Zehn Jahre in Deutschland - University of Macau Library

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40 Zehn Jahre in Deutschland7. In der roten HauptstadtMoskau war damals weltweit die einzige Hauptstadt einessozialistischen Landes. Viele Menschen wollten sie sehen. Ichauch.Auf keinem Fahrplan stand, dass der Zug hier zwei Tage Aufenthalt hatte.Fahrgäste, die diese Reise bereits unternommen hatten, erzählten jedoch,dass jeder Zug aus irgendeinem Grund einen Tag in Moskau bleibenwürde. Der Grund lag auf der Hand. Die sowjetische Behörde versuchte,den Menschen aus kapitalistischen Ländern einmal den Charme derSowjetunion zu zeigen und uns mit sozialistisch erquickendem Tau zubenetzen. Wir sollten eine Gehirnwäsche erhalten, unsere Weltanschauungändern und unserem grauen Leben etwas Rot geben.Auf uns junge Menschen übte die Rote Hauptstadt eine Anziehungskraftaus. Mein Gefühl war widersprüchlich. Die Unabhängigkeit der ÄußerenMongolei konnte ich nicht verstehen. Jetzt waren wir in der Hauptstadtder Sowjetunion. Die Erlebnisse während der Reise hatten keine gutenEindrücke hinterlassen. Der Zug hielt.Das Eisenbahnamt verkündete, die Waggons müssten repariert

7 In der roten Hauptstadt 41werden. Da erschien eine Reisebegleiterin, jung und hübsch, weiß undschlank, sehr elegant, modern gekleidet, mit Lippenstift und lackiertenFingernägeln, Perlen und Schmuck. Ich war überrascht. Damalsverwendete man das Wort „ultralink“ noch nicht, meine Ideologie aberwar anscheinend ultralink. Eine „proletarische“ junge Frau jedenfalls hatteich mir ganz anders vorgestellt. Was unterschied die „proletarische“ vonder „bürgerlichen Frau“? Ihre Seele mochte rot sein, aber die sah ich janicht. Ich verstand es nicht. Vor mir sah ich diese kokette Frau.Wir ausländischen Fahrgäste wurden in einen Bus verfrachtet, um dieSehenswürdigkeiten der Stadt zu besichtigen. Die Reisebegleiterin sprachEnglisch. Der Bus hielt irgendwo, und vor uns lag eine Reihe baufälligerHochhäuser. Sie erzählte, in welchem Fünfjahresplan alte abgerissen undneue aufgebaut würden. Gut, warum nicht. Der Bus hielt dann an einemanderen Ort, wo die Begleiterin kühl erklärte: „Diese Häuser werden imnächsten Fünfjahresplan abgerissen und neue gebaut.“ Sehr gut, warumnicht. Dann weiter. An jeder Station sagte sie immer dasselbe, gefühllosund mit marmorkalter Miene. So hatte wir Gelegenheit, den sowjetischenFünfjahresplan tüchtig zu studieren, bekamen aber kein einzigesneues Haus zu sehen. Ich fragte mich, warum wohl nicht. War das derSozialismus?Schließlich führte uns die junge Reiseführerin zu einem prunkvollenGebäude. Vor der Oktoberrevolution war es die Residenz eineszaristischen Ministers gewesen, jetzt diente es als Gästehaus des staatlichenReisebüros. Der Fußboden war mit Marmor ausgelegt, Wände und Säulenbestanden auch aus Marmor, es leuchtete in allen Farben voller Glanz undPracht. Von der Decke hing ein großer Kristallleuchter, mindestens zehnMeter lang. Ich fühlte mich wie in einer Märchenwelt. Die Mitarbeiterhier waren meistens junge und hübsche Frauen. Alle hatten rote Lippen

7 In der roten Hauptstadt 41werden. Da erschien e<strong>in</strong>e Reisebegleiter<strong>in</strong>, jung und hübsch, weiß undschlank, sehr elegant, modern gekleidet, mit Lippenstift und lackiertenF<strong>in</strong>gernägeln, Perlen und Schmuck. Ich war überrascht. Damalsverwendete man das Wort „ultral<strong>in</strong>k“ noch nicht, me<strong>in</strong>e Ideologie aberwar ansche<strong>in</strong>end ultral<strong>in</strong>k. E<strong>in</strong>e „proletarische“ junge Frau jedenfalls hatteich mir ganz anders vorgestellt. Was unterschied die „proletarische“ vonder „bürgerlichen Frau“? Ihre Seele mochte rot se<strong>in</strong>, aber die sah ich janicht. Ich verstand es nicht. Vor mir sah ich diese kokette Frau.Wir ausländischen Fahrgäste wurden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Bus verfrachtet, um dieSehenswürdigkeiten der Stadt zu besichtigen. Die Reisebegleiter<strong>in</strong> sprachEnglisch. Der Bus hielt irgendwo, und vor uns lag e<strong>in</strong>e Reihe baufälligerHochhäuser. Sie erzählte, <strong>in</strong> welchem Fünfjahresplan alte abgerissen undneue aufgebaut würden. Gut, warum nicht. Der Bus hielt dann an e<strong>in</strong>emanderen Ort, wo die Begleiter<strong>in</strong> kühl erklärte: „Diese Häuser werden imnächsten Fünfjahresplan abgerissen und neue gebaut.“ Sehr gut, warumnicht. Dann weiter. An jeder Station sagte sie immer dasselbe, gefühllosund mit marmorkalter Miene. So hatte wir Gelegenheit, den sowjetischenFünfjahresplan tüchtig zu studieren, bekamen aber ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zigesneues Haus zu sehen. Ich fragte mich, warum wohl nicht. War das derSozialismus?Schließlich führte uns die junge Reiseführer<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em prunkvollenGebäude. Vor der Oktoberrevolution war es die Residenz e<strong>in</strong>eszaristischen M<strong>in</strong>isters gewesen, jetzt diente es als Gästehaus des staatlichenReisebüros. Der Fußboden war mit Marmor ausgelegt, Wände und Säulenbestanden auch aus Marmor, es leuchtete <strong>in</strong> allen Farben voller Glanz undPracht. Von der Decke h<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> großer Kristallleuchter, m<strong>in</strong>destens zehnMeter lang. Ich fühlte mich wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Märchenwelt. Die Mitarbeiterhier waren meistens junge und hübsche Frauen. Alle hatten rote Lippen

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