Zehn Jahre in Deutschland - University of Macau Library
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20 Zehn Jahre in Deutschlandin die Höhe und warfen ihre Schatten auf die Erde, Blumen gediehen ingrünen Büschen, Zikaden sangen auf den Zweigen und Lotospflanzenwiegten sich im Wind hin und her. In den Westbergen musste esjetzt auch wunderschön sein. Überall bot sich ein herrlicher Anblick,aber ich war im Innern traurig und einsam. Vor einem Jahr waren wirjungen Studenten hier zusammengekommen, manchmal hatten wir imWind Verse vorgetragen, manchmal im Mondlicht geplaudert. In derAbenddämmerung waren wir in der Wildnis spazieren gegangen, abund zu vergnügt um den Lotosteich gewandelt und hatten den Lotos imMondschein bewundert. Wie schön diese Zeit gewesen war! Wie schnellwar sie vergangen! An jenem Abend aber blieb ich allein hier in diesemHof mit seinem sauberen Wasser und den üppigen Bäumen. Dabei dachteich seufzend im Angesicht des Mondes an meine Lieben. Die Menschenwaren gegangen, die Häuser standen leer. Das ganze Weltall schienausgestorben zu sein, unerträglich die Leere.Das I-förmige Gebäude, in dem ich jetzt wohnte, lag im Zentrum desQinghua-Geländes. Das Haus meines Lehrers Wu Mi stand hier und trugden Namen „Weinrebenschatten und Lotosstimme“. Auch er hatte dieUniversität verlassen. So konnte ich nur durchs Fenster hineinschauen.Die Erinnerungen an vergangene Zeiten betrübten mich. Nicht weit vonhier befand sich der Pavillon am See, und auch die Spruchtafel mit denvier Wörtern „Wasser-Holz-Qing-Hua“ hing noch immer dort. In diesemgroßen Pavillon gab es viele Möbelstücke aus Rotholz. Das Gebäudewirkte edel und vornehm, jetzt auch ruhig, weil es nur wenige Besuchergab. Vor einigen Jahren hatte ich mich hier mit meinen Freunden WuZuxiang, Lin Geng und Li Changzhi unterhalten. Wir, allesamt leichtaufbrausende junge Leute, schwatzten endlos daher. Wir zeigten zwarnicht mit Fingern auf die schmutzigen Feudalherren, aber wir kritisierten
3 Reisevorbereitung in Beiping 21in anmaßender Weise die Literaten. Ich erinnere mich, als Mao Duns 19Roman „Mitternacht“ erschien, trafen wir uns hier und diskutierten sehrkontrovers über das Buch. Die einen bejahten es absolut, die anderenlehnten es grundsätzlich ab. Wir stritten und stritten, kamen aber zukeinem Ergebnis, was auch nicht nötig war. Jeder stellte seine extremenAuffassungen dar, und dann ging es weiter zu anderen Themen. Allewaren damals freudig erregt gewesen. Heute war ich einsam in diesemPavillon, dachte an meine Freunde und wusste nicht recht, warum ich sotraurig war.In diesen Tagen der Muße suchte ich einige Lehrer auf. Zuerst HerrnFeng Youlan, der den Vertrag mit Deutschland vermittelt haben soll, dannHerrn Jiang Tingfu. Auch er soll sich darum bemüht haben. Er erklärtemir offen und ehrlich, Deutschland sei ein faschistisches Land, und ichmüsse dort sehr vorsichtig mit Worten und Taten sein, sonst würdensich Konsequenzen ergeben. Ich war ihm sehr dankbar. Ferner besuchteich Herrn Wen Yiduo 20 . Es war unsere erste, leider aber auch die letzteBegegnung. Elf Jahre später, als ich aus Deutschland zurückkehrte, warer längst von den Guomingdang-Reaktionären ermordet worden. Ichhatte diesen Lyriker und Gelehrten sehr verehrt. Worüber wir sprachen,habe ich vergessen, aber er wird mir immer in Erinnerung bleiben.Eines Abends, kurz nach dem Abendessen, verließ ich allein das I-förmigeGebäude und schlenderte um den Lotosteich herum, in einer Stimmung,wie sie Zhu Ziqing in seiner Erzählung „Lotosteich im Mondlicht“beschrieben hat. Der Mond hing hoch am Himmel, alles ruhte. DerMond im Wasser schien noch klarer und heller als der am Himmel zu19Mao Dun 茅 盾 (1896 – 1981), berühmter Schriftsteller.20Wen Yiduo 闻 一 多 (1899 – 1946), berühmter Dichter.
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20 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong><strong>in</strong> die Höhe und warfen ihre Schatten auf die Erde, Blumen gediehen <strong>in</strong>grünen Büschen, Zikaden sangen auf den Zweigen und Lotospflanzenwiegten sich im W<strong>in</strong>d h<strong>in</strong> und her. In den Westbergen musste esjetzt auch wunderschön se<strong>in</strong>. Überall bot sich e<strong>in</strong> herrlicher Anblick,aber ich war im Innern traurig und e<strong>in</strong>sam. Vor e<strong>in</strong>em Jahr waren wirjungen Studenten hier zusammengekommen, manchmal hatten wir imW<strong>in</strong>d Verse vorgetragen, manchmal im Mondlicht geplaudert. In derAbenddämmerung waren wir <strong>in</strong> der Wildnis spazieren gegangen, abund zu vergnügt um den Lotosteich gewandelt und hatten den Lotos imMondsche<strong>in</strong> bewundert. Wie schön diese Zeit gewesen war! Wie schnellwar sie vergangen! An jenem Abend aber blieb ich alle<strong>in</strong> hier <strong>in</strong> diesemH<strong>of</strong> mit se<strong>in</strong>em sauberen Wasser und den üppigen Bäumen. Dabei dachteich seufzend im Angesicht des Mondes an me<strong>in</strong>e Lieben. Die Menschenwaren gegangen, die Häuser standen leer. Das ganze Weltall schienausgestorben zu se<strong>in</strong>, unerträglich die Leere.Das I-förmige Gebäude, <strong>in</strong> dem ich jetzt wohnte, lag im Zentrum desQ<strong>in</strong>ghua-Geländes. Das Haus me<strong>in</strong>es Lehrers Wu Mi stand hier und trugden Namen „We<strong>in</strong>rebenschatten und Lotosstimme“. Auch er hatte dieUniversität verlassen. So konnte ich nur durchs Fenster h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>schauen.Die Er<strong>in</strong>nerungen an vergangene Zeiten betrübten mich. Nicht weit vonhier befand sich der Pavillon am See, und auch die Spruchtafel mit denvier Wörtern „Wasser-Holz-Q<strong>in</strong>g-Hua“ h<strong>in</strong>g noch immer dort. In diesemgroßen Pavillon gab es viele Möbelstücke aus Rotholz. Das Gebäudewirkte edel und vornehm, jetzt auch ruhig, weil es nur wenige Besuchergab. Vor e<strong>in</strong>igen <strong>Jahre</strong>n hatte ich mich hier mit me<strong>in</strong>en Freunden WuZuxiang, L<strong>in</strong> Geng und Li Changzhi unterhalten. Wir, allesamt leichtaufbrausende junge Leute, schwatzten endlos daher. Wir zeigten zwarnicht mit F<strong>in</strong>gern auf die schmutzigen Feudalherren, aber wir kritisierten