Zehn Jahre in Deutschland - University of Macau Library

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204 Zehn Jahre in Deutschland32. Die Fahrt in die SchweizAm 6. Oktober 1945 verließ ich Göttingen und reiste mit einem Jeepin die Schweiz.Woher wir den Wagen bekommen hatten, muss ich erzählen. Wiebereits mehrmals erwähnt, war der Verkehr in Deutschland völligzusammengebrochen. Um aber in die Schweiz zu gelangen, benötigtenwir ein Auto. Deshalb wandten Zhang Wei und ich uns erneut an dieAlliierten. Es gab nur noch wenige amerikanische Soldaten, die sichin Göttingen aufhielten, denn die Stadtverwaltung war schon auf dieEngländer übergegangen. Bei der so genannten Militärregierung suchtenwir einen höflichen englischen Hauptmann mit Namen Watkins auf,der uns Hilfe versprach. Wir vereinbarten, am 6. Oktober abzureisen.Im Wagen saßen der Fahrer, ein Franzose, dazu ein amerikanischerMajor, der die Gelegenheit nutzen wollte, um die Schweiz zu besuchen.Amerikanische Soldaten durften nur nach einer bestimmten Anzahl vonDienstjahren in die Schweiz reisen. Die Möglichkeit gab es nicht oft, unddiese Chance wollte er sich nicht entgehen lassen.

32 Die Fahrt in die Schweiz 205Wir waren insgesamt sechs Chinesen, die Göttingen verließen. Diedreiköpfige Familie von Zhang Wei, Herr und Frau Liu und ich.Nach aufgeregten Abschiedsszenen stiegen wir in den Wagen undfuhren auf die weltbekannte Reichsautobahn. Als ich auf Göttingenzurückblickte, ging mir ein Tang-Gedicht über die Lippen: „Im Rückblickwar der ehemals fremde Ort zur Heimat geworden.“Die Göttinger Luft war klar und frisch. Der Wagen fuhr immer schneller,und die Stadt wurde zu einem Schatten, bis sie völlig verschwand.Meinem Abschiedsschmerz konnte ich mich nicht lange hingeben.Grüne Berge und Flüsse links und rechts von der Autobahn zogen meineAufmerksamkeit auf sich. Überall wuchsen dichte Wälder, die unter demKrieg kaum gelitten hatten. Es war gerade die goldene Herbstzeit, dieBäume standen in voller Pracht. Die farbigen Bilder, die ich erblickte,sahen genau so aus wie im dichten Herbstwald von Göttingen, wie ich esjedes Jahr erlebt hatte. Die Farben veränderten sich während der Fahrtund verursachten in meinem Innern ein wohliges Gefühl. Aber sobaldwir durch größere Städte fuhren, sahen wir wieder Trümmerfelder – eintrauriger Anblick. Es war ein Wechselbad der Gefühle. Dazu fiel mir einkleines zweizeiliges Gedicht ein:Die Bäume auf den Feldern sind herzlos,nach wie vor färbt die Abendröte den Herbsthimmel.Da es schon fast Mittag war, als wir Göttingen verließen, erreichten wirFrankfurt so spät, dass wir dort übernachten mussten. Das war sicherganz im Sinne des amerikanischen Majors, denn in Frankfurt befand sichdas Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte in Deutschland. Da gabes für ihn natürlich günstige Verpflegung und Übernachtungsmöglichkeiten.Wir schliefen in einem eigens für amerikanische Offiziere reserviertenHotel mit dem Namen „Vier Jahreszeiten“. Der amerikanische Verwalter

32 Die Fahrt <strong>in</strong> die Schweiz 205Wir waren <strong>in</strong>sgesamt sechs Ch<strong>in</strong>esen, die Gött<strong>in</strong>gen verließen. Diedreiköpfige Familie von Zhang Wei, Herr und Frau Liu und ich.Nach aufgeregten Abschiedsszenen stiegen wir <strong>in</strong> den Wagen undfuhren auf die weltbekannte Reichsautobahn. Als ich auf Gött<strong>in</strong>genzurückblickte, g<strong>in</strong>g mir e<strong>in</strong> Tang-Gedicht über die Lippen: „Im Rückblickwar der ehemals fremde Ort zur Heimat geworden.“Die Gött<strong>in</strong>ger Luft war klar und frisch. Der Wagen fuhr immer schneller,und die Stadt wurde zu e<strong>in</strong>em Schatten, bis sie völlig verschwand.Me<strong>in</strong>em Abschiedsschmerz konnte ich mich nicht lange h<strong>in</strong>geben.Grüne Berge und Flüsse l<strong>in</strong>ks und rechts von der Autobahn zogen me<strong>in</strong>eAufmerksamkeit auf sich. Überall wuchsen dichte Wälder, die unter demKrieg kaum gelitten hatten. Es war gerade die goldene Herbstzeit, dieBäume standen <strong>in</strong> voller Pracht. Die farbigen Bilder, die ich erblickte,sahen genau so aus wie im dichten Herbstwald von Gött<strong>in</strong>gen, wie ich esjedes Jahr erlebt hatte. Die Farben veränderten sich während der Fahrtund verursachten <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Innern e<strong>in</strong> wohliges Gefühl. Aber sobaldwir durch größere Städte fuhren, sahen wir wieder Trümmerfelder – e<strong>in</strong>trauriger Anblick. Es war e<strong>in</strong> Wechselbad der Gefühle. Dazu fiel mir e<strong>in</strong>kle<strong>in</strong>es zweizeiliges Gedicht e<strong>in</strong>:Die Bäume auf den Feldern s<strong>in</strong>d herzlos,nach wie vor färbt die Abendröte den Herbsthimmel.Da es schon fast Mittag war, als wir Gött<strong>in</strong>gen verließen, erreichten wirFrankfurt so spät, dass wir dort übernachten mussten. Das war sicherganz im S<strong>in</strong>ne des amerikanischen Majors, denn <strong>in</strong> Frankfurt befand sichdas Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>. Da gabes für ihn natürlich günstige Verpflegung und Übernachtungsmöglichkeiten.Wir schliefen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em eigens für amerikanische Offiziere reserviertenHotel mit dem Namen „Vier <strong>Jahre</strong>szeiten“. Der amerikanische Verwalter

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