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Zehn Jahre in Deutschland - University of Macau Library

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214 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>und diese Erniedrigung ertragen. Der Pr<strong>of</strong>essor war über fünfzig, vollerTatkraft und e<strong>in</strong> typischer deutscher Charakter. Wir lernten uns zufälligkennen, wie Wasserl<strong>in</strong>sen das Wasser, und fühlten uns schon bei derersten Begegnung wie alte Bekannte. E<strong>in</strong>e Zeitlang trafen wir uns täglichund übersetzten zusammen „Die Gespräche“ des Konfuzius und „DieGoldene Mitte“.Pr<strong>of</strong>essor Kern hatte e<strong>in</strong> großartiges Werk geplant, e<strong>in</strong>e „HistoriaMundi“ mit mehr als zehn Bänden. Dar<strong>in</strong> sollten Geschichte und Kulturverschiedener Länder weltweit verglichen werden. Forschungen zuch<strong>in</strong>esischen Meisterwerken passten gut <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Plan. Se<strong>in</strong> Arbeitsstiler<strong>in</strong>nerte mich an e<strong>in</strong>ige Universalgenies <strong>in</strong> der deutschen Geschichte.Gelegentlich sagte ich ihm scherzhaft, er habe zu viel Fantasie. Dannlachte er und antwortete, dass ich manchmal zu kritisch sei – e<strong>in</strong> Zeichenunserer harmonischen Beziehung. Das Ehepaar Kern sorgte auch fürme<strong>in</strong> Wohlergehen. In all den zehn <strong>Jahre</strong>n <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> hatte ich ke<strong>in</strong>Geld, um e<strong>in</strong>en guten neuen Mantel zu kaufen. In jenem W<strong>in</strong>ter trug ichimmer noch me<strong>in</strong>en dünnen und kaputten Mantel, den ich vor elf <strong>Jahre</strong>n<strong>in</strong> Pek<strong>in</strong>g gekauft hatte. Sie bezeichneten ihn als „Mäntelchen“. Frau Kernhat ihn e<strong>in</strong>ige Male geflickt und ausgebessert. Sie strickte mir auch e<strong>in</strong>enPullover. Wie das auf e<strong>in</strong>en Fremden, der se<strong>in</strong>e Heimat verlassen hatte,wirkte, kann man sich vorstellen. Am 20. November 1945 notierte ich <strong>in</strong>me<strong>in</strong>em Tagebuch:Pr<strong>of</strong>essor Kern hat versucht, mich zum Bleiben zu überreden. Wir kennen uns erst seitkurzem, aber zwischen uns gibt es e<strong>in</strong> stärkeres Gefühl als zwischen e<strong>in</strong>em Lehrer undse<strong>in</strong>em Schüler. Wir wollen uns nicht vone<strong>in</strong>ander trennen. Ich b<strong>in</strong> traurig. Warumhat der Himmel mich so gemacht?Das Ehepaar blieb mir me<strong>in</strong> Leben lang unvergesslich. Nach me<strong>in</strong>erRückkehr <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a schrieben wir uns noch e<strong>in</strong>ige Briefe. Später hörte

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