Zehn Jahre in Deutschland - University of Macau Library

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13.07.2015 Aufrufe

148 Zehn Jahre in DeutschlandRichtung beschossen hatten. Seine Frau erzählte mir, zum Zeitpunkt derExplosion sei ihr Mann gerade, gebeugt über die Tischplatte, in seineTocharisch-Lektüre vertieft gewesen. Sämtliche Fensterscheiben warenzerbrochen. Überall auf seinem Tisch lagen Scherben. Aber ihm warnichts passiert. Als ich das hörte, bekam ich nachträglich Angst. FürHerrn Sieg war die Forschung wichtiger als sein Leben. Mein Respekt fürihn schlug so hohe Wellen wie in einem Ozean. Sieg war ein erfolgreicherMann. Die deutschen Wissenschaftler verzeichneten überhaupt brillanteErfolge. Das musste ja irgendwo herkommen. Was können wir aus dieserkleinen Geschichte lernen?Ich erinnere mich an den Verlauf meines Tocharisch-Studiums nurbruckstückhaft. Eigentlich war die Wahl ein Zufall. Ja, aber das stimmtauch nicht ganz. Mit dem Zufall einher ging auch eine Notwendigkeit.Können wir hier von Notwendigkeit sprechen? Egal, ich habe dieSprache gelernt und dieses Wissen nach China gebracht. Obwohl ichTocharisch nicht als Hauptfach, sondern als Nebenfach studierte undaus unterschiedlichen Gründen später über dreißig Jahre nicht darangearbeitet habe, nahm ich die Studien danach wieder auf. Immerhinhaben diese Sprachforschungen in China Wurzeln geschlagen und sicherfolgreich etabliert. Wenn ich daran denke, erinnere ich mich dankbar anmeinen großväterlichen Lehrer Sieg.Professor Sieg ist inzwischen längst gestorben, ich selbst bin fast achtzigJahre alt und die Zeit für meine Arbeit ist begrenzt, aber die Gedankenan ihn beflügeln meine Kräfte. Ich habe mein Wissen zurück nach Chinagebracht. Wir haben die chinesische Tocharisch-Forschung, oder bessergesagt, die chinesische Indologie, in China gegründet. Wir – das stehtauch für eine Gruppe von tatkräftigen Sanskrit-Forschern mittleren Alters,

22 Das Tocharisch-Studium 149Schüler von Jin Kemu und mir, also Schüler der Schüler von ProfessorSieg und Professor Waldschmidt. Sie tragen eine riesige Verantwortungauf ihren Schultern, davon bin ich überzeugt. Wenn ich das bedenke, kannich eine neu aufkommende Lebensenergie nicht unterdrücken, obwohl ichbereits alt und verwirrt bin.

148 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Richtung beschossen hatten. Se<strong>in</strong>e Frau erzählte mir, zum Zeitpunkt derExplosion sei ihr Mann gerade, gebeugt über die Tischplatte, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>eTocharisch-Lektüre vertieft gewesen. Sämtliche Fensterscheiben warenzerbrochen. Überall auf se<strong>in</strong>em Tisch lagen Scherben. Aber ihm warnichts passiert. Als ich das hörte, bekam ich nachträglich Angst. FürHerrn Sieg war die Forschung wichtiger als se<strong>in</strong> Leben. Me<strong>in</strong> Respekt fürihn schlug so hohe Wellen wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ozean. Sieg war e<strong>in</strong> erfolgreicherMann. Die deutschen Wissenschaftler verzeichneten überhaupt brillanteErfolge. Das musste ja irgendwo herkommen. Was können wir aus dieserkle<strong>in</strong>en Geschichte lernen?Ich er<strong>in</strong>nere mich an den Verlauf me<strong>in</strong>es Tocharisch-Studiums nurbruckstückhaft. Eigentlich war die Wahl e<strong>in</strong> Zufall. Ja, aber das stimmtauch nicht ganz. Mit dem Zufall e<strong>in</strong>her g<strong>in</strong>g auch e<strong>in</strong>e Notwendigkeit.Können wir hier von Notwendigkeit sprechen? Egal, ich habe dieSprache gelernt und dieses Wissen nach Ch<strong>in</strong>a gebracht. Obwohl ichTocharisch nicht als Hauptfach, sondern als Nebenfach studierte undaus unterschiedlichen Gründen später über dreißig <strong>Jahre</strong> nicht darangearbeitet habe, nahm ich die Studien danach wieder auf. Immerh<strong>in</strong>haben diese Sprachforschungen <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a Wurzeln geschlagen und sicherfolgreich etabliert. Wenn ich daran denke, er<strong>in</strong>nere ich mich dankbar anme<strong>in</strong>en großväterlichen Lehrer Sieg.Pr<strong>of</strong>essor Sieg ist <strong>in</strong>zwischen längst gestorben, ich selbst b<strong>in</strong> fast achtzig<strong>Jahre</strong> alt und die Zeit für me<strong>in</strong>e Arbeit ist begrenzt, aber die Gedankenan ihn beflügeln me<strong>in</strong>e Kräfte. Ich habe me<strong>in</strong> Wissen zurück nach Ch<strong>in</strong>agebracht. Wir haben die ch<strong>in</strong>esische Tocharisch-Forschung, oder bessergesagt, die ch<strong>in</strong>esische Indologie, <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a gegründet. Wir – das stehtauch für e<strong>in</strong>e Gruppe von tatkräftigen Sanskrit-Forschern mittleren Alters,

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