Zehn Jahre in Deutschland - University of Macau Library
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102 Zehn Jahre in Deutschlandmein Tagebuch:Bereits um fünf Uhr morgens war ich wach. Ich dachte an die mündliche Prüfung undkonnte nicht mehr einschlafen. Um sieben Uhr stand ich auf. Nach dem Frühstück lasich. Ich war sehr nervös, konnte mich nicht konzentrieren.Um halb zehn Uhr ging ich zum Verwaltungsgebäude der Universität. Auf demWeg fühlte ich mich wie ein Gefangener vor der Hinrichtung. Um zehn Uhr beganndann die Prüfung. Professor Waldschmidt stellte Fragen, Professor Deichgräber saßneben ihm. Professor Braun kam etwas später. Die Prüfung im Hauptfach verliefglatt. Aber als Professor Braun mit seinen Fragen begann, wurde ich sehr nervös. DieFragen, auf die ich mich gut vorbereitet hatte, stellte er nicht. Seine Fragen warensehr einfach und bezogen sich auf allgemeine Kenntnisse. Ich konnte aber nicht mehrdenken und war voller Panik. Um zwölf Uhr war die Prüfung beendet.Ich bin sehr traurig. Ob ich die Prüfung bestehe oder nicht, das ist jetzt für mich nichtmehr die Hauptsache.Ich hatte in meinem Leben so viele Prüfungen abgelegt und hätte niegedacht, dass ich bei der letzten Prüfung so panisch reagieren würde. ImTagebuch vom nächsten Tag steht:Ich bin fassunglos. Professor Sieg und Professor Waldschmidt finden meine Arbeitgut. Professor Krause meint, das sei eine selten gute Arbeit. Ich glaube, ich kann diePrüfung gut bestehen. Aber bei der Prüfung für Russisch von gestern, da habe ich einsehr schlechtes Gefühl. Was ich weiß, hat er nicht gefragt; auf das, was er fragte, hatteich mich nicht vorbereitet. Ich bin so deprimiert, immer noch.Das waren die Nachwirkungen der Prüfung. Aber am Abend desselbenTages heißt es in meinem Tagebuch:Kurz vor sieben Uhr ging ich zu Professor Waldschmidt. Er hatte mich zumWeihnachtsfest eingeladen. Es schneite, aber es war nicht kalt. Auf dem Weg dachteich nur an die Prüfung von gestern. Ich wollte bei ihm nachfragen. Aber als ich seinHaus betrat, gratulierte er mir und sagte, meine Doktorarbeit sei sehr gut. Indologie
16 Studienabschluss und Rückkehrversuche 103sehr gut, Slawistik sehr gut. Nein, das habe ich nicht erwartet. Ich bin ProfessorBraun sehr dankbar.Der Sohn von Professor Waldschmidt spielte zuerst Geige, dann aßen wir zusammen.Wir zündeten die Kerzen am Weihnachtsbaum an. Wir tranken, aßen Kuchen undplauderten. Halb elf ging ich zurück nach Hause und dachte immer noch an diegestrige Prüfung.Am 19. Februar 1941, als es Professor Roeder wieder besser ging, holteich die mündliche Prüfung für Englisch nach. Professor Waldschmidtnahm daran teil. Ich bekam wieder ein „Sehr gut“. Einschließlich derDoktorarbeit also insgesamt viermal „Sehr gut“. Damit hatte ich dasGesicht der Chinesen gerettet – ein Trost für mein Vaterland, für die Seelemeiner verstorbenen Mutter. Die letzte für den Erwerb des Doktortitelserforderliche Prüfung war beendet.Meine Doktorarbeit löste bei Professor Krause eine gewisse Sensationaus. Er war ein international bekannter Experte für kontrastive Linguistik,eine hervorragende Persönlichkeit. Schon von Kindheit an blind aufbeiden Augen, besass er ein außerordentliches Gedächtnis. Was er einmalhörte, konnte er genau wiedergeben, so exakt wie eine Tonbandaufnahme.Professor Krause beherrschte ein Dutzend alte und neuere Sprachen,darunter einige nordeuropäische. Man las ihm sein Vorlesungsmanuskriptvor der Vorlesung vor, dann konnte er fast wortwörtlich zwei Stundendarüber vortragen. Er hatte bei Professor Sieg Tocharisch studiert. SeinWerk „Die Grammatik des Tocharischen“ war allgemein anerkannt. Eskonnte sich mit den Grammatiken von Sieg, Siegling und Schulze messen.Professor Krause schätzte den Anhang meiner Arbeit über die Endung„matha“ sehr hoch ein. Im Altgriechischen, so seine Worte, gäbe es eineähnliche Endung. Diese parallele Erscheinung sei von bahnbrechenderBedeutung für die Forschung der indo-europäischen kontrastiven
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