Zehn Jahre in Deutschland - University of Macau Library

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13.07.2015 Aufrufe

136 Zehn Jahre in DeutschlandIch erinnere mich auch an meinen dritten Lehrer, Professor Braun, denSlawisten. Schon sein Vater war an der Universität Leipzig als Slawistik-Professor tätig gewesen. Das Fach lag also in der Familie. Er sprachfließend viele slawische Sprachen. Als ich ihn traf, war er jung undunterrichtete noch nicht als Professor. Aufgrund seines jungen Alterswurde auch er zum Militär eingezogen, jedoch nie an der Front eingesetzt.Man beschäftigte ihn als hochrangigen Übersetzer. Zahlreiche hoherussische Offiziere waren in deutsche Gefangenschaft geraten. Hitlerund die Faschisten ließen sie verhören, um ihnen Geheimnisse derSowjetunion zu entlocken. Die Aufgabe eines Übersetzers war dabei vonenormer Wichtigkeit. Jedes Mal, wenn Professor Braun auf Urlaub nachHause kam, erzählte er mir interessante Episoden aus seiner Tätigkeitals Übersetzer. Sehr oft handelte es sich um wahre Begebenheiten mitdeutschen und russischen Offizieren. So berichtete er mir, dass dieGeschütze der russischen Armee derart stark seien, dass die Deutschenihnen nichts entgegensetzen könnten. Das war ein großes Geheimnis.Aus deutscher Sicht durfte es auf keinen Fall durchsickern. Ich war tiefbeeindruckt.Professor Braun führte ein glückliches Familienleben mit einer jungenFrau und zwei Söhnen. Der ältere hieß Andreas. Ich schätzte ihn aufungefähr fünf bis sechs Jahre. Der jüngere hieß Stefan und war erstzwei oder drei Jahre alt. Mir gegenüber verhielt sich Stefan besondersfreundlich. Wenn ich die Familie besuchte, lief er mir schon von weitementgegen und warf sich in meine Arme. Seine Mutter gab mir den Rat:„Jetzt sollten Sie ihn fest umfassen und ihn zwei-, dreimal im Kreisherumdrehen, das Spiel liebt er besonders.“ Das Ehepaar war sehrsympathisch, spontan und offenherzig, manchmal allerdings nicht sehrzielstrebig.

21 Meine Lehrer 137Professor Brauns Haus lag nicht weit von meiner Wohnung entfernt,nur zwei bis drei Minuten zu Fuß. Deshalb hielt ich mich oft bei ihmzu Hause auf. Er besaß eine alte chinesische Stickerei mit fünf großenSchriftzeichen: „Shi you xi shan xing.“( 时 有 溪 山 兴 )Er bat mich um eineÜbersetzung. Sie lautete: „Hin und wieder möchte man Berge und Flüsseerleben.“Seitdem entwickelte er Interesse an der chinesischen Sprache, kaufte einchinesisch-deutsches Wörterbuch und las Tang-Gedichte. Er suchte jedesZeichen heraus und konnte zu meiner Überraschung einige Bedeutungenerklären. Ich korrigierte ihn und vermittelte ihm einige grammatikalischeGrundkenntnisse. Was die Strukturen der chinesischen Grammatikanging, so besaß er schon ein großes Gespür dafür, obwohl er aus derindogermanischen Sprachabteilung kam, dessen Sprachstrukturen wirklichPrinzenstraße 21, Michaelishaus

136 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Ich er<strong>in</strong>nere mich auch an me<strong>in</strong>en dritten Lehrer, Pr<strong>of</strong>essor Braun, denSlawisten. Schon se<strong>in</strong> Vater war an der Universität Leipzig als Slawistik-Pr<strong>of</strong>essor tätig gewesen. Das Fach lag also <strong>in</strong> der Familie. Er sprachfließend viele slawische Sprachen. Als ich ihn traf, war er jung undunterrichtete noch nicht als Pr<strong>of</strong>essor. Aufgrund se<strong>in</strong>es jungen Alterswurde auch er zum Militär e<strong>in</strong>gezogen, jedoch nie an der Front e<strong>in</strong>gesetzt.Man beschäftigte ihn als hochrangigen Übersetzer. Zahlreiche hoherussische Offiziere waren <strong>in</strong> deutsche Gefangenschaft geraten. Hitlerund die Faschisten ließen sie verhören, um ihnen Geheimnisse derSowjetunion zu entlocken. Die Aufgabe e<strong>in</strong>es Übersetzers war dabei vonenormer Wichtigkeit. Jedes Mal, wenn Pr<strong>of</strong>essor Braun auf Urlaub nachHause kam, erzählte er mir <strong>in</strong>teressante Episoden aus se<strong>in</strong>er Tätigkeitals Übersetzer. Sehr <strong>of</strong>t handelte es sich um wahre Begebenheiten mitdeutschen und russischen Offizieren. So berichtete er mir, dass dieGeschütze der russischen Armee derart stark seien, dass die Deutschenihnen nichts entgegensetzen könnten. Das war e<strong>in</strong> großes Geheimnis.Aus deutscher Sicht durfte es auf ke<strong>in</strong>en Fall durchsickern. Ich war tiefbee<strong>in</strong>druckt.Pr<strong>of</strong>essor Braun führte e<strong>in</strong> glückliches Familienleben mit e<strong>in</strong>er jungenFrau und zwei Söhnen. Der ältere hieß Andreas. Ich schätzte ihn aufungefähr fünf bis sechs <strong>Jahre</strong>. Der jüngere hieß Stefan und war erstzwei oder drei <strong>Jahre</strong> alt. Mir gegenüber verhielt sich Stefan besondersfreundlich. Wenn ich die Familie besuchte, lief er mir schon von weitementgegen und warf sich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Arme. Se<strong>in</strong>e Mutter gab mir den Rat:„Jetzt sollten Sie ihn fest umfassen und ihn zwei-, dreimal im Kreisherumdrehen, das Spiel liebt er besonders.“ Das Ehepaar war sehrsympathisch, spontan und <strong>of</strong>fenherzig, manchmal allerd<strong>in</strong>gs nicht sehrzielstrebig.

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