter schonvor Jahren konstatierte: «Sehr vieleErziehungswissenschaftler sind einStück weit in die Prostitution geraten,weil sie am Tropf der Bildungsdirektionenhängen.»³Die Gefahr einer unheilvollen Allianzvon Politik und Forschung ist nichtvon der Hand zu weisen: Die unteröffentlichem Legitimationsdruck stehendePolitik will agieren und als aktivoder gar pionierhaft wahrgenommenwerden und die Wissenschaftliefert ihr zu diesem Zweck Gefälligkeitsgutachtenals vermeintlich überzeugendesAlibi. Im Gegenzug wirddie Forschung mit neuen Aufträgenbedacht.Prof. Dr. Roland Reichenbach bezweifeltgenerell die Qualität der wissenschaftlichenAbklärungen der behauptetenDefizite, die mit den zahllosenReformen behoben werdensollen, und sprach in diesem Kontextden lapidaren Satz: «Für Skepsis gibtes in diesem Bereich kaum Forschungsgelder.»4 Der Zuger BildungsdirektorStephan Schleiss hielt in einemkürzlich veröffentlichten Essayaber richtigerweise fest, dass Skepsisein Muss sei: «Wahrheit und Einsichtwerden durch Menschen gemacht.Erkenntnis ist abhängig von Raumund Zeit. Skepsis gegenüber wissenschaftlichenBefunden und wissenschaftlichenForderungen an die Politikist damit Pflicht.» 5Die phonetische Schreibungals abschreckendes BeispielWas passieren kann, wenn die Politikbildungswissenschaftliche Reformgelüsteunreflektiert umsetzt, schildertedie deutsche BildungskritikerinHeike Schmoll bereits vor zwei Jahren:«In den ersten vier Klassen sollenKinder die grundlegenden Kulturtechnikeneigentlich so lernen, dasssie den Wechsel auf eine andereSchule bewältigen – doch das gelingtnicht. […] Überall, wo etwa die phonetischeSchreibung – und das womöglichbis zur vierten Klasse – praktiziertwird, wo Kinder also genau soschreiben, wie sie die Worte hören,die falsch geschriebenen Worte auchnoch einprägsam an der Tafel sehenund die Korrektur erst am Ende derGrundschule einsetzt, haben sie grosseRechtschreibschwierigkeiten. Insolch einer Hamburger Klasse war imvierten Schuljahr nur ein einzigerSchüler in der Lage, flüssig zu lesen.Den Sinn des Textes hatte er allerdingsauch nicht verstanden. […] Aufdie Frage, wieso sie sich für Zeitungeninteressieren könnten, antworteteine Viertklässlerin aus Bremenschriftlich: «Wall mann über die Zeitungerfahren kann. Und ich wörtegerne Reporterin werden. Es ist näm-

2013/14-0115lich spannt in der Zeitung zu lesen.Wall das sind spannte Sachen drinsind.» Ein anderer Schüler schreibt:«wall es schbas macht». Diese Textesind keine besonders missratenen: Inzwei vierten Klassen aus Bremen gibtes nicht einen einzigen Schüler, derfehlerlos schreibt. Über die heilsversprechendeMethode, die diese Schülerin ihr Unheil geführt hat, kann nurspekuliert werden. Sicher ist, dasshier ganze Klassen in der weiterführendenSchule an ihrer Unfähigkeit,zu schreiben und zu lesen, scheiternwerden. […] Zu den absurdesten Vermeidungsstrategiendes Schreibenlernensin der Grundschule und auchauf weiterführenden Schulen gehörtder Missbrauch des Legasthenikerscheins.Das gilt insbesondere fürSchleswig-Holstein, wo sich Gymnasiallehrerschon vor Jahren wunderten,dass in einer siebten Gymnasialklassefast ein Drittel aller Schüler als Legasthenikeranerkannt ist. Das heisst,man bescheinigt ihnen amtlich, dasssie nicht so schreiben und lesen können,wie es ihrem Alter entspricht,und fragt sich nicht etwa, was eigentlichin vorangegangenen Schuljahrenschiefgelaufen ist, dass sie es nichtkönnen. Ihre Rechtschreibleistungendürfen deshalb in Deutsch und allenSprachen bis zur zehnten Klasse nichtin die Benotung einfliessen, danachsind Hilfsmittel wie Duden und Rechtschreibprogrammeerlaubt. Die echtenLegastheniker, die eine genetischbedingte dauerhafte Lese- undRechtschreibschwäche haben undetwa vier Prozent der Bevölkerungausmachen, brauchen solch eine Regel.Sie wurden lange genug alsdumm oder nicht lernfähig ausgegrenzt.Aber sie müssen ein Interessedaran haben, dass die Hürden für dieamtlich attestierte Legasthenie hochbleiben und sich vermeintlich Schreibunfähigeoder Schreibunwillige nichteinen Legasthenikerschein besorgenkönnen. Während in Bayern ein Attesteines Facharztes für Kinder- undJugendpsychiatrie vorliegen, der örtlichzuständige Schulpsychologe dieLese- und Rechtschreibschwäche anerkennenund das fachärztliche Gutachtenbeim Übertritt in weiterführendeSchulen neu ausgestellt oderbestätigt werden muss, können dieSchulen in Schleswig-Holstein selbsteinen Legasthenikerschein ausstellen.Die Legasthenikerquote ist entsprechendhoch. Das Kultusministeriumbestätigt, dass es sich um 13 Prozentder Schüler handelt. Das sindmehr als dreimal so viele wie in derBevölkerung insgesamt oder in anderenLändern.» 6Dieses Beispiel zeigt exemplarischauf, weshalb vor der Realisierungschulischer Reformen besondereSorgfalt zu walten hat: Weil es fürdie betroffenen Schülerinnen undSchüler keine «zweite Chance» gibt!Ihre Schulzeit ist unwiederbringlichverstrichen! Und in dem zuvor geschildertenkonkreten Fall hat dieInstitution Volksschule, indem sieeiner bizarren Irrlehre aufgesessenist, ihren eigentlichen Auftrag insGegenteil verkehrt: Anstatt den ihranvertrauten Kindern Bildung angedeihenzu lassen, hat sie ihnen Bildungschancenverbaut.Genau aus diesem Grund darf dieöffentliche Schule nicht Experimentierfeldfür jedes noch so realitätsferneKonzept sein, das in irgendeinemerziehungswissenschaftlichenInstitut der Welt erdacht wurde.Lob der SkepsisThomas Mann schrieb: «Das Positiveam Skeptiker ist, dass er alles für möglichhält.» Skepsis in diesem Verständnisist nicht zu verwechseln mit einemunreflektierten, destruktiven Querulantismus,sondern vielmehr eine Haltung,deren wichtigstes Prinzip es ist,jede Botschaft – und glitzere dieserein rhetorisch auch noch so schön –auf ihren tatsächlichen Gehalt hin zuüberprüfen.In diesem Sinne: Vertrauen Sie auf IhrenVerstand, Ihre eigene Wahrnehmungund Ihre berufliche Erfahrung!Bringen Sie sich rational argumentierendin die Debatten ein! HinterfragenSie im Besonderen all jenes, wasIhnen als unverrückbare Wahrheitverkauft wird! Und neuerdings könnenSie all dies sogar mit breit abgestützterakademischer Unterstützungtun, wie das Memorandum «MehrBildung – weniger Reformen» zeigt.1http://schuleschweiz.blogspot.ch/search/label/Herzog%20Walter2-4Martin Beglinger, In der Falle –Wie die Schule von Reformwahn undBildungsbürokratie erdrückt wird, DASMAGAZIN, 15. Mai 20105Stephan Schleiss, Wahrheit und Einsicht,Weltwoche, 13. Februar 20136Heike Schmoll, Zweifelhafte Reformenvergrössern die Kulturwüste, FrankfurterAllgemeine Zeitung, 1. September 2011

2013/14-0115lich spannt in der Zeitung zu lesen.Wall das sind spannte Sachen drinsind.» Ein anderer Schüler schreibt:«wall es schbas macht». Diese Textesind keine besonders missratenen: Inzwei vierten Klassen aus Bremen gibtes nicht einen einzigen Schüler, derfehlerlos schreibt. Über die heilsversprechendeMethode, die diese Schülerin ihr Unheil geführt hat, kann nurspekuliert werden. Sicher ist, dasshier <strong>ganze</strong> Klassen in der weiterführendenSchule an ihrer Unfähigkeit,zu schreiben und zu lesen, scheiternwerden. […] Zu den absurdesten Vermeidungsstrategiendes Schreibenlernensin der Grundschule und auchauf weiterführenden Schulen gehörtder Missbrauch des Legasthenikerscheins.Das gilt insbesondere fürSchleswig-Holstein, wo sich Gymnasiallehrerschon vor Jahren wunderten,dass in einer siebten Gymnasialklassefast ein Drittel aller Schüler als Legasthenikeranerkannt ist. Das heisst,man bescheinigt ihnen amtlich, dasssie nicht so schreiben und lesen können,wie es ihrem Alter entspricht,und fragt sich nicht etwa, was eigentlichin vorangegangenen Schuljahrenschiefgelaufen ist, dass sie es nichtkönnen. Ihre Rechtschreibleistungendürfen deshalb in Deutsch und allenSprachen bis zur zehnten Klasse nichtin die Benotung einfliessen, danachsind Hilfsmittel wie Duden und Rechtschreibprogrammeerlaubt. Die echtenLegastheniker, die eine genetischbedingte dauerhafte Lese- undRechtschreibschwäche haben undetwa vier Prozent der Bevölkerungausmachen, brauchen solch eine Regel.Sie wurden lange genug alsdumm oder nicht lernfähig ausgegrenzt.Aber sie müssen ein Interessedaran haben, dass die Hürden für dieamtlich attestierte Legasthenie hochbleiben und sich vermeintlich Schreibunfähigeoder Schreibunwillige nichteinen Legasthenikerschein besorgenkönnen. Während in Bayern ein Attesteines Facharztes für Kinder- undJugendpsychiatrie vorliegen, der örtlichzuständige Schulpsychologe dieLese- und Rechtschreibschwäche anerkennenund das fachärztliche Gutachtenbe<strong>im</strong> Übertritt in weiterführendeSchulen neu ausgestellt oderbestätigt werden muss, können dieSchulen in Schleswig-Holstein selbsteinen Legasthenikerschein ausstellen.Die Legasthenikerquote ist entsprechendhoch. Das Kultusministeriumbestätigt, dass es sich um 13 Prozentder Schüler handelt. Das sindmehr als dre<strong>im</strong>al so viele wie in derBevölkerung insgesamt oder in anderenLändern.» 6Dieses Beispiel zeigt exemplarischauf, weshalb vor der Realisierungschulischer Reformen besondereSorgfalt zu walten hat: Weil es fürdie betroffenen Schülerinnen undSchüler keine «zweite Chance» gibt!Ihre Schulzeit ist unwiederbringlichverstrichen! Und in dem zuvor geschildertenkonkreten Fall hat dieInstitution Volksschule, indem sieeiner bizarren Irrlehre aufgesessenist, ihren eigentlichen Auftrag insGegenteil verkehrt: Anstatt den ihranvertrauten Kindern Bildung angedeihenzu lassen, hat sie ihnen Bildungschancenverbaut.Genau aus diesem Grund darf dieöffentliche Schule nicht Exper<strong>im</strong>entierfeldfür jedes noch so realitätsferneKonzept sein, das in irgendeinemerziehungswissenschaftlichenInstitut der Welt erdacht wurde.Lob der SkepsisThomas Mann schrieb: «Das Positiveam Skeptiker ist, dass er alles für möglichhält.» Skepsis in diesem Verständnisist nicht zu verwechseln mit einemunreflektierten, destruktiven Querulantismus,sondern vielmehr eine Haltung,deren wichtigstes Prinzip es ist,jede Botschaft – und glitzere dieserein rhetorisch auch noch so schön –auf ihren tatsächlichen Gehalt hin zuüberprüfen.In diesem Sinne: Vertrauen Sie auf IhrenVerstand, Ihre eigene Wahrnehmungund Ihre berufliche Erfahrung!Bringen Sie sich rational argumentierendin die Debatten ein! HinterfragenSie <strong>im</strong> Besonderen all jenes, wasIhnen als unverrückbare Wahrheitverkauft wird! Und neuerdings könnenSie all dies sogar mit breit abgestützterakademischer Unterstützungtun, wie das Memorandum «MehrBildung – weniger Reformen» zeigt.1http://schuleschweiz.blogspot.ch/search/label/Herzog%20Walter2-4Martin Beglinger, In der Falle –Wie die Schule von Reformwahn undBildungsbürokratie erdrückt wird, DASMAGAZIN, 15. Mai 20105Stephan Schleiss, Wahrheit und Einsicht,Weltwoche, 13. Februar 20136Heike Schmoll, Zweifelhafte Reformenvergrössern die Kulturwüste, FrankfurterAllgemeine Zeitung, 1. September 2011

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