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Zehn Jahre in Deutschland - University of Macau Library

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6 Über Sibirien 37hatte e<strong>in</strong> Paar Schuhe mit hohen Absätzen an und stolzierte strahlendund würdevoll wie e<strong>in</strong> großer General an uns vorbei. In der rechten Handtrug sie e<strong>in</strong>en Teller mit frisch gebratenen Beefsteaks. Sie dufteten nachallen Seiten und sahen so e<strong>in</strong>ladend aus, dass uns das Wasser im Mundezusammenlief. Der Preis <strong>in</strong>dessen war erschreckend: Jedes Stück kostetedrei US-Dollar. Das wollte <strong>in</strong> unserem Abteil niemand dafür ausgeben.Der weibliche „General“ kam mit dem Teller zurück. Ob sie uns alsausländische Bourgeois verachtete? Oder dachte sie: „Ihr alle seid geizigerals Shylock <strong>in</strong> Shakespeares Drama ‚Der Kaufmann von Venedig‘ “? Ke<strong>in</strong>eAhnung. Der Beefsteakduft war verschwunden, aber wir hatten jetztHunger. Wir holten unseren Korb und bissen <strong>in</strong> unser Brot.So sah unsere Verpflegung im Zug aus. Wie war es aber für die Russen?Ganz anders als <strong>in</strong> unserer Vorstellung. Sie hatten von Haerb<strong>in</strong> auske<strong>in</strong>en Korb mitgebracht, ne<strong>in</strong>. Sie besorgten sich die Nahrung vor Ort.Ich hatte vorher erwähnt, dass zwei Betten <strong>in</strong> unseren beiden Abteilennicht von uns benutzt und abwechselnd von anderen Reisenden belegtwurden. E<strong>in</strong>es Tages kam e<strong>in</strong> sowjetischer Offizier here<strong>in</strong>. Wir kanntendie sowjetischen Epauletten nicht und wussten deshalb nicht, welchenRang er hatte. Der Offizier war sehr freundlich, schaute sich im Abteilum und nickte uns lächelnd zu. Wir erwiderten se<strong>in</strong> Lächeln, konntenihn aber leider nicht verstehen und nur mite<strong>in</strong>ander gestikulieren. Erholte aus se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Tasche e<strong>in</strong> Heftchen mit e<strong>in</strong>em Foto, das wie e<strong>in</strong>Ausweis aussah. Dann versuchte er uns mit Gesten dessen Bedeutungverständlich zu machen. Dabei deutete er mit der rechten Hand aufse<strong>in</strong>en Hals, um zu zeigen, dass er enthauptet würde, wenn das Heftchenverloren g<strong>in</strong>ge. Dieses Heftchen war allmächtig. An jeder großen Stationbekam er damit Brot, Butter, Käse und Wurst. So also funktionierte dasVersorgungssystem der Roten Armee.

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