Zehn Jahre in Deutschland - University of Macau Library

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74 Zehn Jahre in Deutschlanddachte. Jetzt weilte ich in Göttingen, in dieser ruhigen beschaulichenStadt. Und ich wusste nicht, warum mir meine Mutter des öfteren imTraum erschien. Ich war erst einige Monate fern meiner Heimat. Warumträumte ich jetzt häufiger von ihr?Ich will nicht das damalige Gefühl mit dem heutigen verfälschen oder esneu darstellen und beschreiben. Deshalb zitiere ich wahrheitsgemäß einigeAbschnitte aus den Tagebüchern meiner ersten Zeit in Göttingen:16. November 1935:Es dunkelt draußen allmählich. Die Abenddämmung ist sehr schön. Ich lasse dasLicht aus und stehe am Fenster. Die dunkle Nacht hängt am Himmel und sinktüber den Dächern hernieder. Alles steht im matten Mondlicht. Mein Herz fängt an,in dieser absoluten Stille leise zu klopfen. Ich denke an meine Heimat, an die altenFreunde in der Heimat. Ich bin so traurig, so einsam. Aber diese Einsamkeit istanders als die normale, es ist eine süße Einsamkeit, die sich nicht ausdrücken lässt, diemir nicht aus dem Sinn geht.18. November 1935:Vor einigen Tagen sagte mir meine Vermieterin, ihr Sohn komme heute von derUniversität nach Hause. Sie freute sich außerordentlich, aber ihr Sohn kam nicht, undsie war sehr enttäuscht. Sie sagte, am Abend führe noch ein Zug, mit dem er vielleichtkomme. Ich sah ihren Gesichtsausdruck und dachte an meine Mutter, die in meinemHeimatdorf unter der Erde liegt. Ich war den Tränen nahe! Ich weiß, Mütter warenund sind immer und überall gleich, früher wie heute, in China oder anderswo.20. November 1935:Ich sehne mich nach dem Heimatdorf, nach meinem Land, nach meinen Freunden zuHause. Manchmal kann ich es einfach nicht mehr ertragen.28. November 1935:Ich liege auf dem Sofa und horche, wie der Wind vorüberweht. Es regnet im Wind, esist dunkel wie in einer stockfinsteren Nacht. In Wogen der Erregung denke ich wieder

11 Sehnsucht nach der Mutter 75an meine Heimat.6. Dezember 1935:Seit einigen Tagen bin ich ruhiger. In letzter Zeit aber finde ich einen Zwei-Jahres-Aufenthalt zu lang. Essen, Kleidung, Wohnung und die Verkehrsmittel bedeutetenfür mich eine unangenehme Umstellung. Ich fürchte, ich kann es keine zwei Jahreaushalten.Soweit die Zitate aus meinen Tagebüchern der Anfangszeit in Göttingen.Tatsächlich gab es noch viele ähnliche Niederschriften, die zeigen, wieich damals fühlte. Kurz gesagt, ich wollte nicht im Ausland bleiben.Dachte ich an meine Mutter und an mein Mutterland, zitterte ich undwurde außerordentlich unruhig. Ich konnte wirklich nicht mehr in derFremde bleiben. Einige Monate später, am 11. Juli 1936, schrieb ich einenProsatext mit dem Thema „Nach dem Traum“. Der Anfang lautete:Nachts habe ich von meiner Mutter geträumt, von den Tränen bin ich aufgewacht. Ichmöchte das Traumbild festhalten, aber es verweht.So hatte ich im Traum meine Mutter als noch Lebende gesehen. Derletzte Abschnitt meines Textes lautet:Oh, Gott! Warum gibst du mir nicht einmal einen deutlichen Traum? Ich schaue zumgrauen Himmel hinauf, das Gesicht meiner Mutter bildet sich dunkel unter Tränen.In China sehnte ich mich nur nach meiner einen, der leiblichenMutter. Jetzt im Ausland dachte ich auch an meine zweite Mutter,an meine Heimat. Diese starke Sehnsucht nach beiden Müttern hieltununterbrochen an, sie begleitete mich zehn Jahre lang in Deutschland,elf Jahre lang in Europa.

74 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>dachte. Jetzt weilte ich <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong> dieser ruhigen beschaulichenStadt. Und ich wusste nicht, warum mir me<strong>in</strong>e Mutter des öfteren imTraum erschien. Ich war erst e<strong>in</strong>ige Monate fern me<strong>in</strong>er Heimat. Warumträumte ich jetzt häufiger von ihr?Ich will nicht das damalige Gefühl mit dem heutigen verfälschen oder esneu darstellen und beschreiben. Deshalb zitiere ich wahrheitsgemäß e<strong>in</strong>igeAbschnitte aus den Tagebüchern me<strong>in</strong>er ersten Zeit <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen:16. November 1935:Es dunkelt draußen allmählich. Die Abenddämmung ist sehr schön. Ich lasse dasLicht aus und stehe am Fenster. Die dunkle Nacht hängt am Himmel und s<strong>in</strong>ktüber den Dächern hernieder. Alles steht im matten Mondlicht. Me<strong>in</strong> Herz fängt an,<strong>in</strong> dieser absoluten Stille leise zu klopfen. Ich denke an me<strong>in</strong>e Heimat, an die altenFreunde <strong>in</strong> der Heimat. Ich b<strong>in</strong> so traurig, so e<strong>in</strong>sam. Aber diese E<strong>in</strong>samkeit istanders als die normale, es ist e<strong>in</strong>e süße E<strong>in</strong>samkeit, die sich nicht ausdrücken lässt, diemir nicht aus dem S<strong>in</strong>n geht.18. November 1935:Vor e<strong>in</strong>igen Tagen sagte mir me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong>, ihr Sohn komme heute von derUniversität nach Hause. Sie freute sich außerordentlich, aber ihr Sohn kam nicht, undsie war sehr enttäuscht. Sie sagte, am Abend führe noch e<strong>in</strong> Zug, mit dem er vielleichtkomme. Ich sah ihren Gesichtsausdruck und dachte an me<strong>in</strong>e Mutter, die <strong>in</strong> me<strong>in</strong>emHeimatdorf unter der Erde liegt. Ich war den Tränen nahe! Ich weiß, Mütter warenund s<strong>in</strong>d immer und überall gleich, früher wie heute, <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a oder anderswo.20. November 1935:Ich sehne mich nach dem Heimatdorf, nach me<strong>in</strong>em Land, nach me<strong>in</strong>en Freunden zuHause. Manchmal kann ich es e<strong>in</strong>fach nicht mehr ertragen.28. November 1935:Ich liege auf dem S<strong>of</strong>a und horche, wie der W<strong>in</strong>d vorüberweht. Es regnet im W<strong>in</strong>d, esist dunkel wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er stockf<strong>in</strong>steren Nacht. In Wogen der Erregung denke ich wieder

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