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Zehn Jahre in Deutschland - University of Macau Library

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<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>1935 – 1945Ji Xianl<strong>in</strong>Übersetzt vonLi Kuiliu 李 逵 六Roswitha Br<strong>in</strong>kmann 秉 玫 瑰Liu Daoqian 刘 道 前


InhaltsverzeichnisProlog /11. Schwärmerei vom Auslandsstudium /72. E<strong>in</strong> vom Himmel beschertes Glück /143. Reisevorbereitung <strong>in</strong> Beip<strong>in</strong>g /184. Im „Manzhou“-Zug /245. In Haerb<strong>in</strong> /286. Über Sibirien /347. In der roten Hauptstadt /408. Ankunft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> /459. Gött<strong>in</strong>gen /5710. Der Weg ist gefunden /6211. Sehnsucht nach der Mutter /7312. Die ersten zwei <strong>Jahre</strong> /7613. Die Familie von Zhang Yong /8214. Das Institut für S<strong>in</strong>ologie /8915. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges /9516. Studienabschluss und Rückkehrversuche /9917. Das große Bombardement /11018. In der Hölle des Hungers /11519. Gemütsruhe auf dem Berge /12020. Acht <strong>Jahre</strong> Kriegsfeuer – E<strong>in</strong> Brief von zu Hause wiegt schwererals Gold /124


21. Me<strong>in</strong>e Lehrer /13022. Das Tocharisch-Studium /14123. Me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> /15024. Menschen, die gegen Hitler waren /15925. Familie Boehncke /16326. Familie Meyer /16727. Das Ende der Nazis – die Ankunft amerikanischer Soldaten <strong>in</strong>der Stadt /17028. Die Alliierten /18129. Aufzeichnungen e<strong>in</strong>es Gestärkten /18430. Ch<strong>in</strong>esen <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> /18831. Leb wohl, Gött<strong>in</strong>gen! /19532. Die Fahrt <strong>in</strong> die Schweiz /20433. In Fribourg /20834. Der Kampf mit der Botschaft /21835. Von der Schweiz nach Marseille /22336. Das Leben auf dem Schiff /22637. Zwei Monate <strong>in</strong> Saigon /23238. Von Saigon nach Hongkong /23939. In den Armen der Heimat /243Nachklang: Verbleibende Töne /248Nachwort der Übersetzer /251


PrologPrologMehr als siebzig <strong>Jahre</strong> s<strong>in</strong>d vergangen wie e<strong>in</strong> Frühl<strong>in</strong>gstraum. Nichtimmer schwang <strong>in</strong> diesem Traum nur die schöne Leichtigkeit herrlicherFrühl<strong>in</strong>gsnächte mit. Es schlugen auch hohe Wellen zu tobender Flut, esmusste Wirrnis tanzen. Dennoch schwebte me<strong>in</strong> Leben wie e<strong>in</strong> Traumdah<strong>in</strong>.Sehne ich mich zurück nach diesem Traum? Ja, das muss ich wohlzugeben. Gern er<strong>in</strong>nert man sich im Alter an die Vergangenheit, an dieferne wie an die nahe, mag sie <strong>in</strong> der Heimat oder im Ausland spielen,man schiebt sie nicht so e<strong>in</strong>fach beiseite. Natürlich b<strong>in</strong> ich da ke<strong>in</strong>eAusnahme. Die Engländer sprechen gern von der „guten alten Zeit“,und genau nach dieser verlangt es mich. Die alten Zeiten! Er<strong>in</strong>nerungenkommen auf und beglücken. Was damals alltäglich war, verklärt sich imRückblick zu e<strong>in</strong>er wundervollen E<strong>in</strong>maligkeit, von der man lange zehrt.Oft f<strong>in</strong>de ich mich jetzt <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerungen versunken.Eigentlich habe ich nie daran gedacht, jene zarten und gleichzeitigerdrückenden Träume aufs Papier zu bannen. Das hielt ich für gänzlichunnötig. Doch ruhe ich alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Stille der Nacht auf me<strong>in</strong>emKissen, lasse ich so manches Mal Szene für Szene me<strong>in</strong>es vergangenenLebens vor me<strong>in</strong>em geistigen Auge auferstehen. Ich selbst b<strong>in</strong> dabe<strong>in</strong>ur e<strong>in</strong> vergnügter Beobachter. Das vergangene Leben kann nie mehrzurückkehren, das ist unmöglich, aber das ist auch gar nicht notwendig.Ich habe überlebt, das mache ich mir stets bewusst. Gewählt hatte ich denbreiten Weg, b<strong>in</strong> aber auch schmale Holzstege gegangen und habe allenWidrigkeiten getrotzt. Und bis zum heutigen Tage weile ich noch <strong>in</strong> dieserWelt und kann an Vergangenes zurückdenken. Ist das nicht e<strong>in</strong> großes


<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Glück?In den letzten <strong>Jahre</strong>n haben mir jüngere Freunde immer wieder vorgeschlagen,doch manche Episoden me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerungen niederzuschreiben.Sie vertreten die Ansicht, Intellektuelle wie ich, die die Siebzigbereits h<strong>in</strong>ter sich gelassen und die Achtzig fest im Blick haben, gehörten<strong>in</strong> der ch<strong>in</strong>esischen Geschichte zu e<strong>in</strong>er seltenen Spezies. Vieles hättenwir schon erlebt und so manche Epoche durchgestanden, und was icherlebt habe, hätten nur ganz wenige am eigenen Leibe erfahren. Me<strong>in</strong>eE<strong>in</strong>drücke, me<strong>in</strong>e Empf<strong>in</strong>dungen und me<strong>in</strong>e Lebenserfahrungen solltenauch anderen als Beispiel dienen. Vielen jüngeren Intellektuellen undsogar Intellektuellen mittleren Alters seien die vergangenen Zeiten kaumverständlich. Sprächen wir mit ihnen über das Vergangene, machten sie sogroße Augen, als hörten sie von fernen Mythen und Legenden. Deshalbraten mir me<strong>in</strong>e Freunde, all diese Erlebnisse aufzuschreiben, ich dürfenicht so „eigennützig“ se<strong>in</strong>, sie nur zum eigenen Vergnügen <strong>in</strong> me<strong>in</strong>emGedächtnis aufzubewahren. Erfahrungen weiterzugeben sollte doch dieunausweichliche Pflicht unserer Generation se<strong>in</strong>.Ich habe den Vorschlag me<strong>in</strong>er Freunde gut überdacht und muss ihnenRecht geben. Geboren wurde ich während der X<strong>in</strong>hai-Revolution , zue<strong>in</strong>er Zeit, als der Sommer sich zum Herbst neigte, e<strong>in</strong>en Monat etwa vordem 10. Oktober 1911. Zu dieser Zeit war ich Untertan des Kaisers dergroßen Q<strong>in</strong>g-Dynastie und gehörte zu ihren jungen Anhängern. Schon <strong>in</strong>frühesten K<strong>in</strong>dertagen hörte ich vom Q<strong>in</strong>g-Kaiser. In me<strong>in</strong>er k<strong>in</strong>dlichenGedankenwelt war der Kaiser weder Mensch noch Gott, weder Drachenoch Schlange, vielmehr vere<strong>in</strong>te er alle Gestalten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen.Nach dem Sturz des letzten Kaisers folgten bald Yuan Shikai und ihm1Bürgerlich-demokratische Revolution von 1911.2Yuan Shikai 袁 世 凯 (1859 – 1916), Militärführer und Politiker während der späten Q<strong>in</strong>g-Dynastie und derRepublik Ch<strong>in</strong>a.


Prologwiederum heftig sich bekämpfende Militärmachthaber. Land auf, Landab traten Schurken jedweder Art auf den Plan. Als ich drei <strong>Jahre</strong> alt war,brach der Erste Weltkrieg aus. Davon hatte ich allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e Ahnung,auch von der Bewegung des 4. Mai nahm ich als heranwachsendesK<strong>in</strong>d kaum Notiz. Nur der Wechsel vom klassischen zum modernenCh<strong>in</strong>esisch erregte <strong>in</strong> bescheidenem Umfang me<strong>in</strong>e Neugier. AlsGrund- und Mittelschüler nahm ich mit älteren K<strong>in</strong>dern an denProtestdemonstrationen teil. Wir verbrannten japanische und englischeWaren und waren von Aufregung und Begeisterung erfüllt. Währendme<strong>in</strong>er Zeit als Oberschüler begann die Herrschaft der Guom<strong>in</strong>dang-Regierung . Aufs Neue trieb allerlei Ges<strong>in</strong>del <strong>in</strong>nerhalb der Guom<strong>in</strong>dangse<strong>in</strong> Unwesen. Zu Beg<strong>in</strong>n me<strong>in</strong>er Studienzeit tat sich der japanischeImperialismus hervor. Nach dem „Zwischenfall des 18. September1931“ beteiligte ich mich mit zahlreichen Kommilitonen der Q<strong>in</strong>ghua-Universität am Hungerstreik und legte mich mit ihnen auf die Schienender Eisenbahn. Wir fuhren zur Protestdemonstration nach Nanj<strong>in</strong>g.Dort traf ich zum ersten und auch zum letzten Mal Chiang Kai-shek .Der „Zwischenfall vom 7. Juli 1937“ ereignete sich während me<strong>in</strong>esStudiums im Ausland. Die Hälfte des Vaterlandes geriet <strong>in</strong> die Klauender ausländischen Aggressoren, die es schließlich auch besetzten. Ichkonnte nicht <strong>in</strong> die Heimat zurückkehren. „Ich warte und warte auf e<strong>in</strong>eMöglichkeit heimzukehren. Kuckuck, Kuckuck, s<strong>in</strong>g mir nicht <strong>in</strong>s Ohr.“ 3Politische und kulturelle Erneuerungsbewegung mit antiimperialistischer und antifeudalistischer Stoßrichtungim <strong>Jahre</strong> 1919.4Die Hauptstadt der Guom<strong>in</strong>dang-Regierung war Nanj<strong>in</strong>g.5Am 18.09.1931 sprengten die sich <strong>in</strong> Manzhou bef<strong>in</strong>denden japanischen Soldaten die Eisenbahnstreckeam Liutiao-See <strong>in</strong> Shenyang und behaupteten, die ch<strong>in</strong>esischen Soldaten hätten sie gesprengt.6Chiang Kai-shek 蒋 介 石 (1887 – 1975), damaliger Präsident der Republik Ch<strong>in</strong>a.7Am 7. Juli 1937 griff das japanische Militär Ch<strong>in</strong>a <strong>of</strong>fiziell an.8Bai Juyi 白 居 易 (772 – 846), Tang-Dynastie, berühmter Dichter.


PrologIn der alten wie <strong>in</strong> der neuen Zeit, im In- wie im Ausland gab estatsächlich große Dichter, die Er<strong>in</strong>nerungen als Literatur geschaffenhaben. Der größte deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe ware<strong>in</strong>er von ihnen. Se<strong>in</strong>e „Dichtung und Wahrheit“ beweist das fraglos. Ichglaube, andere können das, aber ich kann das nicht. Bei mir f<strong>in</strong>det sich nurWahrheit, ke<strong>in</strong>e Dichtung.Leider kann ich mich der schwierigen Aufgabe, über me<strong>in</strong> Leben zuschreiben, zurzeit nicht voll widmen, denn im Augenblick b<strong>in</strong> ich nochallzu beschäftigt und habe wenig Muße. Ich kann also vorerst nurAbschnitt für Abschnitt daran arbeiten. Ich teile me<strong>in</strong> Leben von mehr als70 <strong>Jahre</strong>n <strong>in</strong> acht Zeitabschnitte e<strong>in</strong>:1. In der Heimat2. Schulzeit <strong>in</strong> Ji´nan3. Studienzeit an der Q<strong>in</strong>ghua-Universität, Zeit als Mittelschullehrer4. <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>5. Kurz vor der Gründung der VR Ch<strong>in</strong>a6. In den 50er und 60er <strong>Jahre</strong>n7. Vermischte Er<strong>in</strong>nerungen im Kuhstall8. Nach 1978Im <strong>Jahre</strong> 1988 habe ich mit Unterbrechungen den vierten und siebtenAbschnitt beschrieben. Aus me<strong>in</strong>em großen Schatz an Er<strong>in</strong>nerungen ausden verschiedenen Abschnitten me<strong>in</strong>es mehr als siebzigjährigen Lebenslege ich nun das Kapitel „<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>“ vor, verbunden mitme<strong>in</strong>en besten Wünschen für die Welt.


<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Hierzu möchte ich e<strong>in</strong>en Vers von Cao Xueq<strong>in</strong> zitieren: 10Dar<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Spur von grotesken Worten,alles mit bitteren Tränen geschrieben.Der Verfasser ist ke<strong>in</strong> Irrer,er wird verstanden von den Menschen.Das wäre der Prolog.10Cao Xueq<strong>in</strong> 曹 雪 芹 (1715 – 1763/64), Q<strong>in</strong>g-Dynastie, Schriftsteller, Autor des Romans „Traum der RotenKammer“(《 红 楼 梦 》).


1 Schwärmerei vom Auslandsstudium 1. Schwärmerei vomAuslandsstudiumVor etwa fünfzig bis sechzig <strong>Jahre</strong>n träumten viele Studenten <strong>in</strong> ganzCh<strong>in</strong>a davon, im Ausland zu studieren. E<strong>in</strong> Studium im Auslandließ tausende und abertausende Herzen höher schlagen. Ich habe miteigenen Augen gesehen, wie e<strong>in</strong> Kommilitone am ganzen Körper zitterte,wie se<strong>in</strong> Blick erstarrte und Tränen über se<strong>in</strong>e Wangen rollten, als ervernahm, dass die anderen <strong>in</strong>s Ausland gehen sollten, er jedoch daheimbleiben musste.Wie war es zu dieser Situation gekommen? E<strong>in</strong> wesentlicher Grund lag<strong>in</strong> der sozialen Situation. Damals gab es zwei Redensarten: „Absolvierenbedeutet ohne Arbeit zu se<strong>in</strong>“ und „nach e<strong>in</strong>er Reisschüssel streben“. E<strong>in</strong>Hochschulabsolvent, ohne e<strong>in</strong>e so genannte H<strong>in</strong>tertür, fand weder Arbeitnoch se<strong>in</strong>e „Reisschüssel“. Reiste der Absolvent h<strong>in</strong>gegen <strong>in</strong>s Ausland, sohieß das „vergolden“ und verschaffte ihm e<strong>in</strong>en hundertfachen Mehrwert.Er glänzte, um ihn scharten sich die Menschen, da er sich schlicht zu e<strong>in</strong>er„gefragten Ware“ gewandelt hatte.


<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Wer damals <strong>in</strong>s Ausland wollte, hattezwei Möglichkeiten, se<strong>in</strong>en Wunsch zurealisieren: als Selbstzahler oder mitstaatlichem Stipendium. Selbstzahlerwaren vor allem die K<strong>in</strong>der von reichenGeschäftsleuten, großen Händlern,hohen Beamten oder Würdenträgern.Stipendien wurden auf zwei Artenvergeben: Zum e<strong>in</strong>en von der Zentralregierungim Rahmen der so genannten„Gengzi-Reparationen“ 11 fürJi Xianl<strong>in</strong> vor se<strong>in</strong>er ReiseEngland oder für Amerika und zumnach <strong>Deutschland</strong>anderen von den Prov<strong>in</strong>zregierungen.Für beide Stipendienarten mussten abgelegt werden. Nur sehr, sehrwenige erhielten überhaupt e<strong>in</strong> Stipendium, <strong>in</strong> der Regel lediglich e<strong>in</strong>bis zwei Kandidaten. Eher g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> Kamel durch e<strong>in</strong> Nadelöhr, als dasses e<strong>in</strong>em Normalsterblichen gelang, diesen Weg zu beschreiten. Gabes Studenten, die ihr Ziel durch die H<strong>in</strong>tertür erreichten? Das will ichnicht gänzlich verne<strong>in</strong>en, aber nach me<strong>in</strong>er Beobachtung waren dieAuserwählten schon auf rechtem Wege zu ihrem Glück gelangt, undunter den Stipendiaten fehlte es ke<strong>in</strong>eswegs an qualifizierten Kandidaten.Das Stipendium war sehr hoch dotiert, davon ließ es sich beneidenswertunbeschwert leben.Auch ich wurde von dieser Schwärmerei für das Auslandsstudiumangesteckt. Nur war ich leider <strong>in</strong> der Wahl me<strong>in</strong>er Eltern sehr unvorsichtig11Das Jahr 1900 bezeichnet man im ch<strong>in</strong>esischen Kalender als „Gengzi“. In diesem Jahr unterlag die Q<strong>in</strong>g-Regierung den acht ausländischen Siegermächten, denen sie jährlich Entschädigung zahlen musste. DiesesAbkommen trägt den Namen Gengzi-Reparationen.


1 Schwärmerei vom Auslandsstudium gewesen, denn geboren wurde ich als K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>er Bauernfamilie. Me<strong>in</strong>Onkel arbeitete <strong>in</strong> der Stadt als Angestellter, aber leider zählte er nicht zuden leitenden Beamten, und so konnten wir nur e<strong>in</strong> kümmerliches Dase<strong>in</strong>fristen. Als ich 1934 me<strong>in</strong> Studium abschloss, hatte me<strong>in</strong> Onkel se<strong>in</strong>eArbeit verloren. Unsere Familie war mittellos, Jammer und unvorstellbareArmut hatten bei uns E<strong>in</strong>zug gehalten. Nie habe ich auch nur zudenken gewagt, e<strong>in</strong> Auslandsstudium aus eigenen Mitteln bestreiten zukönnen. Mich, die Kröte, gelüstete es nie nach Schwanenfleisch, wiedumm ich auch se<strong>in</strong> mochte. Die staatlichen Stipendien wurden nur anStudenten der Naturwissenschaften und des Ingenieurwesens vergeben.Sozialwissenschaftler wurden missachtet. Wenn auch heutzutage dieSozialwissenschaften ger<strong>in</strong>g geschätzt werden, so hat das demnach e<strong>in</strong>elange Geschichte. Wir s<strong>in</strong>d die ewigen Pechvögel, das ist unser Los!Kurz gesagt, gleich nach dem Abschluss befand ich mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erunglücklichen Situation: Ke<strong>in</strong>e H<strong>of</strong>fnung auf e<strong>in</strong> Studium im Ausland,und e<strong>in</strong>e Arbeitsstelle war kaum zu ergattern. Ich konnte nur im tiefenWasser nach Fischen gieren, e<strong>in</strong> Netz aber vermochte ich nicht zuknüpfen. Angesichts solcher Ausweglosigkeit war ich niedergeschlagenund hätte am liebsten gewe<strong>in</strong>t. Vor der Schande konnte ich mich abernirgendwo verbergen. In dieser verzweifelten Lage bot mir Herr SongHuanwu, der Schuldirektor me<strong>in</strong>er früheren Oberschule <strong>in</strong> Ji´nan <strong>in</strong> derProv<strong>in</strong>z Shandong, e<strong>in</strong>e Stelle als Ch<strong>in</strong>esischlehrer an. Offenbar sollte ichaus me<strong>in</strong>er h<strong>of</strong>fnungslos sche<strong>in</strong>enden Lage doch noch gerettet werden!Ich hatte jedoch westliche Literatur studiert, und me<strong>in</strong> Kopf war vollvon den Gestalten Goethes und Shakespeares. Nun aber sollte ich zu


1 Schwärmerei vom Auslandsstudium 11e<strong>in</strong>fach zu durchschauen. Der Kampf um die Reisschüssel verschärftesich alsbald an unserer Oberschule. E<strong>in</strong> Direktor wurde abgesetzt,was unmittelbare Auswirkungen auf e<strong>in</strong>e große Zahl von Lehrernhatte. Dem Direktor zugeordnet waren noch e<strong>in</strong>e Verwaltungsgruppemit e<strong>in</strong>em Leiter für den Unterricht, e<strong>in</strong>em Leiter für die alltäglichenAngelegenheiten, e<strong>in</strong>em Leiter für diszipl<strong>in</strong>arische Angelegenheiten,e<strong>in</strong>em Buchhalter sowie weiteren Funktionsträgern. Alle Stellen warenbesetzt, all diese Leute bildeten e<strong>in</strong>en engen Zirkel gleich e<strong>in</strong>emKab<strong>in</strong>ett. Des Weiteren gab es noch e<strong>in</strong>en äußeren Kreis von Lehrern.Diese folgten dem Direktor, egal ob er vorwärts oder zurück g<strong>in</strong>g. ImBereich der Oberschule rivalisierten zwei Gruppen mite<strong>in</strong>ander undkämpften um E<strong>in</strong>flusssphären: Auf der e<strong>in</strong>en Seite stand die Gruppe„Beida“ der Pek<strong>in</strong>g-Universität, ihr gegenüber die Gruppe „Shida“ derPädagogischen Hochschule. Direktor Song war der Anführer der Beida-Gruppe. He Siyuan, der damalige Leiter des Erziehungsamtes, war SongsKommilitone an der Heze-Oberschule und an der Pek<strong>in</strong>g-Universitätgewesen. Beide waren also gute Freunde. Und man erzählte sich, hätteDirektor Song auch noch geme<strong>in</strong>sam mit He an der amerikanischen<strong>University</strong> <strong>of</strong> Columbia studiert, so wäre er noch weiter emporgeklettert, wäre nicht nur Schuldirektor, sondern gar Abteilungsleiter imErziehungsamt geworden.Direktor Song führte also die Beida-Armee <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Schlacht gegen dieArmee der Shida. Dazu brauchte er jedoch Unterstützung. Er hattemich gleich entdeckt, der vollkommen unbeteiligt außerhalb von beidenParteien stand, e<strong>in</strong> Absolvent der Q<strong>in</strong>ghua-Universität und zugleich des1. Jahrgangs der Oberschule war. Als er mich e<strong>in</strong>lud, Ch<strong>in</strong>esischlehrer zuwerden, gab er mir sogleich auch den H<strong>in</strong>weis, e<strong>in</strong>en Alumni-Verbandder Oberschule zu gründen, zweifellos mit dem Ziel, se<strong>in</strong>e Machtbasis zu


12 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>stärken. Zwar konnte ich kaum Lebenserfahrungen aufweisen, aber se<strong>in</strong>eAbsichten konnte ich wohl durchschauen. Unglücklicherweise mangeltees mir seit jeher an den Charaktereigenschaften, die erforderlich s<strong>in</strong>d,wenn man Verbände und dergleichen gründen und am Leben erhaltenwill. Ich war weder großsprecherisch noch schmeichlerisch veranlagt,auch wollte ich nicht mit den Ehefrauen irgendwelcher Herren Ma-Jiang spielen. Kurzum, der Verband war e<strong>in</strong> Schlag <strong>in</strong>s Wasser. Es tatmir außerordentlich leid, aber ich schaffte es nicht. Der Direktor sagtezu den anderen: „Xianl<strong>in</strong> ist eben sehr ruhig.“ Song war wirklich e<strong>in</strong>würdiger Beida-Absolvent, beschlagen <strong>in</strong> der ch<strong>in</strong>esischen Kultur und <strong>in</strong>der klassischen Literatur. Er verwendete <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er knappen Bemerkungdas Wort „ruhig“. Dieses Wort alle<strong>in</strong>e war beredter als tausend Wörter,wie Wang Guowei e<strong>in</strong>mal gesagt hat. Das bedeutet, e<strong>in</strong> oder zwei Wörterzeigten bereits das Ganze. Zu allem Unglück war ich ke<strong>in</strong> Idiot und besaßzudem e<strong>in</strong>e Portion gesunden Menschenverstand. Intuitiv verstand ichs<strong>of</strong>ort, worauf es h<strong>in</strong>aus lief: Die Reisschüssel drohte me<strong>in</strong>er Hand zuentgleiten.Ich musste fortgehen.Aber woh<strong>in</strong>? „Hebt man den Blick, sieht man bis ans Ende der Welt.“ 14Ich befand mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Menschenmenge, und nirgendwo war me<strong>in</strong>Zuhause. Im Grunde genommen waren me<strong>in</strong> Leben und me<strong>in</strong>e Lagenicht so schlecht. Mit me<strong>in</strong>en Schülern kam ich gut aus, ich war erst 23<strong>Jahre</strong> alt und trat sehr bescheiden auf. Viele me<strong>in</strong>er Schüler waren fast imgleichen Alter, e<strong>in</strong>ige sogar etwas älter als ich. Ich zählte sie zu me<strong>in</strong>enFreunden. Für e<strong>in</strong>e große Zeitung gab ich e<strong>in</strong>e Literaturbeilage heraus.Auch Artikel der Schüler wurden dar<strong>in</strong> veröffentlicht, was für diese sehr14Yan Shu 晏 殊 (991 – 1055), Song – Dynastie, Dichter; aus: „Schmetterl<strong>in</strong>gen lieben Blumen“(《 蝶 恋 花 》).


1 Schwärmerei vom Auslandsstudium 13attraktiv war. Zu den Kollegen pflegte ich e<strong>in</strong> ebenso gutes Verhältnis.Fast jede Woche suchten wir e<strong>in</strong>mal geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong> Wirtshaus auf. UnserGehalt war hoch, die Preise niedrig und unsere Freundschaft erlaubteke<strong>in</strong>e Knausrigkeit. Von außen betrachtet führte ich augensche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong>göttliches Leben.Im Innern aber war ich tief bedrückt. Ich musste fort.Fort von hier! Me<strong>in</strong>e heiligen Träume aus dieser Zeit kreisten um das„sich im Ausland vergolden lassen“. Oft h<strong>in</strong>g ich im Gartenpavillon mitse<strong>in</strong>en künstlichen Felsen und blühenden Rosenstöcken me<strong>in</strong>en Auslands-Träumereien nach. Im Neonlicht und bei e<strong>in</strong>em Glas We<strong>in</strong> hatte ichzudem das Gefühl, dass me<strong>in</strong>e Reisschüssel wackelte. In me<strong>in</strong>em nochjugendlichen Alter wuchsen mir vor lauter Sorgen bereits graue Haare.Ich konnte mich beim besten Willen nicht zusammenreißen. So manchesMal dachte ich: Du solltest e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> den Tag h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>leben, denn du bistratlos, und Illusionen helfen dir gar nichts. E<strong>in</strong> Sprichwort lautet: „DerWagen f<strong>in</strong>det schon se<strong>in</strong>en Weg über den Berg, wenn er erst e<strong>in</strong>mal dortangekommen ist.“ Also warten wir e<strong>in</strong>fach ab, bis me<strong>in</strong> Wagen se<strong>in</strong> Zielgefunden hat.Doch so e<strong>in</strong>fach g<strong>in</strong>g das leider nicht. Die Nachrichten über dasAuslandsstudium anderer drangen immer häufiger an me<strong>in</strong> Ohr. Auchich zitterte am ganzen Körper, wenn ich diese Nachrichten hörte.Weit entfernt sah ich die erhabenen Berge und die mächtigen StrömeEuropas und stellte mir das göttliche Leben der anderen vor. Ich, e<strong>in</strong>Normalsterblicher, getrennt b<strong>in</strong> ich durch tausend Berge.So verbrachte ich e<strong>in</strong> ganzes Jahr.


14 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>2. E<strong>in</strong> vom Himmelbeschertes GlückWährend ich vor Unruhe wie auf heißen Kohlen saß, unterzeichneteme<strong>in</strong>e Alma Mater, die Q<strong>in</strong>ghua-Universität, mit dem DeutschenAkademischen Austauschdienst e<strong>in</strong>en Vertrag. Das war für michwie e<strong>in</strong>e vom Himmel gefallene Chance. Beide Seiten beschlossen,Magisterstudierende auszutauschen. Die Reisekosten musste jeder selbsttragen, die Aufenthaltskosten übernahmen beide Regierungen. Ch<strong>in</strong>azahlte den deutschen Studenten monatlich 30 Silbermünzen, <strong>Deutschland</strong>den ch<strong>in</strong>esischen Studenten 120 Reichsmark. Ideal war das nicht. Mit120 Mark konnte ich nur Unterkunft und Verpflegung f<strong>in</strong>anzieren.Im Vergleich zum staatlichen Stipendium von 800 Mark war das e<strong>in</strong>Unterschied wie Tag und Nacht.Doch für mich war das e<strong>in</strong> rettender Strohhalm, den ich festhaltenmusste. An der Q<strong>in</strong>ghua-Universität hatte ich vier <strong>Jahre</strong> lang mit derNote „ausgezeichnet“ Deutsch als Hauptfach studiert, obwohl das nichtwirklich me<strong>in</strong>er Leistung entsprach. Me<strong>in</strong>e Bewerbung für das Stipendium


2 E<strong>in</strong> vom Himmel beschertes Glück 15wurde s<strong>of</strong>ort genehmigt, aber me<strong>in</strong>e Schwierigkeiten lagen auf der Hand.In der Familie war die F<strong>in</strong>anzlage schlecht, die Alten zu alt, die Jungenzu jung. Wer würde die ganze Familie während me<strong>in</strong>er Abwesenheiternähren? Mit diesen konkreten Problemen konfrontiert wusste ich imFreudentaumel weder e<strong>in</strong> noch aus.Ich stand praktisch am Scheideweg: der e<strong>in</strong>e Weg voller Pfirsichblüten,der andere voller Schnee. Der Pfirsichweg voller Blütenträume führte<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e schöne Zukunft. Der Schneeweg schien dunkel, als müsste ichme<strong>in</strong> ganzes Leben zerlumpt <strong>in</strong> der Schule fristen und jeden Tag um dieReisschüssel kämpfen, wobei das Wort „ruhig“ mich stets als Warnungverfolgte. W<strong>of</strong>ür sollte ich mich entscheiden? Zum ersten Mal hatte ichdie Qual der Wahl.Mich überraschte, dass me<strong>in</strong> Onkel und me<strong>in</strong>e Familie mich unterstützenwollten. Sie wollten gern die Zähne zusammenbeißen und für zwei <strong>Jahre</strong>den Gürtel noch enger schnallen. Danach würde die Aurora des Siegesgrüßen und den Vorfahren zur Ehre gereichen. Ich kannte die Wurzelndieser Ideen sehr gut. Sie lagen tief im verbreiteten feudalistischenPrüfungssystem. Man betrachtete den Grundschulabschluss als Xiucai,den Mittelschulabschluss als Juren und den Hochschulabschluss alsJ<strong>in</strong>shi. 15 Wer sich im Ausland vergoldete, galt als Hanl<strong>in</strong> (Mitglied derKaiserlichen Akademie im feudalen Ch<strong>in</strong>a). Ich hatte nach Me<strong>in</strong>ungder anderen bereits die J<strong>in</strong>shi-Staatsprüfung bestanden. Die Altvorderensagen: Es gibt ke<strong>in</strong> Juren ohne Prüfung. Jetzt sollte es heißen: ke<strong>in</strong> J<strong>in</strong>shi.Ich stand kurz vor dem Rand des Kreises. Sollte ich im letzten Augenblicknoch kehrt machen?15Xiucai: Grad der staatlichen Prüfungen auf Kreisebene während der Kaiserzeit; Juren: akademischer Gradund Titel der staatlichen Prüfungen auf Prov<strong>in</strong>zebene während der M<strong>in</strong>g- und Q<strong>in</strong>g-Zeit; J<strong>in</strong>shi: AkademischerGrad und Titel der früheren zentralen kaiserlichen Staatsprüfung.


16 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Direktor Song, der mich als zu ruhig beurteilt hatte, sah mich aufe<strong>in</strong>mal mit ganz anderen Augen. Er kam mir sehr freundlich entgegenund begleitete mich persönlich zum Leiter des Erziehungsamtes, <strong>in</strong> derH<strong>of</strong>fnung, etwas Unterstützung zu erhalten. Aber ich versagte wieder:Me<strong>in</strong> Ruhigse<strong>in</strong> hatte mich erneut <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e missliche Situation gebracht undDirektor Song nochmals enttäuscht. Mit leeren Händen kam ich zurück.Er strahlte immer noch vor Begeisterung, ermunterte mich, gab fürmich e<strong>in</strong> Abschiedsessen und versprach, nach me<strong>in</strong>er Rückkehr mit mirzusammenzuarbeiten. Das alles bewegte mich sehr.Unter den Kollegen der Oberschule sah ich e<strong>in</strong>ige ehemalige Lehrer vonmir. Manche gehörten noch me<strong>in</strong>er Generation an, aber alle waren älterals ich. Auch sie betrachteten mich plötzlich mit ganz anderen Augen.Die jüngeren Kollegen litten ohne Ausnahme am „Auslands-Fieber“. Siesehnten sich danach, fanden aber ke<strong>in</strong>en Weg. Und jetzt hatte ich mirplötzlich e<strong>in</strong>e Gelegenheit zur „Vergoldung im Ausland“ geangelt, e<strong>in</strong>ausländischer Hanl<strong>in</strong>-Titel war zum Greifen nahe. Ich fühlte mich wie imsiebten Himmel. Sicher würde ich nach me<strong>in</strong>er Rückkehr aus <strong>Deutschland</strong>nicht mehr <strong>in</strong> der Oberschule <strong>in</strong> Ji‘nan bleiben. Die anderen beneidetenmich übermäßig um me<strong>in</strong> Glück. Und plötzlich dachte ich an Fan J<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>eFigur aus dem alten ch<strong>in</strong>esischen Roman „Geschichten konfuzianischerGelehrter“. 16 Mir fehlten zwar noch dessen Schwiegervater, der FleischerHu, und der Landedelmann Zhang, aber <strong>in</strong> fremden Augen schien ichwohl e<strong>in</strong> besonderer Mann zu se<strong>in</strong>. Lächerlich! Ich geriet vor Freude zwarnicht aus dem Häuschen, <strong>in</strong>nerlich aber war sehr froh.Natürlich kannte ich me<strong>in</strong>e Schwierigkeiten: Die f<strong>in</strong>anziellen Probleme<strong>in</strong> der Familie, dazu kamen die Kosten für Kleidung und für die Reise,16Wu J<strong>in</strong>gzi 吴 敬 梓 (1710 – 1754), Q<strong>in</strong>g-Dynastie, schrieb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk „Geschichten konfuzianischerGelehrter“ Episoden über Beamtenkreise und das Prüfungssystem.


2 E<strong>in</strong> vom Himmel beschertes Glück 17die mir weitere Sorgen bereiteten. Ich wusste, <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> würdevom Stipendium nichts für Kleidung übrig bleiben, deshalb würde ichmich vorher ausstatten müssen. Das war teuer. Im letzten Jahr hatteich vom Gehalt etwas gespart, außerdem lieh ich von Freunden Geld.Ich raffte alles zusammen, ließ Anzüge und Hemden schneidern und <strong>in</strong>zwei Lederk<strong>of</strong>fer packen. So war für die lange Reise schließlich alles gutvorbereitet. Dennoch blieb e<strong>in</strong> mulmiges Gefühl, aber ich konnte nichtgenau sagen, wie es schmeckte. E<strong>in</strong>es stand fest, es schmeckte nicht sogut wie e<strong>in</strong> Cocktail. Ich war voller H<strong>of</strong>fnung, und zugleich voller Sorgen.Manchmal empfand ich me<strong>in</strong>e Perspektive als schön, manchmal alsquälend. Mit diesen gemischten Gefühlen stand ich vor der ersten großenHerausforderung und dem ersten großen Abenteuer me<strong>in</strong>es Lebens.


18 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>3. Reisevorbereitung<strong>in</strong> Beip<strong>in</strong>g 17Am 1. August 1935 hatte ich Abschied von me<strong>in</strong>er Familiegenommen, von e<strong>in</strong>er Familie, die <strong>in</strong> Extreme gespalten war mitalten Eltern, me<strong>in</strong>er jungen Frau und unseren K<strong>in</strong>dern. Welches Schicksalwohl me<strong>in</strong>e Familie und me<strong>in</strong>e Nächsten erwartete? Ich hatte selbstke<strong>in</strong>e Vorstellung gehabt, wie traurig diese Trennung war! Der DichterJiang Wentong 18 schreibt: „Nichts ist trübs<strong>in</strong>niger als e<strong>in</strong>e Trennung, diee<strong>in</strong>en überwältigt. Me<strong>in</strong> Herz will bluten. Wir müssen heute scheiden.Ich verlasse Euch alle, Ihr Lieben, unfassbar die Qual.“ Vor langer Zeithatte ich Jiangs „Abschiedslied“ gelesen und se<strong>in</strong>e literarische Brillianzbewundert. Heute sprach ich selbst dieses „Abschiedslied“. Das Gefühlund die damalige Stimmung waren so bedrückend, dass ich sie nichtbeschreiben kann.Mit dieser <strong>in</strong>neren Unruhe verließ ich me<strong>in</strong>e Familie: den Onkel, die17Name für Pek<strong>in</strong>g vor 1949.18Jiang Wentong 江 文 通 (444 – 505), Südliche und Nördliche Dynastien, Schriftsteller.


3 Reisevorbereitung <strong>in</strong> Beip<strong>in</strong>g 19Tante, me<strong>in</strong>e Frau Dehua, die me<strong>in</strong>e Tochter Wanru an der Hand hielt,und me<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en erst vor e<strong>in</strong> paar Monaten geborenen Sohn, derim Schoß der Mutter schlief. Zum Abschied begleiteten mich alle zumHaustor. Me<strong>in</strong>e Tochter und me<strong>in</strong> Sohn hatten ke<strong>in</strong>e Ahnung, was derAbschied bedeutete, sie fanden ihn vielleicht sehr lustig. Mir standenTränen <strong>in</strong> den Augen, die ich zu unterdrücken versuchte. Es fiel mirschwer, me<strong>in</strong>e Lieben noch e<strong>in</strong>mal anzusehen. Ich glaube, auch ihnentraten die Tränen <strong>in</strong> die Augen. Ich drehte mich zu e<strong>in</strong>er Rikscha um, undbald huschten die Schatten von Torbögen mit beschädigten Dachziegelnan mir vorbei.Ich fuhr mit dem Zug nach Beip<strong>in</strong>g, denn die Formalitäten für dieAuslandsreise konnten nicht <strong>in</strong> Ji´nan, sondern nur dort erledigt werden.In Beip<strong>in</strong>g mietete ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Pension am Shatanplatz e<strong>in</strong> Zimmerund deponierte dort me<strong>in</strong>e zwei großen Lederk<strong>of</strong>fer. Dann g<strong>in</strong>g ich zurQ<strong>in</strong>ghua-Universität und bekam e<strong>in</strong> Bett <strong>in</strong> der Herberge im I-Form-Gebäude. In me<strong>in</strong>em Zimmer wohnte auch e<strong>in</strong> ehemaliger Q<strong>in</strong>ghua-Absolvent. Er war Direktor e<strong>in</strong>er Versicherung. Wir plauderten dieganze Nacht lang. Er riet mir, <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> Versicherungswesen zustudieren, um nach me<strong>in</strong>er Rückkehr se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach sehr leicht e<strong>in</strong>eStelle f<strong>in</strong>den zu können. Höchstwahrsche<strong>in</strong>lich wäre das e<strong>in</strong>e goldeneReisschüssel. Das war vielleicht sehr attraktiv, entsprach aber nichtme<strong>in</strong>em Wunsch. Ich wollte ke<strong>in</strong>e große Karriere machen und der Berufe<strong>in</strong>es Beamten oder Kaufmanns <strong>in</strong>teressierte ich überhaupt nicht. Ichsehnte mich auch nicht nach Reichtum. Se<strong>in</strong> guter Rat freute und ehrtemich, doch konnte ich ihn unmöglich befolgen.In den Sommerferien verliessen fast alle Studenten die Universität undfuhren nach Hause. Sie ließen e<strong>in</strong> ruhiges Universitätsgelände zurück. DieLandschaft hier war sanft und bezaubernd. Bäume wuchsen wetteifernd


20 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong><strong>in</strong> die Höhe und warfen ihre Schatten auf die Erde, Blumen gediehen <strong>in</strong>grünen Büschen, Zikaden sangen auf den Zweigen und Lotospflanzenwiegten sich im W<strong>in</strong>d h<strong>in</strong> und her. In den Westbergen musste esjetzt auch wunderschön se<strong>in</strong>. Überall bot sich e<strong>in</strong> herrlicher Anblick,aber ich war im Innern traurig und e<strong>in</strong>sam. Vor e<strong>in</strong>em Jahr waren wirjungen Studenten hier zusammengekommen, manchmal hatten wir imW<strong>in</strong>d Verse vorgetragen, manchmal im Mondlicht geplaudert. In derAbenddämmerung waren wir <strong>in</strong> der Wildnis spazieren gegangen, abund zu vergnügt um den Lotosteich gewandelt und hatten den Lotos imMondsche<strong>in</strong> bewundert. Wie schön diese Zeit gewesen war! Wie schnellwar sie vergangen! An jenem Abend aber blieb ich alle<strong>in</strong> hier <strong>in</strong> diesemH<strong>of</strong> mit se<strong>in</strong>em sauberen Wasser und den üppigen Bäumen. Dabei dachteich seufzend im Angesicht des Mondes an me<strong>in</strong>e Lieben. Die Menschenwaren gegangen, die Häuser standen leer. Das ganze Weltall schienausgestorben zu se<strong>in</strong>, unerträglich die Leere.Das I-förmige Gebäude, <strong>in</strong> dem ich jetzt wohnte, lag im Zentrum desQ<strong>in</strong>ghua-Geländes. Das Haus me<strong>in</strong>es Lehrers Wu Mi stand hier und trugden Namen „We<strong>in</strong>rebenschatten und Lotosstimme“. Auch er hatte dieUniversität verlassen. So konnte ich nur durchs Fenster h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>schauen.Die Er<strong>in</strong>nerungen an vergangene Zeiten betrübten mich. Nicht weit vonhier befand sich der Pavillon am See, und auch die Spruchtafel mit denvier Wörtern „Wasser-Holz-Q<strong>in</strong>g-Hua“ h<strong>in</strong>g noch immer dort. In diesemgroßen Pavillon gab es viele Möbelstücke aus Rotholz. Das Gebäudewirkte edel und vornehm, jetzt auch ruhig, weil es nur wenige Besuchergab. Vor e<strong>in</strong>igen <strong>Jahre</strong>n hatte ich mich hier mit me<strong>in</strong>en Freunden WuZuxiang, L<strong>in</strong> Geng und Li Changzhi unterhalten. Wir, allesamt leichtaufbrausende junge Leute, schwatzten endlos daher. Wir zeigten zwarnicht mit F<strong>in</strong>gern auf die schmutzigen Feudalherren, aber wir kritisierten


3 Reisevorbereitung <strong>in</strong> Beip<strong>in</strong>g 21<strong>in</strong> anmaßender Weise die Literaten. Ich er<strong>in</strong>nere mich, als Mao Duns 19Roman „Mitternacht“ erschien, trafen wir uns hier und diskutierten sehrkontrovers über das Buch. Die e<strong>in</strong>en bejahten es absolut, die anderenlehnten es grundsätzlich ab. Wir stritten und stritten, kamen aber zuke<strong>in</strong>em Ergebnis, was auch nicht nötig war. Jeder stellte se<strong>in</strong>e extremenAuffassungen dar, und dann g<strong>in</strong>g es weiter zu anderen Themen. Allewaren damals freudig erregt gewesen. Heute war ich e<strong>in</strong>sam <strong>in</strong> diesemPavillon, dachte an me<strong>in</strong>e Freunde und wusste nicht recht, warum ich sotraurig war.In diesen Tagen der Muße suchte ich e<strong>in</strong>ige Lehrer auf. Zuerst HerrnFeng Youlan, der den Vertrag mit <strong>Deutschland</strong> vermittelt haben soll, dannHerrn Jiang T<strong>in</strong>gfu. Auch er soll sich darum bemüht haben. Er erklärtemir <strong>of</strong>fen und ehrlich, <strong>Deutschland</strong> sei e<strong>in</strong> faschistisches Land, und ichmüsse dort sehr vorsichtig mit Worten und Taten se<strong>in</strong>, sonst würdensich Konsequenzen ergeben. Ich war ihm sehr dankbar. Ferner besuchteich Herrn Wen Yiduo 20 . Es war unsere erste, leider aber auch die letzteBegegnung. Elf <strong>Jahre</strong> später, als ich aus <strong>Deutschland</strong> zurückkehrte, warer längst von den Guom<strong>in</strong>gdang-Reaktionären ermordet worden. Ichhatte diesen Lyriker und Gelehrten sehr verehrt. Worüber wir sprachen,habe ich vergessen, aber er wird mir immer <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung bleiben.E<strong>in</strong>es Abends, kurz nach dem Abendessen, verließ ich alle<strong>in</strong> das I-förmigeGebäude und schlenderte um den Lotosteich herum, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stimmung,wie sie Zhu Ziq<strong>in</strong>g <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Erzählung „Lotosteich im Mondlicht“beschrieben hat. Der Mond h<strong>in</strong>g hoch am Himmel, alles ruhte. DerMond im Wasser schien noch klarer und heller als der am Himmel zu19Mao Dun 茅 盾 (1896 – 1981), berühmter Schriftsteller.20Wen Yiduo 闻 一 多 (1899 – 1946), berühmter Dichter.


22 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>se<strong>in</strong>. Im Mondlicht verloren die Lotosblätter und -blüten ihre Farben,alles wurde dunkelgrau. Ihr Duft drang <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Nase, so dass ich frischegrüne Blätter und hellrote Blüten vor Augen hatte. Zwischen den Blätternhüpften hier und da Lichter von Glühwürmchen. Kle<strong>in</strong>e Lichtpünktchenflimmerten, als wetteiferten sie mit den großen Lichtern im Wasser oderam Himmel. In diesem Moment war ich alle<strong>in</strong> im Universum. Vor mirlagen me<strong>in</strong>e Zukunft und me<strong>in</strong> Auslandsstudium <strong>in</strong> der Fremde, h<strong>in</strong>termir ließ ich me<strong>in</strong>e alten Verwandten und me<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der im Stich. Siewürden alle weit von mir entfernt se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> leichter Nebel wie aus Penglai,dem legendären Wohnort der Götter, umhüllte mich.Aber ich war nach Beip<strong>in</strong>g gekommen, um Formalitäten zu erledigen,nicht um zu träumen. Damals gab es <strong>in</strong> Beip<strong>in</strong>g ke<strong>in</strong>e ausländischenKonsulate. Für Visaanträge musste man nach Tianj<strong>in</strong> fahren. Ich reistealso mit Qiao Guanhua 21 nach Tianj<strong>in</strong> zum deutschen und russischenKonsulat. Die Formalitäten waren längst nicht so kompliziert wie heute.Die Mitarbeiter stellten uns e<strong>in</strong>ige e<strong>in</strong>fache Fragen, schüttelten uns danndie Hand und wünschten e<strong>in</strong>e gute Reise. Damit waren alle Formalitätenerledigt, und wir warteten e<strong>in</strong>fach auf die Abreise.In Beip<strong>in</strong>g feierten e<strong>in</strong>ige Freunde im Beihai-Park Abschied von mir:L<strong>in</strong> Geng, Li Changzhi, Wang J<strong>in</strong>di, Zhang Luwei und andere. Wirmieteten zwei Ruderboote und fuhren über den See durch den Lotos.Wo man auch h<strong>in</strong>schaute, sah man Lotosblüten und -blätter, die fast zumHimmel reichten. In der Sonne glänzten sie wunderschön <strong>in</strong> Rot undGrün. Es herrschte e<strong>in</strong>e ganz andere Stimmung als e<strong>in</strong> paar Tage zuvorim Mondlicht beim Lotosteich an der Q<strong>in</strong>ghua. Alle waren aufgeregt,diskutierten kritisch über die Politik, ungestüm und vorwärts drängend,21Qiao Guanhua 乔 冠 华 (1913 – 1983), späterer Außenm<strong>in</strong>ister der VR Ch<strong>in</strong>a.


3 Reisevorbereitung <strong>in</strong> Beip<strong>in</strong>g 23ganz nach dem Motto „Wer redet, darf übertreiben.“ Es klang nachHelden, die jedes Auf und Ab meisterten. Nachdem wir den ganzen Tagzusammen verbracht hatten, trennten wir uns.Es gab ke<strong>in</strong>e endlose Abschiedszeremonie. Die Zeit der Abreise warendlich da. Am 31. August begleiteten mich me<strong>in</strong>e Freunde zumQianmen-Bahnh<strong>of</strong>. Wieder gute Wünsche, wieder Ratschläge. In demAugenblick, als ich <strong>in</strong> den Zug e<strong>in</strong>stieg, fiel mir plötzlich die klassischeStrophe e<strong>in</strong>: „Über zehntausend Meilen <strong>in</strong> die Wildnis, wenn nicht du, werkönnte das!“


24 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>4 Im „Manzhou“-ZugWer damals die lange Reise von Ch<strong>in</strong>a nach Europa antrat, fuhrmit der Transsibirischen Eisenbahn durch die Sowjetunion. Daswar der e<strong>in</strong>fachste Weg, wenn auch umständlich und voller Problemeund Gefahren. E<strong>in</strong>e Luftverb<strong>in</strong>dung existierte noch nicht, und derSeeweg war weit und kompliziert. Die Eisenbahnstrecke führte durch dreiProv<strong>in</strong>zen im Nordosten Ch<strong>in</strong>as. Die japanischen Imperialisten hattendiese drei Nord-Prov<strong>in</strong>zen besetzt und e<strong>in</strong>en sogenannten „Manzhou-Staat“ gegründet. Es war sehr gefährlich hier. An den „Manzhou-Staat“grenzte die Sowjetunion, auch dort gab es etliche Probleme. Aber wirReisende waren entschlossen, <strong>in</strong>s Ausland zu fahren, also mussten wirmit Gefahren und Problemen rechnen. Wir wollten ja nicht auf halbemWege stehen bleiben und fühlten uns be<strong>in</strong>ahe wie Helden nach demch<strong>in</strong>esischen Sprichwort: Tief <strong>in</strong>s Bergland vordr<strong>in</strong>gen, genau wissend,dass dort der Tiger haust.Der Zug fuhr über den Shanhai-Pass und erreichte bald den „Manzhou-Staat“. Als er hielt, stiegen wir aus, um die E<strong>in</strong>reise-Formalitäten fürden „Staat“ zu erledigen. Das hieß nichts anderes, als e<strong>in</strong>ige Formulare


4 Im „Manzhou“-Zug 25auszufüllen, was uns nicht schwerfiel. Jeder musste drei Silbermünzenals Kommissionsgebühr bezahlen. Das taten wir nur ungern, denn dreiSilbermünzen bedeuteten e<strong>in</strong>en halben Monat Verpflegung. Aber were<strong>in</strong>reisen wollte, musste zahlen. Diese „Maut“ konnten wir uns nichtersparen. Wir hatten ke<strong>in</strong>e andere Alternative, als tief <strong>in</strong> die Tasche zugreifen. Also wechselten drei Silbermünzen den Besitzer. Unzufriedenheitdurfte man sich nicht anmerken lassen. Man musste se<strong>in</strong>e Zunge hüten.Wir wussten, dass vor uns e<strong>in</strong>e Hölle mit Disteln und Dornen lauerte.Also hiess es umsichtig und achtsam zu se<strong>in</strong>, und wir sprachen sehrleise. Aber <strong>in</strong> der Nacht kam unbemerkt e<strong>in</strong> junger Mann <strong>in</strong> Stiefeln <strong>in</strong>unser Abteil. Er sah hübsch und aufgeweckt aus und wirkte gutmütig. Ermochte fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig <strong>Jahre</strong> alt se<strong>in</strong>, also etwasälter als wir. Der Unbekannte nickte uns lächelnd zu, und wir erwidertense<strong>in</strong> Lächeln. Er schlief genau über mir. Ihm gegenüber waren wir nichtbesonders wachsam, denn wir hielten ihn für e<strong>in</strong>en normalen Reisenden.Wir lagen schon im Bett. R<strong>in</strong>gsum war alles ruhig, nur das Rattern desZuges war zu hören. Die große Ebene von Manzhou lag im Dunkeln.Man konnte nichts sehen, und wir wollten auch nichts sehen. Der Zugfuhr <strong>in</strong> der Nacht auf se<strong>in</strong>en Schienen, über Berge und Flüsse und anGräbern vorbei. Gerade wollte ich e<strong>in</strong>schlummern, da kam unerwartete<strong>in</strong>e Stimme von oben. Sie gehörte dem fremden Mann.„Was ist de<strong>in</strong> Beruf?“„Student.“„Woher kommst du?“„Aus Beip<strong>in</strong>g.“„Und woh<strong>in</strong> geht die Reise?“„Nach <strong>Deutschland</strong>.“„Zu welchem Zweck?“


26 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>„Zum Studium.“Schweigen. Ich glaubte, jetzt hätte ich endlich Ruhe, da tönte die Stimmewieder, und e<strong>in</strong> schwarzhaariger Kopf h<strong>in</strong>g vom oberen Bett herunter.„Was hältst du vom Manzhou-Staat?“„Ich b<strong>in</strong> ganz neu hier, deshalb kann ich nichts dazu sagen.“Wieder Schweigen.„Rate mal, aus welchem Land ich komme?“„Ke<strong>in</strong>e Ahnung.“„Nach me<strong>in</strong>er Aussprache, rate mal?“„Du sprichst sehr gut Ch<strong>in</strong>esisch und bist sicher Ch<strong>in</strong>ese.“„Erkennst du nicht me<strong>in</strong>en Akzent?“„Ne<strong>in</strong>.“„Kl<strong>in</strong>gt es vielleicht Koreanisch?“„Das habe ich nicht bemerkt.“„Me<strong>in</strong>e Staatsangehörigkeit kann ich dir hier und heute nicht sagen.“„Das macht nichts.“„Du kommst vielleicht noch darauf und weißt dann, <strong>in</strong> welchemVerhältnis ich zu dem Manzhou-Staat und den Japanern stehe.“Plötzlich wurde ich hellwach.„Ne<strong>in</strong>, ich habe nichts bemerkt.“„Was hältst du von dem Manzhou-Staat?“„Ich b<strong>in</strong> zum ersten Mal hier, ich kann dazu nichts sagen.“Wieder längeres Schweigen. Ich hörte nur das ohrenbetäubende Ratterndes Zuges. Mit e<strong>in</strong>em leichten Seufzer zog der Unbekannte se<strong>in</strong>en jungenKopf e<strong>in</strong>. Dann herrschte Frieden und bald schlief ich e<strong>in</strong>.Am folgenden Tag, dem 2. September, endete der Zug <strong>in</strong> Haerb<strong>in</strong>. Allestiegen aus, der junge Mann auch. Beim Abschied nickte er mir noch e<strong>in</strong>mallächelnd zu. Wir hatten gerade die Formalitäten erledigt und wollten den


4 Im „Manzhou“-Zug 27Bahnh<strong>of</strong> verlassen, da sah ich, wie e<strong>in</strong> Mann <strong>in</strong> gebügelter Polizeiuniformvom Revier heran kam. Er trug die gleichen Stiefel, die ich <strong>in</strong> der Nachtgesehen hatte. Ich dachte an die vergangene Nacht im Abteil zurück undmir brach der Schweiß aus. Mir graute es und ich bekam im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>Angst. Wäre ich nicht so wachsam gewesen und hätte gedankenlosirgende<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung geäußert, was wäre dann aus mir geworden? Ne<strong>in</strong>, ichwollte mir das nicht weiter ausmalen.Oh, der „Manzhou-Staat“! Das war der „Manzhou-Staat“!


28 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>5. In Haerb<strong>in</strong>Wir mussten uns <strong>in</strong> Haerb<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ige Tage aufhalten und Proviant fürdie lange Zugreise besorgen. Fast jeder tat das.Haerb<strong>in</strong> – me<strong>in</strong> erster E<strong>in</strong>druck: sehr <strong>in</strong>teressant. Hohe Gebäude,breite Straßen, überall Russen, sogenannte Weißrussen, die nach derOktoberrevolution aus der Sowjetunion hierher geflüchtet waren.Darunter gab es Adlige und e<strong>in</strong>fache Leute, ihnen schien es teils gut, teilsschlecht zu gehen. Die Unterschiede waren groß. Von den Weißrussenhatte ich schon gehört, aber jetzt <strong>in</strong> Haerb<strong>in</strong> sah ich sie zum ersten Mal.Wir wohnten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Gasthaus und wollten uns e<strong>in</strong> bisschenentspannen. Etwas Abwechslung im Bahnh<strong>of</strong> bot mir neben dem„Koreaner“ mit den Stiefeln auch der mit uns reisende Herr Dun Futang.Er hatte zwar Psychologie studiert, aber se<strong>in</strong>e Psyche war sehr schwer zuverstehen. Eben hatten wir unsere Gepäckstücke abgeholt und wolltenden Bahnh<strong>of</strong> verlassen, da entdeckte er, dass se<strong>in</strong> Gepäcksche<strong>in</strong> verlorengegangen war. Ohne Gepäcksche<strong>in</strong> konnte er das aufgegebene Gepäcknicht abholen. Äußerst beunruhigt wandten wir uns an den Verwalter undVorsteher des Bahnh<strong>of</strong>s. Wir zeigten sechs Ausweise, um zu beweisen,


5 In Haerb<strong>in</strong> 29dass Herr Dun nicht unter falschem Namen e<strong>in</strong> Reisegepäck an sichnehmen würde. Erst damit war dann das Problem erledigt. H<strong>in</strong>terher <strong>in</strong>dem kle<strong>in</strong>en Gasthaus - wir waren immer noch beunruhigt und aufgeregt- griff Herr Dun <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Tasche und fand den Gepäcksche<strong>in</strong>! Sollten wirjetzt lachen oder we<strong>in</strong>en? Er war froh und zufrieden. Das gleiche Theaterwiederholte sich auf der langen Reise von über e<strong>in</strong>em halben Monatmehrmals. Deshalb kam ich zu der Überzeugung: Alles was zu verlierenwar, würde er sicher m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal verlieren, und jedes Mal würde erder Gefahr entkommen und das Missgeschick e<strong>in</strong>e glückliche Wendungnehmen.Bei der Anmeldung <strong>in</strong> dem kle<strong>in</strong>en Gasthaus saß neben der Theke e<strong>in</strong>junger weißrussischer Kutscher, ungefähr fünfzehn oder sechzehn <strong>Jahre</strong>alt. Ich hatte Lust, ihn anzusprechen. Er zw<strong>in</strong>kerte mir zu und zeigte aufden älteren Mann an der Theke, der e<strong>in</strong>e Lesebrille trug und Shandong-Dialekt sprach: „Ich verstehe ihn, Sie nicht.“Ich wusste, was er me<strong>in</strong>te, und lachte.In Haerb<strong>in</strong> lebten viele Shandonger, von großen Geschäfts<strong>in</strong>habern biszu kle<strong>in</strong>en Straßenhändlern, überall begegnete man ihnen. Sie sprachenfast alle etwas Pidg<strong>in</strong>-Russisch und konnten sich mit den Weißrussenverständigen. Russisch war sehr populär, daraus waren e<strong>in</strong>ige russischkl<strong>in</strong>gende Wörter entstanden, zum Beispiel hieß Brot „Xleb“. DieCh<strong>in</strong>esen sprachen e<strong>in</strong> grammatisch nicht sehr korrektes, aber phonetischsehr sauberes Russisch. Die Gesprächspartner konnten sich mite<strong>in</strong>anderverständigen, das war die Hauptsache. Ich dachte <strong>in</strong> diesem Augenblick:In der zwischenmenschlichen Kommunikation und im <strong>in</strong>ternationalenAustausch s<strong>in</strong>d Fremdsprachenkenntnisse nötig. Aber mit Fremdsprachenist das so e<strong>in</strong>e Sache. Um sie neben der Muttersprache zu beherrschen,bedarf es grosser Anstrengung. Manchmal kann man auch mit viel


30 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Mühe e<strong>in</strong> Leben lang dieses Ziel nicht erreichen. Wenn es aber bloß umVerständigung geht, ist die Sache sehr e<strong>in</strong>fach. Abgesehen von e<strong>in</strong>erVerständigung auf Pidg<strong>in</strong>-Ebene reichen manchmal e<strong>in</strong> oder zwei Wörteraus, um durchzukommen. E<strong>in</strong> Botschafter der Guom<strong>in</strong>dang-Regierungkannte zum Beispiel nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges italienisches Wort, nämlich das Wortfür „das“. Mit diesem Wort kommandierte er se<strong>in</strong>en italienischen Diener.Wenn zum Beispiel e<strong>in</strong> Fenster geöffnet war, sagte der Botschafter„Das!“ und zeigte auf das Fenster. Der Diener verstand s<strong>of</strong>ort, dass eres schließen sollte. War das Fenster geschlossen, reichte dieses „das“ desBotschafters aus, und der Diener öffnete es. Auf- oder zumachen, es gabnur diese zwei Möglichkeiten und absolut ke<strong>in</strong>e dritte. E<strong>in</strong> „das“ ware<strong>in</strong>fach und wirksam, es wirkte wie e<strong>in</strong> buddhistisches Zauberwort.Doch ich schweife zu weit ab: Zurück zu Haerb<strong>in</strong>!Nachdem wir uns <strong>in</strong> dem kle<strong>in</strong>en Gasthaus ausgeruht hatten, kauftenwir Proviant für die Zugreise. Das war nicht schwierig, denn <strong>in</strong> denStraßen lagen die Läden der Weißrussen dicht nebene<strong>in</strong>ander. Wirbrauchten nur unsere Wünsche zu äußern, dann bekamen wir schone<strong>in</strong>en großen Korb voller Waren, gefüllt mit e<strong>in</strong>em großen „Xleb“, dassieben oder acht Pfund wog, und e<strong>in</strong> paar dicken Würsten, Käse, Butterund Konservendosen. Zusammen mochten es etwa vierzig bis fünfzigPfund se<strong>in</strong>. Das alles genügte für die acht- bis neuntägige Reise mitder Transsibirischen Eisenbahn. An den Zug war auch e<strong>in</strong> Speisewagenangekoppelt, aber wir wussten, dass es im Speisewagen sehr teuer war unddie Bedienung nur US-Dollar annahm. Warum war klar. Die Sowjetunionwar das Land der proletarischen Diktatur. Man durfte den Klassenkampfnie vergessen. Ausländer wurden im Allgeme<strong>in</strong>en als Kapitalistenangesehen, als Gegner des Proletariats. Deshalb mussten sie „bekämpft“werden – und e<strong>in</strong> überteuerter Speisewagen war e<strong>in</strong> Kampfmittel. Leider


5 In Haerb<strong>in</strong> 31hatten wir „Kapitalisten“ ke<strong>in</strong>en Cent <strong>in</strong> der Tasche, wir konnten nichtmit US-Dollar zahlen. Die Lebensmittelläden der Weißrussen <strong>in</strong> Haerb<strong>in</strong>dagegen waren für uns erschw<strong>in</strong>glich.Außer diesen Läden gehörten den Weißrussen verschiedene Restaurants<strong>in</strong> den Kellern der Hochhäuse. Die Inhaber<strong>in</strong>nen waren groß und dick,trugen weiße Kittel und sahen wie weiße Riesen aus. Ihre Bedienungwar sehr freundlich und aufmerksam, das Essen köstlich und billig. InBeip<strong>in</strong>g hatte ich schon früher von der russischen Küche gehört, abernoch ke<strong>in</strong>e Gelegenheit gehabt, sie zu probieren. Hier <strong>in</strong> Haerb<strong>in</strong> gab esüberall russische Speisen, sogar im primitivsten Keller konnte man siebekommen. Was für e<strong>in</strong>e Freude! Wir aßen Russensuppe, Ochsenschwanz,Ochsenzunge, Schwe<strong>in</strong>ekotellet und Beefsteak. Die Portionen waren nichtunbed<strong>in</strong>gt groß, mussten aber echt russisch se<strong>in</strong>, denn der Inhaber warRusse und der Koch auch. Fast jeden Tag aßen wir diese Speisen.Gegen Abend bummelten wir durch die meistens sehr breiten, langenund mit Schotter bedeckten Straßen. Die Laternen leuchteten nichtsonderlich hell, und menschliche Schatten hüpften h<strong>in</strong> und her. Derweißrussische Junge, den ich im kle<strong>in</strong>en Gasthaus getr<strong>of</strong>fen hatte,transportierte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er westlichen Kutsche Gäste und Waren auf denlangen Straßen. Die hohe Kutsche wurde von großen Pferden gezogen,und der Junge wirkte dagegen sehr w<strong>in</strong>zig. Er saß auf dem Bock wieauf e<strong>in</strong>em Hochhaus, blickte achtungsgebietend von oben herunterund knallte mit se<strong>in</strong>er Peitsche. Die Pferde rasten davon, die Hufeisenrammten <strong>in</strong> den Strassenschotter, und die Funken sprühten nach allenSeiten wie umherfliegende Leuchtkäfer. Dazu wieherten die Tiere undratterte die Kutsche. Alles vermischte sich zu e<strong>in</strong>er Komposition vonGetöse und Licht. Wir Fremden hatten so etwas nie gehört oder gesehenund erfreuten uns an diesem Geschehen.


32 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Das war also Haerb<strong>in</strong>.Wer sich hier aufhielt, unternahm gewöhlich e<strong>in</strong>e Bootsfahrt aufdem Songhua-Fluss zu machen. Auch wir wollten uns das nichtentgehen lassen. Es war die Zeit zwischen Sommer und Herbst, dieTagestemperatur gemäßigt. Wir mieteten e<strong>in</strong> Boot und fuhren den Stromentlang. Leichter Nebel lag über dem Wasser, und das Boot glich e<strong>in</strong>emBlatt. Weit <strong>in</strong> der Ferne spannte sich e<strong>in</strong>e Eisenbrücke wie e<strong>in</strong> farbloserRegenbogen über den Fluss mit re<strong>in</strong>er glatten Wasseroberfläche, und derFluss wimmelte von Reisenden. Wir waren begeistert und unterhieltenuns heiter und amüsiert. Das Boot wurde von zwei weißrussischenJungen gefahren. Der mit den Rudern <strong>in</strong> den Händen war zu unsererÜberraschung bl<strong>in</strong>d, der andere steuerte das Boot. Erstaunlich. DerSonghua-Fluss existierte für uns plötzlich nicht mehr. Vor unseren Augenstand alle<strong>in</strong> der bl<strong>in</strong>de weißrussische Junge. Wir hatten Fragen, konntenuns aber nicht verständigen. Es war klar, dass der Bl<strong>in</strong>de aus e<strong>in</strong>er armenFamilie stammte. Se<strong>in</strong>e Eltern – wenn sie noch lebten – hatten wohl ke<strong>in</strong>eandere Wahl, als den Sohn diese gefährliche Arbeit machen zu lassen.Der breite Fluss, das tiefe Wasser, überall lauerten Gefahren. E<strong>in</strong> Mannmit guten Augen musste schon jederzeit vorsichtig se<strong>in</strong>, geschweige denne<strong>in</strong> bl<strong>in</strong>der Knabe! Aber er ruderte froh und zufrieden. Ich wusste nicht,warum. Weil er nichts sehen konnte? Ich blickte nach allen Seiten, dieLandschaft blieb unverändert, ich dachte jedoch nur an, diesen bl<strong>in</strong>denJungen. Die Ausflügler, die Wellen, die Eisenbrücke und die Natur, alleswar verschwunden. Ich malte mir aus, dass se<strong>in</strong>e Eltern und Geschwisterwahrsche<strong>in</strong>lich auf se<strong>in</strong>e Rückkehr warteten. Mit se<strong>in</strong>em selbst verdientenGeld kaufte er der Familie e<strong>in</strong> „Xleb“, damit sie nicht verhungerte. Wannaber war die Familie nach Haerb<strong>in</strong> geflüchtet? Das wusste ich natürlichnicht. Gehörte se<strong>in</strong>e Familie <strong>in</strong> der Zarenzeit zum Adel? War er vielleicht


5 In Haerb<strong>in</strong> 33der Sohn e<strong>in</strong>es Fürsten oder Grafen? Nach se<strong>in</strong>em Alter zu urteilen, hatteer das Luxusleben der Familie – wenn sie denn e<strong>in</strong>es geführt hatte – sichernicht miterleben können. Wurde er <strong>in</strong> Haerb<strong>in</strong> geboren? Wenn ja, danndachte er bestimmt nicht im hellen Mondlicht an das Vaterland zurück.Ich entschloss mich, nicht weiter darüber nachzudenken und lieber dieLandschaft zu bewundern. Ich hob den Blick. Auf dem Songhua-Flusstummelten sich immer noch viele Reisende. Die Brücke h<strong>in</strong>g am Himmel– e<strong>in</strong>e schöne Sommerlandschaft.Die Sonne wanderte nach Westen, und es war Zeit, aufzubrechen. Wirstiegen aus dem Boot und gaben den beiden weißrussischen Jungen e<strong>in</strong>gutes Tr<strong>in</strong>kgeld. Sie zeigten sich zufrieden. Wir waren es auch, denn wirhatten sicher e<strong>in</strong>e gute Tat vollbracht.Im Gasthaus dachte ich immer noch an den weißrussischen Knaben,auch heute denke ich manchmal an ihn. Wie mag se<strong>in</strong> Schicksal gewesense<strong>in</strong>? Die vergangenen Jahrzehnte hatten große Veränderungen mit sichgebracht. Es ist fast unmöglich, dass er noch lebt. Ich wünsche ihm, dassder weißrussisch-orthodoxe Gott ihm e<strong>in</strong> glückliches Leben geschenkthat!


34 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>6. Über SibirienNach e<strong>in</strong>igen Tagen <strong>in</strong> Haerb<strong>in</strong> stiegen wir am 4. September 1935 <strong>in</strong>die Transsibirische Eisenbahn der Sowjetunion e<strong>in</strong>.Der Zug hatte Schlafwagen und jedes Abteil vier Betten. Wir sechsch<strong>in</strong>esischen Studenten wohnten <strong>in</strong> zwei Abteilen, zwei der Betten wurdenim häufigen Wechsel von anderen Fahrgästen benutzt, meistens vonsowjetischen. Die ganze Reise h<strong>in</strong>durch lebten wir aus unserem Esskorb,den wir aus Haerb<strong>in</strong> mitgebracht hatten, da der Speisewagen, wie gesagt,zu teuer war. Außerdem musste man mit US-Dollar bezahlen.Die Eisenbahn raste auf der großen Song-Nen-Ebene dah<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>egrenzenlose Steppe breitete sich aus. In der Abenddämmerung g<strong>in</strong>g dieSonne wirklich unter und versteckte sich nicht h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em Berg, dennhier gab es ke<strong>in</strong>e Berge. In me<strong>in</strong>er Vorstellung verwandelte sich die Steppeplötzlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Meer und der Zug <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Schiff. Nur war dieses „Meer“ruhig und wellenlos, aber gewaltig, tatsächlich wie e<strong>in</strong> richtiges Meer.Am zweiten Tag passierte der Zug Manzhouli, die Grenze zwischender Sowjetunion und dem „Manzhou-Staat“. Er hielt und es hieß,bis zur Weiterfahrt würde e<strong>in</strong>e Weile vergehen. Wir stiegen aus, die


6 Über Sibirien 35sowjetischen Zollbeamten kontrollierten uns. Sie kontrollierten so genau,so gewissenhaft und langsam, wie ich es mir nie hätte träumen lassen.Alle unsere Gepäckstücke, große oder kle<strong>in</strong>e, K<strong>of</strong>fer oder Körbe, alleswurde geöffnet und bis <strong>in</strong>s Detail untersucht. Nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>facheBlechthermosflasche, die wir im Zug benutzen wollten, um gekochtesWasser zu holen, blieb verschont und wurde besonders beäugt. Eswar <strong>of</strong>fensichtlich, was das für e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g war, doch die sowjetischenZollbeamten hielten sie <strong>of</strong>fenbar für e<strong>in</strong> Wunder. Sie klopften, prüftenund betasteten sie e<strong>in</strong>ige Male und wollten wissen, ob es <strong>in</strong> der Flaschenoch e<strong>in</strong>e Zwischenwand gebe. Eigentlich fehlte nur noch e<strong>in</strong> Mikroskop,und sie hätten sie damit geprüft. Ich war wütend und konnte mich kaumbeherrschen. E<strong>in</strong> mitreisender Ausländer mittleren Alters klopfte mir aufdie Schulter und sagte: „Patience is the great virtue.“ Ich wusste, dass eres gut me<strong>in</strong>te. Unsere Blicke begegneten sich freundlich. Ich unterdrückteme<strong>in</strong>en Zorn und wartete respektvoll die weitere Kontrolle ab. Vielleichtbetrachtete die Sowjetunion alle Ausländer als „Verdächtige“, die die böseAbsicht hatten, die sowjetische Macht zu stürzen. Daher das Misstrauen.Nach der Kontrolle verraucht me<strong>in</strong>e Wut schnell. Wir verließen denBahnh<strong>of</strong> und g<strong>in</strong>gen auf der Straße spazieren. Manzhouli war nur e<strong>in</strong>ekle<strong>in</strong>e Grenzgeme<strong>in</strong>de und konnte sicher nicht als Stadt gelten. E<strong>in</strong>igeschmale Straßen führten durch den Ort. Die Häuser bestanden ausHolzbrettern, wie man sie <strong>in</strong> Sibirien häufig sehen konnte. Die Bewohnerbenutzten das Material, das <strong>in</strong> der Gegend reichlich vorhanden war:Holz, ke<strong>in</strong>e Ziegelste<strong>in</strong>e. Wir kauften für die weitere Zugreise <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emBretterladen e<strong>in</strong> paar <strong>in</strong> Japan hergestellte Zuckerrüben-Konserven.Wieder <strong>in</strong> den Zug e<strong>in</strong>gestiegen, kamen wir zur Ruhe. Wir glaubten, eswürde ke<strong>in</strong>e Störung mehr geben. Unter dem Schlafwagen lagen dieSchienen der riesigen Transsibirischen Eisenbahn, die sich quer durch


36 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Asien nach Europa erstreckten. Von jetzt an würden wir noch siebenoder acht Tage im Zug verbr<strong>in</strong>gen. Die Erde dreht sich, und ohne dassder Mensch sich bewegt, legt er jeden Tag tausend Li zurück. Wir fuhrenjeden Tag bestimmt nicht weniger als tausend Li, und die Zeit im Zugwürde wie im Flug vergehen.Das Leben während der Fahrt war e<strong>in</strong>tönig. Essen, tr<strong>in</strong>ken, Toilette,schlafen, für alles war gesorgt, wobei es allerd<strong>in</strong>gs angenehme undunangenehme Aspekte gab. Vorteilhaft war, dass wir nicht zu kochenbrauchten. Streckte man die Hand nach dem Korb aus, fand man etwaszu essen. Kompliziert war dagegen die Wasserversorgung. Im Zug wurdeweder warmes noch kaltes Wasser ausgeschenkt. An jeder Haltestationliefen wir abwechselnd schnell h<strong>in</strong>aus zur Wasserversorgungsstelle,drehten die Wasserleitung auf, füllten die Thermosflaschen und stiegenwieder e<strong>in</strong>. Dann verteilten wir das Wasser unter uns. E<strong>in</strong>e ältereweißhaarige Frau aus Europa hatte Schwierigkeiten beim Gehen und ke<strong>in</strong>eThermosflasche dabei. Selbst wenn sie e<strong>in</strong>e gehabt hätte, sie hätte sie nichtfüllen können. Jedes Mal kam sie zitternd zu uns, zeigte ihre Tasse undsagte auf Ch<strong>in</strong>esisch: „Wasser, Wasser!“ Wir begriffen und füllten ihreTasse. Lächelnd g<strong>in</strong>g sie dann davon. Das geschah jeden Tag m<strong>in</strong>destensdrei Mal, vor jeder Mahlzeit. Diese Ausländer<strong>in</strong>, diese Vertreter<strong>in</strong> derBourgeoisie, schien nicht viel reicher zu se<strong>in</strong> als wir. Auch sie g<strong>in</strong>g nicht<strong>in</strong> den Speisewagen, um Beefsteak oder Russensuppe zu essen. Auch siewollte nicht mit US-Dollar um sich werfen.Was das Beefsteak im Speisewagen betraf – wir konnten es zwar nichtessen, aber wir konnten es sehen und riechen. E<strong>in</strong>mal kam e<strong>in</strong>e russischeKellner<strong>in</strong> aus dem Speisewagen. Sie war von großer, stattlicher Statur,vielleicht e<strong>in</strong> bisschen zu vollschlank, trug e<strong>in</strong>en weißen Kittel und e<strong>in</strong>eweiße hohe Mütze, deren Spitze be<strong>in</strong>ahe die Zugdecke berührte. Die Frau


6 Über Sibirien 37hatte e<strong>in</strong> Paar Schuhe mit hohen Absätzen an und stolzierte strahlendund würdevoll wie e<strong>in</strong> großer General an uns vorbei. In der rechten Handtrug sie e<strong>in</strong>en Teller mit frisch gebratenen Beefsteaks. Sie dufteten nachallen Seiten und sahen so e<strong>in</strong>ladend aus, dass uns das Wasser im Mundezusammenlief. Der Preis <strong>in</strong>dessen war erschreckend: Jedes Stück kostetedrei US-Dollar. Das wollte <strong>in</strong> unserem Abteil niemand dafür ausgeben.Der weibliche „General“ kam mit dem Teller zurück. Ob sie uns alsausländische Bourgeois verachtete? Oder dachte sie: „Ihr alle seid geizigerals Shylock <strong>in</strong> Shakespeares Drama ‚Der Kaufmann von Venedig‘ “? Ke<strong>in</strong>eAhnung. Der Beefsteakduft war verschwunden, aber wir hatten jetztHunger. Wir holten unseren Korb und bissen <strong>in</strong> unser Brot.So sah unsere Verpflegung im Zug aus. Wie war es aber für die Russen?Ganz anders als <strong>in</strong> unserer Vorstellung. Sie hatten von Haerb<strong>in</strong> auske<strong>in</strong>en Korb mitgebracht, ne<strong>in</strong>. Sie besorgten sich die Nahrung vor Ort.Ich hatte vorher erwähnt, dass zwei Betten <strong>in</strong> unseren beiden Abteilennicht von uns benutzt und abwechselnd von anderen Reisenden belegtwurden. E<strong>in</strong>es Tages kam e<strong>in</strong> sowjetischer Offizier here<strong>in</strong>. Wir kanntendie sowjetischen Epauletten nicht und wussten deshalb nicht, welchenRang er hatte. Der Offizier war sehr freundlich, schaute sich im Abteilum und nickte uns lächelnd zu. Wir erwiderten se<strong>in</strong> Lächeln, konntenihn aber leider nicht verstehen und nur mite<strong>in</strong>ander gestikulieren. Erholte aus se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Tasche e<strong>in</strong> Heftchen mit e<strong>in</strong>em Foto, das wie e<strong>in</strong>Ausweis aussah. Dann versuchte er uns mit Gesten dessen Bedeutungverständlich zu machen. Dabei deutete er mit der rechten Hand aufse<strong>in</strong>en Hals, um zu zeigen, dass er enthauptet würde, wenn das Heftchenverloren g<strong>in</strong>ge. Dieses Heftchen war allmächtig. An jeder großen Stationbekam er damit Brot, Butter, Käse und Wurst. So also funktionierte dasVersorgungssystem der Roten Armee.


38 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Im Zug hatten wir die Essens- und Getränkefrage gut gelöst. Mit denToilettengängen gab es allerd<strong>in</strong>gs große Schwierigkeiten. In jedem Wagenbefanden sich vierzig bis fünfzig Fahrgäste. Es standen aber nur zweiToiletten zur Verfügung, die <strong>of</strong>t belagert waren. Jeden Tag stand ich sehrfrüh auf. Ich dachte, dass es eigentlich zeitig genug se<strong>in</strong> müsste, aber vorder Toilette stand dann schon e<strong>in</strong>e lange Schlange. Schnell stellte ich michan und wartete sehnsüchtig. Wie viel Zeit brauchte man? Man putztesich die Zähne, wusch sich das Gesicht und leerte noch Darm und Blase.Wenn e<strong>in</strong>er Verstopfung hatte, war das für die anderen schlimm. DerDarm drehte sich im Bauch, und die Schlange wurde nicht kürzer. Was füre<strong>in</strong> Gefühl!Natürlich gab es nicht nur Schwierigkeiten. Manchmal kam auch Freudeauf. Wir sechs ch<strong>in</strong>esischen Studenten trafen uns <strong>of</strong>t <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Abteil. Wirwaren zwar Kommilitonen an der Q<strong>in</strong>ghua-Universität gewesen, hattenfrüher jedoch mite<strong>in</strong>ander wenig Kontakt gehabt. Jetzt im Zug wurdenwir vertraute Freunde, saßen zusammen und plauderten locker undungezwungen, junge Männer von dreiundzwanzig oder vierundzwanzig<strong>Jahre</strong>n. Wir kannten die Welt noch nicht, die voller Rosen, farbig undglänzend vor uns lag. Wir hatten klare Augen, durchsichtige Herzenund sprachen ohne Hemmungen. Nie g<strong>in</strong>g uns der Gesprächsst<strong>of</strong>f aus.In dem kle<strong>in</strong>en Abteil herrschte e<strong>in</strong>e fröhliche Stimmung. Manchmalermüdete uns das Reden, dann spielten wir Schach. Der Physiker WangZhuxi war dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Meister. Wir fünf spielten e<strong>in</strong>zeln gegen ihn undhatten die erste, zweite und dritte Partie verloren. Auch zu fünft hattenwir gegen ihn ke<strong>in</strong>e Chance. Dem Philosophen Qiao Guanhua half se<strong>in</strong>ePhilosophie da auch nicht viel. In den acht oder neun Tagen sah ich ihnnicht e<strong>in</strong>mal gew<strong>in</strong>nen.Wenn wir ke<strong>in</strong>e Lust mehr zum Plaudern oder Schachspielen hatten,


6 Über Sibirien 39blickten wir aus dem Fenster. Die Landschaft änderte sich kaum.Vermutlich waren die üppigen, grenzenlosen Wälder voll mit Früchten.E<strong>in</strong>mal stieg ich an e<strong>in</strong>er Station im Wald aus und spazierte den Bahnsteigentlang. E<strong>in</strong> sowjetischer Bauer trug e<strong>in</strong>en großen Korb mit erstaunlichgroßen P<strong>in</strong>iennüssen. In me<strong>in</strong>em Leben hatte ich noch nie so großeund gute Nüsse gesehen. Ich konnte nicht widerstehen und kaufte für50 US-Cent e<strong>in</strong>e große. Das war me<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger E<strong>in</strong>kauf <strong>in</strong> Sibirien.Unvergesslich! Außer dem Urwald gab es hier und da Steppen. Tiefbee<strong>in</strong>druckt hat mich der Baikalsee. Unser Zug fuhr etwa e<strong>in</strong>en halbenTag am See entlang und <strong>of</strong>t durch e<strong>in</strong>en Tunnel. Wie <strong>of</strong>t, haben wir nichtgezählt. Grüne Wälder türmten sich auf den Bergen. Die Bahnstreckeführte am Ufer entlang, so dass man vom Zug aus auf das Wasserblickte. Es war klar, am Ufer hellgrün, <strong>in</strong> der Seemitte dunkelgrün oderschwärzlich und von unermesslicher Tiefe. Wirklich e<strong>in</strong>e wunderbareLandschaft, die ich heute noch sehr deutlich vor mir sehe.Die acht Tage im Zug verg<strong>in</strong>gen im Nu, und am Abend des 11. September1935 erreichten wir Moskau.


40 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>7. In der roten HauptstadtMoskau war damals weltweit die e<strong>in</strong>zige Hauptstadt e<strong>in</strong>essozialistischen Landes. Viele Menschen wollten sie sehen. Ichauch.Auf ke<strong>in</strong>em Fahrplan stand, dass der Zug hier zwei Tage Aufenthalt hatte.Fahrgäste, die diese Reise bereits unternommen hatten, erzählten jedoch,dass jeder Zug aus irgende<strong>in</strong>em Grund e<strong>in</strong>en Tag <strong>in</strong> Moskau bleibenwürde. Der Grund lag auf der Hand. Die sowjetische Behörde versuchte,den Menschen aus kapitalistischen Ländern e<strong>in</strong>mal den Charme derSowjetunion zu zeigen und uns mit sozialistisch erquickendem Tau zubenetzen. Wir sollten e<strong>in</strong>e Gehirnwäsche erhalten, unsere Weltanschauungändern und unserem grauen Leben etwas Rot geben.Auf uns junge Menschen übte die Rote Hauptstadt e<strong>in</strong>e Anziehungskraftaus. Me<strong>in</strong> Gefühl war widersprüchlich. Die Unabhängigkeit der ÄußerenMongolei konnte ich nicht verstehen. Jetzt waren wir <strong>in</strong> der Hauptstadtder Sowjetunion. Die Erlebnisse während der Reise hatten ke<strong>in</strong>e gutenE<strong>in</strong>drücke h<strong>in</strong>terlassen. Der Zug hielt.Das Eisenbahnamt verkündete, die Waggons müssten repariert


7 In der roten Hauptstadt 41werden. Da erschien e<strong>in</strong>e Reisebegleiter<strong>in</strong>, jung und hübsch, weiß undschlank, sehr elegant, modern gekleidet, mit Lippenstift und lackiertenF<strong>in</strong>gernägeln, Perlen und Schmuck. Ich war überrascht. Damalsverwendete man das Wort „ultral<strong>in</strong>k“ noch nicht, me<strong>in</strong>e Ideologie aberwar ansche<strong>in</strong>end ultral<strong>in</strong>k. E<strong>in</strong>e „proletarische“ junge Frau jedenfalls hatteich mir ganz anders vorgestellt. Was unterschied die „proletarische“ vonder „bürgerlichen Frau“? Ihre Seele mochte rot se<strong>in</strong>, aber die sah ich janicht. Ich verstand es nicht. Vor mir sah ich diese kokette Frau.Wir ausländischen Fahrgäste wurden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Bus verfrachtet, um dieSehenswürdigkeiten der Stadt zu besichtigen. Die Reisebegleiter<strong>in</strong> sprachEnglisch. Der Bus hielt irgendwo, und vor uns lag e<strong>in</strong>e Reihe baufälligerHochhäuser. Sie erzählte, <strong>in</strong> welchem Fünfjahresplan alte abgerissen undneue aufgebaut würden. Gut, warum nicht. Der Bus hielt dann an e<strong>in</strong>emanderen Ort, wo die Begleiter<strong>in</strong> kühl erklärte: „Diese Häuser werden imnächsten Fünfjahresplan abgerissen und neue gebaut.“ Sehr gut, warumnicht. Dann weiter. An jeder Station sagte sie immer dasselbe, gefühllosund mit marmorkalter Miene. So hatte wir Gelegenheit, den sowjetischenFünfjahresplan tüchtig zu studieren, bekamen aber ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zigesneues Haus zu sehen. Ich fragte mich, warum wohl nicht. War das derSozialismus?Schließlich führte uns die junge Reiseführer<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em prunkvollenGebäude. Vor der Oktoberrevolution war es die Residenz e<strong>in</strong>eszaristischen M<strong>in</strong>isters gewesen, jetzt diente es als Gästehaus des staatlichenReisebüros. Der Fußboden war mit Marmor ausgelegt, Wände und Säulenbestanden auch aus Marmor, es leuchtete <strong>in</strong> allen Farben voller Glanz undPracht. Von der Decke h<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> großer Kristallleuchter, m<strong>in</strong>destens zehnMeter lang. Ich fühlte mich wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Märchenwelt. Die Mitarbeiterhier waren meistens junge und hübsche Frauen. Alle hatten rote Lippen


42 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>und weiße Zähne, schöne rot leuchtende F<strong>in</strong>gernägel und Perlen. WelchePracht! Ich kam gerade aus dem wüsten und kalten Sibirien und trug dieSchatten der endlosen Urwälder noch <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung. Jetzt befandich mich hier, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Märchenwelt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fast irrealen Welt.Andere Gäste blieben hier und aßen zu Mittag. Natürlich wurden US-Dollar verlangt. E<strong>in</strong> Q<strong>in</strong>ghua-Kommilitone, der <strong>in</strong> der Botschaft <strong>in</strong>Moskau arbeitete, lud uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Restaurant e<strong>in</strong>. Das Restaurant erstrahltevor Pracht. Hier probierte ich zum ersten Mal <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Lebenkostbaren Kaviar. Auch andere Speisen schmeckten lecker, gerade für unsjunge Männer, die acht Tage im Zug „Xleb“ gekaut hatten. Wir langtenzu wie hungrige Wölfe. Wie viele Gänge wir aßen, zählte niemand. E<strong>in</strong>esstand jedenfalls fest: Das war die fe<strong>in</strong>ste, unvergesslichste Mahlzeitme<strong>in</strong>es Lebens. Sie würde <strong>in</strong> die Geschichte e<strong>in</strong>gehen. Sie kosteteaber auch 300 Rubel, das entsprach etwa 200 US-Dollar. Wir warenunserem Kommilitonen Xie Zidun sehr zu Dank verpflichtet. Wegender nachfolgenden großen Veränderungen habe ich leider den Kontaktzu ihm verloren. Ob er wohl noch am Leben ist? Mittlerweile ist ja e<strong>in</strong>halbes Jahrhundert vergangen. Ich wünsche ihm Glück!An jenem Abend stiegen wir wieder <strong>in</strong> den Zug und trafen die anderenausländischen Mitreisenden, darunter die ältere Frau, die im Zug immerWasser von uns erbeten hatte, und der Herr mittleren Alters, der <strong>in</strong>Manzhouli bei der Zollkontrolle zur Geduld riet. Der Herr zw<strong>in</strong>kertemir listig zu und sagte, sie hätten fe<strong>in</strong> und preisgünstig gegessen. Ichverstand ihn nicht. Leise erzählte er weiter, sie hätten <strong>in</strong> Haerb<strong>in</strong> auf demSchwarzmarkt US-Dollar gegen Rubel getauscht, zehnmal besser als zum<strong>of</strong>fiziellen Wechselkurs. Auch <strong>in</strong> Moskau kannten sie sich beim Dollar-Rubel-Tausch gut aus. Es hieß, für e<strong>in</strong> sehr gutes Essen brauchten sienur sieben bis acht US-Dollar zu bezahlen. Mir fiel es wie Schuppen von


7 In der roten Hauptstadt 43den Augen. Solche cleveren Menschen waren stets Herr der Lage undverstanden jede Gelegenheit auszunutzen. Und auch jetzt nach e<strong>in</strong>emhalben Jahrhundert wuchert dort immer noch der Schwarzmarkt, wasmich nachdenklich stimmt.Die ganze Nacht war es ruhig im Abteil. Man spürte die Bewegungendes Zuges nicht. Am folgenden Tag passierte der Zug die GrenzstationStolpce zwischen der Sowjetunion und Polen. Hier stiegen wir <strong>in</strong> denpolnischen Zug um, und abends erreichten wir Warschau. DeutschenBoden sollten wir erst am 14. September 1935 morgens um vier Uhrbetreten.Während der Fahrt dorth<strong>in</strong> stiegen polnische Fahrgäste e<strong>in</strong> und aus.Sie sahen ganz anders aus als die Russen, waren gut gekleidet, sehrlebhaft und sprachen mehrere Fremdsprachen, neben der Muttersprachenoch Russisch, Deutsch und etwas Englisch. Wir konnten uns nun gutverständigen, nicht mehr nur durch Gesten wie <strong>in</strong> der Sowjetunion. Inden Abteilen herrschte plötzlich reger Betrieb. Die Polen schienen an unsCh<strong>in</strong>esen sehr <strong>in</strong>teressiert zu se<strong>in</strong>. Wir unterhielten uns mal auf Deutsch,mal auf Englisch. Unbemerkt und leise kam e<strong>in</strong> polnisches Mädchen zuuns <strong>in</strong>s Abteil. Sie hatte e<strong>in</strong> rundes Gesicht, runde Augen, kristallklar,k<strong>in</strong>dlich und unschuldig. Sie schaute sich um, fand e<strong>in</strong>en Platz und setztesich natürlich und ungezwungen zu uns. Wir sprachen sie versuchsweiseauf Englisch an und sie erwiderte höflich unsere Fragen auf Englisch.Wir fragten nach ihrem Namen. Sie hieß Wala. Auf Ch<strong>in</strong>esisch kl<strong>in</strong>gt daswie die ch<strong>in</strong>esische Interjektion „wa la“. Der Mitreisende Xie Jiaze lachtedeshalb und plapperte ununterbrochen: „Wa la, Wa la“. Das Mädchenverstand nicht, was das sollte, und starrte ihn irritiert mit großen Augenan. Wir unterhielten uns immer lebhafter und <strong>in</strong> dem kle<strong>in</strong>en Abteilherrschte e<strong>in</strong>e fröhliche Stimmung. E<strong>in</strong> nicht mehr ganz junger Mann,


44 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>der neben mir saß, verzog den Mund und zeigte e<strong>in</strong>en verächtlichenGesichtsausdruck. Ich war verwirrt und fand nichts, was an dem Mädchenzu verachten gewesen wäre. Ich wurde nicht klug daraus. Das Mädchenund die ch<strong>in</strong>esischen Studenten aber kümmerten sich nicht darum undplauderten pausenlos munter und lebhaft weiter, genau so, wie es <strong>in</strong> derklassischen ch<strong>in</strong>esischen Literatur beschrieben ist: „Männer und Frauenunterhalten sich ausgelassen mite<strong>in</strong>ander.“ 22 Ich kann mich nicht er<strong>in</strong>nern,wann das Mädchen das Abteil verließ. Wir hatten uns kurz und zufälligkennengelernt und sahen uns danach nicht mehr wieder. In me<strong>in</strong>emLeben habe ich solchen Begegnungen sonst ke<strong>in</strong>e besondere Bedeutungbeigemessen, aber dieses kurze Zusammentreffen mit dem Mädchenkonnte ich nicht vergessen. <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> später schrieb ich darüber diekle<strong>in</strong>e Geschichte „Wala“.Um acht Uhr morgens fuhr unser Zug dann <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>, der Hauptstadt<strong>Deutschland</strong>s. Die zehn Tage dauernde Fahrt war zu Ende.22aus: „Aufzeichnungen der Geschichte“ (《 史 记 》)von Sima Qian 司 马 迁 (ca. 145v.Chr.–86 v.Chr.), Historiker.


8 Ankunft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 458. Ankunft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>Berl<strong>in</strong> war das Ziel me<strong>in</strong>er langen Reise, die Erfüllung me<strong>in</strong>erTräume vom Auslandsstudium. Berl<strong>in</strong> war das Ende me<strong>in</strong>es altenund der Anfang me<strong>in</strong>es neuen Lebens. Berl<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e wunderschöne Stadt<strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Vorstellung – jetzt war ich endlich hier, nach langer Reise überBerge und Flüsse, bewegt von gemischten Gefühlen: begeistert undneugierig, glücklich und beunruhigt zugleich. Aus e<strong>in</strong>em damals nochwenig entwickelten Ch<strong>in</strong>a kommend, befand ich mich nun zwischenHochhäusern und g<strong>in</strong>g auf langen Boulevards spazieren. Ich fühlte michwie e<strong>in</strong> Wassertropfen im Meer.Zhao Jiuzhang und andere frühere Kommilitonen von der Q<strong>in</strong>ghua-Universität hatten uns vom Bahnh<strong>of</strong> abgeholt. Sie hatten für uns allenotwendigen Formalitäten erledigt. Weit entfernt von der Heimat spürtenwir vertraute, warme Geborgenheit. Es gab aber auch unangenehmeZwischenfälle. Dun Futang habe ich bereits erwähnt. Auf dem Berl<strong>in</strong>erBahnh<strong>of</strong> hatte er wieder e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong>e Sachen verloren! Dieses Mal war esder Reisepass. Obwohl wir alle überzeugt waren, dass er ihn wiederf<strong>in</strong>denwürde, machten wir uns Sorgen. Dun starrte <strong>in</strong>s Leere und Schweiß trat


46 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>auf se<strong>in</strong>e Stirn. Er durchwühlte se<strong>in</strong>e Taschen und machte die Unordnungdar<strong>in</strong> noch größer. Nachdem Herr Dun mächtig <strong>in</strong>s Schwitzen geratenwar, steckte er die Hand <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Hosentasche, fand dar<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Pass undstrahlte. Wir wussten nicht, ob wir lachen oder we<strong>in</strong>en sollten, erledigtenalle weiteren Formalitäten und verließen den Bahnh<strong>of</strong>.Die alten Kommilitonen hatten uns zunächst zum Apartmenthaus Peter<strong>in</strong> die Kantstraße begleitet und unsere Gepäckstücke dort abgestellt.Dann besuchten wir zusammen e<strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a-Restaurant. Es sollte nur dreidavon <strong>in</strong> ganz Berl<strong>in</strong> geben. Das Essen schmeckte e<strong>in</strong>igermaßen, waraber sehr teuer. Neben den großen Restaurants gab es noch e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>esmit Buffet. Der Wirt kam aus dem Norden Ch<strong>in</strong>as, die Wirt<strong>in</strong> aus Italien.Beide sprachen e<strong>in</strong> miserables Deutsch, bedienten aber sehr freundlichund zuvorkommend. Sie konnten große und weiche Mantou 23 und andereköstliche Speisen zubereiten, die vor allem nicht so furchtbar teuerwaren. Deshalb stürzten sich die ch<strong>in</strong>esischen Studenten darauf, und dasGeschäft lief ausgezeichnet. Uns Neuankömml<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> beschäftigtefolgende Frage brennend: Wie konnte das Ehepaar kommunizieren? Erkannte nicht ihre Muttersprache und sie nicht se<strong>in</strong>e! Waren die beidenAnhänger des Botschafters der Guom<strong>in</strong>gdang-Regierung <strong>in</strong> Italien, dernur das Wort „das“ kannte?Aber natürlich g<strong>in</strong>g uns das eigentlich nichts an, wir ließen deshalbdiese Überlegungen auch bald wieder se<strong>in</strong>. Für uns stand jetzt dieWohnungssuche im Vordergrund. Die Deutschen zeigten sich damalsals sehr praktisch und bescheiden. Viele hatten, egal welcher Arbeit sienachg<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong> ihrer geräumigen Wohnung mit Schlaf- und Wohnzimmer,Küche und Toilette auch noch e<strong>in</strong> Gästezimmer. Dieses freie Zimmer23Gedämpfte, faustgroße Brötchen.


8 Ankunft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 47vermieteten sie an Studenten, die von außerhalb kamen, oder anausländische Studenten. Sogar gut dotierte Pr<strong>of</strong>essoren machten dake<strong>in</strong>e Ausnahme. Besonders <strong>in</strong>teressant war, dass die Vermieter ke<strong>in</strong>eleeren Räume, sondern möblierte Zimmer mit Tischen, Stühlen unde<strong>in</strong>em S<strong>of</strong>a e<strong>in</strong>schließlich der Bettwäsche anboten. Die Mieter brauchtenweder Hausrat noch Hand- und Badetücher mitzubr<strong>in</strong>gen. Auchalle Hausarbeiten – wie zum Beispiel Betten machen, die Bettdeckezusammenlegen, putzen und bohnern – übernahm die Vermieter<strong>in</strong>.Sogar die Schuhe, die die Mieter vor dem Schlafengehen vor die Türgestellt hatten, putzte sie blank und glänzend. Auch die Frauen derPr<strong>of</strong>essoren taten das höchst persönlich. Sie fanden solche Arbeitenke<strong>in</strong>eswegs erniedrigend. Die Deutschen s<strong>in</strong>d wegen ihrer Sauberkeit <strong>in</strong>aller Welt bekannt. So putzten auch die Hausherr<strong>in</strong>nen jeden Vormittag,sie re<strong>in</strong>igten nicht nur die Zimmer und bohnerten die Flure, ne<strong>in</strong>, siefeudelten sogar die Gehsteige mit Putzmitteln. Ke<strong>in</strong> Staubkörnchen war<strong>in</strong>nerhalb und außerhalb des Hauses zu f<strong>in</strong>den.Me<strong>in</strong> alter Kommilitone von der Q<strong>in</strong>ghua-Universität, Wang Dianhua,und se<strong>in</strong>e deutsche Frau hatten für uns <strong>in</strong> der Weimarer Straße <strong>in</strong>Charlottenburg e<strong>in</strong>e Unterkunft gefunden. Der Hausherr hieß Rosenau.Er sah aus wie e<strong>in</strong> Jude. Bei der Wohnungssuche musste ich an dieCh<strong>in</strong>esen <strong>in</strong> den frühen Romanen von Lao She denken, die <strong>in</strong> London aufWohnungssuche waren. Das war dort e<strong>in</strong> schweres Vorhaben! Denn wenn<strong>in</strong> den Zeitungsanzeigen nicht klar vermerkt war „auch an Ch<strong>in</strong>esen“,brauchte man gar nicht erst nachzufragen. Man wurde ganz sicherabgewiesen. In <strong>Deutschland</strong> war das ganz anders. In Berl<strong>in</strong> gab es ke<strong>in</strong>Problem e<strong>in</strong> Zimmer zu mieten – mit Ausnahme von solchen Häusern,<strong>in</strong> denen früher schon ch<strong>in</strong>esische Studenten gewohnt hatten. Hier wurdeman übersehen und stand vor verschlossener Tür. Wir wussten warum!


48 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Von den Juden, ihrer Situation <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> und vom faschistischenRegime muss ich erzählen. Der faschistische Anführer Hitler errang1933 die Macht. Ich kam 1935 nach <strong>Deutschland</strong> und erlebte, wie <strong>in</strong> denfolgenden <strong>Jahre</strong>n das Maß se<strong>in</strong>er Schuld voll wurde und er am EndeSelbstmord beg<strong>in</strong>g. Ich beobachtete das Hitler-Regime fast von se<strong>in</strong>emAnfang bis zum Schluss. Als Augenzeuge kann ich darüber berichten.Während me<strong>in</strong>er Zeit <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> war die Herrschaftsposition des Nazi-Diktators noch nicht so stark, aber dennoch war sie schon deutlichzu spüren. Überall h<strong>in</strong>gen Hitler-Bilder und Hakenkreuzfahnen. ZurBegrüssung hiess es nicht mehr wie früher „Guten Morgen“, „GutenTag“ und „Guten Abend“ oder zum Abschied „Auf Wiedersehen“.Nun schnellte der rechte Arm zum Gruß <strong>in</strong> die Höhe und laut ertönte„Heil Hitler!“ Wir ch<strong>in</strong>esischen Studenten hatten die Angewohnheit,<strong>in</strong> Restaurants oder Geschäften immer „Guten Morgen“ oder „AufWiedersehen“ zu sagen. Manche Deutsche erwiderten uns Ausländerngegenüber den Gruß <strong>in</strong> der alten Art und Weise, die meisten aber schrienihr „Heil“. Dass wir uns so verhielten, wie es uns gefiel, nahm uns aberniemand übel. Wir machten jedenfalls ke<strong>in</strong>e unangenehmen Erfahrungen.Nach Hitlers faschistischer Bibel „Me<strong>in</strong> Kampf“ gehörten Juden undCh<strong>in</strong>esen zu den m<strong>in</strong>derwertigen Rassen. Sie galten als Saboteure derKulturen der Menschheit. Arier mit ihren goldblonden Haaren waren<strong>in</strong> den Augen der Faschisten dagegen e<strong>in</strong>e besonders gute Rasse – dieSchöpfer der menschlichen Kultur. Heimlich erzählte man mir, es seidoch e<strong>in</strong>e Ironie, dass Hitler mit se<strong>in</strong>en schwarz-braun melierten Haarenganz und gar nicht dem nordischen Idealbild entspreche. Festzuhaltenist jedenfalls: Die Ch<strong>in</strong>esen waren <strong>in</strong> den Augen der Faschisten ebensom<strong>in</strong>derwertig wie die Juden.In diesem Zusammenhang möchte ich e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Exkurs über den


8 Ankunft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 49Antisemitimus <strong>in</strong> der europäischen Geschichte e<strong>in</strong>fügen. Schon langewurden die Juden <strong>in</strong> vielen europäischen Ländern mit Hass verfolgt. Dasberühmte Drama „Der Kaufmann von Venedig“ von Shakespeare belegtdies. Im Mittelalter ereigneten sich <strong>in</strong> verschiedenen Ländern Massaker anJuden. In dieser H<strong>in</strong>sicht übernahm Hitler das Erbe der Vergangenheitund schuf nichts Neues, außer dass er die Juden „wissenschaftlich“analysierte und 1935 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Rassegesetzen genetisch klassifizierte.Dabei differenzierte er nach politischem und genetischem Maß: Volljudewar, wer von drei jüdischen Großelternteilen oder von zwei jüdischenElternteilen abstammte. Halbjuden hatten entweder e<strong>in</strong>en jüdischenElternteil oder zwei jüdische Großelternteile. Und Vierteljuden besaßene<strong>in</strong>en jüdischen Großelternteil. Es gab auch Achteljuden und so weiter.Das war die theoretische Basis der „völkischen Politik“ der Nazis.Volljuden wurden zuerst verfolgt. Dann kamen die Halbjuden an dieReihe. Die Vierteljuden standen am Rand des politischen Interessesund wurden vorläufig nicht belästigt. Wer zu e<strong>in</strong>em Achtel oder wenigerjüdisch war, gehörte zum Volk. Während me<strong>in</strong>er Zeit <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> befandsich diese Politik erst <strong>in</strong> der Anfangsphase, die Verfolgung war aufMenschen mit hundertprozentiger und fünfzigprozentiger jüdischerHerkunft beschränkt, dann verschärfte sie sich aber immer mehr. Me<strong>in</strong>Vermieter zählte vielleicht zu den halben Juden und hatte zunächstnoch se<strong>in</strong>en Frieden. Wie präzise der Maßstab von Hitler war, wussteich als Außenseiter nicht. Aber die Deutschen s<strong>in</strong>d auf der Welt für ihreWissenschaft und Technik bekannt, also musste der Maßstab wohl sehrgenau se<strong>in</strong>.Wie die e<strong>in</strong>fachen Leute <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> zur Judenverfolgung standen,wagte ich als Neul<strong>in</strong>g nicht zu beurteilen. Die Deutschen waren imAllgeme<strong>in</strong>en sehr nett und bescheiden, aufrichtig, überhaupt nicht


50 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>h<strong>in</strong>terlistig. Manchmal wirkten sie sogar e<strong>in</strong> bisschen schwerfällig. Werzum Beispiel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Laden etwas für fünfundsiebzig Pfennig gekauftund mit e<strong>in</strong>er Mark bezahlt hatte, erlebte e<strong>in</strong> kurioses Rechenkunststück.In Ch<strong>in</strong>a rechnet <strong>in</strong> diesem Fall der Verkäufer mit dem Abakus oder imKopf die Differenz aus und gibt fünfundzwanzig Pfennig zurück. Diedeutsche Verkäufer<strong>in</strong> aber sagte zuerst: „Fünfundsiebzig Pfennig“, legtefünf Pfennig auf den Tisch und sagte: „Achtzig Pfennig“, dann legte sienochmals zehn Pfennig auf den Tisch und sagte: „Neunzig Pfennig“.Zum Schluss legte sie weitere zehn Pfennig auf den Tisch und sagte:„E<strong>in</strong>e Mark. Das wär’s.“ Und beide Seiten waren zufrieden.E<strong>in</strong>e weitere kle<strong>in</strong>e Episode beweist, wie ehrlich und aufrichtig dieDeutschen waren. Me<strong>in</strong>em Tagebuch zufolge ereignete sie sich am17. September. Me<strong>in</strong>e Uhr lief nicht richtig. Ich g<strong>in</strong>g also zu e<strong>in</strong>emUhrmacher. Am folgenden Tag wollte ich die Uhr wie vere<strong>in</strong>bart abholen.Ich war neu <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und fühlte mich zwischen den Hochhäusern wie<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Urwald. H<strong>in</strong>zu kam der Straßenlärm. Mir wurde schw<strong>in</strong>dligund ich verlor die Orientierung. So betrat ich e<strong>in</strong> Uhrengeschäft, das soähnlich aussah wie das vom Vortag. Der alte Angestellte war wohlbeleibt,trug e<strong>in</strong>e starke Lesebrille und sah so aus wie der Mann von gestern.Ich reichte ihm den Beleg. Er suchte im Glasschrank nach me<strong>in</strong>er Uhrund fand sie nicht. Der alte Herr wurde etwas aufgeregt und hatteSchweißperlen auf der Stirn. Er blickte durch se<strong>in</strong>e Brille auf mich undbat: „Kommen Sie bitte morgen noch e<strong>in</strong>mal vorbei!“ Zu Hause dachteich weiter darüber nach. Am folgenden Tag schaute ich erneut vorbei,aber die Uhr wurde wieder nicht gefunden. Der alte Herr wurde ganznervös, auf se<strong>in</strong>er Stirn erschienen noch mehr Schweißperlen, und se<strong>in</strong>eHände zitterten. Nachdem er lange Zeit den Schrank durchwühlt hatte,g<strong>in</strong>g ihm plötzlich e<strong>in</strong> Licht auf. Er betrachtete den Beleg und sagte wie


8 Ankunft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 51von göttlicher Gnade erleuchtet: „Ne<strong>in</strong>, das ist ja gar nicht me<strong>in</strong> Beleg!“Mir wurde klar, dass ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em falschen Geschäft gelandet war. Überdiese kle<strong>in</strong>e Anekdote habe ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Prosasammlung „Die Komödiemit der Uhr“ geschrieben.In <strong>Deutschland</strong> habe ich mich mehrmals blamiert. Dazu möchte ich diefolgende Geschichte erzählen. Die Deutschen essen am Tag nur e<strong>in</strong>malwarm – zum Mittagessen. Zum Abendessen gibt es Brot, Wurst oderKäse, manchmal auch Tee. E<strong>in</strong>es Tages hatte ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Metzgerladenetwas Aufschnitt für das Abendessen gekauft. Ich kochte schwarzen Teeund war mit Freude dabei, me<strong>in</strong>en Sch<strong>in</strong>ken zu essen. Da stellte ich e<strong>in</strong>enmerkwürdigen Beigeschmack fest, weil der Sch<strong>in</strong>ken roh war. Ich ärgertemich sehr darüber. Die Deutschen machen sich lustig über die Ausländer,so dachte ich, unerhört! Sogar im Traum konnte ich me<strong>in</strong>en Zorn nichtunterdrücken. Früh am Morgen des folgenden Tages suchte ich denMetzger auf und versuchte, ihn öffentlich dieser Missetat zu beschuldigen.Die Verkäufer<strong>in</strong> hörte me<strong>in</strong>e Beschwerde an und begutachtete denSch<strong>in</strong>ken <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Händen. Sie staunte zunächst, dann lachte sie: „In<strong>Deutschland</strong> isst man Sch<strong>in</strong>ken roh, auch Fleisch kann roh gegessenwerden, es muss nur ganz frisch se<strong>in</strong>.“ Was sollte ich dazu sagen? Ich ware<strong>in</strong> Idiot.Aber natürlich war ich nicht wegen des Sch<strong>in</strong>kens nach <strong>Deutschland</strong>gekommen, sondern zum Studium. Dafür waren gute Deutschkenntnisseerforderlich. An der Q<strong>in</strong>ghua-Universität hatte ich zwar Deutsch gelerntund <strong>in</strong> vier <strong>Jahre</strong>n acht „ausgezeichnet“ bekommen. Tatsächlich konnteich aber noch nicht richtig Deutsch sprechen. Ich wollte aber nicht weiterstumm bleiben. Deswegen wollte ich <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> nachträglich Alltagsdeutschlernen. Dr. L<strong>in</strong>de und Dr. Rochall von der Fernost-Gesellschaftunterstützen mich sehr freundlich und begleiteten mich zum Direktor


52 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>des Fremdsprachen<strong>in</strong>stituts der Universität Berl<strong>in</strong>. Der ließ mich e<strong>in</strong>igedeutsche Sätze lesen und war zufrieden. Ich wurde danach dem oberstenDeutschkurs für ausländische Studenten der Universität zugewiesen.Dann wurde ich immatrikuliert und g<strong>in</strong>g jeden Tag zum Unterricht. Me<strong>in</strong>Pr<strong>of</strong>essor hieß Höhm. E<strong>in</strong>en so guten Lehrer hatte ich bisher noch nichtgetr<strong>of</strong>fen. Er hatte e<strong>in</strong>e saubere, schöne Aussprache und erklärte allessehr genau und gründlich. Wunderbar! In me<strong>in</strong> Tagebuch schrieb ich am20. September: Der Pr<strong>of</strong>essor heißt Höhm, se<strong>in</strong> Unterricht ist ausgezeichnet, so gut,dass mir die Worte fehlen. Zum ersten Mal höre ich e<strong>in</strong>e Vorlesung auf Deutsch undkann alles verstehen. Das bedeutet nicht, dass me<strong>in</strong> Hörverständnis so gut ist, sonderndass er alles sehr deutlich erklärt. Das war me<strong>in</strong> E<strong>in</strong>druck. Beim Unterrichtsaß ich immer mit Qiao Guanhua zusammen. Wir fuhren jeden Tag mitder S-Bahn zum Unterricht und hatten viel Freude daran.Von Qiao Guanhua möchte ich auch gern erzählen, von den Bekanntenunter den ch<strong>in</strong>esischen Studenten und von den ch<strong>in</strong>esischen Studentenüberhaupt. Qiao Guanhua war me<strong>in</strong> Kommilitone an der Q<strong>in</strong>ghua-Universität. Er studierte Philosophie, zwei Klassen über mir. Auf demUni-Gelände schritt er, e<strong>in</strong>en Band der deutschen Ausgabe von HegelsGesamtwerk <strong>in</strong> der Hand, erhobenen Hauptes dah<strong>in</strong>, als sei er alle<strong>in</strong>. Wirkannten uns, hatten aber früher nicht viel mite<strong>in</strong>ander zu tun gehabt.Als Austauschstudenten nun hatten wir ständigen Kontakt. In Berl<strong>in</strong>waren wir fast jeden Tag zusammen, wie der Körper und se<strong>in</strong> Schatten.Wir g<strong>in</strong>gen geme<strong>in</strong>sam zum Unterricht und <strong>in</strong> die Mensa, wir besuchtengeme<strong>in</strong>sam Freunde, den Wannsee und den Zoologischen Garten. Beidewaren wir Bücherwürmer, g<strong>in</strong>gen gern <strong>in</strong> Antiquariate und entdecktengute Bücher. Er war <strong>in</strong>telligent und vor allem <strong>in</strong> klassischer Literaturgebildet. Wir unterhielten uns gern mite<strong>in</strong>ander, manchmal bis tief <strong>in</strong> dieNacht, dann schlief ich e<strong>in</strong>fach bei ihm. Mit Dun Futang hatten wir fast


8 Ankunft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 53ke<strong>in</strong>en Kontakt mehr, denn mit ihm kamen wir nicht so gut aus. Auchmit anderen ch<strong>in</strong>esischen Studenten standen wir nicht <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung. Siewaren uns fremd geworden. Wir sprachen nicht mehr dieselbe Sprache.In Berl<strong>in</strong> lebten damals recht viele ch<strong>in</strong>esische Studenten. Dafür gab essehr e<strong>in</strong>fache Gründe. Ich hatte bereits vom „Vergolden“ gesprochen.Das Studium <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> bedeutete vierundzwanzigkarätiges Gold.Es hatte <strong>in</strong> der ch<strong>in</strong>esischen Gesellschaft e<strong>in</strong>en guten Ruf und war sehrgefragt. Junge Ch<strong>in</strong>esen, die die nötigen Voraussetzungen mitbrachten,stürzten sich darauf. Insbesondere hohe Beamte und reiche Leute, dievom Fett und Mark des Volkes lebten, nutzen die Gelegenheit undschickten ihre K<strong>in</strong>der nach <strong>Deutschland</strong>. Für sie war es ke<strong>in</strong> Problem,dass ihre K<strong>in</strong>der maßlos Geld verschwendeten. Die Söhne, Töchter undVerwandten von Chiang Kai-shek, Song Ziwen, Kong Xiangxi, FengYuxiang, Dai Chuanxian, Ju Zheng und anderen hohen Beamten derGuom<strong>in</strong>gdang versammelten sich zumeist <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, denn hier liess es sichgut und vergnügt leben – ohne die Notwendigkeit, etwas zu lernen odergar Deutsch sprechen zu müssen. Vier Sätze Deutsch reichten schon füre<strong>in</strong>ige <strong>Jahre</strong> aus. Begegnete man morgens der Vermieter<strong>in</strong>, sagte man:„Guten Morgen!“ und verließ schnell das Haus. Waschen und Frühstück<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ch<strong>in</strong>a-Restaurant und e<strong>in</strong>ige Spiele Ma-Jiang bis zum Mittag.Nach dem Mittagessen Ausflüge, abends wieder <strong>in</strong>s Restaurant, <strong>in</strong> derNacht sagte man der Vermieter<strong>in</strong>: „Gute Nacht!“. So verg<strong>in</strong>g der Tag.Zusätzlich lernten sie noch „Danke“ und „Auf Wiedersehen“, und diesprachliche Leistung war erschöpft. Hier beschreibe ich sicher nicht dieMehrheit der Studenten, aber es gab solche Leute. Das ist e<strong>in</strong>e Tatsache,die man nicht leugnen kann.Ich hatte mit Qiao Guanhua e<strong>in</strong>ige Male <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ch<strong>in</strong>a-Restaurantgegessen. Schon beim E<strong>in</strong>treten drangen e<strong>in</strong>em dort laute Stimmen, das


54 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Schlürfen beim Essen der Suppe, das Schmatzen beim Kauen, Geräuschevon Essstäbchen, Schüsseln und Tellern ans Ohr; alles war wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emKonzert abgestimmt und kam uns wie e<strong>in</strong> vertrauter Schwall entgegen,als sei man <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a. Die Europäer dagegen s<strong>in</strong>d beim Essen sehr ruhigund sitzen fast gerade. Es ist e<strong>in</strong> Tabu, zu schlürfen oder zu schmatzen.Ich will nicht von himmlischen Regeln sprechen, aber ihr Verhaltenvermittelte e<strong>in</strong>en zivilisierten E<strong>in</strong>druck, an dem nicht viel auszusetzenwar. Unsere Studenten aber hatten die typischen Manieren aus demMutterland <strong>in</strong> die weite Ferne mitgenommen. Das war Qiao und mirsehr unangenehm. Die Playboys der Guom<strong>in</strong>gdang waren alle arrogantund anmaßend, ihre Gesprächsthemen: Essen, Tr<strong>in</strong>ken, Vergnügungen,Frauen, Prostituierte usw. Für uns, die wir vom Lande kamen, war dasunerträglich, und für sie existierten arme Studenten wie Qiao Guanhuaund ich überhaupt nicht. Deshalb g<strong>in</strong>gen wir nach solchen Erfahrungenbald <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> nicht mehr <strong>in</strong> die Ch<strong>in</strong>a-Restaurants.Anekdoten über diese „ch<strong>in</strong>esischen Studenten im Ausland“ kamenuns <strong>of</strong>t zu Ohren, und es waren lauter merkwürdige Geschichten. Vielech<strong>in</strong>esische Studenten waren mit Deutschen <strong>in</strong> Konflikte verwickelt, diezum Teil gerichtlich gelöst werden mussten. Für die Prozesse brauchteman Rechtsanwälte. In <strong>Deutschland</strong> stellte es ke<strong>in</strong> Problem dar, e<strong>in</strong>enRechtsanwalt zu f<strong>in</strong>den, der allerd<strong>in</strong>gs viel Geld verlangte. DieseSituation rief „weitsichtige“ Personen auf den Plan. E<strong>in</strong>e davon war e<strong>in</strong>ch<strong>in</strong>esischer Student, der schon lange <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> lebte und sich <strong>in</strong> allenBereichen, <strong>in</strong> allen Gassen und W<strong>in</strong>keln gut auskannte. Deshalb bekam erden Spitznamen „Berl<strong>in</strong>er Boden“. Se<strong>in</strong> richtiger Name war unbekannt.Der Mann galt als clever und hilfsbereit und soll auch Jura studierthaben. Er gab öffentlich bekannt, er würde mit se<strong>in</strong>en Fachkenntnissenden ch<strong>in</strong>esischen Studenten bei Prozessen helfen, und zwar gratis,


8 Ankunft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 55sogar das Fahrgeld bezahle er aus der eigenen Tasche. Ich hatte leiderke<strong>in</strong>e Gelegenheit, ihn persönlich kennen zu lernen. Ihm gegenüberhegte ich e<strong>in</strong> widersprüchliches Gefühl, e<strong>in</strong>erseits bewunderte ich se<strong>in</strong>eHilfsbereitschaft, andererseits fand ich alles sehr merkwürdig. War er ganzrichtig im Kopf?Soviel zu den ch<strong>in</strong>esischen Studenten <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Ins Tagebuch vom 17.Oktober schrieb ich:Bevor ich <strong>in</strong>s Ausland g<strong>in</strong>g, machte mir der Gedanke an die ch<strong>in</strong>esischen Kommilitonenim Ausland Mut. Ich hatte immer viel Respekt vor ihnen. Ich dachte, dass vor allembei den ch<strong>in</strong>esischen Studenten <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> sicher noch etwas Heiliges zu f<strong>in</strong>den sei.Nun b<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong>er von ihnen. Ich sehe mit eigenen Augen, wie manche Studenten mitKameras herumlaufen und sich gleichgültig benehmen. Sie reden fast nur darüber, wieman tanzt und wer <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a als Gruppenleiter oder Abteilungsleiter befördert wordenist. Es mag sehr unhöflich se<strong>in</strong>, wenn ich sage, dass ich unter ihnen ke<strong>in</strong>en richtigen„Menschen“ f<strong>in</strong>de. Das wahre Gesicht der ch<strong>in</strong>esischen Studenten im Ausland kenneich erst heute!Das schrieb ich wörtlich so, ich habe ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Wort verändert.Daran lassen sich me<strong>in</strong>e damaligen wirklichen Gefühle erkennen. Ichkam auf die Idee, e<strong>in</strong> Buch „Neue Geschichte über das Auslandsstudiumim Westen“ zu schreiben. Wäre es vollendet worden, wäre es sicher e<strong>in</strong>Meisterwerk geworden. Leider blieb ich nur kurze Zeit, nämlich nur e<strong>in</strong>enMonat, <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Deshalb habe ich das Meisterwerk nicht schreibenkönnen. E<strong>in</strong> Verlust für die literarische Welt Ch<strong>in</strong>as!Berl<strong>in</strong> war für me<strong>in</strong> Studium <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> e<strong>in</strong>e Übergangsstation. Ichwollte noch andere Städte besuchen, aber welche? Frau Wiehner vomDeutschen Akademischen Austauschdienst wollte mich zunächst nachKönigsberg <strong>in</strong> Ostpreußen schicken. Hier hatte der große klassischePhilosoph Kant gelehrt. Das war selbstverständlich e<strong>in</strong> attraktiver Ort,


56 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>aber er lag weit weg von Berl<strong>in</strong> und war mir sehr fremd. Ich wollte nichtdorth<strong>in</strong>. Nach e<strong>in</strong>igen Rücksprachen e<strong>in</strong>igte man sich dann auf Gött<strong>in</strong>gen.Damit war ich e<strong>in</strong>verstanden. E<strong>in</strong> Menschenschicksal ist wirklich sehrkompliziert. Ursache und Wirkung wechseln ständig. Me<strong>in</strong> Lehrer Wu Mihat das e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Versen so formuliert: „In der Welt wird WirkungUrsache, das Falsche das Richtige.“ Das waren scharfs<strong>in</strong>nige und wahreWorte. Wäre ich damals nach Königsberg gegangen, hätte me<strong>in</strong> Lebene<strong>in</strong>en ganz anderen Verlauf genommen. Ich hätte weder Pr<strong>of</strong>essor Siegnoch Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt kennengelernt, weder Sanskrit noch Palistudiert. Aber damals konnte noch niemand wissen, was aus diesem JiXianl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>mal werden sollte.Als die Entscheidung für Gött<strong>in</strong>gen gefallen war, wurde es mir leichterums Herzen. Ich erkundigte mich überall nach Gött<strong>in</strong>gen und traf dabeiglücklicherweise Herrn Le Senxun. Er studierte <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen und hatte <strong>in</strong>Berl<strong>in</strong> gerade etwas zu erledigen. Durch ihn wurde jeder Zweifel <strong>in</strong> mirausgeräumt. Ich war neugierig geworden. E<strong>in</strong>ige Zeit verbrachte ich dannnoch <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und verließ die Stadt vor Semesterbeg<strong>in</strong>n. Es ist kaum zuglauben, dass ich <strong>in</strong> den kommenden <strong>Jahre</strong>n nie dorth<strong>in</strong> zurückgekehrtb<strong>in</strong>. Berl<strong>in</strong> hatte mir nicht gefallen, ebenso wenig die dort lebendenGruppierungen ch<strong>in</strong>esischer Studenten.


9 Gött<strong>in</strong>gen 579. Gött<strong>in</strong>genAm 31. Oktober 1935 reiste ich von Berl<strong>in</strong> nach Gött<strong>in</strong>gen.Ursprünglich wollte ich hier zwei <strong>Jahre</strong> bleiben. Damals ahnteniemand, dass ich hier rund zehn <strong>Jahre</strong> wohnen sollte. Das war e<strong>in</strong>e langeZeit <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben. Neben Ji’nan und Beij<strong>in</strong>g wurde Gött<strong>in</strong>gen zume<strong>in</strong>er zweiten Heimat.Gött<strong>in</strong>gen ist e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Stadt mit hunderttausend E<strong>in</strong>wohnern, derenStudentenzahl zeitweilig zwanzig- bis dreißigtausend erreicht hat. 24 Eswar auch damals e<strong>in</strong>e typische Universitätsstadt. Die Universität hattee<strong>in</strong>e Jahrhunderte alte Geschichte 25 . Viele hervorragende Namen derdeutschen Wissenschaft und Literatur waren mit dieser Stadt verbunden.Überall gab es Straßen, die die Namen dieser berühmten Gelehrtentrugen. In der Stadt spürte man an jeder Ecke Kultur und Wissenschaft.E<strong>in</strong> wahrhaftiges Paradies der Wissenschaften, e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>er Boden fürKultur.24Die aktuelle Zahl der Studenten liegt zur Zeit bei ca. 24.000; zu Dr. Ji Xianl<strong>in</strong>s Zeiten waren es knapp zweitausendStudierende (Anm. d.Übers.)25Gründungsjahr der Universität Gött<strong>in</strong>gen: 1737


58 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Festzug zum 200-jährigen Jubiläum derUniversität 1937Gött<strong>in</strong>gen zeichnete sich auch durch e<strong>in</strong>e schöne Landschaft aus. Im Ostenstanden üppige Bergwälder, die zu allen vier <strong>Jahre</strong>szeiten grün waren.Sogar unter dem Schnee bekamen die Gräser frische grüne Blätter wie imFrühl<strong>in</strong>g. Es wurde hier im W<strong>in</strong>ter nicht kalt, im Sommer nicht heiß, niestürmisch. Man brauchte ke<strong>in</strong>e Fächer, ke<strong>in</strong>e Moskitonetze. Fliegen undMücken gehörten zu den seltenen Insekten. Flöhe und Wanzen warenansche<strong>in</strong>end unbekannt, die Straßen so sauber, dass niemand wirklichschmutzig geworden wäre, hätte er sich auf ihnen gewälzt. Es war völlignormal, dass Hausfrauen die Gehsteige ausgiebig mit Seife schrubbten.Das Stadtzentrum war geprägt von vier- bis fünfstöckigen historischenBauwerken. Hier sah es aus wie im Mittelalter. Der Stadtwall mit se<strong>in</strong>enhohen Eichen war gut erhalten. In me<strong>in</strong>em Studium an der Q<strong>in</strong>ghua-Universität las ich gern Gedichte des deutschen, jung verstorbenen Lyrikers


9 Gött<strong>in</strong>gen 59Hölderl<strong>in</strong>. Er mochte Eichen sehr und erwähnt sie <strong>of</strong>t <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Gedichten.Bis zu jener Zeit wusste ich nicht, wie sie aussahen. Hier lernte ich siekennen. Was für e<strong>in</strong>e Freude für mich! Seitdem g<strong>in</strong>g ich <strong>of</strong>t auf dem altenWall spazieren. Im Schatten der Eichen herrschte Ruhe. Ich saß alle<strong>in</strong> hier,<strong>in</strong> Gedanken versunken. Diese lyrischen Erlebnisse <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em zehnjährigenLeben <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen s<strong>in</strong>d mir unvergesslich.Doch zunächst war ich hier ganz fremd. Me<strong>in</strong> Kommilitone, Herr LeSenxun, hatte mich vom Bahnh<strong>of</strong> abgeholt und für mich e<strong>in</strong> Zimmergemietet. Die Vermieter hießen Oppel und hatten e<strong>in</strong>en erwachsenenSohn, der außerhalb studierte. Sie gaben mir das Zimmer ihres Sohnes.Der Ehemann arbeitete bei der Stadtverwaltung als Ingenieur, e<strong>in</strong>typischer Deutscher, ehrlich und schweigsam. Die Vermieter<strong>in</strong> war etwafünfzig <strong>Jahre</strong> alt, e<strong>in</strong>e typische deutsche Hausfrau mit mittlerer Bildung.Sie schätzte die deutsche Literatur und hörte gern klassische deutscheMusik. Ihre Interessen waren konservativ. Jazz-Musik mochte sie nicht,sie machte sich darüber lustig. Frau Oppel hatte alle Tugenden e<strong>in</strong>erdeutschen Frau:sie war ehrlich,aufrichtig, liebevollund sympathisch.Nur e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>enMakel gab es: Sietraf sich <strong>of</strong>t mitihrer guten Freund<strong>in</strong>,e<strong>in</strong>er Witwe.Als der Freund<strong>in</strong>e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> neuer Hutme<strong>in</strong>er Vermieter<strong>in</strong>Gött<strong>in</strong>ger Wall


60 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>derart gut gefiel, dass sie sich das gleiche Modell kaufte, gab es Ärger.Frau Oppel schimpfte über ihre Freund<strong>in</strong>. Westliche Frauen – <strong>in</strong> mancherH<strong>in</strong>sicht auch Männer – sehen es nicht gern, wenn andere den gleichenHut oder die gleiche Kleidung tragen. Das verstehen wir Ch<strong>in</strong>esen nicht.Man kann wohl sagen, me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> war e<strong>in</strong> wenig spießbürgerlich.Aber e<strong>in</strong> Makel trübt den Glanz der Jade nicht. Sie gehörte zu den bestenFrauen, die ich jemals <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben getr<strong>of</strong>fen habe, gutherzig wiee<strong>in</strong>e Mutter.Ich wohnte die ganze Zeit bei dieser deutschen Familie und zog <strong>in</strong> denzehn <strong>Jahre</strong>n niemals um. Wir lebten von morgens bis abends zusammen,und ich wurde e<strong>in</strong> Familienmitglied. Im Folgenden möchte ich zuerstallgeme<strong>in</strong> von dieser Familie berichten, später werde ich auf nähereE<strong>in</strong>zelheiten e<strong>in</strong>gehen.Wie Gött<strong>in</strong>gen mich <strong>in</strong> den ersten Tagen bewegte, mag e<strong>in</strong> Zitat ausAlte Eichen auf demGött<strong>in</strong>ger Wall


9 Gött<strong>in</strong>gen 61me<strong>in</strong>em Tagebuch vom zweiten Tag nach me<strong>in</strong>er Ankunft <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>genzeigen: Ich b<strong>in</strong> endlich <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen. Von nun an werde ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em unruhigenLeben e<strong>in</strong>en ruhigen Abschnitt verbr<strong>in</strong>gen. Ich träume sehr gern und möchte me<strong>in</strong>eTräume bunt färben. In me<strong>in</strong>em Traum war <strong>Deutschland</strong> me<strong>in</strong> Paradies, me<strong>in</strong>Idealland. Ich hegte die Illusion, dass über <strong>Deutschland</strong> goldenes Sonnenlicht, Wahrheitund Schönheit strahlt. Endlich habe ich me<strong>in</strong>en Traum mit me<strong>in</strong>en Händen ergriffenund b<strong>in</strong> hierher gekommen. Was ich bis jetzt bekommen habe, waren Enttäuschungund Leere. All me<strong>in</strong>e H<strong>of</strong>fnungen s<strong>in</strong>d zerplatzt wie Seifenblasen. Aber neueH<strong>of</strong>fnungen umgeben mich. Ich träume, dass ich <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> aller Ruhe lesen,dass ich alte Schriften, die <strong>in</strong> der Geschichte von unsterblicher Bedeutung s<strong>in</strong>d,studieren kann. Jetzt b<strong>in</strong> ich <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen, ich weiß noch nicht, ob ich diesen Traumverwirklichen kann. Aber wer kann das wissen? (1.11.1935)Daran mag man me<strong>in</strong>e Verwirrung erkennen. Ich wusste noch nicht,welchen Weg ich e<strong>in</strong>schlagen sollte.


62 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>10. Der Weg ist gefundenIn Gött<strong>in</strong>gen habe ich me<strong>in</strong>en Weg gefunden: me<strong>in</strong> Sanskrit-Studium.Diesen Weg gehe ich nun fast 60 <strong>Jahre</strong>, und ich werde ihn weiterverfolgen, solange ich kann.Er ist untrennbar mit der Universität Gött<strong>in</strong>gen verbunden. Deshalb willich nun von der Universität erzählen.Ich habe zwar früher schon die Universität erwähnt, aber um Gött<strong>in</strong>genvorzustellen, muss ich über die Universität berichten. Man sagt sogar,Gött<strong>in</strong>gen sei deshalb Gött<strong>in</strong>gen, weil es dort die Universität gibt. Siewurde im 18. Jahrhundert gegründet, hat also e<strong>in</strong>e lange Geschichte undgilt als e<strong>in</strong>e der alten Universitäten Europas. Zu me<strong>in</strong>er Zeit gab es fünfFakultäten: Philosophie, Naturwissenschaften, Rechtswissenschaften,Theologie und Mediz<strong>in</strong>. 26 Die Universität bestand nicht aus e<strong>in</strong>eme<strong>in</strong>zigen Hauptgebäude. sondern die Fakultäten lagen <strong>in</strong> den Straßen undGassen der Stadt verstreut, ebenso die Forschungs<strong>in</strong>stitute. Es gab auchke<strong>in</strong>e großen Studentenwohnheime: E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Teil der Studenten wohnte26Ab 1939 wurde die Forstwissenschaftliche Fakultät als 6. Fakultät gegründet.


10 Der Weg ist gefunden 63<strong>in</strong> den Häusern verschiedener Verb<strong>in</strong>dungen und der größte Teil privat.Das Verwaltungszentrum befand sich im Aula-Gebäude. Unten warenUnterrichts- und Verwaltungsbüros untergebracht, oben die Akademieder Wissenschaften Gött<strong>in</strong>gens. Die Geistes- und Rechtswissenschaftenverfügten über zwei Unterrichtsgebäude: das Auditorium und dasSem<strong>in</strong>argebäude. Auf den Straßen davor herrschte e<strong>in</strong> buntes Treiben,Menschen kamen und g<strong>in</strong>gen.Die Universität hat <strong>in</strong> ihrer Geschichte viele berühmte Persönlichkeitenhervorgebracht, darunter den großen deutschen Mathematiker Gauß,Pr<strong>of</strong>essor der Universität Gött<strong>in</strong>gen. Nach Gauß wurde die Mathematikzur Tradition <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen, und vom 19. Jahrhundert bis <strong>in</strong> die Zeitme<strong>in</strong>er Ankunft war die Universität weltweit als mathematisches Zentrumanerkannt. Der größte Mathematiker zur Zeit me<strong>in</strong>es Studienaufenthalteswar David Hilbert. Er befand sich zwar schon im Ruhestand, erfreutesich aber bester Gesundheit. Uns ch<strong>in</strong>esische Studenten behandelte erCarl Friedrich Gauß auf der Terrasse der Gött<strong>in</strong>ger Sternwarte


64 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>sehr freundlich. E<strong>in</strong>mal traf ich ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Buchhandlung. Er kamauf mich zu und lächelte mich an. Neben der Mathematik besaß dieUniversität <strong>in</strong> Physik, Chemie, Astronomie, Meteorologie, Geographieusw. e<strong>in</strong>e starke Riege von Pr<strong>of</strong>essoren. E<strong>in</strong>ige Nobelpreisträger lehrtenhier, unter ihnen der weltberühmte Chemiker A. W<strong>in</strong>daus.Die Gruppe der geisteswissenschaftlichen Pr<strong>of</strong>essoren war ähnlichstark. Beide Brüder Grimm, die <strong>in</strong> der deutschen Literatur- undWissenschaftsgeschichte bedeutsam s<strong>in</strong>d, hatten an der UniversitätGött<strong>in</strong>gen gewirkt. Ihre K<strong>in</strong>dermärchen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Welt sehr populär,auch <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a <strong>in</strong> fast aller Munde. Ihr großartiges Werk, das „DeutscheWörterbuch“, wurde hundert <strong>Jahre</strong> später von vielen deutschen Expertenvollendet. Es ist von großem Wert für die deutsche Sprachforschung.Soviel zum H<strong>in</strong>tergrund der Geistes- und Naturwissenschaften an derUniversität Gött<strong>in</strong>gen.Die Universitätsstadt war der Fläche nach zwar nicht groß, wirkte aber aufmich, e<strong>in</strong>en jungen Mann aus der Fremde, wie e<strong>in</strong> Labyr<strong>in</strong>th. Es war garnicht leicht, Verwaltungen oder Unterrichtsräume zu f<strong>in</strong>den. Ohne Hilfeund Begleitung hätte ich mich verirrt. Ich hatte das große Glück, dass iche<strong>in</strong>en Wegweiser traf – Zhang Yong. Zhang Yongs Vater war der berühmte„Tiger-M<strong>in</strong>ister“ ZhangShizhao. Se<strong>in</strong> Großvatermütterlicherseits hießWu Changq<strong>in</strong>g. Erhatte <strong>in</strong> Korea dieTruppen gegen diejapanische Aggressionkommandiert. Se<strong>in</strong>eWeender Landstraße 2, AuditoriumMutter, Wu Ruonan,


10 Der Weg ist gefunden 65Wilhelmsplatz 1, Aulagebäudearbeitete bei Sun Yat-sen als Sekretär<strong>in</strong>, ihr Name f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> der„Geschichte der gegenwärtigen ch<strong>in</strong>esischen Literatur“ von QianJibo. Kurz gesagt, er stammte aus e<strong>in</strong>er großen Gelehrtenfamilie undunterschied sich völlig von den „Playboys“, die ich <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> getr<strong>of</strong>fenhatte. Zhang Yong hatte ke<strong>in</strong>e Spur davon. Nur gab er sich e<strong>in</strong> bisschenselbstgefällig und e<strong>in</strong>gebildet. Er war von großer Virtuosität und besaße<strong>in</strong> pr<strong>of</strong>undes Wissen, vor allem auf dem Gebiet der klassischench<strong>in</strong>esischen Literatur und Lyrik. Zhang Yong <strong>in</strong>teressierte sich aberauch für Mathematik. So kam er nach Gött<strong>in</strong>gen, dem Mathematik-Zentrum der Welt, um an der Universität zu promovieren. Als ich <strong>in</strong>Gött<strong>in</strong>gen ankam, wohnte er mit se<strong>in</strong>er Mutter Wu Ruonan schonfünf oder sechs <strong>Jahre</strong> hier. In Gött<strong>in</strong>gen studierten nur drei oder vier


66 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>ch<strong>in</strong>esische Studenten, zu denen Zhang Yong allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e Kontaktepflegte. Er hatte se<strong>in</strong>en Stolz. Ich war seit me<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit an allemMöglichen <strong>in</strong>teressiert gewesen, hatte viel klassische Lyrik gelesen undvertrat zur Literatur, Kunst und Religion eigene Ansichten. NachdemHerr Le Senxun mich mit Zhang Yong bekannt gemacht hatte, sprachenwir nur e<strong>in</strong> paar Mal kurz mite<strong>in</strong>ander und fühlten schon bei der erstenBegegnung s<strong>of</strong>ort Zuneigung. Zhang Yong me<strong>in</strong>te wohl, ich sei ganzanders als die langweiligen und hässlichen Studenten im Ausland. Er warmir gleich zugetan und schenkte mir e<strong>in</strong> Gedicht:In e<strong>in</strong>em leeren Tal voller Echostraf ich dich, me<strong>in</strong> Freund.Wir wünschen uns, dass wirbeide e<strong>in</strong>es Tages große Dichter werden.Neue und alte Stile wollenwir gleich probieren.Ch<strong>in</strong>esische und ausländischeErlebnisse können uns bereichern.Unser Talent kommt aus dem Wissenum die D<strong>in</strong>ge.Aus unserer Feder strömtfrische Luft.Gold oder abgenutzter Besen,was hat mehr Wert?Die kommende Generation wirddas entscheiden.Aus diesen Zeilen spricht se<strong>in</strong> Charakter. Ich hatte damals gleich denE<strong>in</strong>druck, dass e<strong>in</strong> Mensch wie Zhang Yong nie e<strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a-Restaurant<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> besuchen würde. Deshalb wollte ich mit ihm Freundschaft


10 Der Weg ist gefunden 67schließen. Tante Zhang sagte e<strong>in</strong>mal zu mir: „Zhang Yong hat sichseit eurer Bekanntschaft völlig verändert. Früher wollte er niemandenbesuchen. Jetzt will er ewig mit dir zusammen se<strong>in</strong>.“ Es war Zhang Yong,der mich überall <strong>in</strong> der Stadt, zum Studienbüro, zum Forschungs<strong>in</strong>stitut,zum Rathaus, zum Arzt, zur Immatrikulation und bei der Erledigung vonanderen Formalitäten begleitete. Er trug e<strong>in</strong>en schwarzen alten Mantel.Noch heute sehe ich ihn deutlich vor mir.Zhang Yong machte mich mit verschiedenen Straßen <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>genvertraut. Aber „me<strong>in</strong>e Straße“ hatte ich noch nicht gefunden.Ich habe bereits me<strong>in</strong>en Wunsch erwähnt, <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen alte Sprachenzu studieren. Welche alten Sprachen, das war mir allerd<strong>in</strong>gs noch nichtklar. Während me<strong>in</strong>es Aufenthaltes <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> riet Wang Dianhua mir,Griechisch und Late<strong>in</strong> zu studieren. Er me<strong>in</strong>te, es sei für das Vaterlandnötig. In Gött<strong>in</strong>gen sprach ich mit Zhang Yong darüber. Er redete mirzu, nur Griechisch zu lernen. Zwei <strong>Jahre</strong> reichten nicht aus, gleichzeitigbeide Sprachen zu meistern. In deutschen Gymnasien lernten die Schüleracht <strong>Jahre</strong> Late<strong>in</strong>, sechs <strong>Jahre</strong> Griechisch. Die Gymnasiasten beherrschtendiese beiden alten europäischen Sprachen bereits. Ch<strong>in</strong>esische Studentenkönnten mit ihnen nicht konkurrieren. Ich machte mir nach erstenÜberlegungen se<strong>in</strong>en Vorschlag zu eigen. Im ersten Semester wählte ichGriechisch als Hauptfach. Die Wahl der Universitäten war <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>völlig frei. Mit der Hochschulreife konnte jeder nach Wunsch jedeUniversität besuchen. Es gab ke<strong>in</strong>e Aufnahmeprüfung. Völlig frei warauch die Wahl der Fakultät, ebenso e<strong>in</strong> Wechsel der Fakultät oder e<strong>in</strong>esFaches oder auch die Entscheidung, wie viele und welche Veranstaltungender E<strong>in</strong>zelne belegen wollte. Die Studenten der Geisteswissenschaftenkonnten zum Beispiel Mediz<strong>in</strong> und Theologie wählen und nach Beliebene<strong>in</strong>e oder zehn Veranstaltungen besuchen. Sie konnten am Unterricht


68 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>teilnehmen oder ihm fernbleiben, sich verspäten oder vorzeitig weggehen.Überdies gab es ke<strong>in</strong>e Prüfungen am Ende der Veranstaltungen. Inmanchen Fächern baten die Studenten zum Unterrichtsbeg<strong>in</strong>n diePr<strong>of</strong>essoren lediglich um e<strong>in</strong>e Unterschrift <strong>in</strong> ihr Studienbuch. Daswar die Anmeldung. Das konnte aber auch am Ende des Unterrichtsgeschehen, dann hieß es Abmeldung. Zwischen Studenten und Pr<strong>of</strong>essorenbestand ke<strong>in</strong> enges Verhältnis. Mancher Student wechselte bereits nache<strong>in</strong>em Studienjahr, ja sogar schon nach e<strong>in</strong>em Semester die Universität,bis er nach mehrmaligem Wechsel <strong>in</strong>nerhalb von zwei bis drei <strong>Jahre</strong>ndie Entscheidung für e<strong>in</strong>e Universität und Fakultät traf. Dann folgtenGespräche mit dem Pr<strong>of</strong>essor und die Bitte um Teilnahme an se<strong>in</strong>emSem<strong>in</strong>ar. Im Sem<strong>in</strong>ar lernten sich Pr<strong>of</strong>essor und Student allmählichkennen, bis der Pr<strong>of</strong>essor se<strong>in</strong>en Studenten für tauglich hielt und ihm e<strong>in</strong>Thema für die Doktorarbeit gab, die er nach jahrelangen Bemühungenbeendete. War der Pr<strong>of</strong>essor zufrieden, fand die öffentliche Verteidigungstatt. Bestand der Student die Prüfung, wurde ihm die akademischeDoktorwürde verliehen. In <strong>Deutschland</strong> hatte der Pr<strong>of</strong>essor das Sagen.Dekan, Rektor, sogar M<strong>in</strong>ister besaßen ke<strong>in</strong>e Befugnisse, sich <strong>in</strong> dieEntscheidungen des Pr<strong>of</strong>essors e<strong>in</strong>zumischen. Wollte e<strong>in</strong> Student ke<strong>in</strong>eArbeit schreiben, zwang ihn niemand. Verfügte er über Geld, konnteer acht bis zehn <strong>Jahre</strong> studieren. Das war dann e<strong>in</strong> sogenannter „ewigerStudent“, e<strong>in</strong> seltenes Tier auf der Welt.In dieser absolut freien Atmosphäre wählte ich im ersten SemesterGriechisch und alle möglichen Vorlesungen. Jeden Tag hatte ich sechsStunden Unterricht. Me<strong>in</strong>e Absicht war, Deutsch zu hören und nichtunbed<strong>in</strong>gt Fachwissen zu erwerben.In me<strong>in</strong>em Hauptfach Griechisch lernte ich manchmal motiviert,manchmal nicht. Ich war unentschlossen. Die erste Stunde hatte auf


10 Der Weg ist gefunden 69mich ke<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>druck gemacht. Ich notierte im Tagebuch vom 5.Dezember 1935:Pr<strong>of</strong>essor Rabbow sprach im Sem<strong>in</strong>ar zu leise. Ich konnte ihn kaum verstehen.Er stellte mir auch ke<strong>in</strong>e Fragen. Ich saß wie auf tausend Nadeln, sehr traurig.Der Schmerz bohrte <strong>in</strong> mir, als ich vom Unterricht zurückkam. Griechisch istme<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger schöner Traum <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen. Wenn es so weiter geht wie heute, wirdGriechisch me<strong>in</strong> großes Leid. Werde ich nichts zustande br<strong>in</strong>gen?In me<strong>in</strong> Tagebuch machte ich mehrmals E<strong>in</strong>träge über me<strong>in</strong>eUnentschlossenheit. Ich war völlig unentschieden. Inzwischen hatte ichmich selbst e<strong>in</strong>ige Zeit mit Late<strong>in</strong> befasst. Sogar Altägyptisch wollte ichlernen. Daran lässt sich erkennen, wie unsicher ich war.Ich hatte me<strong>in</strong>en Weg noch nicht gefunden.Eigentlich war mir schon <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a der Gedanke gekommen, Sanskritzu studieren. Damals lehrte aber niemand diese Sprache. Ich konntediesen Wunsch deshalb nicht realisieren. In Gött<strong>in</strong>gen lernte ich nunden ch<strong>in</strong>esischen Studenten Long Piyan, genannt Fan Yu, aus derProv<strong>in</strong>z Hunan kennen, der hier Metallurgie studierte. Er beschäftigtesich eigentlich mit Wissenschaft und Technik und hatte dazu nochzwei Semester Sanskrit studiert, das er allerd<strong>in</strong>gs zu jenem Zeitpunktwieder aufgegeben hatte. Long Piyan schenkte mir die „Grammatikfür Sanskrit“ von Stenzler. Mit Zhang Yong hatte ich auch schon überSanskrit gesprochen. Er ermunterte mich dazu, was me<strong>in</strong>e Wahl nochkomplizierter machte. Die Zeit des Zauderns war zum Glück sehr kurz.Schon bald schien die Sonne durch den Nebel. Im Tagebuch vom 16.Dezember heisst es:Ich will unbed<strong>in</strong>gt Sanskrit studieren. Die ch<strong>in</strong>esische Kultur ist stark von der<strong>in</strong>dischen bee<strong>in</strong>flusst. Ich möchte die Kulturbeziehungen zwischen Ch<strong>in</strong>a und Indiengründlich erforschen, <strong>in</strong> der H<strong>of</strong>fnung, dass ich etwas Neues entdecken kann. Wenn ich


70 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong><strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> die gewünschten Sprachen erlerne, wird sich die Reise hierher gelohnthaben, denn wo könnte man <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a Sanskrit lernen und bei wem?Nächster Tagebuche<strong>in</strong>trag:Nach vielen Überlegungen habe ich mich entschieden!2. Januar 1936:Ich habe beschlossen, Sanskrit zu studieren. Es überrascht mich selbst, dass me<strong>in</strong>eInteressen sich ständig ändern. Nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, Griechischzu studieren, hatte ich geschworen und geh<strong>of</strong>ft, nie mehr etwas anderes anzufangen.Aber dann hat sich alles geändert. Jetzt schwöre ich noch e<strong>in</strong>mal und h<strong>of</strong>fe, dass derEntschluss feststeht. Sonst wird es nichts br<strong>in</strong>gen. Wird das Schicksal me<strong>in</strong>e jetzigeÜberzeugung bestätigen?Diesmal waren me<strong>in</strong> Schwur und me<strong>in</strong>e H<strong>of</strong>fnung nicht vergeblich. DasSchicksal bestätigte me<strong>in</strong>en Entschluss. Endlich hatte ich me<strong>in</strong>en Wegfür das ganze Leben gefunden. Diesen Weg g<strong>in</strong>g ich über e<strong>in</strong> halbesJahrhundert, und ich werde ihn auch weiter gehen.Gött<strong>in</strong>gen war tatsächlich e<strong>in</strong> idealer Ort, um Sanskrit zu studieren, ruhigund mit e<strong>in</strong>er bezaubernden Umgebung. Außerdem gab es e<strong>in</strong>e langeTradition <strong>in</strong> Sanskrit und Vergleichender Sprachwissenschaft. In der erstenHälfte des 19. Jahrhunderts hatte der große Forscher Theodor Benfey,Übersetzer der Fünf Bände „Kalilah wa Dimnah“ und Gründer derkontrastiven Literaturgeschichte, hier gelehrt. Ende des 19. JahrhundertsFranz Kielhorn, Pr<strong>of</strong>essor für Sanskrit. Ihm folgte Hermann Oldenberg.Der Nachfolger von Oldenberg, der große Gelehrte Sieg, entschlüsseltedie „Fragmente des Tocharischen“. 1935, zu me<strong>in</strong>er Zeit, war Herr Siegbereits pensioniert und Waldschmidt gab den Sanskrit-Kurs. Herr JakobWackernagel, von <strong>in</strong>dischen Gelehrten als größter lebender Expertebezeichnet, hatte <strong>in</strong> der Abteilung für Vergleichende Sprachwissenschaftgearbeitet. So konnte man von unzähligen „Sternen“ am Sanskrit-


10 Der Weg ist gefunden 71Gauß-Weber-DenkmalHimmel sprechen. Auch die traditionsreiche, großräumig angelegteUniversitätsbibliothek besaß diesbezüglich e<strong>in</strong>en großen Bestand anBüchern. Sehr berühmt war sie vor allem wegen ihrer Bestände anSanskrit-Büchern, mit denen sie an erster Stelle <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> stand.Es hieß, Herr Kielhorn habe diese Bücher <strong>in</strong> Indien gesammelt. DieVoraussetzungen für e<strong>in</strong> Sanskrit-Studium waren damals <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>e<strong>in</strong>zigartig.Fest entschlossen hatte ich also zum Sommersemester 1936 Sanskritausgewählt. Am 2. April kam ich zum ersten Unterricht <strong>in</strong> das Gauß-Weber-Gebäude. 27 Es war e<strong>in</strong> altes Bauwerk, bekannt <strong>in</strong> aller Welt27Zu der Zeit verwendete Bezeichnung für das Michaelishaus.


72 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>dadurch, dass der große Mathematiker Gauß und der Physiker Weber<strong>in</strong> diesem Haus mit dem Telegramm experimentiert hatten. Unten imHaus befanden sich das Sem<strong>in</strong>ar für Ägyptisch und das Sem<strong>in</strong>ar fürBabylonisch, Assyrisch und Arabisch, im Obergeschoß die Sem<strong>in</strong>arefür Slawische Sprachen, Persisch, Türkisch und Sanskrit. Der Unterrichtfür Sanskrit fand hier statt, hier hielt Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt die ersteVorlesung, und hier begegnete ich ihm zum ersten Mal. Pr<strong>of</strong>essorWaldschmidt wirkte sehr jugendlich. Er war e<strong>in</strong> Schüler des großenSanskrit-Gelehrten He<strong>in</strong>rich Lüders an der Universität Berl<strong>in</strong> und Expertefür die Sanskrit-Fragmente, die <strong>in</strong> X<strong>in</strong>jiang ausgegraben worden waren.Er war zwar noch jung, hatte aber <strong>in</strong> der Sanskrit-Forschung schone<strong>in</strong>en Namen. An se<strong>in</strong>em Sem<strong>in</strong>ar nahm ich als e<strong>in</strong>ziger Student teil,dazu noch als Ausländer. Trotzdem hielt er die Vorlesung, die bis vierUhr nachmittags dauerte, immer sehr gewissenhaft. Für mich war dasder Anfang me<strong>in</strong>es Studiums. Zum Institut gehörte e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Büchereimit etwa zehntausend Büchern. Für mich, e<strong>in</strong>en Anfänger, genügte das!Zum wertvollsten zählte die hundertbändige Kommentar-Sammlungvon Oldenberg, die ihm deutsche und ausländische Wissenschaftler fürSanskrit geschickt hatten. Die Kommentare wurden genau klassifiziert, <strong>in</strong>verschiedenen Bänden nach unterschiedlichen Sprachen gesammelt, unddas so vollständig, wie man es nirgendwo anders f<strong>in</strong>den konnte. Mancheseltenen Zeitschriften waren hier vorhanden, die man selbst <strong>in</strong> dengroßen Bibliotheken nicht f<strong>in</strong>den konnte. An der Wand zur Straße h<strong>in</strong>gendreißig bis vierzig Bilder deutscher Sanskrit-Wissenschaftler <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emSchaukasten. E<strong>in</strong> Zeichen dafür, dass <strong>Deutschland</strong> im Fach Sanskritführend und die deutsche Wissenschaft stolz auf dieses Gebiet war.Von nun an kam ich jeden Tag <strong>in</strong>s Institut.Von nun an fand ich den gewünschten Weg.


11 Sehnsucht nach der Mutter 7311. Sehnsucht nachder MutterNach der <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a üblichen Ansicht habe ich zwei Mütter: dieMutter, die mich geboren hat, und die andere Mutter, me<strong>in</strong>eHeimat.Für beide Mütter hege ich den gleichen Respekt, die gleiche Liebe.Mit sechs <strong>Jahre</strong>n hatte ich me<strong>in</strong>e leibliche Mutter verlassen, seitdemlebte ich <strong>in</strong> der Stadt. In dieser Zeit war ich nur zweimal <strong>in</strong>s Heimatdorfzurückgekehrt, zweimal zu e<strong>in</strong>er Beerdigung. Jedes Mal verbrachte ichnur e<strong>in</strong> paar Tage bei me<strong>in</strong>er Mutter, dann musste ich wieder zurück <strong>in</strong>die Stadt. Acht <strong>Jahre</strong> lebten wir getrennt. Als ich im vierten Semesterwar, starb me<strong>in</strong>e Mutter im Alter von nur knapp vierzig <strong>Jahre</strong>n. Ichwe<strong>in</strong>te e<strong>in</strong>ige Tage lang, hatte ke<strong>in</strong>e Lust zu essen und ke<strong>in</strong>e Ruhe zuschlafen. Gern hätte ich mit me<strong>in</strong>er Mutter unter der Erde gelegen, dochdieser Wunsch blieb unerfüllt. Ich war e<strong>in</strong> Waisenk<strong>in</strong>d geworden. OhneMutterliebe wurde ich e<strong>in</strong> Mensch mit kranker Seele – e<strong>in</strong> bitteres Leben.Noch viele <strong>Jahre</strong> lang kamen mir die Tränen, wenn ich an me<strong>in</strong>e Mutter


74 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>dachte. Jetzt weilte ich <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong> dieser ruhigen beschaulichenStadt. Und ich wusste nicht, warum mir me<strong>in</strong>e Mutter des öfteren imTraum erschien. Ich war erst e<strong>in</strong>ige Monate fern me<strong>in</strong>er Heimat. Warumträumte ich jetzt häufiger von ihr?Ich will nicht das damalige Gefühl mit dem heutigen verfälschen oder esneu darstellen und beschreiben. Deshalb zitiere ich wahrheitsgemäß e<strong>in</strong>igeAbschnitte aus den Tagebüchern me<strong>in</strong>er ersten Zeit <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen:16. November 1935:Es dunkelt draußen allmählich. Die Abenddämmung ist sehr schön. Ich lasse dasLicht aus und stehe am Fenster. Die dunkle Nacht hängt am Himmel und s<strong>in</strong>ktüber den Dächern hernieder. Alles steht im matten Mondlicht. Me<strong>in</strong> Herz fängt an,<strong>in</strong> dieser absoluten Stille leise zu klopfen. Ich denke an me<strong>in</strong>e Heimat, an die altenFreunde <strong>in</strong> der Heimat. Ich b<strong>in</strong> so traurig, so e<strong>in</strong>sam. Aber diese E<strong>in</strong>samkeit istanders als die normale, es ist e<strong>in</strong>e süße E<strong>in</strong>samkeit, die sich nicht ausdrücken lässt, diemir nicht aus dem S<strong>in</strong>n geht.18. November 1935:Vor e<strong>in</strong>igen Tagen sagte mir me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong>, ihr Sohn komme heute von derUniversität nach Hause. Sie freute sich außerordentlich, aber ihr Sohn kam nicht, undsie war sehr enttäuscht. Sie sagte, am Abend führe noch e<strong>in</strong> Zug, mit dem er vielleichtkomme. Ich sah ihren Gesichtsausdruck und dachte an me<strong>in</strong>e Mutter, die <strong>in</strong> me<strong>in</strong>emHeimatdorf unter der Erde liegt. Ich war den Tränen nahe! Ich weiß, Mütter warenund s<strong>in</strong>d immer und überall gleich, früher wie heute, <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a oder anderswo.20. November 1935:Ich sehne mich nach dem Heimatdorf, nach me<strong>in</strong>em Land, nach me<strong>in</strong>en Freunden zuHause. Manchmal kann ich es e<strong>in</strong>fach nicht mehr ertragen.28. November 1935:Ich liege auf dem S<strong>of</strong>a und horche, wie der W<strong>in</strong>d vorüberweht. Es regnet im W<strong>in</strong>d, esist dunkel wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er stockf<strong>in</strong>steren Nacht. In Wogen der Erregung denke ich wieder


11 Sehnsucht nach der Mutter 75an me<strong>in</strong>e Heimat.6. Dezember 1935:Seit e<strong>in</strong>igen Tagen b<strong>in</strong> ich ruhiger. In letzter Zeit aber f<strong>in</strong>de ich e<strong>in</strong>en Zwei-<strong>Jahre</strong>s-Aufenthalt zu lang. Essen, Kleidung, Wohnung und die Verkehrsmittel bedeutetenfür mich e<strong>in</strong>e unangenehme Umstellung. Ich fürchte, ich kann es ke<strong>in</strong>e zwei <strong>Jahre</strong>aushalten.Soweit die Zitate aus me<strong>in</strong>en Tagebüchern der Anfangszeit <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen.Tatsächlich gab es noch viele ähnliche Niederschriften, die zeigen, wieich damals fühlte. Kurz gesagt, ich wollte nicht im Ausland bleiben.Dachte ich an me<strong>in</strong>e Mutter und an me<strong>in</strong> Mutterland, zitterte ich undwurde außerordentlich unruhig. Ich konnte wirklich nicht mehr <strong>in</strong> derFremde bleiben. E<strong>in</strong>ige Monate später, am 11. Juli 1936, schrieb ich e<strong>in</strong>enProsatext mit dem Thema „Nach dem Traum“. Der Anfang lautete:Nachts habe ich von me<strong>in</strong>er Mutter geträumt, von den Tränen b<strong>in</strong> ich aufgewacht. Ichmöchte das Traumbild festhalten, aber es verweht.So hatte ich im Traum me<strong>in</strong>e Mutter als noch Lebende gesehen. Derletzte Abschnitt me<strong>in</strong>es Textes lautet:Oh, Gott! Warum gibst du mir nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en deutlichen Traum? Ich schaue zumgrauen Himmel h<strong>in</strong>auf, das Gesicht me<strong>in</strong>er Mutter bildet sich dunkel unter Tränen.In Ch<strong>in</strong>a sehnte ich mich nur nach me<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>en, der leiblichenMutter. Jetzt im Ausland dachte ich auch an me<strong>in</strong>e zweite Mutter,an me<strong>in</strong>e Heimat. Diese starke Sehnsucht nach beiden Müttern hieltununterbrochen an, sie begleitete mich zehn <strong>Jahre</strong> lang <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>,elf <strong>Jahre</strong> lang <strong>in</strong> Europa.


76 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>12. Die ersten zwei <strong>Jahre</strong>Die Q<strong>in</strong>ghua-Universität und der Deutsche AkademischeAustauschdienst hatten vertragliche Vere<strong>in</strong>barungen überzweijährige Studienaufenthalte <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>. Ich hatte vor, zwei <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong> zu studieren. Diese zwei <strong>Jahre</strong> bildeten aber nur den erstenAbschnitt me<strong>in</strong>er zehn <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>.Insgesamt verliefen die geplanten zwei <strong>Jahre</strong> ruhig, es gab ke<strong>in</strong>e Sturmflut,ke<strong>in</strong>e starken Erschütterungen. Hitler war bereits vor e<strong>in</strong>igen <strong>Jahre</strong>n andie Macht gelangt. Er wurde wie verrückt vergöttert. Ich kannte e<strong>in</strong>eFrau, jung und hübsch. Zufällig sprach ich mit ihr über Hitler. Da platztesie heraus: „Es wäre mir e<strong>in</strong>e übergroße Ehre, wenn ich Hitler e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>dgebären könnte.“ Ich staunte. So etwas hätte ich mir im Traum nichtvorstellen können. Ich hatte Hitler niemals persönlich gesehen, hörte aber<strong>of</strong>t im Radio se<strong>in</strong>e bellende Stimme. Unter den Deutschen waren nur ganzwenige gegen ihn. Se<strong>in</strong>e SA (Sturm Abteilung) und SS (Schutz Staffel)gehörten überall zum Straßenbild. Wir nannten die braun Uniformierten„braune Hunde“, die schwarz Uniformierten „schwarze Hunde“. Diebraunen und die schwarzen Hunde machten uns ch<strong>in</strong>esischen Studenten


12 Die ersten zwei <strong>Jahre</strong> 77ke<strong>in</strong>e Schwierigkeiten. Im Laden oder beim Besuch von Freundensagten die Deutschen „Heil Hitler!“ und wir „Guten Morgen!“, „GutenTag!“ oder „Guten Abend!“. Jeder machte das so, wie es ihm gefiel.Brunnenwasser vermischt sich nicht mit Flusswasser, man mischt sichnicht <strong>in</strong> die Angelegenheiten des anderen e<strong>in</strong>. Mit Deutschen sprachenwir nie über Politik.In Wirklichkeit standen die Zeichen sowohl <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a als auch <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong> auf Sturm. Schon zwei <strong>Jahre</strong> später hatte sich die Lage totalverändert.Das musste ich beobachten, aber ich war machtlos. Ich wünschte mir e<strong>in</strong>ruhiges Leben und versuchte, me<strong>in</strong>e eigene Haut <strong>in</strong> dem Chaos zu retten.Äußerlich wirkte der Alltag <strong>in</strong> den Straßen lebhaft, die Versorgung warausreichend. Das Lebensmittelmarken-System war noch nicht e<strong>in</strong>geführt.Wer Geld hatte, konnte alles kaufen. Jeden Morgen frühstückte ich zuHause Brötchen, Milch, Butter und Käse mit e<strong>in</strong>er Tasse schwarzenTee. Dann g<strong>in</strong>g ich <strong>in</strong>s Sanskrit-Institut zum Unterricht oder zumSelbststudium. Mittags aß ich außerhalb <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gaststätte. Anschließendkehrte ich <strong>in</strong>s Institut zurück. E<strong>in</strong> Mittagsschläfchen kannte ich nicht.Nachmittags wieder Unterricht oder Lesen. Etwa um sechs Uhrabends kam ich nach Hause. Die Vermieter<strong>in</strong> ließ mir etwas von ihremMittagessen übrig. Zum Abendessen bekam ich deshalb etwas anderes alsdie Deutschen, die nur Brot und Wurst aßen und Tee tranken.E<strong>in</strong> solches Leben g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Ordnung, ich war damit zufrieden.Am Sonntag trafen sich die ch<strong>in</strong>esischen Studenten <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen, ohnesich eigens verabredet zu haben, auf der Schillerwiese, die außerhalb desStadtkerns am Fuße e<strong>in</strong>es Berges lag: Long Piyan, Tian Dewang, WangZichang, Huang Xitang und Lu Shoudan. Die Wiese war das ganze Jahrh<strong>in</strong>durch über und über grün. In der Umgebung ragten alte Bäume


78 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>zum Himmel empor. Die Wiese lag im Osten an e<strong>in</strong>em Berg, auf demüppige Bäume wuchsen, und der Wald erstreckte sich Kilometer weit.Es gab dort e<strong>in</strong>ige wunderschöne Sehenswürdigkeiten, zum Beispiel denBismarck-Turm hoch droben. Von hier aus hatte man e<strong>in</strong>en Blick überdie ganze Stadt. Hier befanden sich auch Cafés und Restaurants. Nachdem Treffen machten wir Ausflüge <strong>in</strong> die Berge und aßen dort zu Mittag.Es war wirklich e<strong>in</strong>e große Freude, Ch<strong>in</strong>esen zu sehen und Ch<strong>in</strong>esisch zusprechen. Niemand bemerkte bei der Unterhaltung, wie die Zeit verg<strong>in</strong>g.Guckte man auf die Uhr, war es schon dunkel, und der Mond erschienh<strong>in</strong>ter dem Berg.Me<strong>in</strong> Studium betrieb ich mit allen Kräften. Ich wollte zwar nur zwei<strong>Jahre</strong> bleiben, bereitete mich aber auf die Doktorprüfung vor. Nach denVorschriften <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> musste e<strong>in</strong> Doktorand drei Fächer studieren:e<strong>in</strong> Hauptfach und zwei Nebenfächer. Me<strong>in</strong> Hauptfach Indologieumfasste Sanskrit und Pali. Das war festgelegt. Über die Entscheidungfür zwei Nebenfächer zerbrach ich mir den Kopf. Vorher, als ich nochan der „Auslands-Schwärmerei“ litt und me<strong>in</strong> Auslandsstudium noch<strong>in</strong> den Sternen stand, hatte ich schon e<strong>in</strong>es geschworen: Ich würde niee<strong>in</strong>e Doktorarbeit über Ch<strong>in</strong>a schreiben! Lu Xun 28 hatte e<strong>in</strong>mal gesagt,es gebe ch<strong>in</strong>esische Studenten, die im Ausland mit Arbeiten überLao Zi 29 und Zhuang Zi 30 den Doktortitel erlangt und die Ausländer<strong>in</strong> Erstaunen versetzt hätten. Zurück <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a lehrten sie aber Kantund Hegel. Ich verachtete solche Doktoren und wollte es ihnen nichtgleich tun. Ich wollte deshalb <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> Haupt- und Nebenfächerwählen, die mit Ch<strong>in</strong>a nichts zu tun hatten. Weiterh<strong>in</strong> hatte ich gehört,28Lu Xun 鲁 迅 (1881 – 1936), berühmter Schriftsteller und Dolmetscher.29Lao Zi 老 子 (zwischen 571 v. Chr. – 471v. Chr. ), Gründer des Daoismus.30Zhuang Zi 庄 子 (369 v. Chr. – 286 v. Chr. ), bekannter Daoist.


12 Die ersten zwei <strong>Jahre</strong> 79dass e<strong>in</strong> ch<strong>in</strong>esischer Student der Naturwissenschaften S<strong>in</strong>ologie alsNebenfach-Prüfung ausgesucht hatte, um mit unerlaubten Kniffense<strong>in</strong>en eigenen Vorteil zu suchen. Der S<strong>in</strong>ologie-Pr<strong>of</strong>essor stellte ihm <strong>in</strong>der Prüfung als erstes die Frage: Wer hat früher gelebt, der ch<strong>in</strong>esischeDichter Du Fu oder der englische Dichter Shakespeare? Die ch<strong>in</strong>esischeLiteraturgeschichte ist nun viele tausend <strong>Jahre</strong> alt, und Du Fu, e<strong>in</strong>er derwichtigsten Dichter der Tang-Zeit, ist viel später geboren als Qu Yuan.Shakespeare se<strong>in</strong>erseits zählt sicher zu den älteren Dichtern Englands. Derch<strong>in</strong>esische Student hatte das wahrsche<strong>in</strong>lich im Kopf und antworteteohne viel zu überlegen: „Du Fu ist später geboren.“ Der Pr<strong>of</strong>essor sagte:„Sie s<strong>in</strong>d durchgefallen. Weitere Fragen s<strong>in</strong>d nicht mehr erforderlich.“Apropos mündliche Prüfung. Da möchte ich zwei kle<strong>in</strong>e Episodenergänzen, um zu zeigen, wie die mündliche Prüfung <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>verlief und wie hoch die Autorität des Pr<strong>of</strong>essors war. Ende des 19.Jahrhunderts stellte Virchow, der deutsche Gelehrte für Mediz<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>enTeller mit Schwe<strong>in</strong>eleber auf den Tisch und fragte e<strong>in</strong>en Studenten, deran der mündlichen Prüfung teilnahm: „Was ist das?“ Der Student machtegroße Augen und war sprachlos. Wie hätte er sich vorstellen können, dassder Pr<strong>of</strong>essor ihm Schwe<strong>in</strong>eleber h<strong>in</strong>stellte! Schließlich fiel der Studentbei der mündlichen Prüfung durch. Virchow erklärte ihm: „E<strong>in</strong> Mediz<strong>in</strong>ersoll die Wahrheit <strong>in</strong> den Tatsachen suchen, die D<strong>in</strong>ge so sehen, wie sies<strong>in</strong>d. Wie kann man Arzt werden, wenn man diese Fähigkeit und diesenMut nicht hat?“ E<strong>in</strong> anderes Mal zeigte Virchow e<strong>in</strong>em Studenten se<strong>in</strong>eJacke und fragte: „Welche Farbe hat me<strong>in</strong>e Jacke?“ Der Student sah siee<strong>in</strong>en Augenblick an und erwiderte ernst: „Herr Pr<strong>of</strong>essor, Ihre Jackewar braun.“ Virchow lachte: „Sie haben die Prüfung bestanden.“ HerrVirchow legte ke<strong>in</strong>en großen Wert auf Kleidung. Er trug diese Jackeschon e<strong>in</strong> Dutzend <strong>Jahre</strong>, und sie war mit der Zeit schwarz geworden.


80 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Das waren kle<strong>in</strong>e Episoden, aber sie s<strong>in</strong>d dennoch bedeutsam, denn siezeigten uns, wie der deutsche Pr<strong>of</strong>essor mit aller Mühe den Studentenbeizubr<strong>in</strong>gen suchte, unbee<strong>in</strong>flusst vom Äußeren bei der Beobachtung derD<strong>in</strong>ge wahrheitsgetreu zu bleiben.Zurück zu me<strong>in</strong>en Nebenfächern. E<strong>in</strong>es stand fest: Ich wollte nichtS<strong>in</strong>ologie wählen. Aber was sollte ich nehmen? Ich hatte an Englische undDeutsche L<strong>in</strong>guistik gedacht und auch an Arabisch, denn das hatte ich e<strong>in</strong>ganzes Jahr lang <strong>in</strong>tensiv studiert, um schließlich festzustellen, dass me<strong>in</strong>eWahl nicht richtig war, und aufzugeben. Am Ende entschied ich mich aberfür Englische und Slawische L<strong>in</strong>guistik. Für Slawische L<strong>in</strong>guistik sollteman nicht nur Russisch lernen, deshalb wählte ich Jugoslawisch h<strong>in</strong>zu.Damit war dann alles klar.Das Institut für Slawistik befand sich auch im Gauß-Weber-Gebäude.Jeden Tag kam ich <strong>in</strong>s Institut und arbeitete den ganzen Tag. Selbständigkonzentrierte ich mich auf Sanskrit und Pali. Am Sanskrit-Sem<strong>in</strong>arnahm ich ursprünglich als e<strong>in</strong>ziger teil. Vom dritten Semester an kamenzwei deutsche Studenten dazu: e<strong>in</strong> Student der Geschichte und e<strong>in</strong>Dorfpriester. Der Geschichtsstudent hatte vor mir bereits e<strong>in</strong>ige Semesterbei Pr<strong>of</strong>essor Sieg studiert. Als ich das zweite Studienjahr begann, g<strong>in</strong>ger mit mir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Klasse. Anfangs hatte ich Respekt vor ihm, weil er e<strong>in</strong>älterer Student war. Nach e<strong>in</strong>iger Zeit erkannte ich, dass das Studium ihnviel Mühe kostete. Er hatte zwar <strong>in</strong> der Oberschule Griechisch und Late<strong>in</strong>gelernt, konnte auch Englisch und Französisch, aber die unvorstellbarkomplizierte Sanskrit-Grammatik machte ihn völlig ratlos. Sobald derLehrer etwas fragte, starrte er <strong>in</strong>s Leere, stotterte herum und konnteke<strong>in</strong>en Ton herausbr<strong>in</strong>gen. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegesund se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>ziehung hatte er Sanskrit nicht bewältigt. Er hattesozusagen „den Sprung über den Pass“ nicht geschafft.


12 Die ersten zwei <strong>Jahre</strong> 81Auch me<strong>in</strong> Sanskrit-Studium verlief nicht reibungslos. Diese alte Sprachemit ihrer ungeheuer diffizilen Grammatik und den meisten flektiertenFormen aller Weltsprachen stand <strong>in</strong> großem Kontrast zu Ch<strong>in</strong>esisch.Es fiel mir schwer, aber ich hatte beschlossen, sie zu lernen. Ich musstesie meistern und hatte mir gelobt, <strong>in</strong> diesen zwei <strong>Jahre</strong>n me<strong>in</strong> Ziel zuerreichen.


82 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>13. Die Familievon Zhang YongMehrmals habe ich bereits die Familie von Zhang Yong erwähnt undvon dessen Herkunft erzählt. Jetzt will ich detaillierter über se<strong>in</strong>eFamilie berichten.Nachdem se<strong>in</strong> Vater Zhang Shizhao se<strong>in</strong>es Amts enthoben worden war,brachte das Ehepaar drei Söhne nach Europa zum Studium. Sie g<strong>in</strong>genzunächst nach Gött<strong>in</strong>gen. Zhang Shizhao kehrte dann nach Ch<strong>in</strong>a zurück.Der älteste Sohn Zhang Ke wechselte die Hochschule und g<strong>in</strong>g nachItalien, der jüngste Sohn Zhang Y<strong>in</strong> studierte <strong>in</strong> England. Es blieb alsonur der zweite Sohn Zhang Yong bei der Mutter <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen, wo beidehier schon e<strong>in</strong>ige Zeit wohnten.Sie hatten das obere Stockwerk e<strong>in</strong>es Hauses gemietet, dessen anderezwei Etagen vom Hausbesitzer selbst bewohnt wurden. Der hatte e<strong>in</strong>abscheuliches Gesicht, konnte nie lachen und machte e<strong>in</strong>en abstoßendenE<strong>in</strong>druck. Er lebte mit se<strong>in</strong>er pensionierten Mutter zusammen. DieFrau war siebzig bis achtzig <strong>Jahre</strong> alt, schwerfällig und gehbeh<strong>in</strong>dert.


13 Die Familie von Zhang Yong 83Sie wohnte alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Zimmer im zweiten Stock. Mutterund Sohn aßen getrennt. Während me<strong>in</strong>es Besuchs bei Zhang Yongg<strong>in</strong>g ich an ihrem Zimmer vorbei und entdeckte schlechtes, schon kaltgewordenes Essen vor der Tür. Auf Ch<strong>in</strong>esisch nennt man e<strong>in</strong> solchesEssen „schlechter als Hundefraß“. Der Mann besass auch e<strong>in</strong>en großenWolfshund, der nichts anderes als R<strong>in</strong>dfleisch fressen wollte. E<strong>in</strong>mal hatteder Hund <strong>of</strong>fenbar zu viel Fleisch gefressen und litt an Bauchschmerzen.Da zog der Hausbesitzer s<strong>of</strong>ort mehrere Ärzte zu Rate. Als aber se<strong>in</strong>eMutter krank wurde, fand ich bei me<strong>in</strong>en Besuchen tagelang das gleicheEssen vor der Tür. Kalt und abgestanden wartete es auf die alte Frau, dienicht aufstehen konnte.Frau Zhang, die Long Piyan und ich „Tante Zhang“ nannten, hatte <strong>in</strong>England studiert. Sie sprach e<strong>in</strong> sehr gutes Englisch, war Sekretär<strong>in</strong> beiSun Yat-Sen und zuständig für die englische Sprache gewesen. TanteZhang verehrte England abgöttisch. Sie hatte sogar die Arroganz undVorurteile der Engländer alle selbst übernommen. Für die englischeSprache hegte sie e<strong>in</strong>e noch tiefere Bewunderung als die Engländer selbst,die schon sehr stolz auf ihre Muttersprache waren. Sie glaubten, mite<strong>in</strong>er Zigarre zwischen den Lippen könne man nur e<strong>in</strong>e Sprache fließendsprechen, und das sei auf der ganzen Welt nur Englisch. Deshalb zähltenim Westen die Engländer zu jenen Landsleuten, die ke<strong>in</strong>e Fremdsprachenlernen wollten, sondern es als heilige Pflicht der Menschen andererLänder ansahen, Englisch zu lernen. In dieser H<strong>in</strong>sicht war Tante Zhange<strong>in</strong>e hundertprozentige Engländer<strong>in</strong>. Sie lebte bereits e<strong>in</strong>ige <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong>, konnte aber nicht e<strong>in</strong>mal „Guten Morgen“ oder „GutenAbend“ sagen. Sie g<strong>in</strong>g jeden Tag e<strong>in</strong>kaufen. Mochte sie auch noch soüberzeugt se<strong>in</strong> von der Bedeutung der englischen Sprache und vieleVorurteile hegen, die deutschen Verkäufer konnte sie nicht von dieser


84 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Bedeutung überzeugen. So blieb ihr nichts anderes übrig: Sie musstefür den E<strong>in</strong>kauf e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es englisch-deutsches Wörterbuch zur Handnehmen. Im Laden suchte sie für jeden Artikel, den sie kaufen wollte,zuerst das englische Wort, darunter das deutsche und zeigte es danndem Verkäufer. Sollten es drei Stück oder drei Pfund se<strong>in</strong>, zeigte sie dreiF<strong>in</strong>ger. So vollzog sich der Handel reibungslos, und alle waren zufrieden.Tante Zhang wollte ke<strong>in</strong> Deutsch sprechen, ke<strong>in</strong>e deutschen Wörterlernen, und die deutsche gotische Schrift war ihr e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> Dorn imAuge. Diese Schrift unterscheidet sich von der late<strong>in</strong>ischen Schrift, die<strong>in</strong> England oder Frankreich, aber zum Teil auch <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> benutztwurde. Sie war sehr schwer zu entziffern. Der Faschismus fördertemit Absicht die alte gotische Schrift, um zu zeigen, dass <strong>Deutschland</strong>patriotisch zu se<strong>in</strong>er eigenen Kultur stand. Viele Straßennamenwaren <strong>in</strong> dieser Schrift geschrieben. Das bereitete Tante Zhang großeSchwierigkeiten. H<strong>in</strong>zu kam, dass sie überhaupt nicht <strong>in</strong> der Lage war,sich zu orientieren und sich die Straßen zu merken. Sie wohnte nun schone<strong>in</strong>ige <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen und konnte sich immer noch nicht orientieren.So passierte es des Öfteren, dass sie ziemlich lange Strecken <strong>in</strong> die Irrelief und ihr Haus nicht wieder fand.Das war Tante Zhang. Sie war schon über sechzig, aber naiv unde<strong>in</strong>fältig, andererseits aber schien sie auch treuherzig zu se<strong>in</strong>, was manbei anderen Gelegenheiten bemerken konnte. Sie stammte aus e<strong>in</strong>ergroßen, berühmten Familie, war als Auslandsstudent<strong>in</strong> <strong>in</strong> England undSekretär<strong>in</strong> von Sun Yat-Sen gewesen, ihr Ehemann diente als M<strong>in</strong>ister <strong>in</strong>der nordch<strong>in</strong>esischen Regierung. Wegen dieser Voraussetzungen platztesie förmlich vor lauter Überheblichkeit. Die anderen hatten denselbenDünkel, versuchten ihn aber zu verstecken oder mit e<strong>in</strong>er gewissenBescheidenheit zu bemänteln. Tante Zhang ahnte davon aber nichts, sie


13 Die Familie von Zhang Yong 85betrachtete sich selbst als Mitglied e<strong>in</strong>er Mandar<strong>in</strong>familie und uns alsNormalsterbliche. Beamte und das normale Volk unterschieden sich wieHimmel und Erde, beides gehörte nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Topf. Wenn sie zu redenbegann, hieß es am Anfang fast immer „wir Mandar<strong>in</strong>familien“ und „ihrVolksfamilien“. Dabei war sie ganz <strong>of</strong>fen und natürlich und nahm ke<strong>in</strong>Blatt vor den Mund. Wir hörten zu, staunten und lachten. Manchmalmachten wir uns e<strong>in</strong>en Spaß und erhoben unsere Stimme dagegen: „Essen Sie, die Mandar<strong>in</strong>e, nicht auch mit Essstäbchen? Tr<strong>in</strong>ken Sie nichtauch aus e<strong>in</strong>er Tasse?“ Sie erkannte unsere Absicht aber nicht und redeteweiter von „Beamtenfamilien“ und „e<strong>in</strong>fachen Leuten“. Sie war <strong>in</strong> dieserH<strong>in</strong>sicht völlig abgehoben, wir „Normalsterbliche“ standen ratlos vor ihr.Ihr Sohn Zhang Yong war klug genug, das Verhalten se<strong>in</strong>er Mutternicht zu missbilligen. Er war e<strong>in</strong> schweigsamer Mensch, pietätvoll undgehorsam. Nie unterbrach er se<strong>in</strong>e Mutter. Aber wenn er die Brauenzusammenzog, wurde deutlich, dass er nicht besonders froh über ihreReden war. Er grübelte <strong>of</strong>t vor sich h<strong>in</strong>, vielleicht über mathematischeFragen, vielleicht über anderes. Mit se<strong>in</strong>er Mutter sprach er selten.Die alte Dame wohnte alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> ihrer Wohnung, hatte ke<strong>in</strong>e weiterenVerwandten, ke<strong>in</strong>e deutschen Freunde und kam mit niemandem <strong>in</strong>sGespräch. Sie musste sehr e<strong>in</strong>sam se<strong>in</strong>. Traf sie uns „e<strong>in</strong>fachen Leute“,freute sie sich außerordentlich und sagte: „Ich muss euch e<strong>in</strong>e großartigeGeschichte erzählen.“ Dabei rang sie nach Luft. Die so genannte„großartige Geschichte“ war <strong>in</strong> der Tat ohne Bedeutung. Sie redete wiee<strong>in</strong> leer laufendes Weberschiffchen. Tante Zhang las weder Bücher nochZeitungen, und so waren ihre Gesprächsthemen natürlich sehr begrenzt.Nach drei Sätzen schon begann sie erneut, von Zhang Shizhao zusprechen. Sie erzählte von ihrer Hochzeitsfeier. Zhang war damals schone<strong>in</strong> hoher Beamter und behandelte se<strong>in</strong>e Ehefrau nach westlicher Manier.


86 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Beim E<strong>in</strong>steigen öffnete er ihr die Tür, g<strong>in</strong>g mit ihr Arm <strong>in</strong> Arm undsagte, sobald er den Mund auftat: „Darl<strong>in</strong>g“. Sie habe das Gefühl gehabt,erzählte Tante Zhang, auf Wolken zu sitzen und die allerglücklichsteFrau auf Erden zu se<strong>in</strong>. Aber das Glück kann sich unversehens wenden.E<strong>in</strong>es Tages habe sie entdeckt, dass die Wirklichkeit ganz anders aussah,und sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dichten Nebelmeer verloren: Zhang Shizhao warse<strong>in</strong>es Postens enthoben worden und mit se<strong>in</strong>er Frau und se<strong>in</strong>en Söhnennach Gött<strong>in</strong>gen gekommen. Sie erzählte viel mehr von Zhang Shizhao,als ich hier wiedergebe. Aber e<strong>in</strong>er tugendhaften Person muss manRespekt erweisen. Ich will an dieser Stelle deshalb me<strong>in</strong>e Ausführungenbeenden. In den letzten zwei <strong>Jahre</strong>n hatte sie wer weiß wie <strong>of</strong>t und wieviele Episoden über ihren Mann erzählt, jedes Mal sehr anschaulichund detailliert. Das alles hatte ihren Sohn Zhang Yong sehr irritiert. Erschwieg dazu, zog aber se<strong>in</strong>e Brauen noch dichter zusammen.Wir besuchten diese e<strong>in</strong>fache und naive alte Dame gern. Ich wolltehauptsächlich mit Zhang Yong sprechen und mit ihm diskutieren. Se<strong>in</strong>eMutter berichtete mir, jedes Mal, wenn ich da sei, würde Zhang Yonge<strong>in</strong> ganz anderer Mensch, und es zeige sich e<strong>in</strong> Lächeln auf se<strong>in</strong>emGesicht. Er werde auch gesprächiger. Die alte Dame freute sich, holteKuchen, brühte Drachenbrunnentee auf und lud mich des Öfteren zumAbendessen e<strong>in</strong>. Während sie von Zhang Shizhao redete, hatte sie alleHände voll zu tun. E<strong>in</strong>mal, als Zhang Yong und ich uns gerade eifrigunterhielten, hörten wir das Donnern e<strong>in</strong>es Unwetters. Durch das kle<strong>in</strong>eFenster sahen wir dunkle Wolken heranziehen, die die Baumgruppeauf dem Berg im Osten bedeckten. Überall wurde es grau. WelcheNaturgewalt! Unsere Freude an der Unterhaltung jedoch nahm trotz desstarken Regens, der an das Fenster klopfte, nicht ab.Die schöne Zeit dauerte nicht lange, vielleicht bis zum Sommer 1936. Mit


13 Die Familie von Zhang Yong 87Beg<strong>in</strong>n des <strong>Jahre</strong>s 1937 kam Familie Zhang <strong>in</strong> f<strong>in</strong>anzielle Schwierigkeiten.Sie war nicht mehr <strong>in</strong> der Lage, für drei Söhne <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>, Englandund Italien Lebensunterhalt und Studium zu f<strong>in</strong>anzieren. Die Familiebeschloss, zunächst Zhang Yong nach Ch<strong>in</strong>a zu schicken, um die Lagezu erkunden. Se<strong>in</strong>e Mutter blieb alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen zurück. Sie ware<strong>in</strong>sam und wartete auf Nachricht von ihrem Sohn. Long Piyan und ichkümmerten uns <strong>in</strong>zwischen um die alte Dame. Jeden Tag aßen wir zudritt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gaststätte zu Mittag. Wie gewöhnlich begann die alte Damedann, nach Luft r<strong>in</strong>gend: „Ich muss euch e<strong>in</strong>e großartige Geschichteerzählen!“ Na ja. Nach dem Mittagessen begleiteten wir sie nach Hause.Das wiederholte sich jeden Tag. Dann kam Post von Zhang Yong. Dief<strong>in</strong>anziellen Probleme der Familie schienen unlösbar. Zhang Yong konntenicht nach <strong>Deutschland</strong> zurückkehren, und Tante Zhang musste s<strong>of</strong>ortzurück nach Ch<strong>in</strong>a. Wir halfen ihr, sich abzumelden, zu packen, e<strong>in</strong>enPass zu beantragen und Zug- und Schiffskarten zu besorgen. Wir hattenviel um die Ohren. Aber sogar <strong>in</strong> dieser kritischen Zeit wollte unsere alteDame nicht auf ihren Status e<strong>in</strong>er Dame aus e<strong>in</strong>er „Mandar<strong>in</strong>familie“verzichten. Sie ließ sich fotografieren, und wir sollten ihr „Porträt“auswählen, damit sie <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a Fotos an Journalisten verteilen könnte.Dann g<strong>in</strong>g die alte Dame fort und der sechs- oder siebenjährigeAufenthalt der Familie <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen beendet. Zhang Yong hatte <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong> all die <strong>Jahre</strong> hart studiert, konnte aber se<strong>in</strong>en Doktortitelnicht bekommen. Wir sahen uns nie wieder. Zhang Yong lehrte an derZhejiang-Universität. Während des Krieges musste er dauernd umziehen,doch <strong>in</strong> diesem unsteten Leben hatte er mich nicht vergessen und se<strong>in</strong>eDichtkunst auch nicht. Er schrieb mir <strong>of</strong>t, und manchmal legte er demBrief se<strong>in</strong>e Gedichte bei. Noch heute er<strong>in</strong>nere ich mich an e<strong>in</strong>ige Versevon ihm: „Der viel besungene Ort Jiande, wie schön er auch sei, ist doch


88 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>nicht me<strong>in</strong>e Heimat. Genau so wenig wie die schönen Berge <strong>in</strong> Qimen.“ Ich weiß nicht mehr, <strong>in</strong> welchem Jahr er mir se<strong>in</strong>e gesamten Gedichteschickte. Auch den Grund kenne ich nicht. Ahnte er schon se<strong>in</strong> nahesEnde? Er litt an e<strong>in</strong>er Lungenentzündung. Wollte er deshalb die Früchtese<strong>in</strong>er Arbeit e<strong>in</strong>em vertrauten Freund senden? Me<strong>in</strong>e Ahnung täuschtemich nicht. Bald verließ er uns für immer. Ich, den er immer betreuthatte, blieb alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> dieser Welt. Zhang Yong war se<strong>in</strong> ganzes Lebenlang immer e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>samer, hochmütiger, ungeselliger Mensch, dem nure<strong>in</strong> kurzes Leben beschert war. Unsere Freundschaft dauerte zwar nurweniger als e<strong>in</strong> Jahr, aber er war me<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Vertrauter. Wie traurig,wie schmerzlich! Auf dieser Welt war ich vielleicht der e<strong>in</strong>zige unterden irdischen Kreaturen, der ihn wirklich kannte und se<strong>in</strong>er gedachte.Ich spürte immer deutlicher, dass ich <strong>in</strong> ihm e<strong>in</strong>en seltenen Vertrautenverloren hatte. Mensch und Himmel waren getrennt worden, ich konnteke<strong>in</strong>e Tränen vergießen. „Vom blauen Himmel bis <strong>in</strong> die Unterwelt, waswissen wir vom Diesseits und Jenseits? Nichts, nichts.“ 31 Me<strong>in</strong> ganzesLeben würde bitter se<strong>in</strong>. Wie traurig!31aus: „Lied für ewige Rache“ (《 长 恨 歌 》)von Bai Juyi (siehe Anm. 8) .


14 Das Institut für S<strong>in</strong>ologie 8914. Das Institut fürS<strong>in</strong>ologieDie Familie von Zhang Yong zog Anfang 1937 fort. Me<strong>in</strong> Studiumsollte nun auch vertragsgemäß beendet se<strong>in</strong> und ich <strong>in</strong> die Heimatzurückkehren. Aber dann ereignete sich der Zwischenfall vom 7. Juli1937, der den japanischen Aggressionskrieg gegen Ch<strong>in</strong>a e<strong>in</strong>leitete.Me<strong>in</strong>e Heimatstadt Ji’nan <strong>in</strong> der Prov<strong>in</strong>z Shandong wurde bald vonder japanischen Armee besetzt, und ich konnte nicht zurückkehren.Deshalb nahm ich Kontakt mit dem Institut für S<strong>in</strong>ologie der UniversitätGött<strong>in</strong>gen auf.Die Geschichte dieses Instituts kannte ich nicht und hatte mich auchnicht damit beschäftigen wollen. Die S<strong>in</strong>ologie gehörte zwar zu denorientalischen Philologien, das Institut war aber nicht im Gauß-Weber-Gebäude untergebracht, sondern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Haus. Davor befandsich e<strong>in</strong>e große grüne Wiese, r<strong>in</strong>gsherum ragten viele alte Eichen empor.Das ganze Bauwerk wirkte klassisch elegant, prachtvoll und hatte se<strong>in</strong>eeigene Note. Beim Betreten des Gebäudes blickte man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e große,


90 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>geräumige Halle mit e<strong>in</strong>er hohen Treppe aus Holz. Selten traf manhier jemanden. Alles glänzte vor Sauberkeit. Das Institut lag im erstenStock und hatte sieben oder acht Räume: das Büro des Direktors, e<strong>in</strong>enSem<strong>in</strong>arraum, e<strong>in</strong>e Bücherei und Leseräume. Die stattlichen Bücherregalefüllten das Gebäude vom Boden bis zum Dach. Ch<strong>in</strong>esische Werke, <strong>in</strong>Ch<strong>in</strong>a oder <strong>in</strong> Japan herausgegeben, machten den größten Teil aus. Es gababer auch andere fremdsprachige Bücher. Alles stand <strong>in</strong> bester Ordnungnebene<strong>in</strong>ander. Darunter waren Bücher aus alter Zeit, zum BeispielRomane aus der M<strong>in</strong>g-Dynastie, an die ich mich er<strong>in</strong>nere. Diese Büchergalten auch <strong>in</strong> ch<strong>in</strong>esischen Bibliotheken als selten und wertvoll. Dass essich um e<strong>in</strong>zigartige Exemplare <strong>in</strong> der Welt handelte, kann ich als Laienicht behaupten. Wie diese Bücher nach Gött<strong>in</strong>gen gekommen waren,fragte ich auch nicht. Sehr wahrsche<strong>in</strong>lich hatten Missionare sie aus Ch<strong>in</strong>amitgebracht.Michaelishaus, Staats- und Universitätsbibliothek


14 Das Institut für S<strong>in</strong>ologie 91Der Institutsdirektor, Pr<strong>of</strong>essor Gustav Haloun, stammte aus demSudetenland, war von se<strong>in</strong>er Mentalität her eher Tscheche als Deutscherund natürlich e<strong>in</strong> Gegner der Faschisten. Kurz nach me<strong>in</strong>er Ankunft <strong>in</strong>Gött<strong>in</strong>gen hatte Zhang Yong zusammen mit mir Gustav Haloun besucht.Seitdem waren wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em losen Kontakt geblieben. Als Haloun erfuhr,dass die Zeit me<strong>in</strong>es Austauschaufenthaltes abgelaufen war, fragte ermich, ob ich bleiben wolle – und das gerade zu der Zeit, als mir dieRückkehr <strong>in</strong> die Heimat versperrt wurde und ich vor Sorgen nicht ausnoch e<strong>in</strong> wusste. Se<strong>in</strong> Angebot freute mich über alle Maßen. Nachdem dieFrist me<strong>in</strong>es geförderten Auslandsaufenthaltes abgelaufen war, übernahmich also e<strong>in</strong>en Lehrauftrag für S<strong>in</strong>ologie. Bislang hatte ich das Institut fürS<strong>in</strong>ologie als Gast besucht, nun tat ich es als Mitarbeiter.Pr<strong>of</strong>essor Haloun war nett und sympathisch und etwa zwanzig <strong>Jahre</strong> älterals ich. Neben me<strong>in</strong>er Arbeit im Institut war ich immer noch Doktorandam Institut für Sanskrit. Jeden Tag g<strong>in</strong>g ich <strong>in</strong> das Gauß-Weber-Gebäudezum Studium, denn me<strong>in</strong> Stützpunkt war nach wie vor dort. Weil ich nunaber als Dozent im Institut für S<strong>in</strong>ologie unterrichten musste, kam ich nunöfter dorth<strong>in</strong> und traf Herrn Haloun und se<strong>in</strong>e Frau. Nach e<strong>in</strong>iger Zeit wurdenwir trotz des Altersunterschieds vertraute Freunde. Ch<strong>in</strong>esisch konnteHaloun zwar nicht sprechen, er besaß aber e<strong>in</strong> sehr solides s<strong>in</strong>ologischesWissen. In der ch<strong>in</strong>esischen Klassik kannte er sich sehr gut aus – zumBeispiel mit Lao Zi und Zhuang Zi. Besonders vertraut war er mit denOrakelknochen<strong>in</strong>schriften. Er sprach darüber kompetent und überzeugendund hatte brillante Interpretationen. Auch mit der Geschichte undGeographie der klassischen westch<strong>in</strong>esischen Regionen 32 hatte er sich<strong>in</strong>tensiv beschäftigt. Se<strong>in</strong> Buch „Untersuchung über Indo-Seyths“32Bezeichnung während der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) für die Gebiete westlich von Yumenguan,e<strong>in</strong>schließlich X<strong>in</strong>jiangs und e<strong>in</strong>es Teils von Zentralasien.


92 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>war <strong>in</strong>ternational berühmt. Er legte großen Wert auf den Aufbau derBibliothek. Die europaweit bekannte Staats- und Universitätsbibliothekder Universität Gött<strong>in</strong>gen sammelte ke<strong>in</strong>e ch<strong>in</strong>esischen Werke, so dassalle ch<strong>in</strong>esischen Bücher konzentriert im Institut für S<strong>in</strong>ologie standen.Für den Kauf der ch<strong>in</strong>esischen Bücher war ansche<strong>in</strong>end Haloun selbstzuständig. Ich schrieb für ihn Briefe an viele Antiquariate <strong>in</strong> der Marco-Polo-Straße und <strong>in</strong> der Longfu-Tempel-Straße <strong>in</strong> Beip<strong>in</strong>g, um ch<strong>in</strong>esischeklassische Bücher zu bestellen. Diese Werke trafen dann regelmäßigim Institut e<strong>in</strong>. Ich bestellte auch Reispapier <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a und schriebTitelaufkleber für die mit Fäden gehefteten Bücher. Dann wurden blaueUmschläge mit gelben Zetteln aufgeklebt. Blau und Gelb harmoniertengut und sahen wunderbar aus. Das trug viel zum Ansehen des Institutsbei.Pr<strong>of</strong>essor Haloun genoss <strong>in</strong> der <strong>in</strong>ternationalen S<strong>in</strong>ologie hohes Ansehenund stand mit den s<strong>in</strong>ologischen Autoritäten vieler Länder <strong>in</strong> Kontakt.Und weil das Institut für S<strong>in</strong>ologie überdies e<strong>in</strong>e stattliche Sammlungbeherbergte, zog es viele <strong>in</strong>ternationale Wissenschaftler hierher. Ichtraf <strong>in</strong> der Bibliothek e<strong>in</strong>ige sehr bekannte S<strong>in</strong>ologen, darunter denEngländer Arthur Waley, der mich tief bee<strong>in</strong>druckte. Er wurde berühmtdurch se<strong>in</strong>e Übersetzung ch<strong>in</strong>esischer klassischer Lyrik. Die von ihmübersetzten Gedichte der Tang-Zeit fanden sogar Aufnahme <strong>in</strong> das Buch„Ausgewählte englische Gedichte aus Oxford.“ E<strong>in</strong> ebenso wertvollesBuch waren die „Dreihundert Gedichte der Tang-Zeit“. Alle ausgewähltenGedichte, die von Waley übersetzt waren, galten als unsterblicheMeisterwerke. Das macht deutlich, wie bedeutend die Stellung Waleys <strong>in</strong>der englischen Literatur war.Überdies begegnete ich dem deutschen S<strong>in</strong>ologen Otto von Mänchen-Helfen. Er beschäftigte sich damals gerade mit der Lackkunst der M<strong>in</strong>g-


14 Das Institut für S<strong>in</strong>ologie 93Dynastie. E<strong>in</strong>es Tages zeigte er mir e<strong>in</strong> Buch aus der Institutsbibliothekund bat mich, e<strong>in</strong>ige Abschnitte zu übersetzen. Den Titel des Bucheshabe ich vergessen. Soweit ich mich er<strong>in</strong>nere, waren Papier und Drucksehr alt. Das weiße Reispapier war gelblich geworden. Vielleicht handeltees sich um e<strong>in</strong>e Ausgabe aus der M<strong>in</strong>g-Zeit. Ich kannte mich nicht sehrgut aus und hatte Mühe bei der Übersetzung, den Text verstand ich selbstnicht genau. Er aber nickte zustimmend. Von Mänchen-Helfen arbeiteteschon lange an diesem für ihn vertrauten Thema und verstand s<strong>of</strong>ortalles. Danach habe ich ihn nicht mehr getr<strong>of</strong>fen. Später stand se<strong>in</strong> Name<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er englischen Zeitschrift. Wahrsche<strong>in</strong>lich war er nach Amerikaausgewandert und Amerikaner geworden.E<strong>in</strong> oder zwei <strong>Jahre</strong> nach dem Zwischenfall am 7. Juli <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Heimatteilte mir Haloun mit, er würde <strong>Deutschland</strong> verlassen und e<strong>in</strong>e Pr<strong>of</strong>essurfür S<strong>in</strong>ologie an der englischen Universität Cambridge annehmen. In<strong>Deutschland</strong> hatte er lange Zeit an Depressionen gelitten. Die Universitätschätzte ihn nicht. Ich habe nie beobachtet, dass er dort irgendwelcheKontakte hatte. Jeden Tag kam er mit se<strong>in</strong>er Frau <strong>in</strong>s Institut. Währendse<strong>in</strong>e Frau Handarbeiten machte oder Unterhaltungslektüre las, arbeiteteHaloun bis tief <strong>in</strong> die Nacht, dann g<strong>in</strong>gen beide Hand <strong>in</strong> Hand nachHause. In dieser trostlosen E<strong>in</strong>samkeit halfen sie e<strong>in</strong>ander und lebtene<strong>in</strong> ganz isoliertes Leben. Ich hatte Mitleid mit ihnen. Vor ihrer Abreisegaben Tian Dewang und ich für sie im Rathauskeller e<strong>in</strong> Abschiedsessen.Haloun erklärte uns mit sehr leiser Stimme, er habe lange <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong>Gött<strong>in</strong>gen gelebt und dort nur zwei aufrichtige Freunde: zwei Ch<strong>in</strong>esen!Dabei glänzten Tränen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen. Ich konnte ihn gut verstehen.Er war gezwungen, die Heimat zu verlassen, und musste die unterschweren Bed<strong>in</strong>gungen von ihm aufgebaute Bibliothek zurücklassen.


94 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Wie erschütternd war das für ihn! Sollten wir ihm nicht unser Mitgefühlzeigen? Aus England schickte er später e<strong>in</strong>en Brief an mich und schlugmir vor, an der Universität Cambridge zu lehren. Ich sagte zu. Aber als ich1946 wieder <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a war, konnte ich es nicht übers Herz br<strong>in</strong>gen, Eltern,Familie und K<strong>in</strong>der erneut zu verlassen. Haloun hatte Verständnis dafür.Seitdem habe ich ihn nie wieder gesehen. Vor vielen <strong>Jahre</strong>n ist er leiderviel zu früh gestorben. Ich b<strong>in</strong> bis heute sehr traurig, wenn ich an diesenwahren Freund denke.


15 Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 9515. Der Ausbruch desZweiten WeltkriegesSchnell kam das Jahr 1939.In den letzten zwei <strong>Jahre</strong>n hatten die Nachbarländer <strong>Deutschland</strong>szweimal im Jahr, e<strong>in</strong>mal im Frühjahr, e<strong>in</strong>mal im Herbst, an e<strong>in</strong>ermerkwürdigen „Krankheit“ gelitten, die man „Aggressions- oderVerfolgungswahn“ nennen könnte, die ich aber als Nicht-Mediz<strong>in</strong>ernicht zu kommentieren wagte. In dieser Zeit berichteten deutscheZeitungen und das Radio unaufhörlich darüber, e<strong>in</strong> Nachbarland jenseitse<strong>in</strong>er der Grenzen <strong>Deutschland</strong>s habe Streit heraufbeschworen undProvokationen angezettelt. Mit tränenerstickter Stimme wurde erhabeneund edle Ges<strong>in</strong>nung propagiert. Die Deutschen waren aufgeregt, ja, dasganze Land befand sich <strong>in</strong> Aufruhr. Dann folgten Besetzungen durchdeutsche Soldaten. Sie okkupierten mit Gewalt die Hoheitsgebiete derNachbarländer und nannten das „Widerstand leisten“. Widerstand gegenfriedliche Nachbarn? Die deutschen Faschisten folgten e<strong>in</strong>em bekanntenSpruch: „Wenn man e<strong>in</strong>e Lüge tausendmal wiederholt, kann sie zur


96 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Wahrheit werden.“ Das war der Geist ihrer Propagandapolitik. Anfangsglaubte sogar ich dieser Politik, und die Deutschen natürlich noch vielmehr. Doch als <strong>in</strong> der zweiten <strong>Jahre</strong>shälfte oder <strong>in</strong> der ersten Hälftedes kommenden <strong>Jahre</strong>s wieder e<strong>in</strong> Nachbarland an dieser „Krankheit“ litt, f<strong>in</strong>g ich an, daran zu zweifeln. Die Deutschen gelten zwar alsaußerordentlich klug, aber politisch verhielten sie sich damals naiv wie dieK<strong>in</strong>der. Sie waren wie gewöhnlich begeistert, und das ganze Land brodelteerneut.Ich ahnte, dass sich die Situation verschlimmern würde, ganz nach derWeisheit: „Nähert sich e<strong>in</strong> Gewitter vom Berg, pfeift der W<strong>in</strong>d durch dieBurg.“ 33Me<strong>in</strong>e Ahnung erwies sich als richtig.Am 1. September 1939 überfiel <strong>Deutschland</strong> se<strong>in</strong>en östlichen NachbarnPolen. Die deutsche Armee besetzte das ganze Land. Dann begann derKrieg mit Frankreich, die Mag<strong>in</strong>ot-L<strong>in</strong>ie wurde durchbrochen und Parise<strong>in</strong>genommen. Ich ahnte, dass damit der Krieg noch nicht zu Ende war.<strong>Deutschland</strong> würde e<strong>in</strong>en weiteren Fe<strong>in</strong>d f<strong>in</strong>den, und das konnte ke<strong>in</strong>anderes Land se<strong>in</strong> als die Sowjetunion.Me<strong>in</strong>e Vorhersage sollte sich unglücklicherweise bestätigen.Als ich am Morgen des 22. Juni 1941 aufstand, eröffnete mir me<strong>in</strong>eVermieter<strong>in</strong>, <strong>Deutschland</strong> und die Sowjetunion befänden sich im Krieg.Ich schrieb <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Tagebuch:Man konnte es schon lange voraussehen, aber wer hätte gedacht, dass es so raschpassieren würde.Eigentlich war das e<strong>in</strong> dramatisches Ereignis, aber die Deutschenblieben ganz ruhig, wahrsche<strong>in</strong>lich weil es <strong>in</strong> den letzten <strong>Jahre</strong>n immer33aus: „Ostgebäude der Xianyang“ (《 咸 阳 城 东 楼 》)von Xuhun 许 浑 (genaue Lebensdaten unbekannt),Tang-Dynastie, Dichter.


15 Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 97wieder bedeutsame kriegerische Ereignisse gegeben hatte. Sie waren zurGewohnheit geworden. Auch ich war nicht nervös. Ich hatte mich zweiTage zuvor mit den deutschen Freunden P<strong>in</strong>ks und Gross zu e<strong>in</strong>emAusflug verabredet, und dieses Treffen realisierten wir auch. Den ganzenTag fuhren wir Auto und Boot. Wir überquerten mehrmals e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>enFluss und wanderten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em großen Wald e<strong>in</strong> gutes Dutzend Kilometerweit. Wir sangen, spielten Ziehharmonika und machten e<strong>in</strong> Picknick. Wasfür e<strong>in</strong> Spaß! Dann kehrten wir zufrieden zurück. Die Stadt war dunkel,die Laternen erloschen. So tasteten wir uns nach Hause. Auf mich undauf me<strong>in</strong>e deutschen Freunde machte die Kriegserklärung <strong>Deutschland</strong>san die Sowjetunion an jenem Morgen überhaupt ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck.Zu Beg<strong>in</strong>n des Ersten Weltkrieges war ich drei <strong>Jahre</strong> alt und bekam nichtsmit. Später las ich viel darüber, wie das Kriegsfeuer sich ausbreitete, wiehart die Schlacht auf beiden Seiten war, wie viele Verwundete und Totees gab und wie groß die Verluste waren. Immer hatte ich geglaubt, e<strong>in</strong>solches Ereignis müsste den Himmel erschüttern und die Erde bewegenund dabei alles, vom Himmelsgewölbe bis h<strong>in</strong>ab <strong>in</strong> die Hölle, <strong>in</strong> Entsetzenversetzen. Jetzt erlebte ich den Anfang des Zweiten Weltkrieges, der vielumfassender werden, viel länger dauern und viel mehr Verwundete undGefallene kosten sollte als der Erste Weltkrieg. Nie und nimmer hätte ichmir vorstellen können, dass der größte und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ausmaß bis dah<strong>in</strong>beispiellose Krieg der Menschheit so unspektakulär anfangen sollte. Wennich darüber nachdenke, beschleicht mich e<strong>in</strong> Gefühl der Verwunderungund Bestürzung.Aber das Merkwürdigste sollte noch kommen.So gleichgültig die Menschen bei Ausbruch des Krieges auch gewesenwaren, so brannten sie doch auf weitere Nachrichten. Marschierte dieArmee vorwärts? Oder zurück? Oder war der Krieg an e<strong>in</strong>em toten Punkt


98 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>angelangt? Ke<strong>in</strong>e Nachrichten! Am 23. Juni ke<strong>in</strong>e Nachricht, am 24., 25.,26. und auch am 27. Juni ke<strong>in</strong>e Nachricht. Am 28. Juni schrieb ich <strong>in</strong>me<strong>in</strong> Tagebuch:Von der Ostfront kommt ke<strong>in</strong>e verlässliche Nachricht. Ich glaube, es läuft für diedeutsche Armee nicht nach Plan.Das machte mich schadenfroh. Der Rundfunk hatte e<strong>in</strong>e Woche langgeschwiegen. Am 29. Juni, e<strong>in</strong>em Sonntag, wurde das Radio plötzlichlebendiger. Es kündigte an e<strong>in</strong>em Morgen acht „Sondersendungen“ an.Die deutsche Armee drang unaufhaltsam und rasch <strong>in</strong> das sowjetischeH<strong>in</strong>terland vor. Woh<strong>in</strong> die Truppen auch immer vorstießen, überall„flüchtete der Fe<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Panik“. Jede dieser Sondersendungen berichteteüber e<strong>in</strong>en großen Erfolg. Die Deutschen, sonst eher gleichgültig, sangenund tanzten jetzt wie Verrückte vor Freude. Sie riefen: „Hoch lebe ... hochlebe ...“ Ich tobte vor Wut. Jedes Mal, wenn ich e<strong>in</strong>e Sondermeldung imRadio hörte, wurde ich außerordentlich nervös und zitterte am ganzenKörper. Ich musste mir mit beiden Händen die Ohren zuhalten. ImInnern zählte ich „e<strong>in</strong>s, zwei, drei, vier“ und dachte, es müsste nun zuEnde se<strong>in</strong>. Ich nahm die Hände herunter, und das Radio schrie immernoch. Das Blut wallte heiss <strong>in</strong> mir auf und stieg mir <strong>in</strong> den Kopf. Abendsbenötigte ich e<strong>in</strong>e doppelte Dosis Schlafmittel, bevor ich e<strong>in</strong>schlafenkonnte. In me<strong>in</strong> Tagebuch schrieb ich am 30. Juni:Wenn ich noch länger hier bleibe, werde ich verrückt.Seit dieser Zeit litt ich unter starker Schlaflosigkeit.


16 Studienabschluss und Rückkehrversuche 9916. Studienabschluss undRückkehrversucheIch war depressiv, die Lage kritisch, aber me<strong>in</strong> Studium g<strong>in</strong>g weiter.Erfolgreich studierte ich die drei ausgewählten Fächer. Im ersten Semesterlehrte Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt die Sanskrit-Grammatik <strong>in</strong> me<strong>in</strong>emHauptfach Sanskrit und Pali, im zweiten Semester las ich im Orig<strong>in</strong>al„Narasimha“, dann „Der Wolkenbote“ vonKa _ lida _ sa. Ab dem fünften Semester nahmich an e<strong>in</strong>em Sem<strong>in</strong>ar teil und beschäftigtemich mit den Sanskritfragmenten derbuddhistischen Sutras, die <strong>in</strong> Turfan <strong>in</strong>X<strong>in</strong>jiang ausgegraben worden waren.Da war Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt Experte.Se<strong>in</strong> Lehrer Lüders und er galten alsAutoritäten auf diesem Gebiet. Anfangdes 6. Semesters sprach er mit mir überPr<strong>of</strong>. Dr. Ernst Waldschmidt


100 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Pr<strong>of</strong>. Dr. Emil Siegdas Thema me<strong>in</strong>er Doktorarbeit. Wirhatten dazu die Konjugation des f<strong>in</strong>itenVerbs <strong>in</strong> den Gathas des „Maha _ vastu“festgelegt. Von da an nutzte ich jedeM<strong>in</strong>ute, die mir neben dem Studium unddem eigenen Unterrichten blieb, um hart anden drei dicken Bänden von „Maha _ vastu“zu arbeiten. Kurz nach dem Ausbruchdes Zweiten Weltkrieges wurde me<strong>in</strong>Pr<strong>of</strong>essor zur Armee e<strong>in</strong>gezogen. Deremeritierte Pr<strong>of</strong>essor Sieg vertrat ihn. Erwar bereits hoch betagt, aber immer noch unermüdlich <strong>in</strong> der Lehre.Schon <strong>in</strong> der ersten Unterrichtsstunde versicherte er mir ernsthaft,er würde mir se<strong>in</strong> ganzes Fachwissen ohne Vorbehalte vermitteln.Dazu gehörten das „Rigveda“, die alt<strong>in</strong>dische Grammatik Maha _ bha _ sya(Maha _ va _ rtika), Daşakuma _ racariya und Tocharisch. 34 Sieg war e<strong>in</strong> Meisterdes Tocharischen. Nachdem Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt e<strong>in</strong>gezogen wordenwar, schrieb ich an me<strong>in</strong>er Doktorarbeit und nahm zugleich am Unterrichtvon Pr<strong>of</strong>essor Sieg teil. Das Studium verlief reibungslos.Für me<strong>in</strong> Nebenfach, die Englische L<strong>in</strong>guistik, g<strong>in</strong>g ich regelmäßig zumUnterricht. Auch dabei gab es ke<strong>in</strong>e Schwierigkeiten.Die Doktorarbeit stellt e<strong>in</strong>en entscheidenden Bestandteil derAbschlussprüfung dar. Die Fähigkeiten e<strong>in</strong>es Studenten beurteilt derPr<strong>of</strong>essor vor allem nach dessen Doktorarbeit. Deutsche Universitätenstellen an e<strong>in</strong>e Doktorarbeit hohe Ansprüche. Das Thema sollnormalerweise nicht sehr umfangreich se<strong>in</strong>, aber die Arbeit muss34Tocharisch gehört zur <strong>in</strong>dogermanischen Sprachfamilie und wurde im 1. Jahrtausend n.Chr. im heutigenUigurischen Autonomen Gebiet X<strong>in</strong>jiang im Nordwesten Ch<strong>in</strong>as gesprochen.


16 Studienabschluss und Rückkehrversuche 101neue Ideen enthalten. Erst dann kann man die Prüfung bestehen.Viele ch<strong>in</strong>esische Studenten hielten sich damals <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> sechsoder sieben <strong>Jahre</strong> auf, ohne e<strong>in</strong>en akademischen Titel zu erlangen. Siescheiterten meistens an der Doktorarbeit. Zhang Yong war e<strong>in</strong> Beispiel,e<strong>in</strong> anderes e<strong>in</strong> Student namens Ye, der das gleiche Schicksal teilte.Nachdem das Thema me<strong>in</strong>er Arbeit festgelegt worden war, arbeiteteich fleißig daran und war bis 1940 damit grundsätzlich fertig. In derZeit, <strong>in</strong> der Waldschmidt <strong>in</strong> der Armee diente, schrieb ich sie unter derAnleitung von Sieg, und als Waldschmidt zu Hause auf Urlaub weilte,schickte ich sie ihm. Ich selbst konnte nicht Schreibmasch<strong>in</strong>e schreiben,wohl aber Irmgard, die älteste Tochter der Familie Meyer, die mir Hilfeanbot. Irmgard war e<strong>in</strong> sehr hübsches Mädchen. Im Herbst dieses <strong>Jahre</strong>sg<strong>in</strong>g ich jeden Abend zu ihr. Da das Sanskrit <strong>in</strong> late<strong>in</strong>ische Buchstabentranskribiert werden musste, gab es sehr viele Sonderzeichen, zum BeispielStriche, die man e<strong>in</strong>fügen musste. Ich saß stets neben Irmgard, umSchreibfehler zu vermeiden. Am 13. September war me<strong>in</strong>e Doktorarbeitfertig getippt. Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt hatte sie vorher genehmigt, undam 9. Oktober überreichte ich sie Pr<strong>of</strong>essor Deichgräber, dem Dekander Philosophischen Fakultät. Nach der deutschen Regel bestimmte derDekan den Term<strong>in</strong> der mündlichen Prüfung. Diese Position bekleidetedamals der jüngste Pr<strong>of</strong>essor. Deichgräber war Pr<strong>of</strong>essor für Griechischund Late<strong>in</strong> und erst vor kurzem zum ordentlichen Pr<strong>of</strong>essor ernanntworden. Eigentlich sollten die Prüfungen <strong>in</strong> allen drei Fächern gleichzeitigstattf<strong>in</strong>den. Aber Herr Waldschmidt war gerade auf Urlaub zu Hause.Deshalb wollten wir nicht länger warten. Obwohl me<strong>in</strong> Englisch-Pr<strong>of</strong>essor, Herr Roeder, im Krankenhaus lag, fand am 23. Dezember1940 die mündliche Prüfung für Sanskrit und Slawistik statt. Die Prüfungfür Englisch musste nachgeholt werden. An diesem Tag schrieb ich <strong>in</strong>


102 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>me<strong>in</strong> Tagebuch:Bereits um fünf Uhr morgens war ich wach. Ich dachte an die mündliche Prüfung undkonnte nicht mehr e<strong>in</strong>schlafen. Um sieben Uhr stand ich auf. Nach dem Frühstück lasich. Ich war sehr nervös, konnte mich nicht konzentrieren.Um halb zehn Uhr g<strong>in</strong>g ich zum Verwaltungsgebäude der Universität. Auf demWeg fühlte ich mich wie e<strong>in</strong> Gefangener vor der H<strong>in</strong>richtung. Um zehn Uhr beganndann die Prüfung. Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt stellte Fragen, Pr<strong>of</strong>essor Deichgräber saßneben ihm. Pr<strong>of</strong>essor Braun kam etwas später. Die Prüfung im Hauptfach verliefglatt. Aber als Pr<strong>of</strong>essor Braun mit se<strong>in</strong>en Fragen begann, wurde ich sehr nervös. DieFragen, auf die ich mich gut vorbereitet hatte, stellte er nicht. Se<strong>in</strong>e Fragen warensehr e<strong>in</strong>fach und bezogen sich auf allgeme<strong>in</strong>e Kenntnisse. Ich konnte aber nicht mehrdenken und war voller Panik. Um zwölf Uhr war die Prüfung beendet.Ich b<strong>in</strong> sehr traurig. Ob ich die Prüfung bestehe oder nicht, das ist jetzt für mich nichtmehr die Hauptsache.Ich hatte <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben so viele Prüfungen abgelegt und hätte niegedacht, dass ich bei der letzten Prüfung so panisch reagieren würde. ImTagebuch vom nächsten Tag steht:Ich b<strong>in</strong> fassunglos. Pr<strong>of</strong>essor Sieg und Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt f<strong>in</strong>den me<strong>in</strong>e Arbeitgut. Pr<strong>of</strong>essor Krause me<strong>in</strong>t, das sei e<strong>in</strong>e selten gute Arbeit. Ich glaube, ich kann diePrüfung gut bestehen. Aber bei der Prüfung für Russisch von gestern, da habe ich e<strong>in</strong>sehr schlechtes Gefühl. Was ich weiß, hat er nicht gefragt; auf das, was er fragte, hatteich mich nicht vorbereitet. Ich b<strong>in</strong> so deprimiert, immer noch.Das waren die Nachwirkungen der Prüfung. Aber am Abend desselbenTages heißt es <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Tagebuch:Kurz vor sieben Uhr g<strong>in</strong>g ich zu Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt. Er hatte mich zumWeihnachtsfest e<strong>in</strong>geladen. Es schneite, aber es war nicht kalt. Auf dem Weg dachteich nur an die Prüfung von gestern. Ich wollte bei ihm nachfragen. Aber als ich se<strong>in</strong>Haus betrat, gratulierte er mir und sagte, me<strong>in</strong>e Doktorarbeit sei sehr gut. Indologie


16 Studienabschluss und Rückkehrversuche 103sehr gut, Slawistik sehr gut. Ne<strong>in</strong>, das habe ich nicht erwartet. Ich b<strong>in</strong> Pr<strong>of</strong>essorBraun sehr dankbar.Der Sohn von Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt spielte zuerst Geige, dann aßen wir zusammen.Wir zündeten die Kerzen am Weihnachtsbaum an. Wir tranken, aßen Kuchen undplauderten. Halb elf g<strong>in</strong>g ich zurück nach Hause und dachte immer noch an diegestrige Prüfung.Am 19. Februar 1941, als es Pr<strong>of</strong>essor Roeder wieder besser g<strong>in</strong>g, holteich die mündliche Prüfung für Englisch nach. Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidtnahm daran teil. Ich bekam wieder e<strong>in</strong> „Sehr gut“. E<strong>in</strong>schließlich derDoktorarbeit also <strong>in</strong>sgesamt viermal „Sehr gut“. Damit hatte ich dasGesicht der Ch<strong>in</strong>esen gerettet – e<strong>in</strong> Trost für me<strong>in</strong> Vaterland, für die Seeleme<strong>in</strong>er verstorbenen Mutter. Die letzte für den Erwerb des Doktortitelserforderliche Prüfung war beendet.Me<strong>in</strong>e Doktorarbeit löste bei Pr<strong>of</strong>essor Krause e<strong>in</strong>e gewisse Sensationaus. Er war e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternational bekannter Experte für kontrastive L<strong>in</strong>guistik,e<strong>in</strong>e hervorragende Persönlichkeit. Schon von K<strong>in</strong>dheit an bl<strong>in</strong>d aufbeiden Augen, besass er e<strong>in</strong> außerordentliches Gedächtnis. Was er e<strong>in</strong>malhörte, konnte er genau wiedergeben, so exakt wie e<strong>in</strong>e Tonbandaufnahme.Pr<strong>of</strong>essor Krause beherrschte e<strong>in</strong> Dutzend alte und neuere Sprachen,darunter e<strong>in</strong>ige nordeuropäische. Man las ihm se<strong>in</strong> Vorlesungsmanuskriptvor der Vorlesung vor, dann konnte er fast wortwörtlich zwei Stundendarüber vortragen. Er hatte bei Pr<strong>of</strong>essor Sieg Tocharisch studiert. Se<strong>in</strong>Werk „Die Grammatik des Tocharischen“ war allgeme<strong>in</strong> anerkannt. Eskonnte sich mit den Grammatiken von Sieg, Siegl<strong>in</strong>g und Schulze messen.Pr<strong>of</strong>essor Krause schätzte den Anhang me<strong>in</strong>er Arbeit über die Endung„matha“ sehr hoch e<strong>in</strong>. Im Altgriechischen, so se<strong>in</strong>e Worte, gäbe es e<strong>in</strong>eähnliche Endung. Diese parallele Ersche<strong>in</strong>ung sei von bahnbrechenderBedeutung für die Forschung der <strong>in</strong>do-europäischen kontrastiven


104 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>L<strong>in</strong>guistik. Am 14. Januar 1941 hielt ich das <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Tagebuch fest:Hartmann war auch da. Er gratulierte mir zur Doktorarbeit und sagte, Pr<strong>of</strong>essorKrause sei über me<strong>in</strong>e Arbeit voll des Lobes. Die Endung „matha“ sei e<strong>in</strong>e wichtigeEntdeckung. Er habe diesen Abschnitt s<strong>of</strong>ort abgeschrieben, und daraus könnte siche<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Entdeckung ergeben. Das erzählte mir Frau Boehncke. Ich selbstf<strong>in</strong>de me<strong>in</strong>e Arbeit zwar nicht schlecht, aber auch nicht als etwas Besonderes. Ich fühlemich wirklich wie im siebten Himmel.Soviel über die mündliche Prüfung und me<strong>in</strong>e Doktorarbeit. Ich habedavon so viel berichtet, weil es sich um etwas ganz Wichtiges <strong>in</strong> me<strong>in</strong>emzehnjährigen Studium <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> handelte.Warum wollte ich unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en Doktortitel erlangen? Es gab allgeme<strong>in</strong>e,aber auch besondere Gründe. Viele große Gelehrte <strong>in</strong> der neuerench<strong>in</strong>esischen Geschichte wie Wang Guowei, Liang Qichao, Chen Y<strong>in</strong>que,Guo Moruo und Lu Xun hatten zwar alle ke<strong>in</strong>en Doktortitel, aber dennoche<strong>in</strong>e große Bedeutung <strong>in</strong> der Wissenschaftsgeschichte. Das wusste ich.Sie alle waren ungewöhnliche Genies. E<strong>in</strong> Doktortitel zählte für sie nichtviel. Ich fragte me<strong>in</strong> Herz. Ne<strong>in</strong>, ich war nicht wie sie. Ich schätzte michniemals so hoch e<strong>in</strong> und war gern bereit, e<strong>in</strong> normaler Mensch zu se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>normaler Mensch aber ohne glänzenden Doktortitel würde sicher bei derSchlacht um die Reisschüssel verlieren. Das war das erste Motiv. Das zweiteMotiv: Damals <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a betrachtete ich die stolzierenden ch<strong>in</strong>esischenAuslandsstudenten mit e<strong>in</strong>em kritischen Blick. Ich war davon überzeugt,dass sie im Ausland bloß e<strong>in</strong>ige <strong>Jahre</strong> Gulasch gekocht hatten. Wieder imLande, spielten sie sich groß auf, besonders vor den Ch<strong>in</strong>esen, die nicht imAusland gewesen waren. Wäre ich nicht im Ausland gewesen und verträtediese kritische Ansicht, könnte man mich mit e<strong>in</strong>em Fuchs vergleichen,der ke<strong>in</strong>e We<strong>in</strong>trauben zu essen bekommt und sich trotzdem beklagt, sieseien zu sauer. Das wollte ich nicht. Deshalb musste ich <strong>in</strong>s Ausland gehen


16 Studienabschluss und Rückkehrversuche 105Dissertation von Dr. Ji Xianl<strong>in</strong>Von Dr. Ji selbst geschriebener Lebenslauf


106 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>und den Doktortitel erwerben. Dieses Motiv war zwar lächerlich, aberehrlich. Der Doktortitel lag wie e<strong>in</strong> Schatten vor me<strong>in</strong>en Augen, mal nah,mal fern, mal dunkel, mal klar, manchmal zum Greifen nahe, manchmalso weit entfernt wie der Horizont, den man sehen, aber nicht erreichenkann. Dieser Doktortitel leuchtete vor mir auf und verdunkelte sich. Ichwar manchmal niedergeschlagen, manchmal außerordentlich fröhlich.Stimmungen e<strong>in</strong>es ganz normalen Menschen eben.Me<strong>in</strong> lang gehegter Wunsch war also endlich <strong>in</strong> Erfüllung gegangen. Ichdachte gleich an die Heimat und an me<strong>in</strong>e Familie. E<strong>in</strong> fremdes Land,und wenn es noch so schön ist, ist doch nicht de<strong>in</strong> Land. Treibst du dichauch weit <strong>in</strong> der Ferne herum, e<strong>in</strong>es Tages wirst du heimkehren. 1942erkannte die deutsche Regierung die verräterische Regierung von WangJ<strong>in</strong>gwei <strong>in</strong> Nanj<strong>in</strong>g an. Die Guom<strong>in</strong>gdang-Regierung sah sich gezwungen,ihre Gesandtschaft aus <strong>Deutschland</strong> abzuziehen und <strong>in</strong> die Schweiz zuverlegen. Zu diesem Zeitpunkt war me<strong>in</strong> Entschluss gereift, <strong>Deutschland</strong>zu verlassen. Ich wollte über die Schweiz nach Ch<strong>in</strong>a zurückkehren. Dochzunächst plante ich, me<strong>in</strong>en Schulkameraden Zhang Tianl<strong>in</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>zu besuchen, um mich bei ihm über die Möglichkeiten dieser Reise zu<strong>in</strong>formieren. Nachdem me<strong>in</strong> Entschluss feststand, verabschiedete ichmich von Lehrern und Freunden. Alle bedauerten me<strong>in</strong>e Entscheidungund waren beim Abschied sehr traurig, vor allem Frau Oppel, me<strong>in</strong>eVermieter<strong>in</strong>. Ihr Mann war <strong>in</strong> dieser Zeit gestorben, ihr Sohn hattegeheiratet und wohnte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Stadt. Ich war ihr e<strong>in</strong>zigerVertrauter. Sie behandelte mich wie ihren leiblichen Sohn. Ich er<strong>in</strong>neremich noch, dass ich <strong>in</strong> der Nacht, <strong>in</strong> der ihr Mann starb, den Arzt holte.Im Haus hielten wir beide die Totenwache am Sarg. Nun würde sie alle<strong>in</strong><strong>in</strong> ihren fünf Räumen zurückbleiben, trostlos und tragisch. Wie sollte siedas ertragen! Als sie von me<strong>in</strong>en Plänen hörte, jammerte und we<strong>in</strong>te sie.


16 Studienabschluss und Rückkehrversuche 107Sieben geme<strong>in</strong>same <strong>Jahre</strong> im gleichen Boot durch Sturm und Regen –und plötzlich mussten wir uns für immer trennen. Wann würden wir unswiedersehen? S<strong>of</strong>ort traten mir Tränen <strong>in</strong> die Augen.In Berl<strong>in</strong> erfuhr ich, dass schon die Reise <strong>in</strong> die Schweiz vollerSchwierigkeiten steckte. Weitaus problematischer aber war, von dort <strong>in</strong>die Heimat zurück zu kehren. Das hieß: Ich musste weiter <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>bleiben. Der Krieg dauerte nun schon drei <strong>Jahre</strong>, kle<strong>in</strong>e Bombardementsgab es ab und zu, aber die großen Bombenangriffe hatten noch nichtbegonnen. Das Leben verlief ruhig, allerd<strong>in</strong>gs wurden die Lebensmittelknapp. Auf den Berl<strong>in</strong>er Straßen herrschte immer noch viel Betrieb,die Passanten kamen und g<strong>in</strong>gen. Sie wirkten nicht ängstlich. Ich nahmmir die Zeit und stattete dem großen Pädagogen, Psychologen undPhilosophen Eduard Spranger e<strong>in</strong>en Besuch ab. Außerdem besuchte ichPr<strong>of</strong>essor Siegl<strong>in</strong>g <strong>in</strong> der Preußischen Akademie. Er hätte mit Pr<strong>of</strong>essorSieg geme<strong>in</strong>sam Tocharisch lesen können. Se<strong>in</strong>e Werke kannte ich schonlange, war ihm aber persönlich noch nicht begegnet. Er sah e<strong>in</strong>fach undehrlich aus und war verschlossen und wortkarg. Während des Krieges laser ununterbrochen weiter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Büchern - e<strong>in</strong> typischer deutscherGelehrter. Ich blieb e<strong>in</strong>ige Tage <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, dann fuhr ich am 30. Oktober1942 zurück nach Gött<strong>in</strong>gen.Me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> freute sich, als hätte sie e<strong>in</strong>en goldenen Phönixbekommen. Auch ich fühlte mich wieder wohl zu Hause, wie e<strong>in</strong>heimgekehrter Wanderer. Es gab ke<strong>in</strong>e H<strong>of</strong>fnung mehr, <strong>in</strong> die Heimatzurückzukehren. Ich musste mich also mit der Situation abf<strong>in</strong>den und alleIllusionen aufgeben. Das bedeutete: Leben oder Sterben <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>,Freud oder Leid mit me<strong>in</strong>er Vermieter<strong>in</strong> zu teilen.So nahm me<strong>in</strong> gleichmäßiges und e<strong>in</strong>töniges Leben wieder se<strong>in</strong>en Lauf.Jeden Tag frühstückte ich zu Hause, anschliessend g<strong>in</strong>g ich zum Gauß-


108 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Weber-Gebäude, arbeitete dort bis mittags und aß dann wie gewöhnlich<strong>in</strong> der Gaststätte. Danach g<strong>in</strong>g ich <strong>in</strong>s Institut. Ich war jetzt nicht mehrStudent, sondern Lehrer. Ich hatte mich exmatrikuliert. Somit brauchte ichnicht mehr zum Unterricht zu laufen. Stattdessen erteilte ich gelegentlichim Institut für S<strong>in</strong>ologie den deutschen Studenten Unterricht. Die meisteZeit konzentrierte ich mich aufs Lesen und Schreiben, beschäftige michweiter mit Sanskrit im Zusammenhang mit dem Buddhismus und arbeitetewieder an der Thematik me<strong>in</strong>er Doktorarbeit. Abgesehen vom Hungeroder gelegentlichen Luftangriffen verlief das Leben regelmäßig und ruhig.Dem Institut gegenüber lag die Universitätsbibliothek. Ich benötigte e<strong>in</strong>eMenge seltene und außergewöhnliche Nachschlagewerke. In der Bibliothekgab es alle. Hier war e<strong>in</strong> idealer Ort zum Studieren und zum Schreiben.Deshalb waren die Früchteme<strong>in</strong>es Schreibens beträchtlich.Innerhalb von fünf <strong>Jahre</strong>n nachder Promotion veröffentlichteich e<strong>in</strong>ige lange Artikel <strong>in</strong> der„Universitätszeitschrift derGött<strong>in</strong>ger-Akademie“. In jedemdieser Artikel, so kann ichsagen, gab es neue Ideen. Siewerden noch heute, be<strong>in</strong>ahee<strong>in</strong> halbes Jahrhundert später,zitiert. Das war die goldeneZeit me<strong>in</strong>er wissenschaftlichenArbeit. Sie kehrte später niemehr zurück.SchillerwieseEs g<strong>in</strong>g uns zwar gut, aber


16 Studienabschluss und Rückkehrversuche 109W<strong>in</strong>dungen und Wendungen gab es auch <strong>in</strong> unserem Leben. Die deutschefaschistische Regierung erkannte das Wang J<strong>in</strong>gwei-Marionettenregime an.Das bee<strong>in</strong>trächtigte die Aufenthaltssituation der ch<strong>in</strong>esischen Studenten <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong>: Wo konnte man e<strong>in</strong>e Verlängerung des Passes beantragen?Welcher Staat sollte ihn ausstellen? Das war e<strong>in</strong> entscheidendes Problem,das schnell gelöst werden musste. Ich sprach mit Zhang Wei und anderench<strong>in</strong>esischen Studenten darüber, und wir beschlossen, uns im Polizeirevierals Staatenlose zu melden. Nach <strong>in</strong>ternationalem Recht ist das möglich.„Staatenlos“ bedeutete, dass man ke<strong>in</strong>em Land gegenüber Pflichten hatte,aber auch von ke<strong>in</strong>em Land geschützt wurde. Das war sicher e<strong>in</strong> Risiko,aber wenn es nicht anders g<strong>in</strong>g, musste auch dieser Schritt se<strong>in</strong>. Seitdieser Zeit waren wir völlig frei, frei wie e<strong>in</strong> Vogel am Himmel, den jederverletzen konnte.Tatsächlich aber verletzte uns niemand. In der Zeit der Bombardementsund der Hungersnot g<strong>in</strong>g es mir recht gut. Ich trat mechanisch auf dieStraße, die ich sieben <strong>Jahre</strong> lang überquert hatte, kannte jedes Haus, jedenBaum. Selbst mit geschlossenen Augen hätte ich mich nicht verlaufen.Unerträglich <strong>in</strong>dessen waren die Sonntage. Gewöhnlich wanderte ichsehr früh zur Schillerwiese. Die Schritte bewegten sich wie von selbst<strong>in</strong> jene Richtung. Die Landschaft war unverändert. R<strong>in</strong>gs um die Wieseragten grüne Bäume empor, frische grüne Gräser dufteten. Doch ich warsehr e<strong>in</strong>sam. Me<strong>in</strong>e ch<strong>in</strong>esischen Freunde, die ich fast jede Woche hiergetr<strong>of</strong>fen hatte, lebten jetzt weit vone<strong>in</strong>ander entfernt. Das menschlicheLeben war unergründlich.Ich war traurig und e<strong>in</strong>sam.


110 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>17. Das großeBombardementDas große Bombardement kam doch.Der Krieg tobte nun bereits vier <strong>Jahre</strong>. Schon <strong>in</strong> den ersten zwei <strong>Jahre</strong>nflogen die englischen und amerikanischen Flugzeuge über Berl<strong>in</strong> undwarfen Bomben ab. Aber der Stand der Technik war damals noch rechtniedrig. Zunächst wurden nur die oberen Stockwerke der Häuser zerstört,nicht aber das ganze Haus. In allen Gebäuden, die über Keller verfügten,entstanden stabile Luftschutz-Räume, <strong>in</strong> denen die Bewohner erst e<strong>in</strong>malsicher waren. Wenn obere Stockwerke getr<strong>of</strong>fen wurden, bebte der Kellernur etwas. Die Häuptl<strong>in</strong>ge des deutschen Faschismus waren allesamtExperten im Lügen. Sie ergriffen jede Gelegenheit für ihre Propagandaund benutzten dazu Radios und Zeitungen. Sie verspotteten die alliiertenStreitkräfte und taten so, als ob deren Flugzeuge aus Pappe, die Bombenaus Holz hergestellt wären und das deutsche Luftschutzsystem ausbronzenen Mauern und eisernen Wänden bestünde.Doch das g<strong>in</strong>g nicht lange so. Der alliierte Bombenangriff verstärktesich rasend, die Zahl der Flüge und der Flugzeuge nahm rapide zu. Die


17 Das große Bombardement 111Bomber kamen nun Tag und Nacht, die Durchschlagskraft der Bombenwurde täglich grösser, sie durchbohrten mehr und mehr Stockwerke.Zum Schluss konnten selbst Häuser mit vielen Stockwerken nichtmehr standhalten und auch im Keller war nun niemand mehr sicher.Als ich Berl<strong>in</strong> verließ, flogen tagsüber englische Flugzeuge und nachtsdie amerikanischen. Sie rollten <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> „Teppiche“ aus. „Teppichausrollen“ war <strong>in</strong> dieser Zeit e<strong>in</strong> sehr aktueller Begriff. Er bedeutete, dassjedes Flugzeug <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Serie im Abstand von wenigen Metern Bombenabwarf, so dass e<strong>in</strong> lückenloses Bombardement entstand – so wie manim Wohnzimmer e<strong>in</strong>en Teppich ausrollt. Jetzt wussten die Häuptl<strong>in</strong>gedes Faschismus nicht mehr, wie sie ihre Prahlereien vertuschen konnten.Niemand redete mehr von Pappflugzeugen oder Holzbomben.Gött<strong>in</strong>gen war e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Stadt. Große Städte wurden der Reihe nachbombardiert, kle<strong>in</strong>e dagegen weniger massiv angegriffen. Gött<strong>in</strong>generlebte das zweimal <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>em Umfang. So blieb der Stadt das Schicksaldes „Teppich-Bombardements“ erspart. Die Menschen hier waren<strong>in</strong>sgesamt etwas sorgloser. Sie hatten <strong>in</strong> der ganzen Stadt ke<strong>in</strong>en richtigenLuftschutzbunker gebaut. Heulten die Sirenen, rannten sie <strong>in</strong> den Keller.Die Verdunklung war streng. Jeden Abend lag die Stadt im Dunkel,regelmäßig hieß es: „Licht aus! Licht aus!“ Der Ruf lag wie e<strong>in</strong> Echo <strong>in</strong>der Luft und klang recht lyrisch. E<strong>in</strong>es Nachts suchten uns englischeFlugzeuge heim. Ich blieb gleichgültig und lag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Bettdecke gewickeltim Bett. Doch dann hörte ich, dass e<strong>in</strong>e Bombe nicht weit von mirexplodierte. Die oberen Fenster waren zerbrochen, und die Situationwurde brenzlig. Ich floh Hals über Kopf <strong>in</strong> den Keller und sagte mir, dassich <strong>in</strong> Zukunft vorsichtiger se<strong>in</strong> müsse.Früh am Morgen des nächsten Tages g<strong>in</strong>g ich <strong>in</strong> die Stadt. Überall aufden Straßen und <strong>in</strong> den Gassen hörte man Menschen Glasscherben


112 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>wegfegen. Die englischen Flugzeuge hatten sich <strong>of</strong>fenbar e<strong>in</strong>en Spaßgemacht. Sie hatten sogenannte Luftexplosionsbomben abgeworfen, dieke<strong>in</strong>e Menschen verwunden, sondern nur die Fensterscheiben der Häuserzerbrechen sollten. E<strong>in</strong>e solche Bombe fiel im West- und im Ostteil derStadt. Die Fensterscheiben wurden vom Luftdruck zerstört.E<strong>in</strong>e merkwürdige Geschichte erlebte ich: Ich lief e<strong>in</strong>e Straße entlang,die vom Lärm der Aufräumgeräusche erfüllt war, und erreichte denPlatz e<strong>in</strong>er Kaserne. Dort sah ich, wie e<strong>in</strong> alter Herr sich bückte, umetwas genau zu beobachten. Er hielt weder e<strong>in</strong>en Besen noch fegteer Glas. Als ich auf e<strong>in</strong>ige Schritte herangekommen war, erkannte ich<strong>in</strong> ihm Pr<strong>of</strong>essor Ludwig Prandtl, den Vater der Aerodynamik, e<strong>in</strong>eweltberühmte Autorität <strong>in</strong> der Luftfahrtforschung. Ich begrüßte ihn:„Guten Morgen, Herr Pr<strong>of</strong>essor!“ Er hob den Kopf, schaute mich an underwiderte: „Guten Morgen!“ Dann erzählte er mir, er betrachte geradedie kurze Mauer um den Platz, um herauszuf<strong>in</strong>den, auf welche Weise derLuftdruck, der von der Luftexplosionsbombe ausgelöst worden waren,die Mauer zerstört hatte. Herr Prandtl sprach vor sich h<strong>in</strong>: „E<strong>in</strong>e selteneGelegenheit, wirklich! Me<strong>in</strong> Labor könnte auch beim besten Willen nichtso gut ausgerüstet werden.“ Zuerst war ich erstaunt, fühlte dann abertiefen Respekt. Was hätte ich diesem alten Pr<strong>of</strong>essor vorwerfen können,der, ohne auf se<strong>in</strong> Leben zu achten, se<strong>in</strong>e Forschungen betrieb?E<strong>in</strong> ungewöhnliches, doch ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>maliges Verhalten. Aus München<strong>in</strong> Süddeutschland hörte ich Folgendes: Als e<strong>in</strong>es Nachts die alliiertenFlugzeuge die Stadt teppichartig bombardierten, <strong>in</strong> der ganzen Stadtdas Feuer während des Bombardements loderte und die Menschen wiefliehende Fische aus den oberen Stockwerken <strong>in</strong> den Keller oder <strong>in</strong> denBunker schlüpften, tat e<strong>in</strong> alter Herr das Gegenteil. Er lief von untennach oben, genau so eilig und geradezu ungeduldig. Er war Pr<strong>of</strong>essor


17 Das große Bombardement 113für Geophysik. Er me<strong>in</strong>te, das sei e<strong>in</strong>e kostbare Gelegenheit für e<strong>in</strong>Experiment. Im Labor habe man diese Chance nicht: Die ganze Stadtzitterte und bebte. Über se<strong>in</strong>em Kopf kreisten die Flugzeuge, die Bombenkonnten jederzeit auf se<strong>in</strong>en Kopf fallen. Er achtete überhaupt nichtdarauf und war bereit, für die Wissenschaft se<strong>in</strong> Leben zu opfern. Waskann man gegen e<strong>in</strong>en solchen Gelehrten sagen?Das große Bombardement verbreitete sich über das ganze Land. Wiereagierte das deutsche Volk? Was würden die faschistischen Häuptl<strong>in</strong>ge tun?Bei jeder Bombardierung hockten die Deutschen die halbe Nacht lang imKeller oder im Bunker. Sie litten an Hunger und Kälte, lebten <strong>in</strong> Angst undSchrecken, aber sie verhielten sich ruhig. Ob sie sich im Stillen beklagtenund beschwerten, weiß ich nicht. Die faschistischen Anführer verkündetens<strong>of</strong>ort, dass alle Bewohner der bombardierten Städte e<strong>in</strong>e „Sonderration“zugeteilt bekämen: e<strong>in</strong>ige Kaffeebohnen und andere Sachen. Ausländererhielten nichts. Wer die Deutschen nicht kennt, kann sich kaum vorstellen,welche Schwäche sie für Kaffee haben. In e<strong>in</strong>er Zeitschrift war e<strong>in</strong>eKarikatur dargestellt: In e<strong>in</strong>en Plat<strong>in</strong>r<strong>in</strong>g war ke<strong>in</strong> Edelste<strong>in</strong>, ke<strong>in</strong> Diamante<strong>in</strong>gelegt, sondern e<strong>in</strong>e Kaffeebohne. Das macht deutlich, wie wertvollKaffee für sie war. Das Bombardement hatte die Menschen erschüttert.Nun fielen durch die Güte der Herrscher e<strong>in</strong>ige Kaffeebohnen vomHimmel, also tranken die Menschen e<strong>in</strong>e Tasse Kaffee, waren wieder frischund sangen begeistert im Chor: „<strong>Deutschland</strong> wird siegen.“Nach dem ersten Bombenangriff auf Gött<strong>in</strong>gen wollte ich wachsambleiben. Heulten Sirenen, floh ich s<strong>of</strong>ort. Die englischen Flugzeuge kamenfast jeden Tag, deshalb brauchte ich nicht auf den Alarm zu warten.Nach dem Frühstück ergriff ich me<strong>in</strong>e Ledertasche voller Manuskripteund versteckte mich auf dem Berg vor dem Luftangriff. E<strong>in</strong>ige ch<strong>in</strong>esischeStudenten schlossen sich an. Sie hatten ihre Wertsachen mitgebracht.


114 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Auffällig war, dass Liu Xianzhi und Teng Wanjun <strong>in</strong> ihrem Korb wederManuskripte noch Lebensmittel trugen, sondern e<strong>in</strong>e Schildkröte.Um die Geschichte dieser Schildkröte zu erzählen, muss ich etwasausholen. In <strong>Deutschland</strong> herrschte großer Mangel an Nahrungsmitteln.Aus irgende<strong>in</strong>em besetzten Land führten die Faschisten e<strong>in</strong>e MengeSchildkröten als Nahrungsmittel e<strong>in</strong>. Aber die Deutschen waren beim Essenrecht konservativ. Vor diesen Tierchen, die heldenhaft mit Hasen um dieWette zu laufen wagten, hatten sie e<strong>in</strong> bisschen Angst. Ne<strong>in</strong>, sie wollten sichdamit ihren Magen nicht vollstopfen! Die deutsche Regierung propagiertemit großem Aufwand den hohen Nährwert der Schildkröten. Sie zitierteaus klassischen Werken und versuchte mit Statistiken und Tabellen zubeweisen, dass Schildkrötenfleisch sehr nahrhaft sei. Das Ehepaar Liu hatte<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Schildkröte gekauft. Liu und se<strong>in</strong>e Frau betrachteten diesesTierchen mit dem dicken Panzer und den fl<strong>in</strong>ken Äugle<strong>in</strong>. Barmherzigkeitstieg <strong>in</strong> ihnen auf. Sie brachten es nicht übers Herz, die Schildkröte zutöten. Sie zogen sie auf und brachten sie von Berl<strong>in</strong> mit nach Gött<strong>in</strong>gen.Die Schildkröte begleitete uns jeden Tag zum Berg, um den Bomben zuentfliehen. Wir streckten uns auf der Wiese aus und sahen, wie englischeFlugzeuge <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Formation über Gött<strong>in</strong>gen flogen. Manchmal lagen wire<strong>in</strong>ige Stunden dort. Im grünen Busch neben uns öffnete die Schildkröteihre kle<strong>in</strong>en Augen. Sie kroch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Tempo voran, als wollte sie mitdiesen großen Flugzeugen am Himmel um die Wette laufen. Wir lagen s<strong>of</strong>röhlich auf der Wiese, als befänden wir uns nicht im Chaos, sondern imParadies. Die todbr<strong>in</strong>genden Flugzeuge brummten am Himmel, und dasBrummen verwandelte sich <strong>in</strong> diesem Augenblick zu e<strong>in</strong>er himmlischenMusik. Wir hatten alles um uns herum vergessen!


18 In der Hölle des Hungers 11518. In der Hölledes HungersMit der Bombardierung kam der Hunger.In me<strong>in</strong>er Anfangszeit <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> war die Versorgung sehr reichhaltig.Es gab alles, was das Herz begehrte, niemand wusste, was Hungerbedeutete. Die faschistischen Anführer waren von Natur aus aggressiv.Schon lange kündigten sie drohend an: „Kanonen ja, Butter ne<strong>in</strong>.“Anfangs hatte auf dem Tisch der Deutschen immer Butter gestanden.Ihre Mägen wurden mit Sch<strong>in</strong>ken vollgestopft. Doch bereits zu Beg<strong>in</strong>ndes <strong>Jahre</strong>s 1937 begann die Rationierung der Lebensmittel. Zuerstwurde die Buttermenge begrenzt, dann das Fleisch, zum Schluss Brotund Kart<strong>of</strong>feln. Im Jahr 1939 entfesselte Hitler skrupellos den ZweitenWeltkrieg. Die Deutschen mussten ihre Gürtel enger und enger schnallen.Die Kanonen-Butter-Parole wurde Wirklichkeit.Ich wurde zwar nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er rosigen Zeit geboren, aber <strong>in</strong> me<strong>in</strong>erHeimat hatte ich nie richtig gehungert. In me<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit waren wir


116 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>zu Hause arm. Innerhalb e<strong>in</strong>es <strong>Jahre</strong>s konnten wir höchstens zwei- oderdreimal Weizenmehl essen, aber mit der Spreu und mit Gemüse liessensich unsere Mägen notdürftig füllen. Jetzt <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> litt ich wirklichunter Hunger. Wir Ch<strong>in</strong>esen aßen ohneh<strong>in</strong> nicht viel Fleisch. UnsereHauptnahrungsmittel zählten für Leute im Westen allenfalls als Beilagen.Früher mochte ich ke<strong>in</strong>e Butter. Während die deutsche Bevölkerung schonunter der Rationierung litt, lebte ich also noch sorgenfrei und gelassen.Als dann aber me<strong>in</strong>e Hauptnahrungsmittel Brot und Kart<strong>of</strong>feln begrenztwurden, da sah es nicht mehr so rosig aus. Als die Butter verschwundenwar, nahm ich stattdessen Margar<strong>in</strong>e. Gab man etwas davon <strong>in</strong> die Suppe,zeigten sich noch e<strong>in</strong> paar Fettaugen.Wer damit briet, hörte eigenartigeGeräusche <strong>in</strong> der Pfanne. Rauch stieg hoch, und die Margar<strong>in</strong>e g<strong>in</strong>g dar<strong>in</strong>auf. Vor dem Besuch e<strong>in</strong>er Gaststätte galt es, strategische Überlegungenanzustellen und die Bereitschaft zu prüfen, den Kellner e<strong>in</strong>e Fleischmarkeabschneiden zu lassen. Schwammen <strong>in</strong> der Suppe Fettaugen, gab es lauteRufe, um die Aufmerksamkeit der Tischnachbarn auf sich zu lenken. Allewaren aufs Höchste erfreut.Am schlimmsten war die Qualität des Brotes. Es wurde mit fragwürdigenZutaten gemischt – angeblich mit Fischpulver. Ob das stimmte, ließ sichweder widerlegen noch bestätigen. Blieb das Brot nur e<strong>in</strong>en Tag liegen,stank es schon. Nach dem Essen entwickelten sich dann Blähungen. DieDeutschen fanden es sehr unhöflich, wenn jemand <strong>in</strong> aller ÖffentlichkeitLuft abließ. Aber wer mit diesem Brot im Magen <strong>in</strong>s K<strong>in</strong>o g<strong>in</strong>g, hatte esschwer, die Anstandssitten e<strong>in</strong>zuhalten. Ich hörte selbst im K<strong>in</strong>o, wie dieFürze anschwollen, Welle auf Welle. Ich wollte nicht über die anderenlachen, weil ich selbst mit der Luft <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Bauch kämpfte und siehöflich zu unterdrücken versuchte. Vergeblich!Es gab noch andere <strong>in</strong>teressante Geschichten: E<strong>in</strong>mal brach ich alle


18 In der Hölle des Hungers 117Rekorde im Essen. Ich radelte mit e<strong>in</strong>er deutschen Frau aufs Land, umden Bauern beim Apfelpflücken zu helfen. Städter wurden damals umBeziehungen zu Bauern beneidet. Nur so war es möglich, durch dieH<strong>in</strong>tertür Lebensmittel zu bekommen, die nicht mehr zu kaufen waren.Die Frau kannte e<strong>in</strong>e Bauernfamilie, die uns zu sich <strong>in</strong>s Dorf e<strong>in</strong>lud. DieApfelbäume waren nicht sehr hoch, und es bedurfte nur e<strong>in</strong>er niedrigenLeiter. Äpfel s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> artenreich und e<strong>in</strong>e wichtige Obstsorte.Nachdem wir e<strong>in</strong>en halben Tag gearbeitet hatten, schenkte mir der Bauere<strong>in</strong>en Korb Äpfel, darunter die besten Arten, und dazu etwa fünf bissechs Kilo Kart<strong>of</strong>feln. Ich raste los, wie vom W<strong>in</strong>d getrieben. Unterwegsachtete ich nicht auf die Landschaft, sondern flitzte auf dem Fahrrad daranvorbei. Zu Hause kochte ich alle Kart<strong>of</strong>feln. Mit dem aufgesparten Zuckerschluckte ich sie auf e<strong>in</strong>mal h<strong>in</strong>unter, war aber immer noch nicht satt.Das Wort Hunger sagt sich leicht, aber viele haben noch nie richtiggehungert. Ich war e<strong>in</strong>er, der das wirkliche Fegefeuer des Hungersdurchmachte. Wie Hunger wirklich schmeckt, ist unbeschreiblich. Ichbewundere sehr die Religionsgelehrten aus dem Osten und dem Westen.Sie können menschliche Gefühle überraschend gut verstehen. In ihrerHölle steht der Hunger an erster Stelle der Qualen. Ch<strong>in</strong>a kennt auchdie Hölle, aber es ist e<strong>in</strong>e Importware, die aus Indien stammt. Die<strong>in</strong>dische Lehre über die Hölle enthält unvergleichliche E<strong>in</strong>sichten undtiefschürfende Gedanken. „Toter Teufel“ heißt auf Sanskrit „Preta“ undbedeutet „gestorbener Mensch“. Unter der Feder der Mönche, die diebuddhistischen Sutras übersetzten, wird das Wort mit „Hungerteufel“übertragen. Daran erkennt man, wie bedeutsam der Hunger <strong>in</strong> ihrenAugen ist. In den ch<strong>in</strong>esischen Sutra-Übersetzungen s<strong>in</strong>d überallDarstellungen der Hölle enthalten. Im „Dirgha _ gama-Sutra“, Band 19,f<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong>e repräsentative Beschreibung. Man unterscheidet acht


118 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>große Höllen: Die erste heißt Denken, sie besteht aus sechzehn kle<strong>in</strong>enHöllen, deren erste „Schwarzer Sand“ heißt, die zweite „Siedender Mist“,die dritte „Fünfhundert Nägel“, die vierte „Hunger“, die fünfte „Durst“,die sechste „E<strong>in</strong> Kupferkessel“, die siebte „Mehrere Kupferkessel“, dieachte „Ste<strong>in</strong>mühle“, die neunte „Eiter-Blut“, die zehnte „Fegefeuer“, dieelfte „Aschenfluss“, die zwölfte „Eiserne Kugel“, die dreizehnte „Axt“,die vierzehnte „Schakal und Wolf“, die fünfzehnte „Schwertbaum“ unddie sechzehnte „Eis“. Schon durch die Namen wird die Bedeutung derjeweiligen Hölle deutlich. Hunger nimmt dabei auch e<strong>in</strong>en Platz e<strong>in</strong>.Wie aber sieht dieser Hunger <strong>in</strong> der Hölle aus? Das „Dirgha _ gama-Sutra“beschreibt:„Preta kommt <strong>in</strong> die Hölle des Hungers. Der Höllenwärter fragt: ,Dukommst hierher, was wünschst du?‘ Preta antwortet: ,Ich habe Hunger!‘Der Wächter fasst ihn, legt ihn auf e<strong>in</strong> glühendes Eisen und streckt se<strong>in</strong>eGlieder aus. Mit e<strong>in</strong>em Haken öffnet der Wächter se<strong>in</strong>en Mund und stopftglühende Eisenkugeln h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Die Lippen, die Zunge von der Kehle biszum Bauch werden alle durch und durch verbrannt.“Das ist natürlich die Phantasie der <strong>in</strong>dischen Religionsgelehrten. Diewestlichen Gelehrten stellen sich die Hölle vor wie <strong>in</strong> der „GöttlichenKomödie“ von Dante Alighieri. Im sechsten Kapitel begegnet Dante <strong>in</strong>der Hölle e<strong>in</strong>em Monstrum mit großem blutigen Maul und vorstehendenZähnen. Der Begleiter Dantes bückt sich, nimmt e<strong>in</strong>e Handvoll Erdeund steckt sie dem Monstrum, das wie e<strong>in</strong> Hund bellt und nach etwasEssbarem verlang, <strong>in</strong>s Maul. Jetzt hat es etwas im Maul und ist ruhig. Diewestliche Höllenbeschreibung wirkt, wie der Vergleich zeigt, neben deröstlichen ausgesprochen schwach.Warum machen sich die östlichen und westlichen ReligionsgelehrtenGedanken über die Hölle und den Hunger? Sie glauben vielleicht, dass der


18 In der Hölle des Hungers 119Hunger sehr schwer zu ertragen sei und deshalb die Bösen <strong>in</strong> der Hölleals Strafe erwarte. Über diese Frage will ich aber momentan nicht weiterdiskutieren. Auf jeden Fall befand ich mich <strong>in</strong> der Hölle des Hungers.Hätte mir jemand glühende Eisenkugeln oder Erde <strong>in</strong> den Mund gesteckt,ich hätte beides ohne zu zögern verschluckt, um den unerträglichenHunger zu stillen. Auch wenn me<strong>in</strong> Bauch verbrannt wäre.Um diese Zeit las ich gerade im Orig<strong>in</strong>al „Der Revisor“ von NikolaiGogol. In der ersten Szene des zweiten Aktes gibt es e<strong>in</strong>en Monolog vonAuclipu, der im Bett des Gastgebers liegt:„Der Hotelbesitzer sagt, wenn die alten Schulden nicht beglichen werden,würde er uns ke<strong>in</strong> Essen anbieten. Woher bekommen wir aber das Geld?Oh, me<strong>in</strong> Gott, wie schön wäre es, wenn wir nur etwas Suppe hätten. Ichkönnte jetzt die ganze Welt verspeisen.“Wie anschaulich! Gogol hat sicher den Hunger gekannt, sonst hätte ernicht schreiben können, dass man die ganze Welt verschlucken wollte.Durch langes Hungern werden die Menschen mager. Manche Menschenfürchten heute Fettleibigkeit. Sie essen weniger, um schlank zu werden. Siegeben sich viel Mühe dabei, aber es hilft nicht viel. E<strong>in</strong>ige sagen: „Schon,wenn ich Wasser tr<strong>in</strong>ke, werde ich dicker.“ Das mag heute stimmen, aberdamals traf es nicht zu. Me<strong>in</strong> Vermieter ist während des schweren Kriegesan e<strong>in</strong>er Herzkrankheit gestorben. Er war ehemals dick. Kurz vor se<strong>in</strong>emTod wog er zwanzig bis dreißig Kilo weniger als vorher. Er war hagergeworden. Ich selbst war nicht dick, mir fehlte e<strong>in</strong>fach die Basis zumAbnehmen. Aber der Hunger h<strong>in</strong>terließ Wunden. Ich hatte das Gefühlder Sättigung verloren. Dieser Zustand dauerte etwa acht <strong>Jahre</strong>. Erst <strong>in</strong>der Schweiz erholte ich mich langsam. Doch dazu später mehr.


120 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>19. Gemütsruhe aufdem BergeIch befand mich also <strong>in</strong> der Hölle des Hungers. H<strong>in</strong>zu kam nun nochder Schrecken der Flugzeuge über me<strong>in</strong>em Kopf. Me<strong>in</strong> Leben warzehnmal bitterer als das von Preta.E<strong>in</strong> Vergleich: In e<strong>in</strong>er dramatischen Heldens<strong>in</strong>fonie gibt es auch e<strong>in</strong>eschöne Sonate von Mozart.Das war für mich der Gött<strong>in</strong>ger Wald.Die Berge von Gött<strong>in</strong>gen bestanden nicht aus gezackten Felsen, sondernmehr aus Erdreich, wirkten aber imposant. Der Bismarck-Turm ragteüber alle Berge empor, se<strong>in</strong>e Spitze reichte bis <strong>in</strong> die Wolken. Von weitemsah der Turm aus wie Penglai, der legendäre Wohnort der Götter.Attraktiv waren nicht alle<strong>in</strong> die Berge, sondern auch der Wald. Wie groß erwar, wusste ich nicht, obwohl ich schon zehn <strong>Jahre</strong> hier wohnte. Wer hiere<strong>in</strong>ige Stunden wanderte, hatte das Ende noch nicht erreicht. Im Waldwuchsen hauptsächlich Pappeln und Eichen. Bäume, die <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a <strong>of</strong>tzu sehen s<strong>in</strong>d, wie Weiden, Ulmen und Akazien gab es hier nicht. Noch


19 Gemütsruhe auf dem Berge 121schöner und fasz<strong>in</strong>ierender präsentierten sich die Wiesen <strong>in</strong> den Wäldern.Im W<strong>in</strong>ter wurde es <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> nicht kalt, die Gräser grüntenfast das ganze Jahr über. Es schneite im W<strong>in</strong>ter sehr viel. Vom Schneezugedeckt schliefen die Gräser nicht. Schob man den Schnee beiseite,zeigten sich grüne Halme, frisch und saftig. Im Frühjahr erblühten kle<strong>in</strong>eweiße Blumen, die die Deutschen Schneeglöckchen nannten. Sie warendas Symbol des Frühl<strong>in</strong>gserwachens. Überall keimte Frühl<strong>in</strong>gsstimmungauf. Alle Blumen blühten um die Wette, die Erde war voller Zauber undSchönheit.Im Sommer kam die Regensaison. Dann regnete es <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen häufig.E<strong>in</strong>e Trockenzeit gab es nicht. Gräser und Bäume wurden nun auchnoch durch Regen begossen und schienen noch smaragdgrüner. Waldund Wiesen waren grün gefüllt, wie gemalt, weit und breit grün, grünund nochmals grün. Andere Farben waren verschwunden. Die Bergeerschienen im Regen besonders zauberhaft. Die ununterbrochenenRegenfäden hatten mit der grünen Farbe e<strong>in</strong> wunderschönes nebelhaftesNetz gesponnen. Ich wandelte <strong>of</strong>t alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem riesengroßen Netz,ohne Regenschirm, ohne Regenmantel. Für mich gab es nur die Bäume <strong>in</strong>der Umgebung und die Gräser unter den Füßen. In mir stieg e<strong>in</strong> Gefühlauf wie bei dem Buddha Schakjamuni: „Zwischen Himmel und Erde b<strong>in</strong>ich Herr.“Auf den Sommer folgte der Herbst. Das war die schönste <strong>Jahre</strong>szeit imGött<strong>in</strong>ger Wald. Ich habe im Artikel „Er<strong>in</strong>nerungen an Zhang Yong“ denHerbst <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen beschrieben. Me<strong>in</strong>e Worte wurden von Freundengelobt. Sie lauten:Der Herbst von Gött<strong>in</strong>gen ist schön, so wunderschön, dass man ihn nicht beschreibenkann, da Worte dazu nicht ausreichen. Wer hat e<strong>in</strong> Bild des Futurismus gesehen?Der Bergwald im Ostteil der Stadt ist e<strong>in</strong> Bild des Futurismus. Sieh, wie die Farben


122 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>prächtig leuchten! Alle<strong>in</strong> die gelbe Farbe, wie vielfältig sie ist, von hellgelb bis zubraungelb. Das Gelb ruht auf den Wipfeln, mit dem Dunkelgrün der Ilex gemischt,hier und da glänzen noch rote Pünktchen, der traurige Herbst färbt sich prächtig.Wer diesen Abschnitt liest, wird die Herbstlandschaft Gött<strong>in</strong>gens lebendigvor Augen haben.Im W<strong>in</strong>ter war der Wald <strong>of</strong>t schneebedeckt. Da die Temperatur aber nichttief sank, schmolz der Schnee rasch. Es schneite aber sehr <strong>of</strong>t, und dieWälder lagen immer wieder im Schnee. Alles freute sich des Lebens. DasLeben <strong>in</strong> der Stadt Gött<strong>in</strong>gen hatte trotz des W<strong>in</strong>ters nicht aufgehört.Dann kam das Frühjahr und das Leben brauchte ke<strong>in</strong>e Decke mehr. Essprang und tanzte zwischen Himmel und Erde.Soviel zu den vier <strong>Jahre</strong>szeiten <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen.Bereits vom ersten Tag an liebte ich diesen Bergwald. Obwohl ich <strong>in</strong> dieHölle des Hungers geraten war und die Flugzeuge am Himmel jederzeitden Tod br<strong>in</strong>gen konnten, fühlte ich mich im Wald sicher. Hier konnteich zwar me<strong>in</strong>en Magen nicht vollstopfen, aber Sicherheit war nochwichtiger als der Hunger. Der Bergwald aber ahnte nichts von Hungeroder Sicherheit. Während den E<strong>in</strong>wohnern der ganzen Stadt der Magenknurrte, während sie vor der Bombardierung der englischen FlugzeugeAngst hatten, stand der Bergwald davon unberührt grün und üppig.„Der Bergwald ist weit <strong>in</strong> Wolken und Nebel gehüllt.“ 35 Ich liebte denBergwald, hier war me<strong>in</strong> Traumland.Ich er<strong>in</strong>nere mich nicht mehr, wie <strong>of</strong>t ich alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> den Wald g<strong>in</strong>g, wie <strong>of</strong>tmit ch<strong>in</strong>esischen Studenten und deutschen Freunden. Unvergesslich aberbleibt mir e<strong>in</strong> Ausflug mit Zhang Wei und Lu Shijia. An diesem Tag warenwir guter Stimmung. Wir wanderten, plauderten und hatten nicht auf den35aus: „Die Stadt Tai“(《 台 城 》)von Wei Zhuang 韦 庄 (ca. 836 – 910), Tang-Dynastie, Dichter.


19 Gemütsruhe auf dem Berge 123Weg geachtet. Wir g<strong>in</strong>gen immer weiter bis zu e<strong>in</strong>er Stelle, an der wir sonstverweilten. Doch diesmal spazierten wir vollkommen unbewusst nochweiter <strong>in</strong> die Tiefe des Waldes. Hier begegnete uns ke<strong>in</strong> Mensch mehr.Das Moos wurde immer dichter, menschliche Spuren immer spärlicher.R<strong>in</strong>gsum war es ruhig, nur unsere Stimmen und unser Lachen fanden imWald e<strong>in</strong> Echo, e<strong>in</strong> langes Echo aus der Ferne. Nicht weit von uns hörtenwir das Rascheln von Blättern. E<strong>in</strong>ige aufgescheuchte Rehe schauten unsmit großen Augen an und flüchteten noch tiefer <strong>in</strong> den Wald. Schließlicherreichten wir e<strong>in</strong>en Felsen, der an e<strong>in</strong> großes Tal grenzte. Auf deranderen Seite dehnte sich der Wald weiter aus. Wir konnten nicht h<strong>in</strong>untersteigen. Das wollten wir auch nicht, hier war für uns das Ende der Welt.Auf dem Rückweg wurden wir vom Regen überrascht und verstecktenuns unter e<strong>in</strong>em Baum. Es regnete immer stärker, wir liefen weiter geradeaus. Plötzlich fanden wir e<strong>in</strong>e Holzhütte, e<strong>in</strong>en guten Ort zum Schutzvor dem Regen. In der Hütte hatte bereits e<strong>in</strong> Deutscher Unterschlupfgefunden. Wir grüßten freundlich und setzten uns. Wir kannten uns nicht,doch das gleiche Schicksal hatte uns hier zusammengeführt. S<strong>of</strong>ort kamenwir <strong>in</strong>s Gespräch und unterhielten uns ungezwungen wie alte Freunde.Der fröhliche Ausflug bleibt bis heute unvergesslich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung.Natürlich gab es auch andere kle<strong>in</strong>e oder große <strong>in</strong>teressante Erlebnisse.Darüber könnte ich viel schreiben, aber das möchte ich hiermit beenden.Ich habe soviel erzählt, um aufzuzeigen, dass die Menschen auch <strong>in</strong>Not und Elend Lebensfreude hatten. Auch unter extremen Umständenbestand das Leben nicht nur aus Leiden.


124 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>20. Acht <strong>Jahre</strong> Kriegsfeuer 36– E<strong>in</strong> Brief von zu Hause wiegtschwerer als Gold.Die Lage wurde mit jedem Tag gefährlicher, das war nicht zuleugnen.In dieser Situation wurde auch me<strong>in</strong>e Sehnsucht nach der Heimat immerstärker. Sie ließ sich mit der Sehnsucht nach me<strong>in</strong>er Mutter kurz nachme<strong>in</strong>er Ankunft <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen nicht vergleichen.Dieses Gefühl wurde nicht durch irgendwelche Diskrim<strong>in</strong>ierungenvon deutscher Seite mir gegenüber ausgelöst. Ne<strong>in</strong>, im Gegenteil.Die Besonnenheit der Deutschen war me<strong>in</strong> Trost. Sie taten das, wassie tun sollten, und zeigten ke<strong>in</strong>e Spur von Nervosität, zum Beispielbei Bombenangriffen. Lange hatte ich gedacht, die sogenanntenBombenteppiche stellten die extremste Belastung dar. Ne<strong>in</strong>, es gabnoch Schlimmeres. Anfangs sah es so aus: Wenn sich fe<strong>in</strong>dliche36Geme<strong>in</strong>t ist der ch<strong>in</strong>esische Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression (1937 - 1945).


20 Acht <strong>Jahre</strong> Kriegsfeuer – E<strong>in</strong> Brief von zu Hause wiegt schwerer als Gold. 125Flugzeuge dem deutschen Luftraum näherten, wurde Alarm ausgelöst.Es gab verschiedene Stufen des Alarms, je nach Entfernung derFlugzeuge. Flogen sie weg, folgte die Entwarnung. Wir gehorchtendem Alarm bed<strong>in</strong>gungslos und handelten nie zuwider. Die Deutschenhielten eben Diszipl<strong>in</strong> und Ordnung e<strong>in</strong>. Später machte der Krieg ander Ostfront ke<strong>in</strong>e Fortschritte, <strong>Deutschland</strong> wurde von allen Seitenumz<strong>in</strong>gelt. Die Luftschutzkapazität, mit der die Faschisten e<strong>in</strong>st wiemit e<strong>in</strong>er unübertr<strong>of</strong>fenen Errungenschaft geprahlt hatten, war jetztvöllig unzureichend. Fe<strong>in</strong>dliche Flugzeuge konnten jederzeit die Stadtüberfliegen, bei Tag und <strong>in</strong> der Nacht. Sie konnten Bomben abwerfenoder mit Masch<strong>in</strong>engewehren herunterfeuern. Die Sirenen und derAlarm hatten ihre Funktion verloren. Rund um die Uhr herrschte nunAlarmzustand. Die Sirenen heulten ununterbrochen. Wenn wir das Hausverließen, schauten wir zuerst zum Himmel, ob sich Flugzeuge näherten.Wenn ja, versteckten wir uns unter den Dächern der Häuser <strong>in</strong> denStraßen. Verschwanden die Flugzeuge, kehrten wir zum Alltag zurück.Ich hörte häufig, Dörfer und selbst Kühe seien mit großen Kalibernbeschossen worden. Diese Nachrichten, dazu das Dröhnen der Flugzeugeerfüllten die Menschen mit Furcht, aber sie blieben ruhig und gelassen.Unvorstellbar ruhig und gefasst verhielt sich die Bevölkerung auchangesichts der zunehmend knappen Lebensmittelversorgung, die sichkriegsbed<strong>in</strong>gt immer mehr verschärfte. Die Deutschen klagten undjammerten nicht. Manchmal entwickelten sie e<strong>in</strong>en eigenartigen Humor.Ich hatte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeitung e<strong>in</strong>e Karikatur gesehen: E<strong>in</strong>e Familie saß amTisch beim Essen. Der Onkel nahm mit der Gabel e<strong>in</strong> Stück Hasenbratenund lobte: „Das schmeckt ausgezeichnet!“ Der Neffe, der ihm gegenübersaß, senkte den Kopf und hatte Tränen <strong>in</strong> den Augen. Er hatte denHasen großgezogen. Witzig war das eigentlich nicht. Es war eher e<strong>in</strong>e


126 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>traurige Geschichte. Unser E<strong>in</strong>druck von den Deutschen: Sie warenkorrekt und natürlich. Ihre Genauigkeit war <strong>in</strong> aller Munde. Sie besassenwohl nicht den Humor der Engländer, aber selbst <strong>in</strong> Zeiten furchtbarerLebensmittelknappheit kam er ihnen nicht ganz abhanden.Das ruhige und phlegmatische Verhalten der Deutschen gegenüber denBombenangriffen und dem Hunger hatte mich angesteckt. Ich lebte <strong>in</strong>der Fremde, weit entfernt von der Heimat und den Verwandten. DieDeutschen waren <strong>in</strong> ihrer Heimat und mit den Verwandten zusammen.Sie empfanden sicher e<strong>in</strong> ganz anderes Gefühl als ich. Ich war zwarAusländer, litt aber <strong>in</strong> „<strong>in</strong>ländischer Art und Weise“. Me<strong>in</strong>en Unmut undme<strong>in</strong>e Überlegungen konnte ich nicht äußern, sie erschienen mir abervon selbst im Traum. Zhuang Zi sagte e<strong>in</strong>mal: „Der Heilige hat ke<strong>in</strong>enTraum.“ Ich war nicht so wie er und träumte viel. Im Traum g<strong>in</strong>gen me<strong>in</strong>eWünsche <strong>in</strong> Erfüllung.Am meisten träumte ich von Lebensmitteln aus der Heimat. Zwar stellteich seit jeher ke<strong>in</strong>e großen Ansprüche, auch nicht an das Essen. Ichhabe also nie von Schwalbennestern, Haifischflossen, Affenköpfen oderBärentatzen geträumt. Das war nicht me<strong>in</strong>e Sache. Am häufigsten träumteich von gebratenen Erdnüssen und Pfannkuchen, den sogenannten„guokui“. Diese Sachen schmeckten mir von K<strong>in</strong>dheit an bis <strong>in</strong>s hoheAlter. Wenn ich aufwachte, dachte ich immer noch an das Essen imTraum. Dann brauste das Heimweh heran wie Meereswellen. Ich konntemich beim besten Willen nicht mehr beherrschen.Die Universität befand sich jetzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em entsetzlichen Zustand. Nachdem Ausbruch des Krieges wurden nach und nach fast alle Studentene<strong>in</strong>berufen. Es blieben nur Student<strong>in</strong>nen übrig. Ich sah sie <strong>in</strong> derStadt zwischen verschiedenen Instituten herumlaufen. Die UniversitätGött<strong>in</strong>gen war zu e<strong>in</strong>er Frauenuniversität geworden. Wer e<strong>in</strong>en Hörsaal


20 Acht <strong>Jahre</strong> Kriegsfeuer – E<strong>in</strong> Brief von zu Hause wiegt schwerer als Gold. 127oder e<strong>in</strong> Labor betrat, begegnete nur weiß, schwarz und grün gekleidetenFrauen. Es schien, als sei hier e<strong>in</strong> Reich der Frauen. Als der Krieg denHöhenpunkt erreichte und allmählich zu Ende g<strong>in</strong>g, kehrten vieledeutsche Verwundete von der Ostfront aus Russland zurück – so auchnach Gött<strong>in</strong>gen. Zu dieser Zeit liefen überall <strong>in</strong> der Stadt neben denStudent<strong>in</strong>nen auch die verwundeten Studenten umher. Sie humpeltenteilweise ohne Arme oder Be<strong>in</strong>e an Krücken oder saßen im Rollstuhl.Die Aula und die sauberen und hellen Flure waren erfüllt vom hartenAufsetzen ihrer Krücken. Es hallte zwischen den Frauen wider. Ichwusste nicht, welche Empf<strong>in</strong>dungen das auslöste. Unter den deutschenKomponisten hat niemand jemals e<strong>in</strong>e Krücken-S<strong>in</strong>fonie geschrieben.Ich, e<strong>in</strong> Fremder, wollte we<strong>in</strong>en, aber ich hatte ke<strong>in</strong>e Tränen mehr.Mit den deutschen verwundeten Soldaten strömten gleichzeitig zahlreicheGefangene aus der Sowjetunion, aus Polen und Frankreich <strong>in</strong> die Stadt.Sie waren Gefangene und wurden deshalb zunächst streng von denDeutschen bewacht. Später sah ich, dass viele Gefangene frei auf denStraßen herumliefen. Offenbar waren sie e<strong>in</strong>fach zu viele, ihre deutschenBewacher zu wenige. Ich sah e<strong>in</strong>mal auf e<strong>in</strong>em Feld <strong>in</strong> der Vorstadtsowjetische Gefangene. Sie waren unbewacht. Sie hatten Töpfe dabeiund gruben die im Acker von der Ernte übriggebliebenen Kart<strong>of</strong>felnaus, kochten sie mit Zweigen von Bäumen und verschlangen alles wieWölfe. Die Männer hatten sicher großen Hunger. Die Gefangenenwurden <strong>in</strong> verschiedene Kategorien unterteilt. Die Franzosen gehörtenzur oberen Schicht, die polnischen und sowjetischen Gefangenen zählten<strong>in</strong> den Augen der Faschisten zu den Untermenschen e<strong>in</strong>es von ihnenunterjochten Landes. Sie wurden schikaniert und diskrim<strong>in</strong>iert. Sie trugenalle am Kleid e<strong>in</strong> „P“-Zeichen, wie die <strong>in</strong>dischen „Unberührbaren“. Sowaren sie gleich zu erkennen. Im Buch „Record <strong>of</strong> Buddhist K<strong>in</strong>gdoms“


128 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>von Fa Xian steht: „Wer das Holz schlägt, unterscheidet sich von denanderen.“ Auf die damalige Situation <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> übertragen, liesssich das auf die Möglichkeit anwenden die Gefangenen zu unterscheiden.E<strong>in</strong>es Tages kam ich wie an jedem Tag an e<strong>in</strong>em Gemüsegarten vorbeiund bemerkte e<strong>in</strong>e junge polnische Frau mit e<strong>in</strong>em „P“ an der Kleidung,die dort arbeitete. Sie hatte e<strong>in</strong> rundes Gesicht, große Augen und sahwie Wala aus, die ich vor acht oder neun <strong>Jahre</strong>n <strong>in</strong> der TranssibirischenEisenbahn getr<strong>of</strong>fen hatte. Konnte es wirklich sie se<strong>in</strong>? Ich wollte sienicht e<strong>in</strong>fach taktlos ansprechen. Von diesem Tag an sah ich sie immerim Gemüsegarten. Wir haben das gleiche Schicksal <strong>in</strong> der weiten Ferne,dachte ich zuerst. Ich war so traurig und wollte we<strong>in</strong>en, aber ich hattewieder ke<strong>in</strong>e Tränen. Nach langer Überlegung habe ich den Artikel „Wala“geschrieben, um me<strong>in</strong>e bitteren Gefühle auszudrücken.Zu dieser Zeit war der Briefwechsel mit me<strong>in</strong>er Familie schon längstabgebrochen. Ich wusste fast nichts vom Anti-Japanischen Krieg <strong>in</strong>me<strong>in</strong>er Heimat. Manchmal hörte ich etwas aus deutschen Quellen.Natürlich war alles Lüge, da <strong>Deutschland</strong> an der Seite Japans stand. DuFu schrieb <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vers: „Das Kriegsfeuer dauert drei Monate, e<strong>in</strong> Briefvon zu Hause wiegt schwerer als Gold.“ Das entsprach genau me<strong>in</strong>erSituation. Tag und Nacht beunruhigten mich unzählige Gedanken. Wiesah es <strong>in</strong> der Heimat aus? Wie g<strong>in</strong>g es me<strong>in</strong>er Familie? Der Onkel war alt,wo kam das Geld her? Die Tante führte den Haushalt und hatte es schwer.Dehua zog zwei K<strong>in</strong>der auf, wovon lebten sie? „Arme K<strong>in</strong>der, ihr verstehtdie Sehnsucht nach Chang’an nicht.“ 37 Aber vielleicht verstanden sie siedoch. Sie wussten vielleicht, dass sie e<strong>in</strong>en Vater <strong>in</strong> der Ferne hatten. Icher<strong>in</strong>nere mich noch an e<strong>in</strong>en Hund im Haus. Er hieß „Narr“. Jedes Mal,37Anspielung auf das Gedicht „Nacht mit Mondlicht“ von Du Fu (s. Anm.9). Chang’an war mehmals <strong>in</strong> derGeschichte Ch<strong>in</strong>as Hauptstadt. Später wurde sie <strong>in</strong> Xi’an umbenannt.


20 Acht <strong>Jahre</strong> Kriegsfeuer – E<strong>in</strong> Brief von zu Hause wiegt schwerer als Gold. 129wenn ich von Pek<strong>in</strong>g heimkehrte, hörte ich ihn beim E<strong>in</strong>treten bellen. Erguckte mich an und wedelte mit se<strong>in</strong>em Schwanz, ganz närrisch. Darandachte ich <strong>of</strong>t. Sogar die Begonien im H<strong>of</strong> sah ich <strong>of</strong>t im Traum. Ichkonnte mich davon nicht losreißen. Oh, diese Trennung, dieses Heimweh,wie sollte ich das aushalten? Und diese unzähligen schlaflosen Nächte!Ich dachte besonders an me<strong>in</strong>e Mutter. Kurz nach der Ankunft <strong>in</strong>Gött<strong>in</strong>gen sehnte ich mich vor allem nach ihr. Davon habe ich bereitserzählt. Jetzt war me<strong>in</strong>e Beziehung zu me<strong>in</strong>er Heimat und zur Familietotal abgebrochen. Die Sehnsucht nach me<strong>in</strong>er Mutter wurde immerstärker. Ich träumte <strong>of</strong>t von ihr. Wie furchtbar, dass ihr Gesicht imTraum immer undeutlich war. Me<strong>in</strong>e Mutter hatte sich <strong>in</strong> ihrem Lebennie fotografieren lassen, me<strong>in</strong>e Heimat lag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em entlegenen Ort. IhrBild <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Kopf hatte ich vor etwa zehn <strong>Jahre</strong>n mit den Augenaufgenommen. Nun war es nicht mehr klar. Das war der Grund. Traurig,als Waisenk<strong>in</strong>d konnte ich das wirkliche Bild der Mutter sogar im Traumnicht deutlich sehen. War me<strong>in</strong> Schicksal nicht grausam?


130 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>21. Me<strong>in</strong>e LehrerJe mehr ich mich nach me<strong>in</strong>er leiblichen Mutter und nach me<strong>in</strong>erHeimat sehnte, desto vertrauter erschienen mir e<strong>in</strong>ige me<strong>in</strong>er Lehrer.Besonders eng verbunden war ich natürlich mit me<strong>in</strong>em Doktorvater,Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt. Ich habe schon vorher me<strong>in</strong> erstes Treffenmit ihm erwähnt. Er machte auf mich e<strong>in</strong>en sehr jungen E<strong>in</strong>druck.Tatsächlich war er vielleicht knapp vierzig <strong>Jahre</strong> alt, als ich ihn das ersteMal sah. Er trug e<strong>in</strong>en dicken Anzug und hatte e<strong>in</strong> k<strong>in</strong>dliches Gesicht. Ichfand ihn sehr höflich und bescheiden. Die meisten deutschen Pr<strong>of</strong>essorendagegen legten wie selbstverständlich e<strong>in</strong> pr<strong>of</strong>essorales Gehabe an denTag. Sie taten das aufgrund ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichenStellung, gleichgültig, an welcher Universität sie lehrten. Das war soüblich. Später hörte ich, dass ihn die Studierenden nach mir als sehr strenge<strong>in</strong>schätzten. Als ihm e<strong>in</strong>e Student<strong>in</strong> e<strong>in</strong>mal ihre Doktorarbeit vorlegte,schaute er die Arbeit an, warf sie auf den Boden und sagte zornig: „Dasist alles Mist.“ Die Student<strong>in</strong> nahm sich das so sehr zu Herzen, dass sieletztendlich Gött<strong>in</strong>gen verließ.


21 Me<strong>in</strong>e Lehrer 131Deutsches TheaterIch habe zehn <strong>Jahre</strong> bei ihm studiert. Mir gegenüber ist er nie <strong>in</strong> Wutgeraten. Er unterrichtete sehr geduldig und pe<strong>in</strong>lich genau Sanskrit-Grammatik. Sie muss so sorgfältig vermittelt werden, weil sich schonbei kle<strong>in</strong>en Abweichungen die Bedeutung ändert. Später, als ichselbst Studenten unterrichtete, tat ich es nach se<strong>in</strong>em Vorbild. Se<strong>in</strong>eUnterrichtsmethode war typisch deutsch. Ich er<strong>in</strong>nere mich an die Wortedes im 19. Jahrhundert lebenden großartigen deutschen OrientalistenEwald: „E<strong>in</strong>e Sprache zu lehren ist wie Schwimmen zu unterrichten. Manbr<strong>in</strong>gt den Studenten ans Wasser und gibt ihm e<strong>in</strong>en Stoß. Entwederkann er schwimmen oder er ertr<strong>in</strong>kt.“ Letzteres ist eher selten. HerrWaldschmidt benutzte diese Unterrichtsmethode: In der ersten undzweiten Unterrichtsstunde las er Buchstabe für Buchstabe, ab derdritten Stunde begannen die Übungen und e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tensives Grammatik-


132 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Studium. Am Anfang hatte ich große Schwierigkeiten und brauchte fürdie Vorbereitung e<strong>in</strong>er Unterrichtsstunde <strong>of</strong>t e<strong>in</strong>en ganzen Tag. Abernach e<strong>in</strong>em Semester mit mehr als vierzig Stunden Unterricht hatte ichdas Lehrbuch des deutschen Sanskrit-Forschers Stenzler durchgelesen,komplett die komplizierte Sanskrit-Grammatik und e<strong>in</strong>e große Anzahlder aus den Sanskrit-Standardwerken ausgesuchten Übungen studiert. DieMethode war wirklich erfolgreich.Die Familie von Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt war zu der Zeit, als ichsie kennenlernte, glücklich. Das Ehepaar hatte e<strong>in</strong>en Sohn, der dieMittelschule besuchte. E<strong>in</strong>e Zeitlang half ich me<strong>in</strong>em Lehrer bei derÜbersetzung ch<strong>in</strong>esischer buddhistischer Werke. Ich besuchte ihn <strong>of</strong>t,aß mit der ganzen Familie zu Abend und arbeitete anschließend bis tief<strong>in</strong> die Nacht. Bei Tisch wurde nicht viel gesprochen. Es war ganz still.E<strong>in</strong>mal sagte er lächelnd zu se<strong>in</strong>em Sohn: „Wir haben e<strong>in</strong>en Gast ausCh<strong>in</strong>a. Vielleicht willst du morgen <strong>in</strong> der Schule damit angeben?“ DieAtmosphäre empfand ich als ausgesprochen feierlich, aber wenig lebendig.Waldschmidts Gatt<strong>in</strong> war auch nicht sehr gesprächig.Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidtals Offizier <strong>in</strong> die Armee e<strong>in</strong>gezogen, kurz danach auch se<strong>in</strong> Sohn. AbW<strong>in</strong>ter 1941 war die Ostfront erstarrt, dennoch gab es ungewöhnlichharte Kämpfe. Der Sohn fiel an der Front im nördlichen Europa.Ich kann mich nicht mehr genau daran er<strong>in</strong>nern, wie das Ehepaar dieTodesnachricht aufnahm. Sicher waren sie sehr traurig, dass ihr e<strong>in</strong>zigerSohn im frühen Mannesalter im Krieg gefallen war. Aber Pr<strong>of</strong>essorWaldschmidt war e<strong>in</strong> sehr willensstarker Mann und zeigte mir gegenüberke<strong>in</strong>en Schmerz. Das Ehepaar hat nie mit mir über den Tod des Sohnesgesprochen. Aber seit dieser Zeit war die Atmosphäre <strong>in</strong> dem Hause<strong>in</strong>samer und kälter. Das ist verständlich.


21 Me<strong>in</strong>e Lehrer 133Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt besaß e<strong>in</strong> Abonnement für das Gött<strong>in</strong>gerTheater, das er allerd<strong>in</strong>gs nicht mehr wahrnehmen konnte, nachdem ere<strong>in</strong>gezogen worden war. Deshalb bat er mich, se<strong>in</strong>e Frau e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> derWoche zu begleiten. Ich holte sie nach dem Abendessen ab und führtesie <strong>in</strong>s Theater. Es wurden auch Opern, Konzerte, Klavierkonzerte,Viol<strong>in</strong>enstücke und anderes aufgeführt. Die Künstler kamen alle vonaußerhalb, manche sogar aus dem Ausland. Sie waren sehr berühmt. DieBühne war taghell erleuchtet. Die Männer erschienen geschniegelt undgebügelt, die Frauen trugen Perlen und Juwelen – Abende voll friedlicherAtmosphäre. Nach me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung gab es während der Aufführungenke<strong>in</strong>e Luftangriffe. Wie die Besucher darauf reagiert hätten, vermag ichnicht zu sagen. Wenn wir nach e<strong>in</strong>er Theater-Vorstellung nach draußeng<strong>in</strong>gen, fanden wir uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er vollkommen anderen Welt wieder.Wegen der angeordneten Verdunklung herrschte totale F<strong>in</strong>sternis. Ke<strong>in</strong>Lichtstrahl war zu sehen. Obwohl ich nichts erkennen konnte, brachteich die Frau me<strong>in</strong>es Pr<strong>of</strong>essors tastend den langen Weg bis unterhalb desBerges nach Hause. Danach setzte ich me<strong>in</strong>en Nachhauseweg spät nachtsalle<strong>in</strong> <strong>in</strong> vollkommener Stille fort. Nur me<strong>in</strong>e eigenen Schritte warenzu hören – e<strong>in</strong> schönes Gefühl. In dieser Situation hatte ich besondersstarkes Heimweh.Ich er<strong>in</strong>nere mich auch an me<strong>in</strong>en zweiten Lehrer, Pr<strong>of</strong>essor Emil Sieg.Se<strong>in</strong>e Familiengeschichte ist mir weniger bekannt. Se<strong>in</strong>e Frau hatte ichallerd<strong>in</strong>gs kennengelernt. Sie war kle<strong>in</strong>, dünn und machte e<strong>in</strong>en gütigenE<strong>in</strong>druck. Töchter, Söhne oder andere Verwandte hatte ich nicht gesehen.Beide besaßen e<strong>in</strong> sehr stilles und e<strong>in</strong>sames Zuhause. Die Eheleute warensich von Herzen zugetan und treu ergeben. Als ich ihn traf, hatte er dieSiebzig schon überschritten. Unter allen <strong>in</strong>- und ausländischen Lehrern,die mir <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben begegnet s<strong>in</strong>d, hat Pr<strong>of</strong>essor Sieg sich am


134 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Deutsches Theaterbesten und liebevollsten um mich gekümmert. Er war e<strong>in</strong> Lehrer mitsehr hohen Anforderungen. Bis heute bekomme ich Herzklopfen, sobaldich an ihn denke, und mir kommen die Tränen. Er hat mir sehr vielbeigebracht, wie ich schon geschildert habe. Jetzt will ich mehr über dietiefen gegenseitigen Gefühle zwischen Lehrer und Schüler erzählen. Umalles richtig wiederzugeben, nehme ich me<strong>in</strong> Tagebuch und zitiere darauswörtlich:13. Oktober 1940:Gestern kaufte ich e<strong>in</strong> Foto von Pr<strong>of</strong>essor Sieg und stellte es mir gegenüber auf denTisch. Ich weiß wirklich nicht, wie ich diesem alten Mann danken kann. Se<strong>in</strong>e Artist so gütig wie die e<strong>in</strong>es Vaters oder Großvaters. Wenn ich se<strong>in</strong> Foto ansehe, gibt esmir unendlich viel Mut und Kraft, das Sanskrit-Studium unter allen Umständenfortzusetzen. Sonst hätte ich e<strong>in</strong> schlechtes Gewissen.


21 Me<strong>in</strong>e Lehrer 1351. Februar 1941:Um 5.30 Uhr morgens g<strong>in</strong>g ich zu Pr<strong>of</strong>essor Sieg. Er will für mich e<strong>in</strong> besseresGehalt aushandeln. Der Institutsleiter hat schon zugestimmt. Ich habe das wirklichnicht erwartet. Wie kann ich diesem alten Herrn danken? Er kümmert sich so sehrum mich. Das werde ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em ganzen Leben nicht vergessen!Pr<strong>of</strong>essor Sieg hatte me<strong>in</strong> hartes Leben bemerkt und sich persönlich anden Institutsleiter gewandt, um nach e<strong>in</strong>er Gehaltserhöhung zu fragen.Tatsächlich reichte me<strong>in</strong> Gehalt aus. Aber weil ich so viele Bücher kaufte,schien das Geld knapp zu se<strong>in</strong>.1941 suchte ich nach Wegen, <strong>Deutschland</strong> zu verlassen und nach Hausezu fahren. Am 29. Oktober schrieb ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Tagebuch:Um 11.30 Uhr kam Pr<strong>of</strong>essor Sieg zum Unterricht. Als ich ihm anschließenderzählte, dass ich <strong>Deutschland</strong> verlassen wollte, wurde er ganz aufgeregt, bekam e<strong>in</strong>rotes Gesicht und se<strong>in</strong>e Stimme zitterte e<strong>in</strong> wenig. Er sagte, dass er zukünftig e<strong>in</strong>e festeStelle für mich vorgesehen hätte, die es mir ermöglichen würde, weiter <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>zu leben. Er war völlig überrascht, dass ich beabsichtigte wegzugehen, und versuchtemich zum Bleiben zu überreden. Er wollte für mich beim Rektor der Universitätnach e<strong>in</strong>er Gehaltszulage fragen, damit ich wieder zu Kräften käme. Fast wären ihmdie Tränen gekommen. Natürlich zögerte ich <strong>in</strong>nerlich e<strong>in</strong> wenig und b<strong>in</strong> immer nochgerührt. Wenn ich <strong>Deutschland</strong> e<strong>in</strong>mal verlassen habe, ist ungewiss, ob ich je wiederzurückkehren kann. Ich werde den Mann, der sich um mich wie e<strong>in</strong> Vater kümmert,nicht mehr wiedersehen. Ich b<strong>in</strong> noch ganz aufgewühlt. Ich habe die Fassung verlorenund würde am liebsten we<strong>in</strong>en.Es gibt noch viele E<strong>in</strong>drücke dieser Art <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Tagebuch, die ichnicht alle wiedergeben möchte. Diese drei Zitate machen schon deutlich,wie die Beziehungen zwischen uns waren. Noch vieles gibt es zuberichten. Später werde ich über me<strong>in</strong> Studium der tocharischen Spracheerzählen. Für den Moment höre ich hier auf.


136 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Ich er<strong>in</strong>nere mich auch an me<strong>in</strong>en dritten Lehrer, Pr<strong>of</strong>essor Braun, denSlawisten. Schon se<strong>in</strong> Vater war an der Universität Leipzig als Slawistik-Pr<strong>of</strong>essor tätig gewesen. Das Fach lag also <strong>in</strong> der Familie. Er sprachfließend viele slawische Sprachen. Als ich ihn traf, war er jung undunterrichtete noch nicht als Pr<strong>of</strong>essor. Aufgrund se<strong>in</strong>es jungen Alterswurde auch er zum Militär e<strong>in</strong>gezogen, jedoch nie an der Front e<strong>in</strong>gesetzt.Man beschäftigte ihn als hochrangigen Übersetzer. Zahlreiche hoherussische Offiziere waren <strong>in</strong> deutsche Gefangenschaft geraten. Hitlerund die Faschisten ließen sie verhören, um ihnen Geheimnisse derSowjetunion zu entlocken. Die Aufgabe e<strong>in</strong>es Übersetzers war dabei vonenormer Wichtigkeit. Jedes Mal, wenn Pr<strong>of</strong>essor Braun auf Urlaub nachHause kam, erzählte er mir <strong>in</strong>teressante Episoden aus se<strong>in</strong>er Tätigkeitals Übersetzer. Sehr <strong>of</strong>t handelte es sich um wahre Begebenheiten mitdeutschen und russischen Offizieren. So berichtete er mir, dass dieGeschütze der russischen Armee derart stark seien, dass die Deutschenihnen nichts entgegensetzen könnten. Das war e<strong>in</strong> großes Geheimnis.Aus deutscher Sicht durfte es auf ke<strong>in</strong>en Fall durchsickern. Ich war tiefbee<strong>in</strong>druckt.Pr<strong>of</strong>essor Braun führte e<strong>in</strong> glückliches Familienleben mit e<strong>in</strong>er jungenFrau und zwei Söhnen. Der ältere hieß Andreas. Ich schätzte ihn aufungefähr fünf bis sechs <strong>Jahre</strong>. Der jüngere hieß Stefan und war erstzwei oder drei <strong>Jahre</strong> alt. Mir gegenüber verhielt sich Stefan besondersfreundlich. Wenn ich die Familie besuchte, lief er mir schon von weitementgegen und warf sich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Arme. Se<strong>in</strong>e Mutter gab mir den Rat:„Jetzt sollten Sie ihn fest umfassen und ihn zwei-, dreimal im Kreisherumdrehen, das Spiel liebt er besonders.“ Das Ehepaar war sehrsympathisch, spontan und <strong>of</strong>fenherzig, manchmal allerd<strong>in</strong>gs nicht sehrzielstrebig.


21 Me<strong>in</strong>e Lehrer 137Pr<strong>of</strong>essor Brauns Haus lag nicht weit von me<strong>in</strong>er Wohnung entfernt,nur zwei bis drei M<strong>in</strong>uten zu Fuß. Deshalb hielt ich mich <strong>of</strong>t bei ihmzu Hause auf. Er besaß e<strong>in</strong>e alte ch<strong>in</strong>esische Stickerei mit fünf großenSchriftzeichen: „Shi you xi shan x<strong>in</strong>g.“( 时 有 溪 山 兴 )Er bat mich um e<strong>in</strong>eÜbersetzung. Sie lautete: „H<strong>in</strong> und wieder möchte man Berge und Flüsseerleben.“Seitdem entwickelte er Interesse an der ch<strong>in</strong>esischen Sprache, kaufte e<strong>in</strong>ch<strong>in</strong>esisch-deutsches Wörterbuch und las Tang-Gedichte. Er suchte jedesZeichen heraus und konnte zu me<strong>in</strong>er Überraschung e<strong>in</strong>ige Bedeutungenerklären. Ich korrigierte ihn und vermittelte ihm e<strong>in</strong>ige grammatikalischeGrundkenntnisse. Was die Strukturen der ch<strong>in</strong>esischen Grammatikang<strong>in</strong>g, so besaß er schon e<strong>in</strong> großes Gespür dafür, obwohl er aus der<strong>in</strong>dogermanischen Sprachabteilung kam, dessen Sprachstrukturen wirklichPr<strong>in</strong>zenstraße 21, Michaelishaus


138 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>sehr anders s<strong>in</strong>d. Pr<strong>of</strong>essor Braun glaubte, dass es im Ch<strong>in</strong>esischenke<strong>in</strong>e Konjugationen und Dekl<strong>in</strong>ationen gibt, sei vielleicht e<strong>in</strong> Vorteil.Das erlaube dem Leser große gedankliche Freiheiten, anders als <strong>in</strong> den<strong>in</strong>dogermanischen Sprachen, deren Formen unveränderlich und absolutstarr seien.Pr<strong>of</strong>essor Braun war e<strong>in</strong> Mann mit vielen Fähigkeiten, zudem e<strong>in</strong>wahrer Künstler im Umgang mit Ölfarben. E<strong>in</strong>es Tages schlug er mirplötzlich vor, mich zu porträtieren. Ich willigte gern e<strong>in</strong> – mit derFolge, dass ich nun Tag für Tag lange bei ihm zu Hause kerzengeradeModell sitzen musste. Nachdem das Bild fertig war, bat er mich umme<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung. Ich b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Fachmann, aber das Bild ähnelte mir sehr,e<strong>in</strong> zufriedenstellendes Porträt. Auch im künstlerischen Bereich hattePr<strong>of</strong>essor Braun se<strong>in</strong> Können bewiesen. Pr<strong>of</strong>essor Braun hatte nicht vieleArtikel und Monographien herausgegeben. Die Stärke der deutschenWissenschaft war Sprach- und Textkritik. Das war jedoch nicht se<strong>in</strong>eDomäne. Um <strong>in</strong> der ch<strong>in</strong>esischen Term<strong>in</strong>ologie zu sprechen: Er war starkim logischen Abstrahieren. Er hatte e<strong>in</strong> Buch über die russische Literaturim zaristischen Russland des 19. Jahrhunderts geschrieben. Dar<strong>in</strong> setzte ersich <strong>in</strong>tensiv mit den Werken von Dostojewski und Tolstoi ause<strong>in</strong>ander.Se<strong>in</strong>e Darlegungen vertraten e<strong>in</strong>zigartige Ansichten, tiefschürfendeGedanken und scharfe Beobachtungen, wie sie selten bei e<strong>in</strong>em Autorzu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. Leider erregte er damit nicht sehr viel Aufmerksamkeit.Ich hatte <strong>of</strong>t das Gefühl, dass er e<strong>in</strong>sam und alle<strong>in</strong> war. Kurz gesagt,Pr<strong>of</strong>essor Braun hatte an der Gött<strong>in</strong>ger Universität bislang ke<strong>in</strong>e Karrieregemacht. Er war nicht e<strong>in</strong>mal Ord<strong>in</strong>arius, geschweige denn Mitglied derAkademie. E<strong>in</strong>mal erzählte er mir, dass es an der Universität <strong>in</strong> Straßburge<strong>in</strong>e freie Pr<strong>of</strong>essorenstelle gebe und er daran denke, dorth<strong>in</strong> zu gehenund mich mitzunehmen. Als ich nach mehr als vierzig <strong>Jahre</strong>n <strong>Deutschland</strong>


21 Me<strong>in</strong>e Lehrer 139wieder besuchte, erfuhr ich von ihm, dass er <strong>in</strong>zwischen an der Gött<strong>in</strong>gerUniversität e<strong>in</strong>en Lehrstuhl erhalten habe und zufrieden sei. Doch erwar alt geworden und hatte se<strong>in</strong>e Lebendigkeit verloren. Als ich zur Türhere<strong>in</strong>kam, war se<strong>in</strong> erster Satz: „Du kommst etwas zu spät, sie ist vore<strong>in</strong>em Monat gestorben.“ Er me<strong>in</strong>te se<strong>in</strong>e Frau. Die Söhne Andreas undStefan waren groß geworden und nicht mehr an se<strong>in</strong>er Seite. Herr Braunschien e<strong>in</strong>sam und still. In der westlichen Gesellschaft wird <strong>of</strong>t versäumt,den Wert älterer Menschen zu achten, was ich nicht verstehen kann. Vore<strong>in</strong>iger Zeit habe ich von Besuchern aus <strong>Deutschland</strong> erfahren, dasser gestorben ist. Er möge <strong>in</strong> Frieden ruhen. Das wünsche ich ihm vonganzem Herzen.Ich er<strong>in</strong>nere mich auch an den vierten Lehrer, Doktor von Grimm, e<strong>in</strong>enangeblich aus Russland stammenden Deutschen. Russisch war se<strong>in</strong>ezweite Muttersprache. Er unterrichtete sie an der Universität. Er hattenicht e<strong>in</strong>mal die Stellung e<strong>in</strong>es wissenschaftlichen Assistenten, weil er<strong>in</strong> der Vergangenheit wahrsche<strong>in</strong>lich ke<strong>in</strong>e wissenschaftlichen Arbeitenveröffentlicht hatte. In <strong>Deutschland</strong> zählte nicht, wie gut jemand e<strong>in</strong>eSprache beherrscht. Nur wissenschaftliche Arbeiten führten zu e<strong>in</strong>erPr<strong>of</strong>essur. Nach langen Dienstjahren erhielt er sicher e<strong>in</strong> hohes Gehalt,aber nicht den Pr<strong>of</strong>essorentitel. Das ist <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a anders. Hier spielenPr<strong>of</strong>essoren ke<strong>in</strong>e große Rolle, es gibt so viele davon. Das hat schonTradition – e<strong>in</strong>e ch<strong>in</strong>esische Eigenheit. Von Grimm hatte während derganzen Zeit lediglich e<strong>in</strong>e Dozentenstelle. Als er mich Russisch lehrte,war er schon weißhaarig, schien voller Wut im Bauch zu se<strong>in</strong> und wirkteden ganzen Tag melancholisch und traurig. Er hatte nur se<strong>in</strong>e Frau. Siewohnten im dritten Stock des Michaelishauses <strong>in</strong> äußerst primitivenZimmern. Se<strong>in</strong>e Frau litt ansche<strong>in</strong>end schon jahrelang an e<strong>in</strong>er Krankheit.Sie g<strong>in</strong>g nur noch selten aus. Sie hatte e<strong>in</strong> gutes Herz. Als ich an e<strong>in</strong>er


140 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Nervenkrankheit mit Nachtschweiß litt, schenkte sie mir e<strong>in</strong> Ei, damit ichwieder zu Kräften käme. Hier sei angemerkt, dass zu der damaligen Zeite<strong>in</strong> Ei so viel Wert besass wie e<strong>in</strong> Yuanbao. 38 In Zeiten äußersten Hungersbedeutete e<strong>in</strong> Ei sogar mehr als e<strong>in</strong> Yuanbao. Für ihre Zuneigung warich äußerst dankbar. Doktor von Grimm suchte persönlich den Leiterder Inneren Mediz<strong>in</strong> des Universitätskrankenhauses, Pr<strong>of</strong>essor Wolf, aufund bat ihn, mich zu untersuchen. Nach sorgfältigen Untersuchungenim Krankenhaus erklärte mir Pr<strong>of</strong>essor Wolf, es handle sich nur ume<strong>in</strong>e Nervenschwäche und nicht um e<strong>in</strong>e Lungenkrankheit, wie ichursprünglich befürchtet hatte. Me<strong>in</strong> Kummer war damit verschwunden.Ich fühlte mich wie neugeboren. Me<strong>in</strong>e Dankbarkeit gegenüber diesen mirwohlgesonnenen Menschen wurde noch größer. Ich habe sie nach me<strong>in</strong>erAusreise aus <strong>Deutschland</strong> nie mehr wiedergesehen. Vermutlich leben sienicht mehr, aber ich werde immer an sie denken und die Er<strong>in</strong>nerung ansie e<strong>in</strong> Leben lang <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Herzen bewahren.Wenn ich an me<strong>in</strong>e Lehrer zurückdenke, dann waren es natürlich nicht nurdie vier, die ich bereits erwähnt habe. Zu nennen s<strong>in</strong>d beispielsweise noch derArabist von Soden, die Englischlehrer Roeder und Wilde, der Philosophie-Pr<strong>of</strong>essor Heyse, der Pr<strong>of</strong>essor für Kunstgeschichte, Graf Vitzthum, derGermanistikpr<strong>of</strong>essor May, der Iranistik-Pr<strong>of</strong>essor H<strong>in</strong>z und viele andere, beidenen ich Vorlesungen hörte oder denen ich begegnet b<strong>in</strong>. Sie alle waren zumir nett und freundlich. Ich werde sie nie vergessen.38Bezeichnung für e<strong>in</strong>en schuhförmigen Goldbarren im alten Ch<strong>in</strong>a.


22 Das Tocharisch-Studium 14122. Das Tocharisch-StudiumJeder Mensch erlebt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben Zufälle, denen er nichtausweichen kann. Sie bescheren ihm Unheil oder br<strong>in</strong>gen ihm Glück.Ich habe Tocharisch studiert. Das war zum Beispiel so e<strong>in</strong> Zufall.Um ehrlich zu se<strong>in</strong>, hatte ich vor me<strong>in</strong>er Ankunft <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen noch nieetwas von der tocharischen Sprache gehört. Und als ich <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen dengroßen Meister des Tocharischen, Pr<strong>of</strong>essor Emil Sieg, kennen lernte,dachte ich immer noch nicht daran, diese Sprache zu studieren. DerGrund war wirklich sehr e<strong>in</strong>fach. Ich musste drei Fächer studieren, hatteschon viele Kurse ausgewählt und lernte viele Sprachen. Das g<strong>in</strong>g bereitsüber me<strong>in</strong>e Kräfte.Ich wagte es nicht, die Leistungsgrenze weiter zu überschreiten. Ich ware<strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>ese im Ausland, damit vertrat ich Ch<strong>in</strong>a. Wenn ich im Studiumscheiterte, g<strong>in</strong>g es nicht alle<strong>in</strong> darum, dass ich me<strong>in</strong> Gesicht verlöre,sondern es g<strong>in</strong>g um e<strong>in</strong>e Schädigung des Ansehens me<strong>in</strong>es Heimatlandes.Das konnte ich nicht verantworten. Deshalb ermahnte ich mich selbst:„De<strong>in</strong>e Kapazitäten s<strong>in</strong>d bereits erschöpft, du kannst sie nicht weiter


142 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>ausdehnen.“ So dachte ich damals.Aber, wie schon erwähnt, der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen,Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt <strong>in</strong> der Armee. Pr<strong>of</strong>essor Sieg vertrat ihn undwollte mir unbed<strong>in</strong>gt all se<strong>in</strong>e wissenschaftlichen Stärken beibr<strong>in</strong>gen.Das Alter von siebzig <strong>Jahre</strong>n hatte Herr Sieg längst überschritten. Sicherwusste er, welch mühselige Aufgabe er sich mit e<strong>in</strong>em neuen Tocharisch-Studenten aufladen würde. Und er wusste bestimmt, wie bequem es ist,sich e<strong>in</strong>fach se<strong>in</strong>es Lebensabends zu erfreuen. Warum wollte er das aufsich nehmen? Ich vermute, dass er ohne Rücksicht auf se<strong>in</strong>e persönlichenUmstände die Welt als Wissenschaftler betrachtete, dass er se<strong>in</strong> Wissen ane<strong>in</strong>en jungen Mann aus dem Ausland weitergeben wollte, damit sich dieIndologie und das Tocharische später <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a etablieren und entfaltenkonnten. Die Ultra-L<strong>in</strong>ken <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a allerd<strong>in</strong>gs würden wohl behaupten,dass dah<strong>in</strong>ter noch e<strong>in</strong>e andere Absicht steckte, wie beispielsweise unserLand zu unterwandern! In der Geschichte des Buddhismus <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a gibtes zahlreiche Überlieferungen. Da gab es zum Beispiel die viel gepriesenenTaten buddhistischer Mönche, die ihren Mantel und ihre Almosenschüsselihren Liebl<strong>in</strong>gsschülern weitergaben oder die sie heimlich <strong>in</strong> der Nachtunterrichteten, um nicht den Neid anderer Schüler zu wecken. Das habeich <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen ganz anders erlebt.Kurz gesagt, Pr<strong>of</strong>essor Sieg wollte mir unbed<strong>in</strong>gt Tocharisch beibr<strong>in</strong>gen.Er ließ mir ke<strong>in</strong>e andere Wahl. Er stellte e<strong>in</strong>en Zeitplan auf und derUnterricht sollte s<strong>of</strong>ort beg<strong>in</strong>nen. Ich war sehr gerührt und ihm sehrdankbar. Was sollte ich noch sagen? So entschloss ich mich, alles zu gebenund me<strong>in</strong> Leben zu riskieren, „um dem Edlen zu folgen“. In Gött<strong>in</strong>genbei dieser weltberühmten Autorität Tocharisch zu studieren, wünschtensich wohl viele Gelehrten weltweit. Viele Menschen würden sich bittereVorwürfe machen, wenn sie e<strong>in</strong>e solche Gelegenheit nicht ergriffen.


22 Das Tocharisch-Studium 143Ich saß jetzt an e<strong>in</strong>er Quelle, um die mich viele Menschen beneideten.Das war mir bewusst. Es wäre schwer verständlich gewesen, wenn ichdiese Gelegenheit nicht nutzte. Als Pr<strong>of</strong>essor Sieg mit dem Unterrichtbegann, kam gerade der belgische Wissenschaftler und Hethitologe WalterCouvreur nach Gött<strong>in</strong>gen, um ebenfalls bei Sieg Tocharisch zu studieren.Da bot es sich an, e<strong>in</strong>en eigenen Kurs <strong>in</strong> dieser Sprache anzubieten,den es bislang an der Universität nicht gegeben hatte. Wir waren nurzwei Studenten, beide Ausländer, wirklich e<strong>in</strong>e besondere Klasse.Trotzdem unterrichtete uns Pr<strong>of</strong>essor Sieg mit großer Sorgfalt. In se<strong>in</strong>emhochbetagten Alter g<strong>in</strong>g er mehrmals <strong>in</strong> der Woche von se<strong>in</strong>em Zuhauseim Osten der Stadt durch ganz Gött<strong>in</strong>gen zum Gauß-Weber-Gebäude,um dort zu unterrichten. Der Mann war e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> Wunder mit se<strong>in</strong>emlebendigen Geist und se<strong>in</strong>er geraden Haltung. Er benutzte ke<strong>in</strong>en Stockund trug ke<strong>in</strong>e Brille. Niemand begleitete ihn auf diesem langen Weg.Ke<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, ke<strong>in</strong>e Frau, niemand leistete ihm zu Hause Gesellschaft. Ander Universität <strong>in</strong>teressierte sich erst recht niemand für se<strong>in</strong>e Situation.Ältere Menschen zu ehren, diese Haltung ist <strong>in</strong> den westlichen Ländernso gut wie nicht vorhanden. Westliche Gesellschaften s<strong>in</strong>d pragmatisch:Wenn e<strong>in</strong> Mensch der Gesellschaft Nutzen br<strong>in</strong>gt, dann ist er wertvoll,wenn nicht, zählt er nichts mehr. Niemand hielt das für falsch. Pr<strong>of</strong>essorSieg ertrug se<strong>in</strong>e Situation ruhig, gelassen und mit Fassung.Die noch existierenden Tocharisch-Bände gab es nur im ch<strong>in</strong>esischenX<strong>in</strong>jiang. Zuvor hatte niemand mehr diese Sprache verstanden. Erst diePr<strong>of</strong>essoren Sieg und Siegl<strong>in</strong>g haben sich mit Hilfe von W. Schulze, demWissenschaftler für Sprachvergleich, durch die Bände gearbeitet und siesich erschlossen. Sie brachten die Tocharische Grammatik heraus undverschafften sich damit weltweit e<strong>in</strong>en Namen. Ihre neuen Erkenntnissewurden als Grundlagen des Faches anerkannt. Ihr 518 Seiten starkes Werk


144 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>war ke<strong>in</strong> Buch für Anfänger. Es war ungewöhnlich schwer lesbar, wie e<strong>in</strong>undurchdr<strong>in</strong>glicher Urwald, chaotisch, mit extrem vielen Verzweigungen.Es sich ohne die Unterstützung e<strong>in</strong>es Lehrers zu erarbeiten war äußerstschwierig. Wie ideal war es da, von e<strong>in</strong>er der Fachkapazitäten unterrichtetzu werden. Sieg unterrichtete Tocharisch nach der traditionellen deutschenMethode, über die ich vorher schon berichtet habe. Er erklärte ke<strong>in</strong>eGrammatik, sondern begann direkt damit Quellentexte zu lesen. Zunächstlasen wir geme<strong>in</strong>sam die von ihm und Siegl<strong>in</strong>g <strong>in</strong> late<strong>in</strong>ische Buchstabentranskribierten Texte: alle Quellentexte und tocharischen Fragmente,die sie geme<strong>in</strong>sam herausgegeben hatten, darunter das <strong>of</strong>t von Sieg als„Prachtstück“ bezeichnete „Puņyavanta-Ja _ taka“ 39 . In unserer Freizeitstudierten wir die Grammatik, schlugen im Index nach und übersetztenneue Begriffe. Wenn wir zum Unterricht kamen, trugen Couvreur und ichdie deutsche Übersetzung vor und Sieg korrigierte – e<strong>in</strong>e extrem schwereArbeit. Die Quellentext-Fragmente waren lückenhaft, nicht e<strong>in</strong>e Seite warvollständig. Ke<strong>in</strong>e Zeile h<strong>in</strong>g mit der nächsten zusammen, und <strong>in</strong> dem sogenannten „Prachtstück“ standen die Wörter zusammenhangslos e<strong>in</strong>andergegenüber. Hier fehlten Schriftzeichen, dort fehlten Silben. Wenn wirnicht akribisch genau forschten, konnten wir die Bedeutung nichtherausf<strong>in</strong>den, und der Erfolg war ungewiss. Sieg erklärte letztendlich sehrviel, wir trugen weniger bei. Kaurimuschel-Fragmente zu lesen, fehlendeWörter oder Silben zu ergänzen, dafür gab es e<strong>in</strong>e Reihe von Verfahren,wie ich im Tocharisch-Unterricht lernte. Me<strong>in</strong> Interesse am Studium stiegvon Tag zu Tag. Jede Woche g<strong>in</strong>g ich zweimal zum Unterricht. Es machteSpaß, und ich konnte gar nicht genug davon bekommen.Ich er<strong>in</strong>nere mich an e<strong>in</strong>e Situation, als im W<strong>in</strong>ter draußen alles verschneit39Nach der ch<strong>in</strong>esischen Übersetzung ist damit die „Fuy<strong>in</strong> Taizi-Bibel für Kausalität und Schicksal“(《 福 音太 子 因 缘 经 》),geme<strong>in</strong>t.


22 Das Tocharisch-Studium 145Ha<strong>in</strong>berg im W<strong>in</strong>ter


146 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>war. Ich kam aus dem Unterricht, die Abenddämmerung war schonhere<strong>in</strong>gebrochen. Wieder Verdunklung und überall F<strong>in</strong>sternis. Ich halfdem alten Herrn die Treppe h<strong>in</strong>unter. Die Straße war schneebedeckt undmenschenleer, die Umgebung beängstigend leise. Ich hörte das Geräuschunserer Schritte im Schnee. In den Augen funkelten weiße silberneLichter, als ob wir beide alle<strong>in</strong> auf der Welt wären. Weil ich fürchtete,me<strong>in</strong> Lehrer könnte stürzen, brachte ich ihn stützend nach Hause. Inme<strong>in</strong>em Leben gibt es viele wichtige D<strong>in</strong>ge, an die ich mich er<strong>in</strong>nere, aberbei der Er<strong>in</strong>nerung an diese Situation fühle ich e<strong>in</strong>e traurige Wärme <strong>in</strong> miraufsteigen, die sich mir fest e<strong>in</strong>geprägt hat.Ebenso wie die folgende Geschichte.Die Gött<strong>in</strong>ger Pr<strong>of</strong>essoren hatten e<strong>in</strong>e alte Tradition. Jeden Samstagnachmittaggegen 14 Uhr oder 15 Uhr g<strong>in</strong>gen sie im Wald spazierenund diskutierten meistens wissenschaftliche Fragen. Manchmal führtensie mit hochroten Köpfen Streitgespräche. Dann existierte die sanfteund bezaubernde Landschaft <strong>in</strong> den Augen der Pr<strong>of</strong>essoren nicht.Sie <strong>in</strong>teressierten sich nur für ihre wissenschaftlichen Probleme. Undwenn sie nicht müde vom Waldspaziergang waren, besuchten sie noche<strong>in</strong> Café, tranken und aßen etwas und kehrten dann müde zurück <strong>in</strong>die Stadt. E<strong>in</strong>mal g<strong>in</strong>g auch ich an e<strong>in</strong>em Samstagnachmittag unterhalbdes Ha<strong>in</strong>berges spazieren. Da traf ich zufällig Herrn Sieg und anderePr<strong>of</strong>essoren, die gerade <strong>in</strong> den Wald gehen wollten. Ich grüßte höflich.Als Herr Sieg mich sah, erklärte er stolz den anderen: „Er hat geradese<strong>in</strong> Rigorosum h<strong>in</strong>ter sich mit summa cum laude.“ Ich war <strong>in</strong> diesemAugenblick sehr beschämt. Me<strong>in</strong>e eigene Leistung war wirklichunbedeutend, und dieses Lob des alten Herrn war doch e<strong>in</strong> wenig zuviel.


22 Das Tocharisch-Studium 147In e<strong>in</strong>em ch<strong>in</strong>esischen Gedicht von Yang J<strong>in</strong>gzhi 40 aus der Tang-Zeit heißtes: „Yang J<strong>in</strong>g Zhi hat e<strong>in</strong> Leben lang se<strong>in</strong>en Schüler Xiang Si stets gelobt.Obwohl er wusste, welche Vorteile es hat, e<strong>in</strong>en exzellenten Nachfolgernicht zu loben, hat er es trotzdem getan.“Gelobt und als Beispiel dargestellt zu werden, das kam für mich völligunerwartet im mehr als zehntausend Li 41 entfernten Ausland. Nun war ichauf alles vorbereitet.E<strong>in</strong> anderes Mal hatte ich mir fest geschworen, dem alten Herrn etwasBesonderes zu essen zu besorgen, um ihn zu erfreuen. Me<strong>in</strong>e eigeneLebensmittellage war aber derart erbarmungswürdig, dass es schwerwar, etwas abzuzweigen. Ich hatte vielleicht zwei Monate lang ke<strong>in</strong>eButter gegessen. Ich besorgte etwas Mehl, e<strong>in</strong> paar Eier und e<strong>in</strong> Pfundweißen Zucker. In e<strong>in</strong>em sehr berühmten Kuchenladen bat ich darum,e<strong>in</strong>en Kuchen daraus zu backen. Das war zweifellos e<strong>in</strong> ausgesprochenwertvolles Geschenk. Wie e<strong>in</strong>e kostbare Schatulle trug ich den Kuchen <strong>in</strong>beiden Händen zum Haus des Pr<strong>of</strong>essors. Er war völlig überrascht, se<strong>in</strong>eHände zitterten e<strong>in</strong> wenig. Er rief se<strong>in</strong>e Frau. Sie nahmen geme<strong>in</strong>samden Kuchen entgegen und waren so aufgeregt, dass sie vergaßen sich zubedanken. Das fügte natürlich me<strong>in</strong>em Bauch, der vor Hunger brannte,e<strong>in</strong> weiteres Feuer h<strong>in</strong>zu. Im Herzen war ich dennoch froh. Ich er<strong>in</strong>neremich me<strong>in</strong> Leben lang besonders gern daran.Nachdem die amerikanischen Soldaten Gött<strong>in</strong>gen besetzt hattenund Ruhe e<strong>in</strong>gekehrt war, g<strong>in</strong>g ich zu Herrn Siegs Haus, um nachihm zu sehen. In der Nähe se<strong>in</strong>es Hauses war e<strong>in</strong> Artilleriegeschosse<strong>in</strong>geschlagen, als die amerikanischen Truppen die Stadt aus westlicher40Yang J<strong>in</strong>gzhi 杨 敬 之 , Tang-Dynastie.41Im Ch<strong>in</strong>esischen werden mit dem Ausdruck „zehntausend Li“ große Entfernungen bezeichnet.


148 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Richtung beschossen hatten. Se<strong>in</strong>e Frau erzählte mir, zum Zeitpunkt derExplosion sei ihr Mann gerade, gebeugt über die Tischplatte, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>eTocharisch-Lektüre vertieft gewesen. Sämtliche Fensterscheiben warenzerbrochen. Überall auf se<strong>in</strong>em Tisch lagen Scherben. Aber ihm warnichts passiert. Als ich das hörte, bekam ich nachträglich Angst. FürHerrn Sieg war die Forschung wichtiger als se<strong>in</strong> Leben. Me<strong>in</strong> Respekt fürihn schlug so hohe Wellen wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ozean. Sieg war e<strong>in</strong> erfolgreicherMann. Die deutschen Wissenschaftler verzeichneten überhaupt brillanteErfolge. Das musste ja irgendwo herkommen. Was können wir aus dieserkle<strong>in</strong>en Geschichte lernen?Ich er<strong>in</strong>nere mich an den Verlauf me<strong>in</strong>es Tocharisch-Studiums nurbruckstückhaft. Eigentlich war die Wahl e<strong>in</strong> Zufall. Ja, aber das stimmtauch nicht ganz. Mit dem Zufall e<strong>in</strong>her g<strong>in</strong>g auch e<strong>in</strong>e Notwendigkeit.Können wir hier von Notwendigkeit sprechen? Egal, ich habe dieSprache gelernt und dieses Wissen nach Ch<strong>in</strong>a gebracht. Obwohl ichTocharisch nicht als Hauptfach, sondern als Nebenfach studierte undaus unterschiedlichen Gründen später über dreißig <strong>Jahre</strong> nicht darangearbeitet habe, nahm ich die Studien danach wieder auf. Immerh<strong>in</strong>haben diese Sprachforschungen <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a Wurzeln geschlagen und sicherfolgreich etabliert. Wenn ich daran denke, er<strong>in</strong>nere ich mich dankbar anme<strong>in</strong>en großväterlichen Lehrer Sieg.Pr<strong>of</strong>essor Sieg ist <strong>in</strong>zwischen längst gestorben, ich selbst b<strong>in</strong> fast achtzig<strong>Jahre</strong> alt und die Zeit für me<strong>in</strong>e Arbeit ist begrenzt, aber die Gedankenan ihn beflügeln me<strong>in</strong>e Kräfte. Ich habe me<strong>in</strong> Wissen zurück nach Ch<strong>in</strong>agebracht. Wir haben die ch<strong>in</strong>esische Tocharisch-Forschung, oder bessergesagt, die ch<strong>in</strong>esische Indologie, <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a gegründet. Wir – das stehtauch für e<strong>in</strong>e Gruppe von tatkräftigen Sanskrit-Forschern mittleren Alters,


22 Das Tocharisch-Studium 149Schüler von J<strong>in</strong> Kemu und mir, also Schüler der Schüler von Pr<strong>of</strong>essorSieg und Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt. Sie tragen e<strong>in</strong>e riesige Verantwortungauf ihren Schultern, davon b<strong>in</strong> ich überzeugt. Wenn ich das bedenke, kannich e<strong>in</strong>e neu aufkommende Lebensenergie nicht unterdrücken, obwohl ichbereits alt und verwirrt b<strong>in</strong>.


150 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>23. Me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong>Ich habe sie schon e<strong>in</strong>ige Male erwähnt – me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> FrauOppel. Jetzt will ich mich auf sie konzentrieren und über sie sprechen.Wir haben zehn <strong>Jahre</strong> geme<strong>in</strong>sam erlebt. Wir teilten Freud und Leid.Während der ganzen Zeit kümmerte sie sich um mich wie e<strong>in</strong>e Mutter.Me<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung an sie ist e<strong>in</strong> schöner und süßer Traum.Frau Oppel war e<strong>in</strong>e ganz normale deutsche Frau, bei me<strong>in</strong>er Ankunftetwa fünfzig <strong>Jahre</strong> alt und damit rund fünfundzwanzig <strong>Jahre</strong> älter alsich. Nichts an ihr war ungewöhnlich. Ihre Kleidung war unauffällig, ihreArt zu sprechen und ihre Gewohnheiten waren es auch, also e<strong>in</strong> ganznormaler Mensch.Doch je länger wir geme<strong>in</strong>sam <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Haus lebten, destoaußergewöhnlicher fand ich sie. Sie war ehrlich, aufrichtig, gutmütig,freundlich. Sie gab nicht an, und sie konnte nicht lügen. Sie war e<strong>in</strong>bisschen vore<strong>in</strong>genommen und borniert, aber auch das war ganz normalund hielt sich <strong>in</strong> Grenzen. Es ergänzte ihre menschliche Wärme nur. Mitihr konnte ich mich ungezwungen und vertraut unterhalten. Alles war


23 Me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> 151natürlich – wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em warmen Frühl<strong>in</strong>gsw<strong>in</strong>d.Ihr Leben verlief <strong>in</strong> geordneten Bahnen. Ihre Welt war die Familie. InCh<strong>in</strong>a gibt es e<strong>in</strong>en Satz: „Frauen s<strong>in</strong>d an den Feuerherd gefesselt.“In <strong>Deutschland</strong> gab es ke<strong>in</strong>en solchen Herd, sondern Gaskocher undElektrizität. Aber das Reich me<strong>in</strong>er Vermieter<strong>in</strong> war die Küche. JedenMorgen machte sie Frühstück für ihren Mann und für mich. Danachwischte sie ohne Pause den Fußboden, die Treppe und den Gehweg vorder Haustür. Sie polierte den Fußboden und die Treppe mit Wachs, bissie glatt waren. Der Gehweg vor der Haustür wurde nicht nur gefegt,sondern mit Scheuermitteln geschrubbt. Wer sich auf den Gehweg setzte,fand sicher ke<strong>in</strong> Stäubchen an der Kleidung. Deutsche mögen es sauber,das ist weltbekannt. Es gibt e<strong>in</strong> Wort auf Deutsch, das heißt „Putzteufel“.Es bezeichnet Frauen, die putzsüchtig s<strong>in</strong>d und den ganzen Tag wischen,fegen und schrubben. Teufel heißt auf Ch<strong>in</strong>esisch „mogui“, putzen heißt„dasao“. Es gibt ke<strong>in</strong>en entsprechenden Ausdruck <strong>in</strong> unserer Sprache.Me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung nach war me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong>, genau wie die meistendeutschen Frauen, e<strong>in</strong> hundertprozentiger Putzteufel.Aber sie kümmerte sich um alles, was ich brauchte. Die Lebensgewohnheitender Deutschen unterscheiden sich von denen der Ch<strong>in</strong>esen. Nach demAufstehen frühstücken sie, dann gehen sie zur Arbeit. Um elf Uhrverspeisen sie Brote mit Wurst oder Käse, die sie von zu Hausemitnehmen. Um 13 Uhr gibt es Mittagessen: e<strong>in</strong>e warme Suppe undandere Speisen. Das Hauptgericht besteht aus Kart<strong>of</strong>feln. Um 16 Uhrtr<strong>in</strong>ken sie Tee und verzehren dazu süßes Gebäck. Um 19 Uhr nehmensie das Abendessen zu sich, tr<strong>in</strong>ken Tee oder Kaffee und essen Wurst,Sch<strong>in</strong>ken oder trockenen Käse. Ich war e<strong>in</strong> junger armer Student undhatte weder die Zeit noch das Geld, diese Lebensgewohnheiten zugenießen. Ich hatte immer noch die ch<strong>in</strong>esischen Gewohnheiten: drei


152 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Mahlzeiten pro Tag. Zum Frühstück gab es zu Hause e<strong>in</strong>e Kanne Tee undzwei Scheiben Brot. Mittags aß ich warm <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gaststätte oder <strong>in</strong> derMensa. Abends aß ich zu Hause. Me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> hatte für mich etwasvom Mittagessen zurückbehalten. Daher genoss ich auch e<strong>in</strong> warmesAbendessen, wie <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a üblich. Und nachdem Frau Oppel sich mit dench<strong>in</strong>esischen Essgewohnheiten auskannte, bereitete sie mir sorgfältig dasAbendessen zu. Ich freute mich sehr, nach der täglichen Arbeit im Institutzu Hause e<strong>in</strong> warmes Essen zu bekommen, und war me<strong>in</strong>er Vermieter<strong>in</strong>dafür herzlich dankbar.Nach dem Abendessen arbeitete ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Zimmer. Um 22 Uhrerschien Frau Oppel, nahm das Bettzeug, legte es aufs S<strong>of</strong>a und strichdie Bettdecke glatt. Diese Arbeit war e<strong>in</strong>fach. Ich hätte das auch tunkönnen, aber das wollte sie nicht. Für ihren Sohn, der vorher diesesZimmer bewohnte hatte, hatte sie das auch jeden Tag gemacht. Nachder Arbeit unterhielt sie sich mit mir. Sie berichtete mir haargenau alles,was sie den ganzen Tag gemacht hatte: wen sie gesehen, was sie gekauft,was sie erlebt hatte und wo sie gewesen war – sie erzählte e<strong>in</strong>s nachdem anderen. Ihre Schilderungen waren anschaulich und freundlich. Ichkonnte nichts dazu sagen und ihren Ausführungen nur wortlos zuhören,zunächst ganz e<strong>in</strong>fach deshalb, weil kurz nach me<strong>in</strong>er Ankunft me<strong>in</strong>edeutschen Sprachkenntnisse <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> nicht ausreichten, und fürme<strong>in</strong>e Deutschkenntnisse war es hilfreich, ihr jeden Tag e<strong>in</strong>e halbe Stundezuzuhören. Frau Oppel wurde wirklich zu me<strong>in</strong>er Lehrer<strong>in</strong>. Ich brauchtesie nicht e<strong>in</strong>mal zu bezahlen. Das sah sie als selbstverständlich an. Nachihrem täglichen Bericht wünschten wir uns „Gute Nacht, schlafen Sie gut!“Dann g<strong>in</strong>g sie <strong>in</strong> ihr Zimmer. Ich stellte me<strong>in</strong>e Schuhe vor die Tür, die sieam nächsten Morgen putzte. Me<strong>in</strong> Tag g<strong>in</strong>g zu Ende und ich legte michschlafen.


23 Me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> 153Frau Oppel verrichtete auch alle anderen Arbeiten, wie Wäsche undBettwäsche waschen oder Warmwasser für die Dusche vorbereiten. Dasdeutsche Oberbett war mit Entenfedern gefüllt. Diese Federn rutschtenim Bezug h<strong>in</strong> und her. Sie waren nicht zu bändigen. Am Anfang konnteich mich nicht daran gewöhnen, denn während ich schlief oder michim Traum bewegte, wanderten die Entenfedern von e<strong>in</strong>er Seite auf dieandere. Da türmten sie sich auf zu e<strong>in</strong>em Berg, die andere Seite war ganzflach. So konnte die Decke natürlich ke<strong>in</strong>e Kälte abhalten. Oft wachte ichauf vor Kälte. Als ich das me<strong>in</strong>er Vermieter<strong>in</strong> erzählte, lachte sie, bis ihrdie Tränen runterliefen. Sie erklärte mir dann genau, wie ich das Federbettbenutzten musste. Ich fühlte mich wie e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d. Es war schön, dass siesich so fürsorglich um mich kümmerte.Frau Oppel schien e<strong>in</strong> harmonisches Familienleben zu führen. Ihr Mannwar ehrlich und tolerant. Der e<strong>in</strong>zige Sohn lebte nicht zu Hause. DasEhepaar liebte se<strong>in</strong>en Sohn wie e<strong>in</strong>e glänzende Perle auf der Handfläche.Ich er<strong>in</strong>nere mich an e<strong>in</strong>e Zeit, <strong>in</strong> der ihr Mann dem Sohn, der <strong>in</strong>Darmstadt studierte, jeden Monat Wurst und Brot per Post schickte.Ihr Mann hatte Be<strong>in</strong>probleme und h<strong>in</strong>kte. Er konnte zwar an e<strong>in</strong>emStock gehen, aber nur mit viel Mühe. Trotzdem nahm er die Last aufsich und h<strong>in</strong>kte Monat für Monat zur Post. Während e<strong>in</strong>er Urlaubsreise,auf der sie e<strong>in</strong>mal ihren Sohn besuchten, fanden die beiden <strong>in</strong> se<strong>in</strong>emZimmer im Studentenwohnheim jene Lebensmittel wieder, die der Vatertrotz aller Strapazen regelmäßig zur Post getragen hatte. Wurst und Brotlagen verschimmelt und vertrocknet unter dem Schreibtisch. Zu Hausezurück, berichtete Frau Oppel mir darüber am Abend. Sie war erschüttert.Unverständlich, dass ihr Mann mit se<strong>in</strong>en kranken Be<strong>in</strong>en nach wie vorzur Post humpelte und se<strong>in</strong>em Sohn weiterh<strong>in</strong> Wurst und Brot schickte.Ich musste gleich an den ch<strong>in</strong>esischen Satz e<strong>in</strong>es Gedichtes denken:


154 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>„Schade, dass K<strong>in</strong>der das Herz der Eltern wenig achten.“ Das war früherso wie heute, <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> wie <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a.Aber wie die K<strong>in</strong>der sich ihren Eltern gegenüber verhalten, ist im Ostenund im Westen unterschiedlich. Der Vermieter von Frau Zhang beweistdas. Ich me<strong>in</strong>e nicht, dass die K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> jedem Fall gehorsam undpietätvoll se<strong>in</strong> sollten. Übertragen wir aber das auf zwischenmenschlicheBeziehungen, da muss ich fragen: Ist der Sohn des Vermieters nicht zuweit gegangen?Frau Oppel konnte auch böse werden.Nachdem ihr Sohn geheiratet hatte, wohnte er mit Frau und Tochteraußerhalb der Innenstadt. Die junge Familie besuchte die Eltern. DieSchwiegertochter sah sehr hübsch aus und kleidete sich modisch. Sie warjung und unbedacht. Me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> behandelte sie wenig freundlichund verwöhnte ihre Enkel<strong>in</strong> auch nicht. Die Generationskluft war spürbar.E<strong>in</strong>mal hatte ihre Schwiegertochter zu viel Papier auf der Toilette benutzt,so dass diese verstopfte. Frau Oppel regte sich furchtbar auf und verbargihren Ärger nicht vor mir. Ihr Gesichtsausdruck zeigte Empörung,Ger<strong>in</strong>gschätzung, Unzufriedenheit und Abscheu. Natürlich redete sie mitihrem Sohn nicht darüber, wahrsche<strong>in</strong>lich auch nicht mit ihrem Mann.Ich war der E<strong>in</strong>zige auf der ganzen Welt, mit dem sie darüber sprechenkonnte.Frau Oppel hatte Vorbehalte, wie das schon erwähnte Beispiel mit denHüten zeigt. Ihre Vorurteile beschränkten sich aber nicht nur auf derartigeGer<strong>in</strong>gfügigkeiten. Besondere Vorurteile betrafen die Religion. Sie warProtestant<strong>in</strong> und hasste Katholiken. Religiöse Vorurteile gibt es überallauf der Welt und <strong>in</strong> allen Nationen. Dieses Vorurteil ist stärker als alleanderen. Zwischen den Katholiken und Protestanten waren sie <strong>in</strong> Europabesonders ausgeprägt. Frau Oppel hatte ke<strong>in</strong>e gehobene Bildung, daher


23 Me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> 155hielt sie an ihren Vorurteilen beharrlich fest. Es gab e<strong>in</strong>e nette Katholik<strong>in</strong>,die für me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> monatlich die Wäsche wusch. Diese Katholik<strong>in</strong>,e<strong>in</strong>e alte Jungfer und älter als Frau Oppel, vielleicht um die sechzig <strong>Jahre</strong>,war arm, hatte ke<strong>in</strong>en Beruf gelernt und bestritt ihren Lebensunterhalt alsHaushaltshilfe. Sie war ehrlich und sprach nicht viel, war aber überzeugteKatholik<strong>in</strong>. Alles, was sie nicht für ihr außergewöhnlich schlichtes Lebenbenötigte, spendete sie der Kirche. Wahrsche<strong>in</strong>lich h<strong>of</strong>fte sie nach ihremTod auf e<strong>in</strong>en Platz im Himmel. Me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> sagte mir <strong>of</strong>t, dassTherese, so hieß die Katholik<strong>in</strong>, ihrem Glauben so treu sei wie Gold.Aber treu zu se<strong>in</strong> war e<strong>in</strong>e Sache, Religion e<strong>in</strong>e andere. Wenn sie darübersprachen, g<strong>in</strong>gen ihre Me<strong>in</strong>ungen ause<strong>in</strong>ander. Abends erzählte sie mirdavon und konnte ihre Kritik nicht verhehlen.Kurzum, me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> war e<strong>in</strong>e Person, die manchmal ungerechtund vore<strong>in</strong>genommen war und sich nicht um die großen D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> derWelt kümmerte. E<strong>in</strong> ganz eigener, aber auch e<strong>in</strong> ganz normaler Mensch,nett, ehrlich und e<strong>in</strong>fach.Ihr Leben bestand nicht nur aus Sonnensche<strong>in</strong>, und natürlich hatte auchsie Enttäuschungen h<strong>in</strong>nehmen müssen. So erfuhr ich von ihr, dass vordem Ersten Weltkrieg viele deutsche Familien Gold zu Hause hatten.Nach diesem Krieg gab es e<strong>in</strong>e verheerende Inflation <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>.Da war auch ihr bisschen Gold nichts mehr wert. Während des ZweitenWeltkrieges musste sie mit wenig Geld den Haushalt bestreiten. FrauOppel <strong>in</strong>teressierte sich nicht für Politik. Sie war weder für Hitler nochgegen ihn, aber sie schwamm mit dem Strom und schimpfte auf dieJuden. Sie war nicht aktiv, sie war e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e Mitläufer<strong>in</strong>.Sie hatte ke<strong>in</strong>e Beziehungen zu Menschen auf dem Lande. Daher fehltees ihr genau wie mir an Lebensmitteln. Während des Krieges wurde ihrMann immer dünner. Später ist er dann gestorben. Sie hatten die ganze


156 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Zeit <strong>in</strong> Frieden und E<strong>in</strong>tracht gelebt. Nie gab es Streitigkeiten zwischendem Ehepaar. Nach dem Tod ihres Mannes war sie e<strong>in</strong>sam, und derSohn besuchte sie selten. Die Wohnung war wie ausgestorben. Was <strong>in</strong> ihrvorg<strong>in</strong>g, wusste ich nicht. Es schien, dass sie nur mit mir, e<strong>in</strong>em jungenMenschen aus e<strong>in</strong>em fremden Land, zusammen im Haus leben konnte.Als der Krieg zu Ende g<strong>in</strong>g, wurde das Leben zunehmend härter. Esmangelte noch mehr an Lebensmitteln und Heizmaterial. Die StadtGött<strong>in</strong>gen erlaubte ihren E<strong>in</strong>wohnern, Bäume im Wald zu fällen –wieder e<strong>in</strong> Beispiel dafür, wie sorgfältig und ordentlich die Deutschen dieVersorgung organisierten und sich dabei streng an die Gesetze hielten.Die Beamten bezeichneten e<strong>in</strong>en Ort und bestimmten, welche Bäumedort gefällt werden durften. Die mit e<strong>in</strong>em roten Kreis markiertenBäume konnten geschlagen werden. Wer e<strong>in</strong>en nicht markierten Baumgefällt hatte, musste e<strong>in</strong> Bußgeld bezahlen. Da es <strong>in</strong> der Familie me<strong>in</strong>erVermieter<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e männliche Arbeitskraft gab, fühlte ich mich natürlichverpflichtet zu helfen. Das tat ich herzlich gern. Ich begleite sie zumBerg, fällte den ganzen Tag Bäume und transportierte sie zu e<strong>in</strong>emTischler. Der schnitt die Baumstämme mit e<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>e <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eStücke. Danach brachten wir das Holz nach Hause und lagerten es imKeller als Heizvorrat. Der Tischler war nicht sehr freundlich. Ich musstemich mit ihm streiten. Später entschuldigte er sich, und ich konnte dieAngelegenheit mit e<strong>in</strong>em Lächeln erledigen.Es gab damals noch e<strong>in</strong>e deutsche Eigenschaft, die Frau Oppel mit denmeisten ihrer Landsleute teilte: den Respekt vor Titeln. Die durften beider Anrede nicht fehlen. E<strong>in</strong> Pr<strong>of</strong>essor wurde mit „Herr Pr<strong>of</strong>essor“angeredet, e<strong>in</strong> Doktor mit „Herr Doktor“. Wer das nicht tat, galt alsunhöflich. Me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> bildete da ke<strong>in</strong>e Ausnahme. Als ich me<strong>in</strong>emündliche Prüfung bestanden hatte und sie mir an demselben Abend


23 Me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> 157über ihren Tagesablauf berichtete, fragte sie plötzlich: „Soll ich ab heute,Herr Doktor‘ sagen?“ Überrascht entgegnete ich ihr, dass sei wirklichnicht nötig. Damit war das Thema erledigt. Sie redete mich nach wie vormit „Herr Ji“ an und ich sie mit „Frau Oppel“.<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> lebten wir von morgens bis abends unter e<strong>in</strong>em Dachund hatten nie Probleme mite<strong>in</strong>ander. Es gibt so viele wertvolle, guteEr<strong>in</strong>nerungen. Selbst schwierige Situationen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Er<strong>in</strong>nerung nochsüß.Als ich <strong>Deutschland</strong> verließ und mich <strong>in</strong> der Schweiz aufhielt, schriebich ihr e<strong>in</strong>ige Briefe. Nach me<strong>in</strong>er Rückkehr <strong>in</strong> Beij<strong>in</strong>g fand ich untergroßen Mühen und Anstrengungen e<strong>in</strong>e Dose amerikanischen Kaffee.Ich war hocherfreut, weil ich wusste, dass sie wie alle Deutschen Kaffeewie das eigene Leben liebte. Ich lief s<strong>of</strong>ort zur Post und schickte ihr denKaffee <strong>in</strong> der H<strong>of</strong>fnung, dass er ihr über tausend Berge und zehntausendFlüsse h<strong>in</strong>weg Freude bereiten würde <strong>in</strong> ihrem e<strong>in</strong>samen Leben. Icher<strong>in</strong>nere mich nicht, ob sie mir zurückgeschrieben hat. In den fünfziger<strong>Jahre</strong>n waren Beziehungen zum Ausland gefährlich geworden. Ich hattenicht mehr den Mut, ihr weitere Briefe zu schreiben. Danach war me<strong>in</strong>eH<strong>of</strong>fnung, e<strong>in</strong>en Brief von Frau Oppel zu erhalten, so unerreichbargeworden wie die Wolken und der Himmel, wie <strong>in</strong> Du Fus Gedichtbeschrieben: „Morgen liegen zwischen uns Berge und Flüsse und niemandweiß, wie es weitergeht.“Im Jahr 1980, fast vierzig <strong>Jahre</strong> nach me<strong>in</strong>em Abschied aus <strong>Deutschland</strong>,kehrte ich zu Besuch <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e zweite Heimat Gött<strong>in</strong>gen zurück. Me<strong>in</strong>eehemalige Wohnung und das Haus fand ich genau so vor wie früher. Dievergangenen vierzig <strong>Jahre</strong> hatten ke<strong>in</strong>e Spuren h<strong>in</strong>terlassen. Ich g<strong>in</strong>g <strong>in</strong>die zweite Etage. Der Namen auf dem Mess<strong>in</strong>gschild hatte sich geändert.Niemand vermochte mir zu sagen, wo me<strong>in</strong>e frühere Vermieter<strong>in</strong>


158 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>geblieben war. Wahrsche<strong>in</strong>lich hatte sie diese Welt längst verlassen undlag mit ihrem Mann zusammen auf dem Friedh<strong>of</strong>. So war das Leben.Was konnte ich tun? Ich kann nur herzlich ihren Geistern im Himmelwünschen – wenn es sie gibt: Sie mögen <strong>in</strong> Frieden ruhen!


24 Menschen, die gegen Hitler waren 15924. Menschen, die gegenHitler warenVor me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>reise <strong>in</strong>s Ausland hatte mich me<strong>in</strong> Lehrer vonder Q<strong>in</strong>ghua Universität darauf aufmerksam gemacht, dass<strong>Deutschland</strong> unter faschistischer Herrschaft stehe, und mich vorunbedachten Äußerungen und Verhaltensweisen gewarnt. Über Politiksollte ich nicht sprechen.Diese wichtigen und gut geme<strong>in</strong>ten Worte habe ich stets beherzigt.Nach me<strong>in</strong>er Ankunft <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> war die Ausweisung der Judenwohl fast beendet. Es sah aus, als hätten die meisten Leute Hitler dabeiunterstützt. Ich hatte nicht den E<strong>in</strong>druck, als fühlten sich die Menschenunterdrückt. Natürlich sprachen die Medien mit e<strong>in</strong>er Stimme und zogenam gleichen Strang. Sie wurden wohl von der Regierung gesteuert. E<strong>in</strong>igeLeute unterstützten aktiv die Politik der Nazis, andere sahen tatenlos zu.Ich habe schon erwähnt, dass ich e<strong>in</strong> deutsches Mädchen kannte, das e<strong>in</strong>K<strong>in</strong>d von Hitler haben wollte. Das war sicher ungewöhnlich, aber das


160 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Mädchen hatte es ernst geme<strong>in</strong>t.Was Hitler <strong>in</strong>nen- und außenpolitisch machte, darüber sahen wirch<strong>in</strong>esische Studenten h<strong>in</strong>weg. Se<strong>in</strong>e Rassentheorie aber konnten wirnicht akzeptieren. Sie beleidigte uns Ch<strong>in</strong>esen. Er behauptete, dass nurdie sogenannte „nordische Rasse“ die Kultur der Menschheit geschaffenhabe, Ch<strong>in</strong>esen und alle anderen Rassen dagegen kulturlos seien. Dieseabsurde Behauptung hat die hier studierenden Ch<strong>in</strong>esen zornig gemacht.Doch wir lebten unter e<strong>in</strong>em fremden Dach und hatten nur den Mut zuzürnen, aber nicht den Mut zu kämpfen.Unter den Deutschen, die ich kannte, gab es e<strong>in</strong>ige, die wirklich gegenHitler waren. Meistens aber schwiegen sie, um ihr eigenes Leben nichtzu gefährden. Wenn ich deutsche Freunde traf, egal wie gut wir unskannten, hielt ich mich streng an me<strong>in</strong> Motto: Nicht über Politiksprechen! Nach e<strong>in</strong>iger Zeit fiel das natürlich me<strong>in</strong>en Freunden auf. Sieäußerten sich <strong>of</strong>fen über Hitler, zunächst noch ruhig, dann aber immerwütender. Am Ende schimpften sie ganz heftig über ihn. Es gab e<strong>in</strong>enRichter im Ruhestand, mehr als doppelt so alt wie ich, der mich tiefbee<strong>in</strong>druckte. Kennen gelernt hatte ich ihn durch e<strong>in</strong>en ch<strong>in</strong>esischenStudenten mit geheimnisvoller Herkunft, der großen Respekt vor Hitlerhatte. Wahrsche<strong>in</strong>lich gehörte er früher der ehemaligen ch<strong>in</strong>esischenGeheimdienstorganisation der Nanj<strong>in</strong>g-Regierung, den „Blauen Kleidern“,an. Ke<strong>in</strong>er von uns wollte etwas mit ihm zu tun haben. Se<strong>in</strong> Vorgesetzterhatte großen Respekt vor Hitler. Ausgerechnet dieser Student hatte e<strong>in</strong>enRichter als Freund, der gegen Hitler war. Aus ch<strong>in</strong>esischer Sicht galt erdeshalb als ungehorsamer Schüler. Egal, über ihn hatte ich jenen Richterkennengelernt. Der wetterte gegen alles, was Hitler tat. Ich war nie bei


24 Menschen, die gegen Hitler waren 161ihm zu Hause. Wahrsche<strong>in</strong>lich war er e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>samer alter Mann. Nur mituns konnte er <strong>of</strong>fen sprechen und schimpfen. Das machte ihm Freude.E<strong>in</strong>en anderen deutschen Freund, e<strong>in</strong> Mediz<strong>in</strong>-Student, der gegen HitlerWiderstand leistete, lernte ich durch Long Piyan kennen. Er war nochjung, etwa zwanzig <strong>Jahre</strong> alt, also ungefähr so alt wie ich. Anders als derRichter verhielt er sich freundlich. Er sprühte vor Energie, hatte schwarzeHaare und Augenbrauen. Se<strong>in</strong>e Geistesgegenwart und Intelligenz waren<strong>of</strong>fensichtlich. Ich wusste nichts über se<strong>in</strong>e Herkunft und auch nicht,warum er Hitler ablehnte. Die geme<strong>in</strong>same E<strong>in</strong>stellung hat uns <strong>in</strong>dessenzusammengeschweißt. 42 Wir hatten das gleiche Schicksal. Das verbanduns, auch wenn wir uns noch nicht lange kannten.Es gab sicherlich e<strong>in</strong>ige Deutsche an der Universität, die Hitler ablehnten.Doch überwiegend zeigten sich die Deutschen gegenüber se<strong>in</strong>er Politikgleichgültig. Gut, dass ich die beiden Leute, die Hitler ablehnten, kennengelernt hatte. Das beruhigte mich. Am Wochenende verabredeten wiruns manchmal zu e<strong>in</strong>em Spaziergang im Wald. Nach dem Motto „E<strong>in</strong>emTrunkenbold geht es nicht um den We<strong>in</strong>“ g<strong>in</strong>g es uns dabei natürlich auchnicht nur um den Spaziergang. Ich er<strong>in</strong>nere mich an e<strong>in</strong>en Spaziergang imFrühl<strong>in</strong>g. Die Luft war lau und der Himmel blau, der Wald zeigte frischesGrün, die Vögel zwitscherten und die Blumen dufteten. Es war ruhig. Wirwaren alle<strong>in</strong>, saßen auf e<strong>in</strong>er Bank und schimpften über Hitler. Das warendie kle<strong>in</strong>en Freuden des damaligen Lebens. Wir befanden uns im tiefenWald, und nur selten kamen Leute vorbei. Angst belauscht zu werdenhatten wir nicht. Wir konnten laut diskutieren und unserem Hass freienLauf lassen. In solchen Momenten hatten wir für die schöne Landschaft42Anspielung auf die „Pipa-Reise“(《 琵 琶 行 》)von Bai Juyi (s. Anm. 8).


162 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>ke<strong>in</strong>e Augen.Inzwischen ist der Richter sicher gestorben, der Mediz<strong>in</strong>-Student lebtvielleicht noch. Nach me<strong>in</strong>em Abschied von Gött<strong>in</strong>gen ist der Kontaktabgebrochen. Manchmal er<strong>in</strong>nere ich mich an ihn. Schade, dass unsdas Leben ause<strong>in</strong>ander geführt hat. Wir werden uns wohl nicht mehrbegegnen.


25 Familie Boehncke 16325. Familie BoehnckeWenn ich über Menschen schreibe, die Widerstand gegen Hitlerleisteten, darf ich die Familie Boehncke nicht vergessen.Eigentlich gab es nur Mutter und Tochter. Zunächst lernte ich dieTochter kennen. Wir waren Kommilitonen. Sie war e<strong>in</strong>ige <strong>Jahre</strong> älterals ich und studierte am Sem<strong>in</strong>ar für Slawische Philologie, das sich imGauß-Weber-Gebäude auf derselben Etage wie das Institut für Sanskritbefand. Gegenüber der Haupttür <strong>in</strong> der zweiten Etage lag das Institut fürIranistik, l<strong>in</strong>ks davon das Institut für Sanskrit und rechts das Institut fürSlawistik. Ich g<strong>in</strong>g jeden Tag <strong>in</strong>s Institut, Fräule<strong>in</strong> Boehncke mehrmals<strong>in</strong> der Woche. Wir lernten zusammen Russisch bei Doktor von Grimm.Manchmal lud sie mich zum Tee e<strong>in</strong>. Durch mich hatte sie auch ZhangWei und Lu Shijia kennen gelernt. Ihr Vater lebte nicht mehr, ihr blieb nurdie Mutter. Der Vater hatte als Pr<strong>of</strong>essor zur guten Gesellschaft gehört.An Geld fehlte es Mutter und Tochter deshalb nicht. Beide bewohntenalle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ganze Etage, die mit prunkvollen Antiquitäten e<strong>in</strong>gerichtetwar. Ihr Vater war nur zu e<strong>in</strong>em Viertel oder e<strong>in</strong>em Sechstel jüdischer


164 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Abstammung, daher konnte er der Verfolgung entkommen und bis zuse<strong>in</strong>em Tod e<strong>in</strong> friedliches Leben führen. Dennoch hegten sie e<strong>in</strong>enbesonders starken Widerwillen gegen Hitler. E<strong>in</strong> Grund, weshalb wir unsgut verstanden.Fräule<strong>in</strong> Boehncke war e<strong>in</strong>e Elitestudent<strong>in</strong> und sprach viele Sprachen.Von den slawischen Sprachen beherrschte sie Russisch, Tschechischund Serbisch. Aber da diese Sprachen zu ihrem Hauptfach gehörten,überraschte mich das nicht. Ihre Nebenfächer kannte ich nicht. Sie hattee<strong>in</strong>ige Semester vor mir mit dem Studium begonnen, und ihre Leistungenwaren ausgezeichnet. Als Frau wurde sie natürlich nicht <strong>in</strong> die Armeee<strong>in</strong>gezogen.Obwohl sie für ihr Studium also ausreichend Zeit und hervorragendeFähigkeiten besaß, studierte sie immer noch, als ich me<strong>in</strong> Rigorosumbereits bestanden hatte. Die Gründe dafür kannte ich nicht.Fräule<strong>in</strong> Boehnke war nicht besonders hübsch und e<strong>in</strong> bisschene<strong>in</strong>gebildet. Deshalb hatte sie wahrsche<strong>in</strong>lich nur wenige Freundegew<strong>in</strong>nen können. Sie war viel älter als fünfzehn, 43 hatte aber nochke<strong>in</strong>en Freund gehabt. Für sie stellte das ke<strong>in</strong>en Makel dar, denn Mutterund Tochter lebten zusammen wie e<strong>in</strong> Körper und se<strong>in</strong> Schatten. IhreBeziehung war sehr eng. Ich er<strong>in</strong>nere mich, dass ich die beiden e<strong>in</strong>mal beie<strong>in</strong>em Spaziergang im Wald gesehen hatte. Sie g<strong>in</strong>gen Schulter an Schulterund Arm <strong>in</strong> Arm spazieren, rechts die Mutter und l<strong>in</strong>ks die Tochter. Siehielten Gleichschritt, wie auf Kommando <strong>in</strong> der Kaserne. Ihr Tempoentsprach eher e<strong>in</strong>er sportlichen Diszipl<strong>in</strong>. Im ruhigen Wald hörte manihre Schritte blitzschnell im tiefen Wald verschw<strong>in</strong>den. Unter e<strong>in</strong>emSpaziergang verstehen wir Ch<strong>in</strong>esen langsam, entspannt und bequem zu43Aus früherer ch<strong>in</strong>esischer Sicht sollte e<strong>in</strong> Mädchen mit fünfzehn verheiratet se<strong>in</strong>.


25 Familie Boehncke 165gehen.Gelegentlich lud Fräule<strong>in</strong> Boehncke das Ehepaar Zhang Wei undmich zum Tee oder zum Essen zu sich nach Hause e<strong>in</strong>. Ihre Mutterwar kle<strong>in</strong>, hatte e<strong>in</strong> freundliches Gesicht und e<strong>in</strong>e vornehme Art zusprechen. Ihr Auftreten wirkte würdevoll. Sie schien hochgebildet zuse<strong>in</strong>. Frau Boehncke kannte sich <strong>in</strong> europäischer klassischer Kultursehr gut aus, sowohl <strong>in</strong> der Musik, <strong>in</strong> der Literatur, <strong>in</strong> der Kunst alsauch <strong>in</strong> der Malerei. Sie konnte uns mit ihren schönen Worten fesseln.Wir unterhielten uns gern mit ihr und wurden dabei nicht müde. FrauBoehncke konnte auch gut kochen. Ihre Tochter half ihr dabei. Sie reichteTeller an oder wusch ab. Wie bereits geschildert, waren Lebensmitteldamals knapp. Deshalb brachten wir unsere Lebensmittelmarken mit,denn auch die tüchtigste Hausfrau kann ke<strong>in</strong>e Mahlzeit ohne „Zutaten“bereiten. Selbst mit unseren Marken mussten sie für das Essen noch e<strong>in</strong>igeTage sparen. Das vorzügliche Essen ließ uns die schlimmen Zeiten, <strong>in</strong>denen alle hungerten, für e<strong>in</strong>en Augenblick vergessen. In der Küche warFrau Boehncke e<strong>in</strong>e Zauberkünstler<strong>in</strong>. Wir fühlten uns wie im Märchen,wenn sie die Delikatessen auf den Tisch stellte. Es ist nicht schwer, sichvorzustellen, wie wir verhungerten Geister das Essen vertilgten. Ich werdediese Begegnungen nie vergessen.Ebenso begeistert waren wir von der Tatsache, dass wir frank und freiüber Hitler und die Faschisten schimpfen konnten. Mutter und Tochterhassten sie zutiefst. Anderswo mussten sie ihren Zorn h<strong>in</strong>unterschluckenund im Herzen verschließen. Mit uns konnten sie <strong>of</strong>fen sprechen. ImGrunde g<strong>in</strong>g es Zhang Wei, Lu Shijia und mir nicht anders. Wir ertrugendas gleiche Schicksal wie die Deutschen. Aber uns quälte zusätzlichnoch das Heimweh. Wir lebten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fremden Land und wussten amMorgen nicht, ob wir am Abend noch lebten. Wir wussten nicht, wann


166 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>die Bomben der britischen und amerikanischen Flugzeuge abgeworfenwurden. Würden sie uns treffen, kämen wir sicherlich ums Leben undträfen Gott oder den König des Totenreiches, den Herrn, der über Lebenund Tod entscheidet. Unsere Bäuche waren leer und das Leben unsicher.Wir haben zwar nicht rund um die Uhr gewe<strong>in</strong>t, hatten aber ke<strong>in</strong>e Freudeam Leben. Nur bei den Boehnckes konnte ich vorübergehend me<strong>in</strong>eSorgen vergessen. Sie waren wie e<strong>in</strong>e Oase <strong>in</strong> dem Wüste, e<strong>in</strong>e sichereInsel, e<strong>in</strong>e Märchenwelt und e<strong>in</strong> Ort, an dem man sich geborgen fühltewie vor der Verfolgung der Q<strong>in</strong>-Soldaten. 44 Wir achteten dann nicht aufden Fliegeralarm, unterhielten uns bis tief <strong>in</strong> die Nacht und vergaßendie Zeit. Wenn wir nach Hause g<strong>in</strong>gen, war es bereits dunkel und still.Ke<strong>in</strong> Lichtstrahl zeigte sich, als ob wir alle<strong>in</strong> auf der Welt wären. Ich warBuddha geworden und glaubte, alle Katastrophen der Welt ertragen zukönnen.Nachdem ich <strong>Deutschland</strong> verlassen hatte, schrieb ich Mutter und TochterBoehncke e<strong>in</strong>en Brief aus der Schweiz. Es kam ke<strong>in</strong>e Antwort. ZhangWei teilte mir später mit, dass er noch <strong>of</strong>t Kontakt mit den beiden gehabthatte. Fräule<strong>in</strong> Boehncke hatte e<strong>in</strong>en Schweden geheiratet und war mitihrer Mutter nach Nordeuropa gezogen. Ihre Mutter starb im Alter von 90<strong>Jahre</strong>n. Die Tochter lebt noch <strong>in</strong> Schweden. Werde ich sie wiedersehen?Die H<strong>of</strong>fnung ist ger<strong>in</strong>g. Schade!44In der Q<strong>in</strong>-Dynastie (221-206 v. Chr.) wurde Liu Bang 刘 邦 , der Erste Kaiser der Han – Dynastie, von Q<strong>in</strong>-Soldaten verfolgt. Der Kaiser flüchtete auf e<strong>in</strong>en grossen Berg, wo er vor den Q<strong>in</strong>-Soldaten sicher war. Bisheute benutzt man diese Begebenheit als Synomyn für e<strong>in</strong>en sicheren Ort der Ruhe.


26 Familie Meyer 16726. Familie MeyerDie Familie Meyer lebte <strong>in</strong> derselben Straße wie ich, nicht weitentfernt von mir. Ich glaube, ich habe sie über Tian Dewangkennen gelernt, der bei dieser Familie wohnte. Ihn und andere Ch<strong>in</strong>esen,die später dort e<strong>in</strong>zogen, besuchte ich öfters.Familie Meyer – das war e<strong>in</strong> altes Ehepaar mit zwei Töchtern, die sohübsch waren wie Blumen und Jade. Der alte Mann ähnelte me<strong>in</strong>emVermieter. Auch er war ehrlich, nicht redegewandt und redefaul. Aucher wurde im Laufe der Zeit immer dünner. Unter vielen Menschen saßer e<strong>in</strong>fach da und sagte ke<strong>in</strong> Wort. Herr Meyer lächelte immer. Man sahihm an, dass er weder lügen noch betrügen konnte. Herr Meyer ware<strong>in</strong> Angestellter, der täglich se<strong>in</strong>er Arbeit nachgegangen war. Nun imRuhestand blieb er den ganzen Tag zu Hause und g<strong>in</strong>g selten aus. In derFamilie hatte se<strong>in</strong>e Frau das Sagen. Sie war ungefähr so alt wie me<strong>in</strong>eVermieter<strong>in</strong>, doch im Wesen unterschieden sich die beiden Frauen. FrauMeyer war sehr aktiv und hatte e<strong>in</strong>e gewandte Zunge. Sie konnte gut mitanderen Leuten umgehen, war kommunikativ und, soweit ich weiß, immer


168 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>sehr freundlich zu den ch<strong>in</strong>esischen Studenten. Die Ch<strong>in</strong>esen, die <strong>in</strong>ihrem Haus wohnten, kamen ausgezeichnet mit ihr aus. Auch sie war e<strong>in</strong>etypische deutsche Frau, die alle Hausarbeiten erledigte. Sie umsorgte diech<strong>in</strong>esischen Studenten genau so aufmerksam, wie me<strong>in</strong>e Vermieter<strong>in</strong> dastat. Stets war sie dr<strong>in</strong>nen oder draußen mit Hausarbeiten beschäftigt. Sielachte viel. Nie sah ich e<strong>in</strong> besorgtes Gesicht oder Falten auf ihrer Stirn –e<strong>in</strong> schönes, freundliches Zuhause.Ich hatte mit ihrer Familie viel Kontakt. Dafür gab es auch e<strong>in</strong>enbesonderen Grund. Ich musste me<strong>in</strong>e Doktorarbeit mit der Schreibmasch<strong>in</strong>eschreiben, bevor ich sie bei me<strong>in</strong>em Doktorvater ablieferte. Das Problemdabei: Ich hatte ke<strong>in</strong>e Schreibmasch<strong>in</strong>e und konnte auch nicht gut tippen.Und weil ich den Text <strong>of</strong>t korrigieren musste, dauerte die Schreibarbeitsehr lange. Glücklicherweise konnte ihre große Tochter Irmgard tippen.Sie besaß auch e<strong>in</strong>e Schreibmasch<strong>in</strong>e und wollte mir helfen. In dieserZeit besuchte ich sie jeden Abend. Irmgard hatte es nicht leicht: DerOrig<strong>in</strong>altext war wegen der vielen Korrekturen sehr unübersichtlich undder Inhalt unverständlich. Me<strong>in</strong>e Handschrift war für sie e<strong>in</strong> Buch mitsieben Siegeln. Deshalb musste ich beim Tippen dabei se<strong>in</strong>. Irmgard undich arbeiteten <strong>of</strong>t bis spät <strong>in</strong> die Nacht. Ich g<strong>in</strong>g dann im Dunkeln nachHause.Irmgard tippte nicht nur me<strong>in</strong>e Doktorarbeit. Nach me<strong>in</strong>em Rigorosumhalf sie mir auch noch <strong>in</strong> den folgenden vier bis fünf <strong>Jahre</strong>n bei me<strong>in</strong>enAufsätzen. Daher besuchte ich Irmgard noch <strong>of</strong>t. Sie tippte me<strong>in</strong>e Textebis zum <strong>Jahre</strong> 1945, als ich <strong>Deutschland</strong> verließ. Wenn sie zu Hause feierteoder Gäste mit Gebäck, Kuchen oder Tee empf<strong>in</strong>g, gehörte ich dazu.Auch zu ihren Geburtstagen lud sie mich selbstverständlich e<strong>in</strong>. IhreMutter ließ uns dann nebene<strong>in</strong>ander sitzen. Zu dieser Zeit gab es immerweniger Ch<strong>in</strong>esen <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong>ige Freunde, die ich früher sonntags


26 Familie Meyer 169auf der Schillerwiese getr<strong>of</strong>fen hatte, waren aus Gött<strong>in</strong>gen weggegangen.Ich fühlte mich alle<strong>in</strong> und war <strong>of</strong>t e<strong>in</strong>sam. Wie schön war es da, dieFreundschaft der Familie Meyer zu genießen und mitten im Krieg etwasRuhe f<strong>in</strong>den zu können. Das war etwas Kostbares. Bis heute er<strong>in</strong>nere ichmich daran, als sei es gestern gewesen.Schließlich verließ ich die Familie Meyer und Irmgard. Was ich dabeiempfand, kann man sich vorstellen. Am 24. September 1945 schrieb ich<strong>in</strong> me<strong>in</strong> Tagebuch:Nach dem Abendessen um 7.30 Uhr g<strong>in</strong>g ich zur Familie Meyer, zu Irmgard, zumTippen. Sie versuchte mich zu überreden, <strong>Deutschland</strong> nicht zu verlassen. HeuteAbend empfand ich sie als besonders liebenswert. Ich konnte mich nur schwer von ihrtrennen. Aber was soll ich tun? E<strong>in</strong> verheirateter Mann wie ich darf sich nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>eso schöne Frau wie sie verlieben!Am 2. Oktober 1945, vier Tage vor me<strong>in</strong>er Abreise, notierte ich <strong>in</strong>me<strong>in</strong>em Tagebuch:Ich g<strong>in</strong>g nach Hause. Nach dem Mittagessen überprüfte ich me<strong>in</strong>en Text. Um dreiUhr war ich bei Familie Meyer und tippte den Text e<strong>in</strong>. Irmgard wollte sich nichttrennen. Ich weiß nicht, was ich machen soll.Me<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerungen unterscheiden sich etwas von me<strong>in</strong>en damaligenTagebuchaufzeichnungen. Aus der Schweiz hatte ich ihr noch e<strong>in</strong>igeBriefe geschrieben. Zurück <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a verloren wir den Kontakt. Wennich sage, dass ich sie nicht vermisste, stimmt das nicht. Im Jahr 1980war ich wieder <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen. Ich erkundigte mich nach ihr, aber sie warverschollen, für immer. Wenn sie noch lebt, muss sie fast siebzig <strong>Jahre</strong> altse<strong>in</strong>. Jetzt b<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong> hochbetagter Mann. Es gibt sicher nicht mehr vieleMenschen auf der Welt, die sich noch an Irmgard er<strong>in</strong>nern. Nach me<strong>in</strong>emTod wird es wahrsche<strong>in</strong>lich niemanden mehr auf der ganzen Welt geben,der sie noch vermisst.


170 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>27. Das Ende der Nazis– die Ankunft amerikanischerSoldaten <strong>in</strong> der StadtMit der Schilderung me<strong>in</strong>er Beziehungen zur Familie Meyerund zu ihrer Tochter Irmgard b<strong>in</strong> ich den Ereignissen e<strong>in</strong>wenig vorausgeeilt. Kehren wir zurück zum Zeitpunkt der Ankunftamerikanischer Soldaten <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen.Zum Frühl<strong>in</strong>gsende 1945 hatte sich die Kriegslage vollkommen geändert.Auf deutscher Seite war ke<strong>in</strong>e Rede mehr von Verteidigung. AnAngriff war erst recht nicht zu denken. Rund um die Uhr gab es Alarm.Viele Bürger behaupteten, dass die Flugzeuge der Engländer und derAmerikaner ke<strong>in</strong>e Bomben mehr geladen hätten. Sie konnten jederzeitunbehelligt h<strong>in</strong> und her fliegen. Ab und zu schossen sie doch noch. Esgab Gerüchte, dass e<strong>in</strong> Viehwagen beschossen worden und dabei e<strong>in</strong>eKuh ums Leben gekommen war. Was auch geschah, Gött<strong>in</strong>gens Bürgerschienen nicht <strong>in</strong> Panik zu geraten und Ruhe zu bewahren. Die Menschenmachten e<strong>in</strong>en abgestumpften E<strong>in</strong>druck.


27 Das Ende der Nazis – die Ankunft amerikanischer Soldaten <strong>in</strong> der Stadt 171Die deutsche Nation ist sehr fleißig und <strong>in</strong>telligent. Sie ist wegen ihrerabsoluten Gewissenhaftigkeit bei der Arbeit und <strong>in</strong> der Forschung überallauf der Welt bekannt. Sie hat die Welt <strong>in</strong> den vergangenen Jahrhundertenmit e<strong>in</strong>er Vielzahl erfolgreicher kultureller Entwicklungen überrascht,nur <strong>in</strong> der Politik befand sie sich nicht auf so hohem Niveau. Bei me<strong>in</strong>erAnkunft <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> schien die Nation nicht mehr zu wissen, was siee<strong>in</strong>mal gewesen war. Die Menschen hatten ihre Zukunft rosarot gesehen,aber dann kam der Krieg. Mal waren sie völlig begeistert, mal sehrdepressiv. Als die amerikanischen und britischen Soldaten von Westenund die sowjetischen Truppen aus dem Osten herannahten, hatte sichihre Lage verschlechtert, aber allgeme<strong>in</strong> blieben sie noch immer ruhig.Sie jubelten bloß nicht mehr so wie noch vor e<strong>in</strong>igen <strong>Jahre</strong>n, wenn derRundfunk <strong>in</strong> „Sonderberichten“ große Siege verkündete. Die Begeisterungvon früher war verschwunden.Britische Soldatenam Gänseliesel


172 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Im Stillen schienen sie auf etwas zu warten.Ihre Erwartung erfüllte sich. Die Welt wurde auf den Kopf gestellt. Umdie damalige Situation zu beschreiben und me<strong>in</strong>e Gedanken aus jenerZeit zu <strong>of</strong>fenbaren, zitiere ich wörtlich aus me<strong>in</strong>em Tagebuch. Me<strong>in</strong>edreitägigen Erlebnisse s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Tropfen im Meer der Ereignisse, aber siezeigen uns, was damals <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> geschah. Der Leser kann sichselbst e<strong>in</strong> Bild machen:6. April 1945:Gestern Abend g<strong>in</strong>g ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Keller. Die hierher geflüchteten Deutschen warene<strong>in</strong>geschlafen. Ich konnte nicht e<strong>in</strong>schlafen, weil es sehr kalt war und man nur sitzenkonnte, ohne sich anzulehnen. Nach e<strong>in</strong>iger Zeit gab es Entwarnung. Trotzdem bliebendie Leute noch da. Daher blieb ich auch. Me<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e waren kalt wie Eis. Man denktan alles Mögliche, aber man kann weder we<strong>in</strong>en noch lachen. Der Alarm war sehrmerkwürdig, e<strong>in</strong> paar Male nur ganz kurz. Die Leute konnten nur vermuten, waspassiert war. E<strong>in</strong>ige behaupteten, es sei Alarm, andere behaupteten das Gegenteil.Aber wenn man sich konzentrierte, hörte man draußen Flugzeuge. Wir wartetenbis kurz nach 4 Uhr, danach g<strong>in</strong>gen wir zu Dritt nach Hause. Als ich aufwachte,war es schon 9 Uhr. Während des Frühstücks hörten wir wieder die Geräusche vonFlugzeugen und großen Bombern. Gleich würde es Voralarm geben, schließlich Alarm.Wir gerieten wieder <strong>in</strong> Panik, nahmen unsere Sachen und flüchteten nach draußen.Der Lärm der Flugzeuge erschütterte die Erde. Als wir kurz vor dem Kellere<strong>in</strong>gangstanden, hörten wir erneut Flugzeuge. Alle Leute versuchten <strong>in</strong> den Keller zu kommen.Wir hatten ihn gerade betreten, da hörten wir Bombene<strong>in</strong>schläge <strong>in</strong> der Stadt. Ichdachte, jetzt trifft es uns. Die Bombene<strong>in</strong>schläge waren wie Blitze<strong>in</strong>schläge, die sogar dieHolzstühle erschütterten. E<strong>in</strong>ige Leute knieten sich auf den Boden, andere we<strong>in</strong>ten.Glücklicherweise war nach zwei E<strong>in</strong>schlägen wieder Ruhe. Um 11 Uhr er<strong>in</strong>nerteich mich an das Wasser, das <strong>in</strong> der Küche kochte. Ich g<strong>in</strong>g vorzeitig nach Hause.Kurz danach gab es Vorentwarnung. Nachdem ich gefrühstückt hatte, zündete


27 Das Ende der Nazis – die Ankunft amerikanischer Soldaten <strong>in</strong> der Stadt 173ich den Ofen an. Zhang Wei kam kurz vorbei. Nach dem Mittagessen legte ichmich aufs Bett, konnte aber nicht e<strong>in</strong>schlafen. Wieder gab es Voralarm. Um 5Uhr wollte ich das Radio anmachen, da hörte ich den Flugzeuglärm und dannden Alarm. Ich lief s<strong>of</strong>ort zum Luftschutzbunker und stand e<strong>in</strong>e Weile davor.Nach der Entwarnung kam ich zurück. Nach dem Abendessen gab es Voralarmum 10 Uhr. Ich wollte nicht nach draußen gehen. Drei Stunden lang flogen dieFlugzeuge ständig h<strong>in</strong> und her. Me<strong>in</strong>e Nerven wollten explodieren. Das ist wiee<strong>in</strong>e Todesstrafe, bei der man nach tausend Messerstichen noch nicht tot ist. Gegen2 Uhr gab es Entwarnung.7. April 1945:Frühmorgens g<strong>in</strong>g ich nach dem Frühstück <strong>in</strong> die Stadt, um e<strong>in</strong> Brot zu kaufen.Ich betrat e<strong>in</strong>ige Bäckereien, aber es gab ke<strong>in</strong> Brot. Endlich fand ich e<strong>in</strong>s <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emLaden, der jedoch sehr voll war. Anschließend besuchte ich Herrn Storck <strong>in</strong> derKl<strong>in</strong>ik, <strong>in</strong> der die verletzten Soldaten untergebracht waren. Wir unterhielten uns nochkurz, schließlich g<strong>in</strong>g ich nach Hause. Englisch-amerikanische Aufklärungsflugzeugekreisten am Himmel. Nach dem Mittagessen gab es wieder Alarm. Ich lief <strong>in</strong> denPilzkeller. Zum Glück war es nicht so schlimm, bald kam die Vorentwarnung. E<strong>in</strong>eWeile saß ich <strong>in</strong> der Sonne, traute mich aber nicht nach Hause. Ich wartete bis 5 Uhr,und als nichts passierte, kehrte ich langsam heim. Gerade hatte ich mich h<strong>in</strong>gesetzt, dahörte ich die Flugzeuge und lief nach unten. Draußen explodierten bereits die Bomben,dann gab es Alarm. Am Himmel sah ich e<strong>in</strong> Flugzeuggeschwader. Zwischen dene<strong>in</strong>zelnen Bombenabwürfen lief ich zu e<strong>in</strong>em Schutzkeller, danach rannte ich weiterzum Pilzkeller. Nache<strong>in</strong>ander wurden weitere Bomben abgeworfen. Anschließendbegann der Großangriff, vor dem wir uns so gefürchtet hatten. Dann wurde es wiederruhig. Wieder draußen, sahen wir e<strong>in</strong> großes Feuer aus Richtung Bahnh<strong>of</strong> im Westender Stadt und starken Qualm am Himmel. Die Munitions- und Benz<strong>in</strong>waggonswaren getr<strong>of</strong>fen. In den Flammen hörte ich überall Explosionen. Es war e<strong>in</strong>e gewaltige


174 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Szene. Kurz vor 8 Uhr war ich wieder zu Hause. Nach dem Abendessen saß iche<strong>in</strong>ige Zeit <strong>in</strong> der Dunkelheit und war so aufgeregt wie e<strong>in</strong>e Ameise auf e<strong>in</strong>er heißenHerdplatte. Schließlich nahm ich e<strong>in</strong>ige Sachen und g<strong>in</strong>g zurück <strong>in</strong> den Pilzkeller.8. April 1945:Im Keller war es sehr kalt. Ich wickelte mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Decke, setzte mich h<strong>in</strong>, konnteaber nicht schlafen. Ich verstand nicht, warum es hier so viele Leute gab und immernoch mehr kamen. Später erfuhr ich, dass die Partei bekannt gegeben hatte, dassFrauen und K<strong>in</strong>der Gött<strong>in</strong>gen verlassen müssten. Mir blieb das Herz stehen, undan Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich konnte nur auf die Morgendämmerungwarten. Dann eilte ich nach Hause, aß etwas, brachte e<strong>in</strong>ige Bücher <strong>in</strong> den Kellerund g<strong>in</strong>g zurück <strong>in</strong> den Bunker. Weit entfernt war starker Geschützdonner zuhören. Die Leute im Keller waren <strong>in</strong> Panik. E<strong>in</strong>ige behaupteten, die deutsche Armeewürde Gött<strong>in</strong>gen verteidigen, andere behaupteten, die Stadt Gött<strong>in</strong>gen sei bereit zukapitulieren. Plötzlich heulten die Sirenen fünf M<strong>in</strong>uten lang. Das bedeutet dasbaldige Herannahen der Fe<strong>in</strong>de. Mir blieb wieder das Herz stehen. Me<strong>in</strong> Schicksalund das Schicksal der Stadt Gött<strong>in</strong>gen würden sich bald entscheiden. Die E<strong>in</strong>schlägekamen näher. Vor dem Keller flohen deutsche Truppen <strong>in</strong> alle Richtungen. Nache<strong>in</strong>iger Zeit trat plötzliche Ruhe e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>ige Leute stiegen nach draußen und sahenamerikanische Panzer. Im Keller herrschte völliges Chaos. Aus Angst vor denSchüssen der amerikanischen Soldaten wollte niemand mehr rausgehen. Ich verließden Bunker mit e<strong>in</strong>er deutschen Frau, suchte e<strong>in</strong>en amerikanischen Soldaten undschilderte ihm die Situation im Bunker. Danach <strong>in</strong>formierten wir die anderen. Siekamen nache<strong>in</strong>ander nach draußen. Ich war so außer mir vor Freude, dass ich nichtmehr wusste, was ich tun sollte. Ich lief zu e<strong>in</strong>em Panzer und sprach mit e<strong>in</strong>emamerikanischen Soldaten. Ich hatte total vergessen, dass wir uns noch immer im Kriegbefanden und mir gegenüber Kanonen standen. Es war 3 Uhr morgens, als ich nachHause kam. Plötzlich fiel mir das Ehepaar Shix<strong>in</strong> e<strong>in</strong>. Waren sie verletzt? Dort, wosie wohnten, hatte es starke E<strong>in</strong>schläge gegeben, und ich hatte lange nichts von ihnen


27 Das Ende der Nazis – die Ankunft amerikanischer Soldaten <strong>in</strong> der Stadt 175gehört. Ich konnte nichts mehr essen. Kurze Zeit später brachte Yigang se<strong>in</strong>e Frauund se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der zu mir. Ihr Haus war von amerikanischen Soldaten besetzt. Wirunterhielten uns. Ich war ganz durche<strong>in</strong>ander, aber ich freute mich und war aufgeregt.Nach dem Abendessen unterhielt ich mich weiter mit Yigang bis spät <strong>in</strong> die Nacht.Dann schlief ich e<strong>in</strong>.Die Stadt Gött<strong>in</strong>gen ist befreit.Das s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>e Aufzeichnungen von den entscheidenden drei Tagen –schlicht und e<strong>in</strong>fach.Die Stadt Gött<strong>in</strong>gen ist e<strong>in</strong> Teil von <strong>Deutschland</strong>, der Pilzbunker auf demBerg e<strong>in</strong> Teil der Stadt Gött<strong>in</strong>gen und ich e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Teil des Pilzbunkers.Was <strong>in</strong> diesem Pilzbunker geschah, lässt sich auf die Situation <strong>in</strong> ganz<strong>Deutschland</strong> übertragen, nicht wahr?Auf jeden Fall war hier e<strong>in</strong> historischer Umbruch geschehen. Danachbegann für die Stadt Gött<strong>in</strong>gen, wie auch für die anderen Städte <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong>, e<strong>in</strong> neues Kapitel <strong>in</strong> der Geschichte. Der Faschismus hattee<strong>in</strong> Ende. Die Faschisten hatten die Menschen tyrannisiert, skrupelloseTaten begangen und sich äußerst arrogant benommen. Wo waren siejetzt?! Die Deutschen sprachen sehr selten darüber. Sie schienen wie vorden Kopf geschlagen. Unklar, was <strong>in</strong> ihnen vorg<strong>in</strong>g, doch sie wirktennachdenklich. War die Geschichte für sie wichtig? Auf mich machtendie Bürger folgenden E<strong>in</strong>druck: ahnungslos, betäubt, wirr, sprachlos.E<strong>in</strong>e ungeheuer begabte Nation war über Nacht überraschend und,für mich unbegreiflich, zu e<strong>in</strong>em besiegten Land geworden, zu e<strong>in</strong>emVolk, mit dem die Sieger machen konnten, was sie wollten. Gleich, wiedie Deutschen darüber dachten, ich war e<strong>in</strong> Ausländer, der zehn <strong>Jahre</strong><strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> gelebt hatte und die Deutschen sehr liebte. Ich wolltewe<strong>in</strong>en, aber ich hatte ke<strong>in</strong>e Tränen mehr.Es erschien unfassbar, dass der grausamste Krieg <strong>in</strong> der menschlichen


176 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Geschichte jetzt e<strong>in</strong>fach vorbei war. Als ich den Beg<strong>in</strong>n des ZweitenWeltkrieges erwähnte, hatte ich behauptet, nie und nimmer hätte ichmir vorstellen können, dass der größte und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ausmaß bis dah<strong>in</strong>beispiellose Krieg <strong>in</strong> der Menschheit so unspektakulär anfangen würde.Jetzt war der Weltkrieg zu Ende, aber der Schluss ist genauso wenigspektakulär. Nach Me<strong>in</strong>ung nachfolgender Generationen gab es <strong>in</strong> derGeschichte viele Ereignisse, die die Welt erschütterten und die Geisterwe<strong>in</strong>en ließen. War deren Anfang und Ende immer so unspektakulär?Obwohl der verlorene Krieg auf die Gött<strong>in</strong>ger wie betäubend wirkte,war er für e<strong>in</strong>ige Leute so schmerzhaft, als hätte man ihnen Teile ihresKörpers abgeschnitten. In der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele,die uns zeigen, dass die Sieger alle Bewohner e<strong>in</strong>es besiegten Gebietesumbrachten. Für Ch<strong>in</strong>a lassen sich e<strong>in</strong>ige Beispiele anführen. Doch dieAmerikaner haben nach ihrer Ankunft <strong>in</strong> der Stadt ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>wohnergetötet. Sie schienen sogar sehr zivilisiert. Ich habe nie erlebt, dass e<strong>in</strong>Amerikaner e<strong>in</strong>en Deutschen auf der Straße beleidigt hat. Die Beziehungzwischen Siegern und Besiegten schien sogar harmonisch. Ich habeauch nicht registriert, dass e<strong>in</strong> Deutscher die amerikanischen Soldatenals Fe<strong>in</strong>d behandelt hat. Die Deutschen betrieben auch ke<strong>in</strong>e Sabotage.Ich habe gesehen, wie e<strong>in</strong>ige deutsche Mädchen amerikanische Soldatenansprachen. Das erweckte den Ansche<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er freundlichen Atmosphäre.Doch dieser Sche<strong>in</strong> trügte. Die amerikanischen Soldaten hatten sich aufe<strong>in</strong>e Abrechnung vorbereitet. Sie besaßen e<strong>in</strong>e für uns unbekannte Nazi-Liste, auf der alle führenden Köpfe verschiedener NS-Gruppen standen.Mit Hilfe dieser Liste suchten sie nach diesen Leuten. So tauchten sie auche<strong>in</strong>es Tages bei me<strong>in</strong>em Nachbarn, Herrn Schmidt, auf. Dessen Tochterwar Leiter<strong>in</strong> der NS-Frauengruppe e<strong>in</strong>es Gaues. Herr Schmidt war nichtzu Hause, wohl aber se<strong>in</strong>e etwas korpulente Frau, die fassungslos und


27 Das Ende der Nazis – die Ankunft amerikanischer Soldaten <strong>in</strong> der Stadt 177erschrocken reagierte. Sie klopfte an me<strong>in</strong>e Tür und bat um Hilfe. Ich g<strong>in</strong>gzu den Amerikanern, die mich überrascht fragten, was ich hier mache. Ichstellte mich als Ch<strong>in</strong>ese vor und behauptete, zu den Alliierten zu gehörenund Frau Schmidt als Übersetzer zu helfen. Weitere Fragen an michhatten sie nicht. Also begann ich mit der Übersetzung. Die Vernehmungdauerte nicht sehr lange, ihr Verhalten erlebte ich als fair und angenehm.Sie benahmen sich weder böse noch heimtückisch. Allerd<strong>in</strong>gs hatte dieTochter bereits das Weite gesucht und ihre Mutter behauptete, ihrenAufenthaltsort nicht zu kennen. Damit war die Vernehmung beendet.Danach ließen sich die amerikanischen Soldaten nicht mehr blicken.Das US-Militär besetzte außerdem e<strong>in</strong>ige Gött<strong>in</strong>ger Privathäuser. Es hattee<strong>in</strong>e Entfernung von mehr als zehntausend Kilometern mit dem Schiffzurückgelegt, und als es jetzt die Stadt besetzt hatte, da fehlte es ihnen angeeigneten Unterkünften. So konfiszierten die Soldaten die Häuser derdeutschen Bewohner. Sie quartierten sich nur <strong>in</strong> alle<strong>in</strong>stehenden Häusernmit Garten e<strong>in</strong>. Me<strong>in</strong> Lehrer, Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt, besass e<strong>in</strong> solchesHaus. Dieses neue Haus befand sich außerhalb der Stadt am Fuße desBerges. Deshalb konnte er e<strong>in</strong>e Besetzung nicht verh<strong>in</strong>dern. Woh<strong>in</strong> dasEhepaar vertrieben worden war, habe ich nicht erfahren. E<strong>in</strong>e Gruppeamerikanischer Soldaten hatte sich erhobenen Hauptes <strong>in</strong> ihrem Heime<strong>in</strong>genistet. Sie blieben dort zwar nur e<strong>in</strong>ige Tage, weil sie dann nochan e<strong>in</strong>em anderen Ort ihrem Dienst nachgehen mussten, aber dennochhatten Stücke der prunkvollen Antiquitäten schwer gelitten. Vor allem e<strong>in</strong>paar alte Stühle, die das Ehepaar besonders schätzte. Diese Stühle hattensie immer sehr vorsichtig behandelt. Jetzt aber waren e<strong>in</strong>ige Stuhlbe<strong>in</strong>ekaputt. Nach dem Auszug der amerikanischen Soldaten besuchte ich dasEhepaar. Pr<strong>of</strong>essor Waldschmidt zeigte mir die Schäden fassungslos undmit bitterer Miene. Se<strong>in</strong> Zorn war verständlich. Se<strong>in</strong>e Frau konnte sich


178 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>gar nicht beruhigen. Sie behauptete, dass die amerikanischen Soldaten dieganze Nacht über getrunken, getanzt und derart stark auf den Fußbodengestampft hätten, dass es die Geister im Himmel hätten hören müssen. Damussten natürlich die kunstvollen und zierlichen Stuhlbe<strong>in</strong>e zerbrechen.Das Ehepaar behielt aber weitgehend die Fassung – e<strong>in</strong> Zeichen für se<strong>in</strong>ehohe Bildung. Sie erlebten nun die Willkür e<strong>in</strong>er fremden Macht. Daraufwaren sie nicht vorbereitet.Natürlich war nicht nur ihr Haus besetzt worden. Während dieserschlimmen Zeit sah ich <strong>in</strong> den <strong>of</strong>fenen Fenstern der schönen Häuserrechts und l<strong>in</strong>ks der Hauptstraße zahlreiche Sohlen von Lederstiefelnordentlich nebene<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> den Fensterbänken. Die Stiefel standennicht, sondern lagen auf den Fensterbänken. Das bedeutete nicht, dasssie <strong>in</strong> der Sonne trocknen sollten. Wenn man der Sache auf den Grundg<strong>in</strong>g, entdeckte man Folgendes: Zu den Schuhsohlen gehörten Stiefel,und <strong>in</strong> den Stiefeln steckten Füße. Zu den Füßen gehörten Ober- undUnterschenkel und zu den Schenkeln e<strong>in</strong> Körper. Schließlich gab es nochirgendwo e<strong>in</strong>en Kopf. Zu sehen waren allerd<strong>in</strong>gs nur die Schuhsohlen.Als ich den Grund erkannt hatte, musste ich lachen.Diese amerikanischen Soldaten hatten zur Entspannung ihre Füße aufdie Fensterbänke gelegt. Die Soldaten waren jung, groß, schlank undgut aussehend. Aber sie h<strong>in</strong>terließen e<strong>in</strong>en lässig-schludrigen E<strong>in</strong>druck.Sie grüßten ihre Offiziere bei weitem nicht so zackig, wie deutscheSoldaten es taten. Man hatte immer den E<strong>in</strong>druck, dass sie sich frechund nachlässig benahmen. Vermutlich waren ihre Vorschriften nichtso streng. Unter<strong>of</strong>fiziere salutierten nur den Stabs<strong>of</strong>fizieren odernoch höheren Rängen. Gleichrangige grüßten nicht, auch nicht dieMannschaften untere<strong>in</strong>ander, egal welchen Rang sie hatten. Das warbei den Deutschen anders. Überdies war es entsetzlich, wie sehr die


27 Das Ende der Nazis – die Ankunft amerikanischer Soldaten <strong>in</strong> der Stadt 179Gewohnheiten der amerikanischen Soldaten den Gewohnheiten vonverwöhnten Erstgeborenen glichen, die alles verschwenden. Sie ernährtensich hauptsächlich aus Konservendosen. Egal, ob diese Hühner-, FischoderEntenfleisch enthielten – sie aßen weniger als die Hälfte und warfenden Rest weg. Wenn sie mit e<strong>in</strong>em vollen Benz<strong>in</strong>kanister ihre Fahrzeugeauftankten, leerten sie ihn <strong>of</strong>t nicht e<strong>in</strong>mal zur Hälfte aus und traten ihndann gedankenlos zur Seite. Das Benz<strong>in</strong> floss heraus und schimmerte weißund hell. Noch erstaunlicher war ihre Art, Telefondrähte zu verlegen, alssie nach ihrer Ankunft <strong>in</strong> der Stadt e<strong>in</strong> Kommunikationsnetz aufbauten.Um ihre Kräfte zu schonen, errichteten sie ke<strong>in</strong>e Masten, sondern hängtendie Leitungen e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> die Bäume an den Straßen. Am Anfang gabes nur wenige Telefonleitungen. Doch mit der Zeit zogen immer mehrDienststellen nach Gött<strong>in</strong>gen, und die brauchten immer mehr Leitungen.An manchen Ästen h<strong>in</strong>gen so zehn oder mehr Drähte. Sie legten e<strong>in</strong>eLeitung nach der anderen, und wenn wenig später e<strong>in</strong>ige E<strong>in</strong>heitenabzogen und das Telefonnetz verkle<strong>in</strong>ert wurde, entfernten sie nicht dieLeitungen aus den Ästen. Sie packten sie auch nicht zum Abtransport e<strong>in</strong>,um sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Stadt wiederverwenden zu können. Zu me<strong>in</strong>erÜberraschung schnitten sie die Drähte direkt von den Bäumen ab. Siewollten sie nicht den Deutschen überlassen, sie wollten sich aber auchnicht anstrengen. Am Ende boten die vielen abgeschnittenen Leitungen<strong>in</strong> den Bäumen e<strong>in</strong>en irrealen Anblick. Telefonleitungen, Konservendosenund Benz<strong>in</strong> waren aus den USA sehr weit mit dem Schiff oder Flugzeugnach <strong>Deutschland</strong> transportiert worden. Das schien die Amerikanerwenig zu bee<strong>in</strong>drucken. Sie waren wie Sieger und ihre Soldaten wieErstgeborene, die gedankenlos alles verschwendeten. Sparsamkeit gab esfür sie nicht. Das war das Gegenteil unserer traditionellen Erziehung <strong>in</strong>Ch<strong>in</strong>a. Ich war sprachlos.


180 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Soweit me<strong>in</strong>e Schilderung vom Zusammenbruch des Naziregimes undder Ankunft der US-Soldaten <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen. Ich verehrte die großartigedeutsche Nation nach wie vor, gleichzeitig hasste ich die Nazis, die dasLand <strong>in</strong>s Verderben geführt hatten. Nie hätte ich geglaubt, <strong>in</strong> den zehn<strong>Jahre</strong>n me<strong>in</strong>es Aufenthaltes <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> das Ende der Nazis persönlichmitzuerleben. Darüber war ich über und über glücklich. Andererseits warich traurig über die Erniedrigung der deutschen Bevölkerung. Zu derZeit, als die Deutschen mit den Franzosen Krieg führten, gewannen dieDeutschen die Oberhand. Der großartige französische Dichter AlphonseDaudet schrieb die berühmte Erzählung „Die letzte Schulstunde“,e<strong>in</strong> weltbekanntes literarisches Werk, das den Patriotismus propagiert.Jetzt sprachen die Sterne e<strong>in</strong>e andere Sprache. Die Deutschen hattene<strong>in</strong>e Niederlage erlitten. Wo früher hohe See war, erstreckten sich heuteAckerflächen. Große Veränderungen waren unfassbar schnell vor sichgegangen. Es gab aber ke<strong>in</strong>en deutschen Dichter, der e<strong>in</strong>en zweiten Bandvon Daudets Werk hätte schreiben können. Die Zeit war zu knapp. Odergab es andere Gründe?


28 Die Alliierten 18128. Die AlliiertenWir Ch<strong>in</strong>esen <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> hatten guten Grund zu feiern. Wirwaren von ehemals Staatenlosen – das heißt Rechtlosen – zuGenossen der Alliierten aufgestiegen. Dieser neue Status bedeutete e<strong>in</strong>enhimmelweiten Unterschied. Im alten Ch<strong>in</strong>a sprach man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchenSituation von „Gefangenen“, die zu „bevorzugten Gästen“ aufgestiegenwaren. Die Deutschen hatten uns zwar niemals wie „Gefangene“behandelt, aber jetzt zählte ich wirklich zu den „bevorzugten Gästen“.E<strong>in</strong>ige Zeit nach der Ankunft amerikanischer Truppen suchte ich mitZhang Wei e<strong>in</strong>en Vorgesetzten der amerikanischen Soldaten auf. DerMann war wahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong> Stabs<strong>of</strong>fizier. Wir schilderten ihm unsereLage. Er hatte uns zuvor noch nie gesehen, war aber sehr nett zu uns,obwohl wir weder e<strong>in</strong>en gültigen Ausweis besaßen noch unsere Identitätnachweisen konnten. Er stellte uns nur e<strong>in</strong>ige Fragen, dann nahm er e<strong>in</strong>Stück Papier und stellte uns e<strong>in</strong>e Besche<strong>in</strong>igung als so genannte „displacedpersons“ aus. „Displaced persons“ s<strong>in</strong>d Personen, die aufgrund e<strong>in</strong>esKrieges ihr Land verlassen mussten oder als politisch Verfolgte gelten.


182 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Natürlich entsprach das nicht der Wahrheit. Wir hatten ihm mitgeteilt,dass wir ausländische Studenten waren. Nun hatten wir aufgrund se<strong>in</strong>erBesche<strong>in</strong>igung diesen Status erlangt. Wie er uns tatsächlich e<strong>in</strong>ordnete,war uns nicht klar, aber wir stritten auch nicht mit ihm darüber. Er wiesuns an, mit dieser Besche<strong>in</strong>igung den Vorgesetzten der französischenKriegsgefangenen aufzusuchen. Der S<strong>in</strong>n dieser Aufforderung blieb unszwar verschlossen, dennoch besuchten wir das Lager der französischenKriegsgefangenen. Bislang hatte ich nur russische und polnischeKriegsgefangene auf der Straße gesehen, die verschlissene Uniformentrugen – die e<strong>in</strong>zige Bekleidung, die sie besaßen. Nun tauchten zu unsererÜberraschung plötzlich viele französische Soldaten auf. Ke<strong>in</strong>e Ahnung,woher sie kamen. Mit Händen und Füßen machte uns ihr Vorgesetzterklar, dass wir ab s<strong>of</strong>ort täglich e<strong>in</strong>e Portion R<strong>in</strong>dfleisch bei ihm erhaltenkönnten. Unvorstellbar! Welch e<strong>in</strong> Glück! Konfuzius hörte e<strong>in</strong>mal imStaate Qi Musik und hatte drei Monate lang vergessen, wie Fleischschmeckt. Ich hatte <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> lediglich den Lärm der Bombergehört und drei <strong>Jahre</strong> vergessen, wie Fleisch schmeckt. Heute fiel frischesR<strong>in</strong>dfleisch wie vom Himmel. Ich konnte so viel essen, wie ich wollte!Auf me<strong>in</strong>en täglichen Wegen <strong>in</strong>s französische Lager spielten sich kle<strong>in</strong>eEpisoden ab. E<strong>in</strong> Soldat, der die Fleischrationen austeilte, erklärte mire<strong>in</strong>es Tages: „Dema<strong>in</strong> deux jours.“ Ich hatte seit längerer Zeit ke<strong>in</strong>Französisch gehört und verstand ihn ebenso wenig wie der buddhistischegroße Mönch, dessen Kopf man nicht erreichen kann. 45 Ich konnte ihnnur mit großen Augen anschauen. Er wiederholte se<strong>in</strong>e drei Wörter mitlebhaften Gesten. Plötzlich begriff ich. Morgen gibt es Fleisch für zweiTage! Daher wiederholte ich die drei Wörter auf Französisch: „Dema<strong>in</strong>45E<strong>in</strong> buddhistischer Mönch, dessen Kopf man nicht erreichen kann, steht im übertragenen S<strong>in</strong>ne für jemanden,der von e<strong>in</strong>er bestimmten Sache ke<strong>in</strong>e Ahnung hat.


28 Die Alliierten 183deux jours.“ Der französische Soldat lachte. Als ich mich von ihmverabschiedete, sagte er „Au revoir.“ Wir waren <strong>in</strong> bester Stimmung.Frisches R<strong>in</strong>dfleisch war damals für die Deutschen e<strong>in</strong>e große Kostbarkeit,natürlich auch für Frau Oppel. Me<strong>in</strong> Leben lang habe ich me<strong>in</strong> Essenimmer mit anderen geteilt. Das galt selbstverständlich auch für me<strong>in</strong>eVermieter<strong>in</strong>, die für mich wie e<strong>in</strong>e Mutter war. Jeden Tag holte ichR<strong>in</strong>dfleisch. Sie kochte, und wir genossen die Mahlzeiten geme<strong>in</strong>sam. Soverbrachten wir e<strong>in</strong>e sehr schöne Zeit. Ich er<strong>in</strong>nere mich, dass Zhang Weiund ich die Besche<strong>in</strong>igung auch e<strong>in</strong>er Gött<strong>in</strong>ger Behörde vorlegten. Sieerteilte uns daraufh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Sondergenehmigung für Reis als Zugeständnisan unsere ch<strong>in</strong>esischen Essgewohnheiten. Wir waren wirklich „bevorzugteGäste“ geworden.


184 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>29. Aufzeichnungene<strong>in</strong>es Gestärkten 46Die Tage verg<strong>in</strong>gen ohne besondere Ereignisse. Mit e<strong>in</strong>em Zitat ausder „Biographie des A Q“ von Lu Xun konnte man aber sagen:Wir, Zhang Wei und ich, waren ebenso wie dieser aus e<strong>in</strong>er Situationgestärkt hervorgegangen.Für die deutsche Bevölkerung dagegen war e<strong>in</strong>e schwere Zeitangebrochen. Die Geschäfte waren so leer wie die Mägen. Gerüchte,dass irgendwo <strong>in</strong> der Stadt etwas Essbares aufzutreiben sei, machtens<strong>of</strong>ort die Runde wie e<strong>in</strong> Lauffeuer. So hörten wir von e<strong>in</strong>em Lagerder deutschen Wehrmacht neben dem Bahnh<strong>of</strong>, das unversehrt undmit R<strong>in</strong>dfleischkonserven und Zucker gefüllt se<strong>in</strong> sollte. FranzösischeSoldaten hatten es geöffnet. Zhang Wei und ich g<strong>in</strong>gen h<strong>in</strong>. ZahlreicheGött<strong>in</strong>ger Bürger standen bereits davor, Frauen und Männer, Jung und46Anspielung auf e<strong>in</strong>e Geschichte von Lu Xun (s. Anm.28). Dar<strong>in</strong> wird die Person AQ geschildert. Sie ist sozialschwach und wird von allen missachtet. Trotzdem fühlt AQ sich geistig stark.


29 Aufzeichnungen e<strong>in</strong>es Gestärkten 185Gött<strong>in</strong>ger Bahnh<strong>of</strong>Alt. Die Lagertür stand <strong>of</strong>fen. Sie wurde von französischen Soldatenbewacht. Ke<strong>in</strong>er der Deutschen hatte den Mut, <strong>in</strong> das Lager e<strong>in</strong>zudr<strong>in</strong>gen.Sie standen da und schauten tatenlos zu, wie auf e<strong>in</strong>em Jahrmarkt.Auch für Zhang Wei und für mich blieb der vordere E<strong>in</strong>gang verschlossen,aber nicht der h<strong>in</strong>tere, den niemand bewachte. Er lag h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>erniedrigen Mauer, die wir rasch überwunden hatten. Im Innenh<strong>of</strong> standene<strong>in</strong>e Reihe Garagen mit Flachdächern. Überall lag Reis und Zucker aufdem Boden. Wie es hieß, hatten russische und polnische Gefangene dasLager beim E<strong>in</strong>marsch der amerikanischen Truppen bereits ausgeraubtund wahllos Lebensmittel auf dem Boden verstreut. Nun mussten dieFranzosen auf Geheiß ihrer amerikanischen Verbündeten für Ordnungsorgen und die noch vorhandenen Lebensmittel vor Diebstahl schützen.Im H<strong>of</strong> trafen wir e<strong>in</strong>en Soldaten, der uns nach oben führte. Auf derTreppe lag überall silbrig schimmerndes Zeug. Das konnte Zucker oderSalz se<strong>in</strong>. In e<strong>in</strong>em Raum türmten sich R<strong>in</strong>dfleischkonserven zu e<strong>in</strong>emBerg auf. Wir waren begeistert. Doch als wir gerade die Dosen <strong>in</strong> unsere


186 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Taschen packen wollten, tauchte unerwartet e<strong>in</strong> französischer Soldat <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er schmutzigen Uniform auf. Er war wenig freundlich und verlangteAuskunft über den Grund unserer Anwesenheit. Ich zeigte ihm eiligme<strong>in</strong>en mitgebrachten Pass. Er blätterte dar<strong>in</strong> bis zu e<strong>in</strong>er Seite mitfranzösischer Schrift. S<strong>of</strong>ort bemerkte er, dass ich auf dieser Seite nichtunterschrieben hatte. Mit großen Augen verhörte er mich. Ich fühlte michwie e<strong>in</strong> Ertr<strong>in</strong>kender, der nach e<strong>in</strong>em Strohhalm greift. Ich zeigte ihmdie englische Seite mit me<strong>in</strong>er Unterschrift. Die konnte er wahrsche<strong>in</strong>lichnicht lesen, aber er war zufrieden, gab mir me<strong>in</strong>en Pass zurück undwurde freundlich. Wir durften uns soviel Konserven nehmen, wie wirtragen konnten. Mir fiel e<strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> vom Herzen. Ich packte die Taschenvoll, nahm noch e<strong>in</strong>ige Konserven <strong>in</strong> die Arme, sprang über die Mauerund g<strong>in</strong>g nach Hause. Es war heiß, der Weg weit, die Taschen schwer, dieKonservendosen <strong>in</strong> den Armen rollten h<strong>in</strong> und her, mal nach l<strong>in</strong>ks undmal rechts. Als ich zu Hause ankam, war ich völlig verschwitzt.Hier konnte ich mir e<strong>in</strong>en Überblick über me<strong>in</strong>e Ausbeute verschaffen.Insgesamt hatte ich etwa zwanzig Dosen mitgenommen. Die meistenGött<strong>in</strong>ger Bahnh<strong>of</strong>


29 Aufzeichnungen e<strong>in</strong>es Gestärkten 187enthielten R<strong>in</strong>dfleisch, aber auch e<strong>in</strong>ige Zuckerdosen waren darunter.Natürlich stellten die R<strong>in</strong>dfleischdosen den größten Schatz dar, aberauch die Zuckerdosen waren für hungrige Menschen von großem Wert.Uns erschienen sie wie e<strong>in</strong> von Göttern geschicktes Lebenselixier, e<strong>in</strong>„köstliches Süppchen“, besonders weil sie so unerwartet kamen. Ich teiltedie Beute auf und gab davon natürlich me<strong>in</strong>er Vermieter<strong>in</strong> e<strong>in</strong>iges ab.Auch me<strong>in</strong>en Lehrern und sehr guten Freunden brachte ich e<strong>in</strong>en Teil. Inder damaligen Situation war das e<strong>in</strong> noch besseres Geschenk als Holz zuschenken, wenn Schnee fiel. Alle freuten sich natürlich.Wenn ich mich h<strong>in</strong>terher daran er<strong>in</strong>nerte, packte mich furchtbare Angst.Es waren so gefährliche Zeiten, es gab ke<strong>in</strong>e funktionsfähige Verwaltung,ke<strong>in</strong>e gesetzliche Kontrolle und ke<strong>in</strong>e Moral. Ahnungslos und naiv s<strong>in</strong>dwir <strong>in</strong> das Lager e<strong>in</strong>gedrungen, standen bewaffneten Soldaten gegenüber.Sie hätten uns erschießen können.Das s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>e Aufzeichnungen e<strong>in</strong>es Gestärkten. H<strong>of</strong>fentlich diee<strong>in</strong>zigen dieser Art <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben!


188 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>30. Ch<strong>in</strong>esen <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Der Krieg war vorbei, wir waren „bevorzugte Gäste“ geworden,das bittere Leben und die schweren Zeiten hatten e<strong>in</strong> Ende. E<strong>in</strong>eRückkehr <strong>in</strong> die Heimat schien auf e<strong>in</strong>mal möglich. Unverh<strong>of</strong>ft, wieSonnenstrahlen, die aus e<strong>in</strong>em verdunkelten Himmel hervorblitzen.Nun suchten wir nach e<strong>in</strong>em Weg, nach Ch<strong>in</strong>a zurückzukehren. Alse<strong>in</strong>zige Möglichkeit bot sich für uns e<strong>in</strong>e Reise über die Schweiz an.Gött<strong>in</strong>gen ist e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Stadt, <strong>in</strong> der nur wenige Ch<strong>in</strong>esen lebten. E<strong>in</strong>igeZeit schien es, als lebte ich als e<strong>in</strong>ziger Ch<strong>in</strong>ese unter den Deutschenund ich hatte fast me<strong>in</strong>e Hautfarbe vergessen. Als der Krieg und späterdie Bombardierungen begannen, waren e<strong>in</strong>ige Ch<strong>in</strong>esen nach Gött<strong>in</strong>gengeflüchtet, um der Gefahr zu entgehen. Sie studierten verschiedeneFachrichtungen und hatten unterschiedliche Hobbys. Manche hocktengerne zusammen und besuchten sich gegenseitig. Andere lebten alle<strong>in</strong> fürsich und kümmerten sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten. Unterden Ch<strong>in</strong>esen verstand ich mich sehr gut mit Zhang Wei, dem EhepaarLu Shijia, dem Ehepaar Liu Xianzhi und Teng Wanjun. Wir hatten den


30 Ch<strong>in</strong>esen <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> 189meisten Kontakt untere<strong>in</strong>ander und auch geme<strong>in</strong>sam die Reise <strong>in</strong> dieSchweiz <strong>in</strong>s Auge gefasst.Die anderen Ch<strong>in</strong>esen kannte ich weniger gut. Da gab es die beidenPhysik studierenden Brüder mit dem Familiennamen Huang, den sogenannten Laobiao 47 aus Jiangxi und zwei Brüder mit dem FamiliennamenCheng, die wahrsche<strong>in</strong>lich aus Sichuan kamen und Naturwissenschaftenstudierten. Und da war noch der bereits erwähnte geheimnisvolle Zhang.Er g<strong>in</strong>g nie zur Universität, wir besuchten ihn auch nicht. Wir wusstennicht, womit er se<strong>in</strong>e Zeit vertrödelte. Warum sich diese Leute noch <strong>in</strong>Gött<strong>in</strong>gen aufhielten, wollten wir auch nicht wissen. Jeder hat eben se<strong>in</strong>eeigenen Vorstellungen und Ideen. Das musste uns als Unbeteiligte auchnicht weiter kümmern. Wir jedenfalls wollten gehen. Ich ließ den älterender Brüder Huang me<strong>in</strong>en Lehrauftrag übernehmen. Danach brach derKontakt mit den Gött<strong>in</strong>ger Ch<strong>in</strong>esen ab. „Morgen liegen zwischen unsBerge und Flüsse, und niemand weiß, wie es weitergeht.“ 48Ich er<strong>in</strong>nere mich aber auch noch an Ch<strong>in</strong>esen, die außerhalb vonGött<strong>in</strong>gen lebten. E<strong>in</strong>ige von ihnen waren kle<strong>in</strong>e Händler und ke<strong>in</strong>eStudenten, die so genannten Q<strong>in</strong>gtian-Händler. Der Name deutete daraufh<strong>in</strong>, dass sie aus Q<strong>in</strong>gtian <strong>in</strong> Zhejiang stammten. Auf welchem Weg sienach Europa, nach <strong>Deutschland</strong> gekommen waren, kann ich nicht sagen.Ich kannte ihre Geschichte nicht, hatte aber von den harten Erlebnissengehört, die sie h<strong>in</strong>ter sich hatten. Sie kamen aus derselben Gegend wieLiu Bowen 49 , jener vor Geist sprühende Mann, der alles wusste undvorhersehen konnte, der aber ke<strong>in</strong>e Ahnung hatte, wie schlimm das47Die aus der Prov<strong>in</strong>z Jiangxi stammenden Ch<strong>in</strong>esen werden auch als Laobiao bezeichnet.48aus: „Gedicht für Weiba“ (《 赠 卫 八 处 士 》)von Du Fu (s. Anm.9).49Liu Bowen 刘 伯 温 (1311 – 1375), M<strong>in</strong>g-Dynastie, Schrifftsteller und e<strong>in</strong>er der bekanntesten Stabs<strong>of</strong>fiziere<strong>in</strong> der ch<strong>in</strong>esischen Geschichte.


190 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Fengshui <strong>in</strong> Q<strong>in</strong>gtian war. In der Gesellschaft vor 1949 lebten die Leuteaus Q<strong>in</strong>gtian so entbehrungsreich wie <strong>in</strong> tiefem Wasser und <strong>in</strong> heißerFlamme. Von den Früchten des Bodens konnten sie nicht leben. Umnicht zu verhungern, mussten sie ihre Heimat verlassen. Auf dem Rückentrugen sie e<strong>in</strong>en aus dem Q<strong>in</strong>gtian-Ste<strong>in</strong> herausgehauenen Brocken,den sie auf ihrem Weg zum Kauf anpriesen. E<strong>in</strong>ige reisten sogar überZentralasien Richtung Westen bis nach Europa. Die Reise erstreckte sichüber mehr als zehntausend Kilometer und g<strong>in</strong>g durch zahlreiche Staaten.Die auf diesem Weg hierher gereisten Ch<strong>in</strong>esen benötigten wegenihres Dialektes zur Verständigung e<strong>in</strong>e zweisprachige Übersetzung. Esist unbeschreiblich, welches Leid und wie viel schreckliche Erlebnisseme<strong>in</strong>e Landsleute aus Q<strong>in</strong>gtian h<strong>in</strong>ter sich hatten. Es war unvorstellbar.E<strong>in</strong>ige waren mit dem Schiff gekommen. Um e<strong>in</strong>en Teil der Fahrtkostenzu sparen, mussten sie andere Händler bestechen. Die verfrachtetensie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Conta<strong>in</strong>er, der während der langen Reise nur heimlich <strong>in</strong>der Nacht kurz geöffnet wurde. In dieser Zeit wurden sie mit Wasserund Lebensmitteln versorgt und durften schnell zur Toilette gehen.Danach wurden die Conta<strong>in</strong>er wieder verschlossen. Nach der Ankunftihres Schiffes <strong>in</strong> Marseille oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen europäischen Hafenlagen <strong>in</strong> dem Conta<strong>in</strong>er bereits viele Leichen. Die Menschen hatten e<strong>in</strong>eunvorstellbar furchtbare Situation durchlitten. Nur wenige Überlebendeerreichten ihr Ziel. In Europa lebten sie vom Verkauf von kle<strong>in</strong>enArtikeln wie Krawatten, die sie als echte ch<strong>in</strong>esische Seidenware anpriesen.Sie wollten vom guten Ruf unserer Vorfahren pr<strong>of</strong>itieren. Dabei konntee<strong>in</strong> aufmerksamer Käufer schon am Etikett erkennen, dass die Krawatten<strong>in</strong> Europa hergestellt waren. Die Ch<strong>in</strong>esen aus Q<strong>in</strong>gtian hatten wedere<strong>in</strong>en Reisepass noch jemanden, der ihre Interessen wahrte. So triebensie sich <strong>in</strong> verschiedenen europäischen Staaten herum. Ihre Namen


30 Ch<strong>in</strong>esen <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> 191wählten sie nach den Pässen aus, die sie gerade besaßen. Daher hießen sieheute Zhang und morgen Wang. Sie hatten ke<strong>in</strong>e feste Unterkunft undke<strong>in</strong>en festen Namen. Wenn jemand starb oder fortg<strong>in</strong>g, wurde der Passvererbt. Staatsgrenzen überschritten sie nicht durch den Zoll, sondernüber heimliche Wege. E<strong>in</strong>ige sollen dabei von der Grenzschutzpolizeierschossen worden se<strong>in</strong>. Ihr hartes und genügsames Leben ermöglichtees ihnen, e<strong>in</strong> bisschen Geld zu sparen, das sie auf allen möglichen Wegennach Q<strong>in</strong>gtian schickten, denn trotz aller Leiden und Entbehrungenhatten sie ihre Heimat nicht vergessen.Ich hatte noch ke<strong>in</strong>en Q<strong>in</strong>gtian-Händler kennengelernt, nur hier und daetwas über sie gehört – bis ich vom Amtsgericht <strong>in</strong> Kassel, e<strong>in</strong>er relativgroßen Stadt <strong>in</strong> der Nähe von Gött<strong>in</strong>gen, e<strong>in</strong>e Vorladung erhielt. Ichsollte als Dolmetscher zu e<strong>in</strong>em Term<strong>in</strong> ersche<strong>in</strong>en. Bei Nichtersche<strong>in</strong>endrohte mir e<strong>in</strong> Bußgeld von e<strong>in</strong>hundert Reichsmark. Das Honorar solltefünfzig Reichsmark betragen. Es war merkwürdig, aber da ich wusste, dassdie Deutschen ihre Rechtsvorschriften sehr streng e<strong>in</strong>hielten, erschienich natürlich pünktlich. Vor Gericht erfuhr ich dann, dass es sich bei demBeklagten um e<strong>in</strong>en Q<strong>in</strong>gtian-Händler handelte. Die Verhandlung mussteüber zwei Sprachen gedolmetscht werden, denn der Beklagte konnteweder Deutsch noch Hochch<strong>in</strong>esisch. Das Gericht machte noch e<strong>in</strong>enweiteren Übersetzer ausf<strong>in</strong>dig, der Hochch<strong>in</strong>esisch und den Dialekt derQ<strong>in</strong>gtian-Händler beherrschte. Damit konnte die mündliche Verhandlungzügig durchgeführt werden. Eigentlich war es ke<strong>in</strong>e großartige Sache. DerBeklagte hatte auf der Straße Waren angeboten und dabei gegen deutscheGesetze verstoßen. Die Qualität war mangelhaft und der Preis nichtangemessen. Daher hatten e<strong>in</strong> paar deutsche Frauen e<strong>in</strong>e Klage beimAmtsgericht Kassel e<strong>in</strong>gereicht. E<strong>in</strong>ige der Kläger<strong>in</strong>nen waren bei dermündlichen Verhandlung anwesend und gaben die genaue Zeit und den


192 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Ort des Kaufs an. Sie identifizierten e<strong>in</strong>stimmig den Beklagten. Der wiesdas s<strong>of</strong>ort zurück und behauptete, <strong>in</strong> den Augen der Deutschen sähenalle Ch<strong>in</strong>esen gleich aus. Wie konnten sie behaupten, er sei es gewesen.Die Richter waren ratlos und beendeten schließlich die Verhandlung. E<strong>in</strong>Polizist erzählte mir: „Ihre Landsleute s<strong>in</strong>d schwierig für uns. Wir s<strong>in</strong>dmachtlos gegen sie. Normalerweise drücken wir e<strong>in</strong> Auge zu, wenn wirmit ihnen zu tun haben. Es gibt aber auch ke<strong>in</strong>e nennenswerten Probleme.“Ich schlug ihm vor, beide Augen zuzudrücken. Er lachte laut über me<strong>in</strong>enVorschlag, und wir verabschiedeten uns mit e<strong>in</strong>em Händedruck.Ich steckte die fünfzig Reichsmark e<strong>in</strong> und folgte den Q<strong>in</strong>gtian-Händlern<strong>in</strong> ihre Wohnung, <strong>in</strong> die sie mich e<strong>in</strong>geladen hatten. In der großenWohnung lebten sieben oder acht Ch<strong>in</strong>esen. Sie schliefen auf demFußboden. Es gab kaum Möbel, auch ke<strong>in</strong>e sanitären Anlagen. E<strong>in</strong> hartesLeben.Die <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> lebenden ch<strong>in</strong>esischen Studenten verachtetenihre Landsleute. In den Augen der Q<strong>in</strong>gtian-Händler galt e<strong>in</strong> Gerichtebenso wie e<strong>in</strong>e Botschaft als Behörde, die sie nur im äußersten Notfallaufsuchten. Nun kam plötzlich e<strong>in</strong> ch<strong>in</strong>esischer Student, der gleichzeitigPrivatdozent e<strong>in</strong>er Universität war, zu ihnen nach Hause! Sie behandeltenmich wie e<strong>in</strong>en Goldphönix und luden mich zum Essen e<strong>in</strong>. Ichversuchte mehrmals ihre E<strong>in</strong>ladung abzulehnen und mich von ihnen zuverabschieden. Doch am Ende war ich gerührt von ihrer Herzlichkeit undblieb. Sie tischten mir Brot, We<strong>in</strong> und nach ch<strong>in</strong>esischer Art zubereitetegekochte Schwe<strong>in</strong>efüße auf. Es roch sehr gut. Woher hatten sie bloß dieSchwe<strong>in</strong>efüße bekommen? Seit Monaten hatte ich ke<strong>in</strong> Fleisch gegessen.Jetzt aß ich mich satt. Über das Verfahren am Gericht verloren sie ke<strong>in</strong>Wort. Als ich beiläufig danach fragte, me<strong>in</strong>ten sie, das sei für sie alltäglichund nur e<strong>in</strong>e Kle<strong>in</strong>igkeit. „Hätten wir den Deutschen die Wahrheit


30 Ch<strong>in</strong>esen <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> 193sagen sollen?“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. DieseQ<strong>in</strong>gtian-Händler hatten ihre Heimat und ihr Zuhause verlassen müssen,mussten sich <strong>in</strong> fremden Ländern durchschlagen und unvorstellbareGefahren und Härten auf sich nehmen. Wie mühsam hatten sie etwasGeld zusammengespart, um es nach Hause zu schicken. Viele sahen ihreHeimat erst nach <strong>Jahre</strong>n wieder, manche starben <strong>in</strong> der Fremde. Diemeisten von ihnen waren Analphabeten. Wir konnten uns nicht wirklichverständigen, aber ich sah ihre Freude und ihre Ahnungslosigkeit. Traurig.So sah me<strong>in</strong> Treffen mit den Q<strong>in</strong>gtian-Händlern aus. Für mich war ese<strong>in</strong>e Zufallsbekanntschaft. Sie dagegen betrachteten mich als wirklichenFreund.Nachdem ich wieder nach Gött<strong>in</strong>gen zurückgefahren war, sandten sie mirständig Geschenke. E<strong>in</strong>mal schickten sie mir kurz vor Weihnachten ausHamburg fünfzig Krawatten. E<strong>in</strong> willkommenes Geschenk, um me<strong>in</strong>enLehrern und Freunden e<strong>in</strong>e Freude zu bereiten. In e<strong>in</strong>em anderenJahr schickten sie mir ebenfalls kurz vor Weihnachten aus Hamburge<strong>in</strong>en Eimer Doufu. Die Ch<strong>in</strong>esen stellten Doufu <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> nur<strong>in</strong> Hamburg her. Für Europäer war dieser Sojabohnenquark fremd.Diejenigen, die Doufu mochten, schätzten es als beste Delikatesseüberhaupt, anderen erschien Doufu nur merkwürdig. Ich bekam so vielDoufu, dass ich es beim besten Willen nicht alle<strong>in</strong> essen konnte. Undkochen konnte ich auch kaum. Wenn ich jemandem D<strong>of</strong>u schenkenwollte, musste ich lange und überzeugende Erklärungen abgeben, damiter es annahm. Natürlich war ich den Q<strong>in</strong>gtian-Freunden trotzdem sehrdankbar. Sie waren e<strong>in</strong>fach und gutmütig, wenn auch e<strong>in</strong> wenig naiv.Ich habe schon erwähnt, dass ich die Namen der Händler nicht kannteund nicht wusste, welche ich kennen gelernt hatte. Ihre Namen richtetensich nach den Pässen, die sie gerade besaßen. Nun wollte ich <strong>Deutschland</strong>


194 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>verlassen und damit auch sie. Es gab viele Lehrer und Freunde, an dieich denken musste. Mir schwirrte der Kopf davon. Ich wusste nicht,warum mir gerade <strong>in</strong> dieser Situation gerade diese Ch<strong>in</strong>esen, die sich <strong>in</strong>der Fremde mühsam durchschlugen und deren Namen ich nicht e<strong>in</strong>malkannte, <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n kamen. Wie hatten sie wohl den Zweiten Weltkriegüberstanden? Wo trieben sie sich jetzt herum? Wahrsche<strong>in</strong>lich würde ich<strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben nichts mehr von ihnen hören. Ich schaute <strong>in</strong> die Ferne,und me<strong>in</strong> Herz begann schneller zu schlagen.


31 Leb wohl, Gött<strong>in</strong>gen! 19531. Leb wohl, Gött<strong>in</strong>gen!Nun würde ich gehen.Nun würde ich <strong>Deutschland</strong> verlassen.Nun würde ich Gött<strong>in</strong>gen verlassen.Die Stadt, <strong>in</strong> der ich zehn <strong>Jahre</strong> lang gelebt hatte.E<strong>in</strong> altes ch<strong>in</strong>esisches Sprichwort sagt: „Egal wieviel tausend Li dasSonnendach auch lang se<strong>in</strong> mag, das Festessen ist begrenzt.“ Alles hate<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Ende. Buddha mahnt se<strong>in</strong>e Gläubigen, nicht mehr als dreimalunter e<strong>in</strong>em Maulbeerbaum zu übernachten. Das hätte Nachteile für ihrweiteres Leben. Ich aber wohnte <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen nicht drei Nächte, sondern1200 mal drei Nächte. Das verband mich natürlich mit diesem Ort. ZumGlück war ich ke<strong>in</strong> Buddhist. Ich wollte auch niemals e<strong>in</strong>er werden. DerBuddhismus war nicht me<strong>in</strong>e Sache, ich hatte me<strong>in</strong>e eigenen Wurzeln.Hätte mir bei me<strong>in</strong>er Ankunft <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen jemand gesagt, ich müssefünf <strong>Jahre</strong> bleiben, wäre ich sicher <strong>in</strong> die Luft gegangen. Wie hätte ichfünf <strong>Jahre</strong> ertragen können! Fünf <strong>Jahre</strong> s<strong>in</strong>d mehr als 1800 Tage! Jetzt


196 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>aber lebte ich nicht nur seit fünf <strong>Jahre</strong>n, sondern seit zweimal fünf <strong>Jahre</strong>n<strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen. Und es hatte mir gut gefallen! Es waren zehn <strong>Jahre</strong>, die,so habe ich am Anfang des Buches geschrieben, wie e<strong>in</strong> unwirklicherFrühl<strong>in</strong>gstraum verflogen s<strong>in</strong>d. Wenn mir zu jenem Zeitpunkt jemandgesagt hätte, ich müsse weitere zehn <strong>Jahre</strong> bleiben, wäre ich nicht <strong>in</strong> dieLuft gegangen. Ich hätte mich gefreut.Aber es war Zeit für mich zu gehen. Ich hatte me<strong>in</strong>e Heimat, me<strong>in</strong>eFamilie, me<strong>in</strong>e Verwandten und me<strong>in</strong>e Frau. Das l<strong>in</strong>derte me<strong>in</strong>enAbschiedsschmerz.Die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, von <strong>Deutschland</strong> nach Ch<strong>in</strong>a zu kommen, botdamals der Weg über die Schweiz. Dort unterhielt die Guom<strong>in</strong>dang-Regierung e<strong>in</strong>e Botschaft. Zhang Wei und ich <strong>in</strong>formierten uns überall,wie wir <strong>in</strong> die Schweiz fahren könnten. Wir erfuhren von der Existenze<strong>in</strong>er Schweizer Familie <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen und besuchten sie. E<strong>in</strong>e Fraumittleren Alters, e<strong>in</strong>e Hausfrau, empf<strong>in</strong>g uns sehr freundlich, konnte unsaber nicht weiterhelfen. Wir mussten e<strong>in</strong> Visum <strong>in</strong> Hannover beantragen.Also fuhren Zhang Wei und ich über 100 Kilometer mit e<strong>in</strong>em Bus <strong>in</strong> dieLandeshauptstadt.Hannover war die größte und älteste Stadt <strong>in</strong> der Nähe von Gött<strong>in</strong>gen.Aber war das wirklich noch e<strong>in</strong>e Stadt? Aus der Ferne hatte ich noch dieSilhouette zahlreicher Hochhäuser erblickt, aber aus der Nähe war nurnoch e<strong>in</strong> Trümmerfeld zu sehen. Die zum Teil e<strong>in</strong>gestürzten Gebäudeer<strong>in</strong>nerten an die Reste e<strong>in</strong>er römischen Arena. Es gab Straßen, aufdenen tatsächlich wieder e<strong>in</strong> paar Autos fuhren, aber sie waren voll vonkle<strong>in</strong>en und großen Bombentrichtern. Die Bürgersteige erregten unsereAufmerksamkeit. Die Bauweise der Hochhäuser ähnelte derjenigen <strong>in</strong>vielen größeren deutschen Städten. Gleich, wie hoch sie empor ragten,sie hatten auf jeden Fall e<strong>in</strong>en Keller. Der durfte aber nicht bewohnt


31 Leb wohl, Gött<strong>in</strong>gen! 197Gött<strong>in</strong>ger Wallwerden. Jeder Familie wurden e<strong>in</strong> oder zwei Kellerräume zugeordnet, umdort alltägliche Lebensmittel wie Kart<strong>of</strong>feln, Äpfel, Erdbeermarmelade,Eierbriketts oder Holz und ähnliche D<strong>in</strong>ge zu lagern. Dass es für dieseRäume e<strong>in</strong>mal noch andere Nutzungsmöglichkeiten geben würde,hätte früher wohl niemand gedacht. Als der Krieg ausbrach, glaubtendie Deutschen an die Lüge ihrer faschistischen Führung, dass dieamerikanischen und englischen Flugzeuge harmlos wie aus Pappe seienund die deutsche Grenze nicht überfliegen könnten. In großen Städtenwaren viel zu wenig Luftschutzbunker gebaut worden. Dann kam dieErnüchterung. Die angeblich aus Pappe hergestellten Flugzeuge derFe<strong>in</strong>de waren zu Stahl geworden. Die Lüge der Nazis zerplatzte wiee<strong>in</strong>e Seifenblase. Die Menschen konnten nur <strong>in</strong> die Keller flüchten, umsich vor den E<strong>in</strong>schlägen zu retten. Doch sie fanden ke<strong>in</strong>en Schutz.Die Bomben durchdrangen ihre Häuser und legten sie <strong>in</strong> Schutt undAsche. Sie explodierten im Innern der Gebäude, die dann e<strong>in</strong>stürztenund die Keller verschütteten. Die Menschen da unten waren hilflos.


198 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Riefen sie die Geister im Himmel, bekamen sie ke<strong>in</strong>e Antwort. Riefensie die Geister unter der Erde, bekamen sie auch ke<strong>in</strong>e. Wie es wirklichwar, kann wohl nur der schildern, der es tatsächlich erlebt hat. Alle<strong>in</strong>der Gedanke daran lässt jeden vor Angst schaudern. Am Anfang gab esvielleicht noch Verwandte, die mit letzter Kraft die Leichen der Opferbergen und begraben konnten. Doch es gab immer mehr Luftangriffeund irgendwann ke<strong>in</strong>e hilfreichen Verwandten mehr, die nicht selbstverschüttet waren. Dann mussten fremde Helfer die Leichen ausgraben.Wenn Überlebende die Gräber ihrer Angehörigen besuchen wollten,standen sie nur noch vor Trümmern. Blumenkränze lagen überall auf denStraßen und nicht auf den Friedhöfen. Solche Bilder gab es <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gennicht. Ich war vollkommen entsetzt und traurig. Angeblich lebten <strong>in</strong> denKellern Ratten von e<strong>in</strong>er Größe von mehr als e<strong>in</strong>em Chi 50 , die sich vonden Leichen ernährten. <strong>Deutschland</strong>, dieses großartige Land, musstederart Schreckliches erleben. Me<strong>in</strong> Herz fühlte sauer, süß, bitter undscharf. Ich suchte e<strong>in</strong>en Ort, an dem ich <strong>in</strong> Ruhe trauern konnte.Hannovers Zerstörung war natürlich das Ergebnis der Flächen-Bombardements. Hier und da gab es unversehrte Häuser, <strong>in</strong> denennoch Menschen arbeiten konnten. Sie wohnten auf dem Land undkamen tagsüber <strong>in</strong> die Stadt. Auch die diplomatische Vertretung derSchweiz <strong>in</strong> Hannover war verschont geblieben. Wir g<strong>in</strong>gen durch riesigeTrümmerhaufen zu diesem Büro. Die Reise war <strong>in</strong>dessen vergeblich: Weilich ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>ladung aus der Schweiz vorweisen konnte, wurde mir dasE<strong>in</strong>reisevisum verweigert. E<strong>in</strong>e Erfahrung habe ich allerd<strong>in</strong>gs gemacht.Ich habe mit eigenen Augen gesehen, was große Luftangriffe anrichtenkonnten. Gött<strong>in</strong>gen war da vergleichsweise glimpflich davongekommen.50Chi, e<strong>in</strong> ch<strong>in</strong>esisches Längenmaß, entspricht 1/3 Meter.


31 Leb wohl, Gött<strong>in</strong>gen! 199Und jetzt konnte ich mir auch vorstellen, wie es <strong>in</strong> noch größeren Städtenwie zum Beispiel Berl<strong>in</strong> aussehen musste. Später hörte ich von e<strong>in</strong>emBerl<strong>in</strong>er Gebäude, dessen Trümmer den Keller vollkommen verschüttethatten. Die e<strong>in</strong>geschlossenen Menschen hatten mit bloßen Händene<strong>in</strong> Loch durch die Wand zum unversehrten Nachbarkeller gegraben.So entkamen sie dem Tod, hatten aber dabei die Hälfte ihrer F<strong>in</strong>gerverloren. Andere hatten weniger Glück, sie konnten sich nicht befreien.Sie schrien und schrien, aber die Menschen, die sie draußen hörten,vermochten nicht, den riesigen Trümmerberg abzutragen. Hilflos musstensie die Schreie ertragen. Diese wurden immer schwächer und warennach e<strong>in</strong>igen Tagen verstummt. Wer das überlebt hatte, kam entweder <strong>in</strong>die Irrenanstalt oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Krankenhaus. Der Mensch, die Krone derSchöpfung, hatte dieses Grauenmit eigenen Händen geschaffen!Bei e<strong>in</strong>em Besuch <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> drei<strong>Jahre</strong> vorher sah alles noch ganzanders aus. Damals herrschtezwar auch schon Krieg. Es gabauch bereits Luftangriffe, aberdie waren nicht so verheerend.Die Geschäfte hatten geöffnet,auf den Straßen liefen vieleMenschen. Aber nun war allesanders. Die Situation hatte sich sounvorstellbar verschlechtert, sodass ich nicht <strong>in</strong> der Lage b<strong>in</strong>, siezu beschreiben. Ich b<strong>in</strong> nicht derlegendäre große Literat Jianglang.Bismarckturm


200 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Me<strong>in</strong>e Künste s<strong>in</strong>d begrenzt. Aber nach langem Überlegen habe ich doche<strong>in</strong>en Ausweg gefunden, um das Schicksal der Stadt Berl<strong>in</strong> zu erfassen.Ich möchte dazu zwei Abschnitte aus den Werken alter ch<strong>in</strong>esischerDichter zitieren, zwei unterschiedliche Abschnitte, die das frühere und dasBerl<strong>in</strong> zu Kriegsende beschreiben können. Sie wurden vor zweitausend<strong>Jahre</strong>n mehr als zehntausend Li entfernt geschrieben. Natürlich wardie Situation damals e<strong>in</strong>e andere, aber die Atmosphäre war gleich. Dieschönen Schilderungen der alten Ch<strong>in</strong>esen drücken me<strong>in</strong>e Empf<strong>in</strong>dungenvon den Veränderungen aus. Ich b<strong>in</strong> selbst zufrieden, dass ich diesenWeg gefunden habe, und weiß nicht, welcher Geist ihn mir gewiesen hat.Dafür möchte ich mich auf Knien bei ihm bedanken. Werde ich nun alsKopierer verdächtigt? Ne<strong>in</strong>, sicher nicht. Ich habe auch lange suchenmüssen, um die Zitate zu f<strong>in</strong>den.Ich zitiere den Abschnitt e<strong>in</strong>es Fu-Gedichtes über Chengdu von ZuoTaichong 51 :Im Westen von Chengdu liegt e<strong>in</strong>e neue kle<strong>in</strong>e Stadt. Die meisten E<strong>in</strong>wohner lebenhier. Es ist auch e<strong>in</strong> Wohnsitz für Händler. Überall s<strong>in</strong>d zahlreiche wertvolle Warenausgestellt. Viele mannigfaltige kostbare D<strong>in</strong>ge türmen sich auf zu Bergen.Männer und Frauen s<strong>in</strong>d gut gekleidet. E<strong>in</strong> Markt mit Raritäten undÜberraschungen.Diese kurze Beschreibung stellt e<strong>in</strong>e lebendige Stadt wie das frühereBerl<strong>in</strong> dar.Nun zitiere ich noch e<strong>in</strong>en Absatz aus dem Fu-Gedicht über die Stadt Wuvon Bao M<strong>in</strong>gyuan 52 :Betrachtet man die solide Stadtmauer und den Stadtgraben, ist man fest überzeugt,51Zuo Taichong 左 太 冲 (ca. 250 – 305), Westliche J<strong>in</strong>-Dynastie, Schriftsteller.52Bao M<strong>in</strong>gyuan 鲍 明 远 (414 – 466), genannt Bao Zhao 鲍 照 , Schriftsteller, Südliche und Nördliche Dynastien.


31 Leb wohl, Gött<strong>in</strong>gen! 201dass diese Anlage zehntausend <strong>Jahre</strong> hätte überstehen müssen. Niemand hätte gedacht,dass sie schon nach e<strong>in</strong>igen Dynastien fünfhundert <strong>Jahre</strong> später e<strong>in</strong>fach völlig zerstörtwürde. Moose wachsen an den Brunnen und Unkraut auf den Wegen. Überall imH<strong>of</strong> gibt es giftige Schlangen und Füchse.Vor den Treppen kämpfen Wasserrehe mit Ratten. Der Stadtgraben ist zugeschüttetund der große Eckturm e<strong>in</strong>gestürzt. Man kann Tausende von Li weit schauen undsieht nichts als Staub. Es herrscht Totenstille. Wie traurig!Soweit die Schilderung der Stadt Wu, deren Andenken Bao Zhaobewahren wollte. Das total zerstörte Berl<strong>in</strong> schien das Schicksal der StadtWu zu teilen. Faschistische Führer wollten die alle<strong>in</strong>igen Herrscher derWelt se<strong>in</strong>. Aber was war ihr Ende? Die Siegermächte haben das DritteReich zerschlagen und unter sich aufgeteilt. „Man kann Tausende vonLi weit schauen und sieht nichts als Staub“, schrieb Baozhao. Me<strong>in</strong>edeutschen Freunde me<strong>in</strong>ten, dass es alle<strong>in</strong> fünfzig <strong>Jahre</strong> dauern würde, dieTrümmerfelder zu beseitigen. An den Wiederaufbau dachte niemand. Dasdeutsche Volk musste erst e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Ruhe nachdenken. Ihre Herzen warenverletzt. Ich wohnte so viele <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>, hatte diese Situationmit ihnen erlebt und fühlte mit ihnen.Aber jetzt war es Zeit für mich zu gehen.Zeit, <strong>Deutschland</strong> zu verlassen.Zeit, Gött<strong>in</strong>gen zu verlassen.Me<strong>in</strong>e Heimat ruft mich, den Mann <strong>in</strong> der Fremde.Der Gedanke an den Abschied von e<strong>in</strong>er Stadt, die me<strong>in</strong>e zweite Heimatgeworden war, tat weh. Ich hatte hier zehn <strong>Jahre</strong> gewohnt. Viel längerhatte ich auch nicht <strong>in</strong> Pek<strong>in</strong>g und <strong>in</strong> Ji‘nan gelebt. Jedes Haus, jede Straße,jede Pflanze und jeder Baum waren schicksalhaft mit mir verbunden. Wirhatten geme<strong>in</strong>sam be<strong>in</strong>ahe 4.000 Tage verbracht. Ich h<strong>in</strong>g an ihnen. Jetzt,wo der Zeitpunkt des Abschieds gekommen war, wurden me<strong>in</strong>e Gefühle


202 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Gött<strong>in</strong>ger Wald mit Bismarckturmfür sie noch stärker. Gött<strong>in</strong>gen war mir so vertraut geworden, als wäre ichüber jeden Ste<strong>in</strong> gegangen. Die vielen Läden, die ich besucht hatte, konnteich nicht mehr zählen. Viele Menschen auf den Straßen kannte ich. Ichkannte die großen Eichen auf dem Wall, den weichen grünen Rasenauf der Schillerwiese, den <strong>in</strong> die Wolken aufragenden Bismarckturm, dieRehe im Wald, die Schneeglöckchen, die am Frühl<strong>in</strong>gsanfang aus demSchnee herauslugten, und die roten Blätter an den Bäumen oben auf demBerg. Es fiel mir schwer, mich von der berühmten alten Universität undme<strong>in</strong>en Lehrern zu trennen, die ich sehr verehrte. Und es tat weh, me<strong>in</strong>erVermieter<strong>in</strong> Lebewohl zu sagen. <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> – wie viele Morgenw<strong>in</strong>de undAbendmonde, wie viele unvergessliche Ereignisse hatten wir geme<strong>in</strong>samerlebt.Aber ich musste gehen.Me<strong>in</strong>e Heimat rief mich.


31 Leb wohl, Gött<strong>in</strong>gen! 203Ich er<strong>in</strong>nerte mich an das Gedicht „Reise nach Norden“ von Liu Zao 53aus der Tang-Zeit:Als Gast wohnte ich e<strong>in</strong>ige Jahrzehnte <strong>in</strong> B<strong>in</strong>gzhou,Tag und Nacht hatte ich Heimweh nach Xianyang.Als ich den Sangan-Fluss überquerte,betrachtete ich B<strong>in</strong>gzhou als me<strong>in</strong>e zweite Heimat.Auf Wiedersehen Gött<strong>in</strong>gen, me<strong>in</strong>e zweite Heimat.Auf Wiedersehen <strong>Deutschland</strong>.Wann werde ich Euch wiedersehen?53Liu Zao 刘 皂 (genaue Lebensdaten s<strong>in</strong>d unbekannt), Dichter, Tang-Dynastie.


204 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>32. Die Fahrt <strong>in</strong> die SchweizAm 6. Oktober 1945 verließ ich Gött<strong>in</strong>gen und reiste mit e<strong>in</strong>em Jeep<strong>in</strong> die Schweiz.Woher wir den Wagen bekommen hatten, muss ich erzählen. Wiebereits mehrmals erwähnt, war der Verkehr <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> völligzusammengebrochen. Um aber <strong>in</strong> die Schweiz zu gelangen, benötigtenwir e<strong>in</strong> Auto. Deshalb wandten Zhang Wei und ich uns erneut an dieAlliierten. Es gab nur noch wenige amerikanische Soldaten, die sich<strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen aufhielten, denn die Stadtverwaltung war schon auf dieEngländer übergegangen. Bei der so genannten Militärregierung suchtenwir e<strong>in</strong>en höflichen englischen Hauptmann mit Namen Watk<strong>in</strong>s auf,der uns Hilfe versprach. Wir vere<strong>in</strong>barten, am 6. Oktober abzureisen.Im Wagen saßen der Fahrer, e<strong>in</strong> Franzose, dazu e<strong>in</strong> amerikanischerMajor, der die Gelegenheit nutzen wollte, um die Schweiz zu besuchen.Amerikanische Soldaten durften nur nach e<strong>in</strong>er bestimmten Anzahl vonDienstjahren <strong>in</strong> die Schweiz reisen. Die Möglichkeit gab es nicht <strong>of</strong>t, unddiese Chance wollte er sich nicht entgehen lassen.


32 Die Fahrt <strong>in</strong> die Schweiz 205Wir waren <strong>in</strong>sgesamt sechs Ch<strong>in</strong>esen, die Gött<strong>in</strong>gen verließen. Diedreiköpfige Familie von Zhang Wei, Herr und Frau Liu und ich.Nach aufgeregten Abschiedsszenen stiegen wir <strong>in</strong> den Wagen undfuhren auf die weltbekannte Reichsautobahn. Als ich auf Gött<strong>in</strong>genzurückblickte, g<strong>in</strong>g mir e<strong>in</strong> Tang-Gedicht über die Lippen: „Im Rückblickwar der ehemals fremde Ort zur Heimat geworden.“Die Gött<strong>in</strong>ger Luft war klar und frisch. Der Wagen fuhr immer schneller,und die Stadt wurde zu e<strong>in</strong>em Schatten, bis sie völlig verschwand.Me<strong>in</strong>em Abschiedsschmerz konnte ich mich nicht lange h<strong>in</strong>geben.Grüne Berge und Flüsse l<strong>in</strong>ks und rechts von der Autobahn zogen me<strong>in</strong>eAufmerksamkeit auf sich. Überall wuchsen dichte Wälder, die unter demKrieg kaum gelitten hatten. Es war gerade die goldene Herbstzeit, dieBäume standen <strong>in</strong> voller Pracht. Die farbigen Bilder, die ich erblickte,sahen genau so aus wie im dichten Herbstwald von Gött<strong>in</strong>gen, wie ich esjedes Jahr erlebt hatte. Die Farben veränderten sich während der Fahrtund verursachten <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Innern e<strong>in</strong> wohliges Gefühl. Aber sobaldwir durch größere Städte fuhren, sahen wir wieder Trümmerfelder – e<strong>in</strong>trauriger Anblick. Es war e<strong>in</strong> Wechselbad der Gefühle. Dazu fiel mir e<strong>in</strong>kle<strong>in</strong>es zweizeiliges Gedicht e<strong>in</strong>:Die Bäume auf den Feldern s<strong>in</strong>d herzlos,nach wie vor färbt die Abendröte den Herbsthimmel.Da es schon fast Mittag war, als wir Gött<strong>in</strong>gen verließen, erreichten wirFrankfurt so spät, dass wir dort übernachten mussten. Das war sicherganz im S<strong>in</strong>ne des amerikanischen Majors, denn <strong>in</strong> Frankfurt befand sichdas Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>. Da gabes für ihn natürlich günstige Verpflegung und Übernachtungsmöglichkeiten.Wir schliefen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em eigens für amerikanische Offiziere reserviertenHotel mit dem Namen „Vier <strong>Jahre</strong>szeiten“. Der amerikanische Verwalter


206 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>des Hotels bot uns freundlicherweise e<strong>in</strong> schönes, reichhaltigesAbendessen an, wie wir es seit langer Zeit nicht mehr genossen hatten.Dabei gehörten wir zur Gruppe derer, die mittellos waren. AmerikanischesGeld besaßen wir nicht, und die deutsche Währung war wahrsche<strong>in</strong>lichnichts mehr wert. Wir hatten ke<strong>in</strong>en Pfennig <strong>in</strong> der Tasche und wurdendennoch so bevorzugt empfangen. Dafür bedankten wir uns herzlich.Die Amerikaner waren rastlos, lebhaft und stets zu Späßen aufgelegt.Auch im Hotel g<strong>in</strong>g es munter zu, aber wir fühlten uns sehr wohl undverbrachten e<strong>in</strong>e angenehme Nacht.Frühmorgens am nächsten Tag setzten wir die Reise fort. Ich zitiere ausme<strong>in</strong>em Tagebuch vom 7. Oktober 1945:Kurz nach 8 Uhr fuhren wir Richtung Süden weiter auf der Reichsautobahn. Dadiese Autobahn überwiegend geradeaus verlief, kamen wir nur selten an Städtenund Dörfern vorbei. In Mannheim verfuhren wir uns. Hier sah man nur nochTrümmerhaufen. Als wir an Heidelberg vorbeifuhren, erblickte ich nur grüne Berge<strong>in</strong> der Ferne. In den französischen Besatzungsgebieten fiel uns zunächst auf, dassdie Wagen auf der Straße immer weniger wurden. Es gab nur selten französischeSoldaten, die tatsächlich Franzosen waren. Über die Hälfte waren Schwarze und esgab e<strong>in</strong>ige Asiaten. In der Abenddämmerung erreichten wir die deutsch-schweizerischeGrenze. Nach der französischen Kontrolle dachte ich, dass alles glatt gehen würde.Aber wir bekamen trotz langer Verhandlungen ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>reisegenehmigung und fuhrenwieder zurück <strong>in</strong>s deutsche Lönach. Dort übernachteten wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em für französischeOffiziere reservierten Hotel.Me<strong>in</strong> letzter Tag <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>! Eigentlich hatte ich gedacht, dass allesglatt gehen würde. Aber nichts g<strong>in</strong>g glatt. An der Grenze saßen wir fest.Es g<strong>in</strong>g nicht vor und nicht zurück. Wir konnten nicht e<strong>in</strong>reisen, wolltenaber auch nicht zurück. Man kann sich unsere Nervosität vorstellen.Am frühen Morgen des nächsten Tages standen wir erneut vor der


32 Die Fahrt <strong>in</strong> die Schweiz 207Schweizer Grenze. Bis hierher hatten wir es geschafft. Jetzt durften wirke<strong>in</strong>e halben Sachen machen. Zwar hatte uns niemand die Kessel oder dieSchiffe zerstört, um uns an der Rückkehr zu h<strong>in</strong>dern, 54 aber wir wolltenum jeden Preis kämpfen. Wir telefonierten mit der ch<strong>in</strong>esischen Botschaft<strong>in</strong> der Schweiz und mit me<strong>in</strong>em Schulfreund Zhang Tianl<strong>in</strong> – mitErfolg. Endlich kam die Nachricht: Wir durften e<strong>in</strong>reisen. Wir Ch<strong>in</strong>esenwaren begeistert. Der amerikanische Major und der französische Fahrererhielten ke<strong>in</strong>e Genehmigung. Helfen konnten wir ihnen nicht. Aber wirversuchten, sie wenigstens mit kle<strong>in</strong>en ch<strong>in</strong>esischen Geschenken undnetten Worten zu trösten – als Andenken und um nicht <strong>in</strong> Vergessenheitzu geraten, obwohl das irgendwann wahrsche<strong>in</strong>lich doch der Fall se<strong>in</strong>würde. Wir hatten uns zufällig getr<strong>of</strong>fen, wie e<strong>in</strong>e Wasserl<strong>in</strong>se dasfließende Wasser. Nur zwei Tage hatten wir mite<strong>in</strong>ander verbracht, aberihr Bild taucht noch heute <strong>of</strong>t <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung auf.Schließlich verließen wir <strong>Deutschland</strong> und reisten <strong>in</strong> die Schweiz e<strong>in</strong>.54Anspielung auf den Krieg während des Übergangs von der Q<strong>in</strong>-Dynastie zur Han-Dynastie. Xiangyu befahlse<strong>in</strong>en Soldaten, die eigenen Schiffe zu zerstören, um die Rückkehr unmöglich zu machen.


208 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>33. In FribourgDie Schweiz war mir seit langer Zeit gut bekannt. Als K<strong>in</strong>d hatte ichzahlreiche Fotos und Bilder von schweizerischen Landschaftengesehen. Besonders überrascht war ich von den schönen Farben derBerge und Seen. Blaugrün und Purpur wechselten mite<strong>in</strong>ander ab. E<strong>in</strong>farbenprächtiges Bild, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Märchenwelt. Früher wusste ich nicht,ob solche Bilder nur den Fantasien der Künstler zu verdanken waren oderob sie wirklich existierten. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass sounglaublich schöne Landschaften tatsächlich existieren.Jetzt reiste ich mit dem Zug durch die Schweiz und konnte mir selbst e<strong>in</strong>Bild von der Umgebung draußen machen. Was ich erblickte, war nochviel schöner als alle Bilder, die ich vorher gesehen hatte. Die Landschaftwar fantastisch, zauberhaft und abwechslungsreich. Die weit entferntliegenden Berge erschienen wie Augenbrauen, der Schnee auf denGipfeln wie Silber. Ihre Spiegelbilder <strong>in</strong> den Seen und der Dunst, dersich violett mit der Luft über dem Wasser und der grünen Umgebungmischte, schufen e<strong>in</strong>e wundersame Märchenlandschaft. E<strong>in</strong> halbes Leben


33 In Fribourg 209lang hatte ich Sprachen gelernt, so viele Gespräche geführt und etlichech<strong>in</strong>esische und ausländische Meisterwerke gelesen. Jetzt aber fehlten mirdie Worte, um diese Landschaft, die mir vor Augen stand, zu beschreiben.Ich konnte nur hilfesuchend e<strong>in</strong>e Person aus den „Kommentaren überdie Geschichte“ 55 befragen. Diese Bilder vor me<strong>in</strong>en Augen waren wederkünstlerische Erf<strong>in</strong>dungen noch Fantasien. Sie g<strong>in</strong>gen darüber h<strong>in</strong>aus. E<strong>in</strong>altes ch<strong>in</strong>esisches Gedicht sagt: „Man kann ke<strong>in</strong>e abstrakte Vision malen.Es war vergeblich, den H<strong>of</strong>maler Mao Yanshou 56 zu töten.“ IrdischeKünstler können den Anblick der Schweizer Berge und Seen nichtwiedergeben. Das soll aber ke<strong>in</strong>e Kritik an ihnen se<strong>in</strong>!Me<strong>in</strong>e größte Angst bei der Abreise aus Gött<strong>in</strong>gen war zu verhungern.Wer e<strong>in</strong>mal von e<strong>in</strong>er Schlange gebissen wurde, hat drei <strong>Jahre</strong> langAngst vor Strohseilen. Deshalb hatte ich vor der Abfahrt <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>genSchwarzbrot aufgehoben, um unterwegs im Notfall gewappnet zu se<strong>in</strong>.Obwohl wir <strong>in</strong>zwischen zwei Tage unterwegs waren, hatten wir das Brotnoch nicht angerührt. Nun im Zug hatte es se<strong>in</strong>e Aufgabe erfüllt. Wirbrauchten es nicht mehr. Ich wollte also die Brote nach alter ch<strong>in</strong>esischerMethode aus dem Fenster werfen, um die Schweizer Ameisen zu füttern– ohne zu wissen, ob sie so etwas überhaupt fressen würden. Währendich mich am Fenster an der Landschaft erfreute, suchte ich nach e<strong>in</strong>emgeeigneten Ort, um me<strong>in</strong>e Brote zu entsorgen. Ich suchte und suchte undfand von der Grenze bis zur Hauptstadt Bern nicht e<strong>in</strong>en Ort, an dembereits Abfälle oder Papier lagen. Überrascht und „enttäuscht“ stieg ichmit dem Schwarzbrot <strong>in</strong> den Händen aus dem Zug.55„Kommentare über die Geschichte von der Östlichen Han-Dynastie bis zur Südlichen Song-Zeit“(《 世 说新 语 》); Herausgeber: Liu Yiq<strong>in</strong>g 刘 义 庆 (403-444). Dar<strong>in</strong> wird e<strong>in</strong>e Person geschildert, die fast alle Fragennur mit der Gegenfrage „Wie kann ich das beschreiben?“ beantwortet.56Mao Yanshou 毛 延 寿 war e<strong>in</strong> berühmter Maler <strong>in</strong> der Han-Dynastie. Er wurde im Jahr 33 v. Chr. getötet,weil se<strong>in</strong>e Bilder den Anforderungen des damaligen Kaisers nicht genügten.


210 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Am Bahnh<strong>of</strong> nahmen uns me<strong>in</strong>e alten Freunde Zhang Tianl<strong>in</strong>, NiuXiyuan, ihr jüngster Sohn und e<strong>in</strong> Vertreter der Botschaft <strong>in</strong> Empfang.Nach e<strong>in</strong>er kurzen Erholungspause bei der Familie Zhang gesellte sichspäter der Botschaftsrat für Politik, Dr. Wang Jiahong, zu uns. Er hatteebenfalls <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> studiert. Daher verlief das Gespräch e<strong>in</strong>trächtigund harmonisch. Dr. Wang gab uns f<strong>in</strong>anzielle Unterstützung für denMonat Oktober und <strong>in</strong>formierte uns über die <strong>in</strong>neren Angelegenheiten<strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a. Er wirkte ähnlich geheimnisvoll und undurchsichtig wie HerrZhang. Die Guom<strong>in</strong>dang-Regierung hatte die Ch<strong>in</strong>esische Botschaft <strong>in</strong> derSchweiz angewiesen, alle <strong>in</strong> Europa lebenden Ch<strong>in</strong>esen mit aller Kraft zuunterstützen. Ihre Ziele waren so <strong>of</strong>fensichtlich wie die Aufzeichnungenvon Sima Zhao. 57 Wir wollten das aber nicht h<strong>in</strong>terfragen und bedanktenuns. Um bei den Kosten unserer Unterbr<strong>in</strong>gung Geld zu sparen, brachteuns die Botschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er katholischen Wohnstätte <strong>in</strong> Fribourg, e<strong>in</strong>e Stadt<strong>in</strong> der Nähe von Bern, unter. Wir waren froh e<strong>in</strong>e Unterkunft zu haben.Dort quartierten wir uns im Sankt Josef-Stift e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> dem bereits seitgeraumer Zeit e<strong>in</strong>ige Ch<strong>in</strong>esen wohnten, darunter vier Katholiken und e<strong>in</strong>katholischer Priester. Die anderen gehörten ke<strong>in</strong>er Glaubensgeme<strong>in</strong>schaftan. Sie alle hatten uns am Bahnh<strong>of</strong> <strong>in</strong> Empfang genommen. In diesemHeim blieb ich mehrere Monate.Fribourg war e<strong>in</strong>e sehr kle<strong>in</strong>e Stadt mit nur wenigen zehntausendE<strong>in</strong>wohnern. Sie beherbergte e<strong>in</strong>e bekannte katholische Universität,deren Bibliothek e<strong>in</strong>en umfangreichen Buchbestand besaß. Fribourgwar durchaus e<strong>in</strong>e Kulturstadt. Die Schweiz ist e<strong>in</strong> gebirgiges Land,Fribourg e<strong>in</strong> gebirgiger Ort <strong>in</strong> diesem Land. In dem Ort selbst war eseben, aber r<strong>in</strong>gsherum ragten steile Felswände von beachtlicher Höhe57Sima Zhao 司 马 昭 ( 211 – 265), Politiker und militärischer Führer, J<strong>in</strong>-Dynastie.


33 In Fribourg 211empor. Dazwischen spannten sich Eisenkettenbrücken, über die Autosrollten und Menschen g<strong>in</strong>gen. Wenn Fußgänger e<strong>in</strong>e solche Brückebetraten, geriet sie <strong>in</strong>s Wanken. Fuhr e<strong>in</strong> Auto darüber, erschütterte es dieganze Brücke, als würde die Erde beben. Wer von der Brücke h<strong>in</strong>unterschaute, hatte den E<strong>in</strong>druck, aus e<strong>in</strong>em Flugzeug zu blicken. Ihm wurdeschw<strong>in</strong>delig, er war wie geblendet.Die meisten E<strong>in</strong>wohner von Fribourg sprachen Französisch. Dochauf dem Land entdeckte ich e<strong>in</strong>ige alte Gebäude, deren Balken undFensterrahmen deutsche Inschriften trugen. Ich vermute, dass die frühereBevölkerung ursprünglich Deutsch gesprochen hat. Aus mir unbekanntenGründen waren sie verzogen, und ihnen waren Menschen aus demfranzösischen Sprachraum gefolgt. Die Schweiz ist e<strong>in</strong> Staat mit vielenNationalitäten. Amtssprachen s<strong>in</strong>d Deutsch, Französisch und Italienisch.Deshalb beherrschen mehr als die Hälfte der Schweizer Bürger mehrereSprachen. Und weil die Schweiz e<strong>in</strong> landschaftliches Juwel ist, reisten auchzur damaligen Zeit viele Touristen dorth<strong>in</strong>. Deswegen wurde auch vielEnglisch gesprochen. Selbst e<strong>in</strong>e alte Blumenverkäufer<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>er Straße<strong>in</strong> Bern beherrschte mehrere Sprachen.Me<strong>in</strong> Wohnheim <strong>in</strong> Fribourg beherbergte mehrere Nationalitäten. PaterCharriere, der Leiter des Hauses, sprach Französisch, der Hausverwalter,e<strong>in</strong> österreichischer Priester, dagegen Deutsch. Der Mann war sehr großund hatte S<strong>in</strong>n für Humor. Als ich ihn das erste Mal traf, erklärte er mir:„Ich habe bei me<strong>in</strong>em Wachstum nicht gut aufgepasst und vergessen‚Stop’ zu sagen. Daher b<strong>in</strong> ich so groß geworden.“ Katholische Priesterhaben viele Freiheiten. Sie dürfen zwar nicht heiraten, können aber alleSpeisen dieser Welt genießen, sich vergnügen und vor allem We<strong>in</strong> tr<strong>in</strong>ken.In Europa gibt es viele katholische Klöster, die beste We<strong>in</strong>e herstellen.Nonnen dagegen haben erheblich weniger Freiheiten.


212 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>In dem Wohnheim lernte ich überdies die Lebensgewohnheiten derKatholiken kennen. Vor dem Essen wurde gebetet. Nun war ich ke<strong>in</strong>Katholik, aber essen musste ich auch. Die Heimbewohner standen um denTisch und sprachen e<strong>in</strong>ige Worte, die ich zwar nicht verstand, bei denenich ihnen aber Gesellschaft leistete. Zum Glück dauerte das nicht lange.Nachdem sie Gott gedankt hatten, konnte auch ich als Nichtkatholikendlich schl<strong>in</strong>gen wie e<strong>in</strong> Wolf und schlucken wie e<strong>in</strong> Tiger.Pater Charriere war e<strong>in</strong> ausgesprochen aktiver Mann. E<strong>in</strong>ige Zeit nachme<strong>in</strong>er Ankunft wurde er vom Vatikan zum Erzbisch<strong>of</strong> für drei Kantone<strong>in</strong> der Schweiz ernannt. Hierzu zitiere ich etwas aus me<strong>in</strong>em Tagebuch:21. November1945:Nach dem Frühstück g<strong>in</strong>g ich <strong>in</strong> die Stadt. Heute trat Erzbisch<strong>of</strong> Charriere se<strong>in</strong>Amt an. Ich stand e<strong>in</strong>ige Zeit vor der erzbischöflichen Residenz und sah die rotgekleideten Bischöfe <strong>in</strong> Autos e<strong>in</strong>steigen. Danach kaufte ich e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Lederk<strong>of</strong>fer.Zu Hause unterhielt ich mich kurz mit Herrn Feng und Herrn Huang. Um 11 Uhrg<strong>in</strong>gen wir geme<strong>in</strong>sam <strong>in</strong> die Stadt, um den Umzug anzuschauen. Um 12 Uhr hörtenwir Musik <strong>in</strong> der Ferne, und kurz danach sahen wir Soldaten, Polizei und dah<strong>in</strong>terStudenten <strong>in</strong> Reihen gehen. Nach e<strong>in</strong>er Weile folgten dann Priester, Politiker undBischöfe, am Ende Vertreter des Papstes und der Erzbisch<strong>of</strong> Charriere selbst. Siewaren außergewöhnlich farbig gekleidet, wie tanzende Lamas <strong>in</strong> Beij<strong>in</strong>g, die versuchenGeister zu fangen. Gegen 13 Uhr war die Feier beendet.Etwa e<strong>in</strong>en Monat später, am 25. Dezember 1945, besuchte ich die erstegroße Messe, die Erzbisch<strong>of</strong> Charriere zelebrierte. Ich zitiere aus me<strong>in</strong>emTagebuch:Heute leitete Erzbisch<strong>of</strong> Charriere se<strong>in</strong>e erste große Messe. Bei unserer Ankunft an derSt. Nicolas Kirche hatten sich schon viele Menschen versammelt. Kurz danach beganndas feierliche Programm. E<strong>in</strong>e Gruppe Priester holte Erzbisch<strong>of</strong> Charriere ab, Musikspielte, es wurde gesungen und gebetet. Danach stieg Erzbisch<strong>of</strong> Charriere vom Altar


33 In Fribourg 213herunter, g<strong>in</strong>g auf die Kanzel und predigte. Anschließend kehrte er zum Altar zurück.Während der großen Messe verbeugten sich alle, sangen und beteten bis halb 12.So sah me<strong>in</strong>e konkrete Er<strong>in</strong>nerung aus, und das war me<strong>in</strong> E<strong>in</strong>druckals Unbeteiligter vom Schweizer Katholizismus. E<strong>in</strong> Mitbewohner imSankt-Josef-Stift, Priester Tian, führte mit mir e<strong>in</strong>ige lange Gesprächeüber Religion und Glauben. Wahrsche<strong>in</strong>lich wollte er mich bekehren.Doch leider besitze ich überhaupt ke<strong>in</strong>e Stammzellen für Religion undb<strong>in</strong> wahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong> ganz normaler Mensch ohne e<strong>in</strong> Bedürfnis nachReligion. Se<strong>in</strong>e Bemühungen waren jedenfalls vergeblich. Weder frühernoch später nahm ich irgendwelche Kontakte mit dem Katholizismusauf. Später traf ich Priester Tian <strong>in</strong> Beij<strong>in</strong>g wieder. Er hatte se<strong>in</strong>Priestergewand abgelegt und e<strong>in</strong>e Familie gegründet. Wir haben unsnur kurz unterhalten. Ich fragte ihn nicht, was passiert war, um nichtunhöflich zu se<strong>in</strong>. Wie groß doch die Veränderungen im Leben s<strong>in</strong>d!In Fribourg lernte ich auch e<strong>in</strong>ige deutsche und österreichischeWissenschaftler kennen, die natürlich alle Deutsch sprachen. Zunächsterwähne ich Fritz Kern, e<strong>in</strong>en Pr<strong>of</strong>essor für Geschichte an der UniversitätBonn. Er war e<strong>in</strong> Gegner der Nazis und vor ihnen <strong>in</strong> die Schweizgeflüchtet. Da er ke<strong>in</strong>en Lehrstuhl an e<strong>in</strong>er Schweizer Universitätbekam, und weil hier Reis so teuer war wie Perlen und Brennholz soteuer wie ch<strong>in</strong>esischer Zimt, arbeitete se<strong>in</strong>e Frau als Haushälter<strong>in</strong> beie<strong>in</strong>er Pfarrers-Familie auf dem Land. Der Pfarrer war stets schlechterLaune und sehr aufbrausend. Die E<strong>in</strong>wohner des Dorfes hatten ihm denNamen „Unwetter“ gegeben. Wie die Arbeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Familieaussah, lässt sich leicht vorstellen. Pr<strong>of</strong>essorenfrauen arbeiteten <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong> üblicherweise nicht. Aber jetzt lebten sie <strong>in</strong> der Schweizunter e<strong>in</strong>em fremden Dach und mussten ihren Lebensunterhalt unteranderen Bed<strong>in</strong>gungen verdienen. Da konnten sie nur den Kopf senken


214 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>und diese Erniedrigung ertragen. Der Pr<strong>of</strong>essor war über fünfzig, vollerTatkraft und e<strong>in</strong> typischer deutscher Charakter. Wir lernten uns zufälligkennen, wie Wasserl<strong>in</strong>sen das Wasser, und fühlten uns schon bei derersten Begegnung wie alte Bekannte. E<strong>in</strong>e Zeitlang trafen wir uns täglichund übersetzten zusammen „Die Gespräche“ des Konfuzius und „DieGoldene Mitte“.Pr<strong>of</strong>essor Kern hatte e<strong>in</strong> großartiges Werk geplant, e<strong>in</strong>e „HistoriaMundi“ mit mehr als zehn Bänden. Dar<strong>in</strong> sollten Geschichte und Kulturverschiedener Länder weltweit verglichen werden. Forschungen zuch<strong>in</strong>esischen Meisterwerken passten gut <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Plan. Se<strong>in</strong> Arbeitsstiler<strong>in</strong>nerte mich an e<strong>in</strong>ige Universalgenies <strong>in</strong> der deutschen Geschichte.Gelegentlich sagte ich ihm scherzhaft, er habe zu viel Fantasie. Dannlachte er und antwortete, dass ich manchmal zu kritisch sei – e<strong>in</strong> Zeichenunserer harmonischen Beziehung. Das Ehepaar Kern sorgte auch fürme<strong>in</strong> Wohlergehen. In all den zehn <strong>Jahre</strong>n <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> hatte ich ke<strong>in</strong>Geld, um e<strong>in</strong>en guten neuen Mantel zu kaufen. In jenem W<strong>in</strong>ter trug ichimmer noch me<strong>in</strong>en dünnen und kaputten Mantel, den ich vor elf <strong>Jahre</strong>n<strong>in</strong> Pek<strong>in</strong>g gekauft hatte. Sie bezeichneten ihn als „Mäntelchen“. Frau Kernhat ihn e<strong>in</strong>ige Male geflickt und ausgebessert. Sie strickte mir auch e<strong>in</strong>enPullover. Wie das auf e<strong>in</strong>en Fremden, der se<strong>in</strong>e Heimat verlassen hatte,wirkte, kann man sich vorstellen. Am 20. November 1945 notierte ich <strong>in</strong>me<strong>in</strong>em Tagebuch:Pr<strong>of</strong>essor Kern hat versucht, mich zum Bleiben zu überreden. Wir kennen uns erst seitkurzem, aber zwischen uns gibt es e<strong>in</strong> stärkeres Gefühl als zwischen e<strong>in</strong>em Lehrer undse<strong>in</strong>em Schüler. Wir wollen uns nicht vone<strong>in</strong>ander trennen. Ich b<strong>in</strong> traurig. Warumhat der Himmel mich so gemacht?Das Ehepaar blieb mir me<strong>in</strong> Leben lang unvergesslich. Nach me<strong>in</strong>erRückkehr <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a schrieben wir uns noch e<strong>in</strong>ige Briefe. Später hörte


33 In Fribourg 215ich nichts mehr von ihnen. Bis heute denke ich an sie mit e<strong>in</strong>em Gefühlvon Bewegtheit, Freude und Trauer, süß und sauer, bitter und scharfgleichzeitig. Unbeschreiblich!Schließlich er<strong>in</strong>nere ich mich auch an die beiden österreichischenWissenschaftler W. Schmidt und Koppers. Sie waren katholische Priesterund Anthropologen, die die so genannte Wiener Richtung anführten. Alsder Zweite Weltkrieg ausbrach und Österreich Teil des Nazi-Reiches war,hatten sie die Schweiz als neue Heimat gewählt. E<strong>in</strong> Dorf <strong>in</strong> der Nähe vonFribourg mit Namen Froideville wurde zu ihrer neuen Wirkungsstätte.Hier gab es e<strong>in</strong>e Bibliothek mit umfangreichem Buchbestand, vielewichtige <strong>in</strong>- und ausländische Wissenschaftler forschten hier. Ich hattePr<strong>of</strong>essor Kern bei e<strong>in</strong>em Empfang von Direktor Neuwirth kennengelernt und traf ihn zweimal <strong>in</strong> diesem Institut <strong>in</strong> Froideville. Beide Malewar Pr<strong>of</strong>essor Koppers dabei. Ich traf dort auch Pr<strong>of</strong>essor W. Schmidtund den japanischen Gelehrten Numazawa. Pr<strong>of</strong>essor Schmidt hattean der Fu-Ren-Universität <strong>in</strong> Beij<strong>in</strong>g gelehrt. Er schien auch e<strong>in</strong> Kopfder Wiener Richtung zu se<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong>e Werke entsprachen, aufe<strong>in</strong>andergestapelt, se<strong>in</strong>er Körpergröße. Er vertrat e<strong>in</strong>e eigene Theorie überSprachverwandtschaften und war <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Kreisen sehr berühmt. Ich wartief bee<strong>in</strong>druckt, dass diese Menschen Priester waren, aber nicht wie Gottauftraten. Anderen Religionen standen sie <strong>in</strong> ihrer Forschung objektivgegenüber.Über Pr<strong>of</strong>essor Kern lernte ich auch den Schweizer Bankier undWissenschaftler Saras<strong>in</strong> kennen. Saras<strong>in</strong> war Millionär und e<strong>in</strong> passionierterForscher. Er <strong>in</strong>teressierte sich besonders für Indologie, und <strong>in</strong>se<strong>in</strong>em Haus besaß er e<strong>in</strong>e ziemlich umfangreiche Indologie-Bibliothek.Mitbenutzer hieß er herzlich willkommen. Vermutlich aus diesem Grundhatte Pr<strong>of</strong>essor Kern mir den Besuch vorgeschlagen. Saras<strong>in</strong> wohnte <strong>in</strong>


216 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Basel, e<strong>in</strong>e lange Zugfahrt entfernt, auf der ich häufig umsteigen musste.Pr<strong>of</strong>essor Kern wartete dort auf mich. Wir besuchten Saras<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>samund besichtigten se<strong>in</strong>e Büchersammlung. Die Schweiz, e<strong>in</strong> Garten derWelt, war e<strong>in</strong> Ort für Indologie. Das war erstaunlich. Saras<strong>in</strong> bot unsTee und Kuchen an. Danach besuchten wir noch e<strong>in</strong>en Priester namensGelzer, der viele <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a gelebt hatte. Er lud uns zum Abendessene<strong>in</strong>. Zu später Uhrzeit verließen wir se<strong>in</strong> Haus. Am Bahnh<strong>of</strong> erfuhr ich,dass es ke<strong>in</strong>en direkten Zug mehr nach Fribourg gab. Ich war fassungslosund stieg e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>en Zug e<strong>in</strong>. Schließlich war die Schweize<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Land, und jeder Zug würde früher oder später me<strong>in</strong> Zielerreichen. Mir war überhaupt nicht klar, <strong>in</strong> welche Richtung ich fuhr.Draußen wurde es dunkel. Ich wusste, dass dort e<strong>in</strong>e Märchenwelt vonBergen, Wäldern, Seen und Teichen existierte, die nachts wahrsche<strong>in</strong>lichnoch schöner war als tagsüber, nur jetzt nicht sichtbar. Im Zug dagegenstrahlte helles Licht. Die Fahrgäste plauderten und lachten. Ich fühlte michwie Alice im Wunderland und nicht mehr auf dieser Welt. Zufällig setztesich e<strong>in</strong> Mann mittleren Alters neben mich, der Deutsch sprach. Ohnese<strong>in</strong>en Namen zu kennen – ich fragte auch nicht danach – unterhieltenwir uns angeregt. Nach wenigen Sätzen hatten wir uns angefreundet. Alsich die Ernennung des Priesters Charriere zum Erzbisch<strong>of</strong> erwähnte,reagierte er wie von der Tarantel gestochen. Der Mann war Protestant.Er beschimpfte den Katholizismus auf das Übelste und derart laut, dassdas Zugdach bebte. Ich gehörte ja weder dem Katholizismus noch demProtestantismus an und hielt deshalb den Mund. Die Tatsache, dass ichihm nicht widersprach, versetzte ihn <strong>in</strong> helle Begeisterung. Der Zug rolltedurch die Schweiz und erreichte nach Mitternacht tatsächlich Fribourg.Me<strong>in</strong> neuer Bekannter und ich g<strong>in</strong>gen geme<strong>in</strong>sam <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Hotel, und erlud mich auf e<strong>in</strong> Glas We<strong>in</strong> e<strong>in</strong>. Alkohol konnte ich zwar überhaupt nicht


33 In Fribourg 217vertragen, aber se<strong>in</strong>e freundliche E<strong>in</strong>ladung auch schlecht abschlagen.Nach e<strong>in</strong>igen Gläsern war ich betrunken. Wie ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Zimmergekommen war, wusste ich später nicht mehr. Ich schlief s<strong>of</strong>ort e<strong>in</strong>, undals ich aufwachte, war die Morgenröte der aufgehenden Sonne zu sehenund me<strong>in</strong> Bekannter verschwunden. Wie e<strong>in</strong> schnell vorbeifliegenderDrache, der fort ist, bevor man ihn richtig wahrgenommen hat. Später imSankt-Josef-Stift dachte ich an das Erlebnis <strong>in</strong> der Nacht. Hatte ich daswirklich erlebt? Oder war das nur e<strong>in</strong> Traum?


218 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>34. Der Kampf mitder BotschaftDie Nanj<strong>in</strong>g-Regierung Chiang Kai-sheks hatte, wie schon berichtet,e<strong>in</strong>e Botschaft <strong>in</strong> der Schweiz errichtet. Sie war damals die höchstech<strong>in</strong>esische Instanz im Ausland. Weil sich die Schweiz im HerzenEuropas bef<strong>in</strong>det und nicht <strong>in</strong> den Krieg e<strong>in</strong>bezogen war, stellte dieseBotschaft die e<strong>in</strong>zige Vertretung der Nanj<strong>in</strong>g-Regierung <strong>in</strong> Europa dar. Dasie sich um die Rückkehr der <strong>in</strong> Europa studierenden Ch<strong>in</strong>esen bemühte,war die Schweiz zu e<strong>in</strong>em wichtigen Treffpunkt für diese geworden. DieRegierung hatte auch höherrangige Diplomaten hierher geschickt. DerMilitärattaché war e<strong>in</strong>er der dreizehn Leibwächter von Chiang Kai-shekgewesen. Später wurde er <strong>in</strong> Taiwan Oberkommandierender der Mar<strong>in</strong>e.In der Schweiz pflegten wir viel Kontakt mit dieser Botschaft.Am ersten Tag nach unserer Ankunft <strong>in</strong> der Schweiz fuhren wir vonFribourg nach Bern und nahmen dort am Double Ten’s Day-Fest am 10.Oktober teil, das die Botschaft organisiert hatte. Fast alle ch<strong>in</strong>esischenStudenten aus verschiedenen Ländern Europas nahmen daran teil.


34 Der Kampf mit der Botschaft 219Wie Regen und W<strong>in</strong>de von allen Seiten trafen sie sich hier <strong>in</strong> der MitteEuropas wie <strong>in</strong> Zhong Zhou im Herzen Ch<strong>in</strong>as. Zu dem Zeitpunkt warich schon e<strong>in</strong>ige <strong>Jahre</strong> durch die Hölle des Hungers gegangen, und nunwürden auf e<strong>in</strong>mal viele vorzügliche ch<strong>in</strong>esische Speisen vor mir stehenund ich hastig wie e<strong>in</strong> Wolf schl<strong>in</strong>gen und wie e<strong>in</strong> Tiger schlucken.E<strong>in</strong> deutscher Arzt hatte mir gesagt, wer lange Zeit gehungert hat undplötzlich zu viel isst, verliere das Sättigungsgefühl. Nach dem ErstenWeltkrieg hätten e<strong>in</strong>ige Menschen <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> nach längerer Zeitdes Hungerns zu viel gegessen und seien daran gestorben. Diese Wortehatte ich fest im H<strong>in</strong>terkopf. Tatsächlich aß ich nicht so viel, wie <strong>in</strong> michh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gepasst hätte. Me<strong>in</strong> Appetit auf gutes Essen wurde trotzdeme<strong>in</strong>igermaßen befriedigt.Später besuchte ich die Botschaft während me<strong>in</strong>es Fribourger Aufenthaltesnur noch selten. Was sich <strong>in</strong> unserer Botschaft <strong>in</strong>tern abspielte, erfuhrich nach und nach von Studenten, die schon länger <strong>in</strong> der Schweizlebten. Nach ihren Worten gab es unter den Mitarbeitern zwangsläufigProbleme, die durch die vielen Fraktionen <strong>in</strong>nerhalb der Guom<strong>in</strong>dangverursacht wurden. Die Gesandtschaft geriet auch mit den Studenten <strong>in</strong>Konflikt. Genaues wusste ich nicht. Es kam aber zu Ausschreitungen,die von den ch<strong>in</strong>esischen Studenten ausgelöst worden waren. Dah<strong>in</strong>tersteckten vermutlich f<strong>in</strong>anzielle Probleme. Alle Telefonleitungen wurdengekappt, e<strong>in</strong> Beamter der Botschaft, wahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong> Sekretär, ranntemit e<strong>in</strong>er Pistole umher und rief nach der Schweizer Polizei. Aber nachInternationalem Recht galt die Botschaft als ch<strong>in</strong>esisches Hoheitsgebiet,das die Schweizer Polizei nicht betreten durfte. Sie konnte daher nurzuschauen – e<strong>in</strong>e Situation, wie sie <strong>of</strong>t <strong>in</strong> alten ch<strong>in</strong>esischen Romanengeschildert wird. Der Ausgang der Ausschreitungen <strong>in</strong>teressierte michzwar nicht weiter, aber die Ereignisse blieben nicht ohne Auswirkungen.


220 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Müssten wir im Notfall auch so handeln?Das trat tatsächlich e<strong>in</strong>. Dabei g<strong>in</strong>g es <strong>in</strong> der Tat auch um F<strong>in</strong>anzprobleme.Der Botschaftsrat, der <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> studiert hatte und der bei unsererAnkunft sehr nett zu uns war, stand <strong>of</strong>fensichtlich mit dem Botschafterauf Kriegsfuß. Er war nur darauf aus, die Botschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Chaos zustürzen und h<strong>of</strong>fte, dass dem Botschafter dann Fehler unterlaufenwürden. Heimlich erzählte er uns, die Nanj<strong>in</strong>g-Regierung habe derBotschaft e<strong>in</strong>ige hunderttausend Dollar überwiesen, um die ch<strong>in</strong>esischenStudenten <strong>in</strong> Europa zu unterstützen. Er überredete uns, zum Botschafterzu gehen und Geld zu verlangen. Wir waren jung und mutig undglaubten, mit vielen Dollars <strong>in</strong> der Tasche wären alle Probleme gelöst.Also marschierten wir zur Botschaft. Zunächst blieben wir sehr höflichund achteten auf unsere Worte. Als der Botschafter begriff, dass wirGeld von ihm wollten, verzog er se<strong>in</strong> Gesicht und gab nur ausweichende,zweideutige Antworten.Am 17. November 1945 schrieb ich me<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>drücke über ihn <strong>in</strong> me<strong>in</strong>Tagebuch:Der Botschafter ist aalglatt. Huwen behauptet zwar, der Botschafter rede kopflos.Nach me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung aber kann man ihn nicht leicht aus der Fassung br<strong>in</strong>gen. Ermacht ke<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>druck.Der Diplomat suchte immer nur Ausflüchte. Gereizt machten wir ihmunmissverständlich klar, dass wir von dem Geld wussten. Vor lauterAufregung änderte sich se<strong>in</strong>e Gesichtsfarbe. Er schien zu schwitzen.Unbewusst zog er e<strong>in</strong>e Schublade auf und warf e<strong>in</strong>en Blick h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. In derSchublade befanden sich vermutlich die Dollars oder das Rechnungsbuch.Endlich rückte er das Geld heraus, machte aber zur Bed<strong>in</strong>gung, dasswir niemandem davon erzählen durften. Wir stimmten zu und verließendie Botschaft. Allerd<strong>in</strong>gs erzählten wir allen Ch<strong>in</strong>esen, dass wir Geld


34 Der Kampf mit der Botschaft 221bekommen hatten. Über unsere psychische Verfassung dachte ich damalsnicht weiter nach. Wir haben zwar nicht die Welt <strong>in</strong>s Chaos gestürzt, daswäre zu viel gesagt, aber die Botschaft. Eigentlich wollten wir uns nure<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Scherz erlauben.Während me<strong>in</strong>es Aufenthaltes <strong>in</strong> der Schweiz kursierten viele Geschichtenund Gerüchte. Da gab es die Episode, dass der ch<strong>in</strong>esische Botschafterzu e<strong>in</strong>er Schweizer Veranstaltung e<strong>in</strong>geladen worden war, um dort e<strong>in</strong>eRede zu halten. Nach diplomatischen Regeln sollte er sie auf Ch<strong>in</strong>esischhalten und den Dolmetscher <strong>in</strong>s Deutsche oder Französische übersetzenlassen. Beides waren Schweizer Amtssprachen. Aber unser Botschafterwollte endlich mal mit se<strong>in</strong>en guten Deutschkenntnissen glänzen. Hätte erdie richtigen Worte gefunden, wäre nichts dagegen e<strong>in</strong>zuwenden gewesen.Doch er hatte sich nicht gut vorbereitet. Außerdem war se<strong>in</strong> Deutschziemlich schlecht, und so blamierte er sich ordentlich. Auffallend häufigstammelte er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rede: „Das, das, das...“ Die Schweizer verstandenihn nicht, und auch die Ch<strong>in</strong>esen verstanden ihn anfangs ebenso wenigwie der große buddhistische Mönch, dessen Kopf man nicht berührenkann. Doch dann kam ihnen die Erleuchtung: Unser verehrter Botschafterüberbrückte die kurzen Pausen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rede immer mit den Worten„das, das, das...,“ sozusagen wie mit dem ch<strong>in</strong>esischen Pausenfüller „zhege, zhe ge, zhe ge ...“ Diese plötzliche Erkenntnis erheiterte die Ch<strong>in</strong>esenungeme<strong>in</strong>, aber die Europäer verstanden nichts.E<strong>in</strong>e andere Geschichte kursierte von e<strong>in</strong>em Botschaftsangehörigen, dere<strong>in</strong>en typisch ch<strong>in</strong>esischen Nasenrücken hatte. Bei e<strong>in</strong>em Empfang wollteer es den Europäern gleichtun und elegant e<strong>in</strong>en Kneifer tragen. Leiderhat Gott den Ch<strong>in</strong>esen aber nur e<strong>in</strong>en flachen Nasenrücken gegeben,so dass der Kneifer nicht sitzen blieb und er die ganze Zeit se<strong>in</strong>e Stirnrunzeln musste, um ihn auf der Nase zu halten. Hätte er nicht aufgepasst


222 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>und auch nur e<strong>in</strong>mal gelacht, wäre er h<strong>in</strong>unter gefallen. Es blieb demDiplomaten nichts anderes übrig, als den ganzen Abend mit e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>Falten gelegten Stirn die Herren im Frack und die Damen mit ihren Perlenund Juwelen zu empfangen.Es gab da noch e<strong>in</strong>e weitere Episode bei diesem Empfang. E<strong>in</strong>Militärattaché, wahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong> Generalmajor, trug e<strong>in</strong>en Orden anse<strong>in</strong>er Uniform, um Macht und Ansehen zu demonstrieren. Doch derOrden gehorchte ihm nicht. Er zeigte immer nur se<strong>in</strong>e Rückseite. Dassollte e<strong>in</strong>em Militärattaché nun wirklich nicht passieren. Den ganzenAbend drehte er se<strong>in</strong>en Orden immer wieder auf die Vorderseite. Schade,dass ich diese Belustigung nicht mit eigenen Augen sehen konnte.Liebe Leser, schliessen Sie Ihre Augen und stellen Sie sich vor, dass e<strong>in</strong>Botschaftsangehöriger und e<strong>in</strong> Militärattaché als Gastgeber bei e<strong>in</strong>emwichtigen diplomatischen Empfang den ganzen Abend ihre Stirn runzelnund ihren Orden <strong>in</strong>s rechte Licht rücken müssen. Müssen Sie da nichtauch lachen?Das war also die Botschaft, mit der ich zu tun hatte. Sie hatte me<strong>in</strong>enHorizont wirklich erweitert und mir wertvolle Erfahrungen vermittelt.Wer mit dieser Botschaft Kontakt hatte, zeigte besser Stärke als Schwäche.Diese E<strong>in</strong>stellung half uns entscheidend bei den Verhandlungen über dieFahrtkosten und das Verkehrsmittel von der Schweiz nach Frankreich.


35 Von der Schweiz nach Marseille 22335. Von der Schweiznach MarseilleWir verlangten von der Botschaft e<strong>in</strong>e Zugfahrt nach Marseille undaußerdem e<strong>in</strong>en Lastwagen für den Transport unseres Gepäcks.Trotz unserer wenigen Gepäckstücke wurde unsere Forderung erfüllt. DasGepäck wurde auf e<strong>in</strong>en großen Lastwagen geladen, e<strong>in</strong>en <strong>Zehn</strong>tonner.Es bedeckte nicht e<strong>in</strong>mal den Boden des Lasters, und von weitem konnteman nicht e<strong>in</strong> Gepäckstück erkennen. So e<strong>in</strong> großer Lastwagen und sowenig Gepäck, das war eigentlich lächerlich.Egal, unser Gepäck lag auf dem Laster, wir waren frei und fuhrenmit dem Zug zunächst nach Genf, e<strong>in</strong>ige Tage später weiter nachFrankreich. Es war der 2. Februar 1946. An der Grenze herrschten sehrstrenge Kontrollen, da viele Schweizer Uhren heimlich nach Frankreichgeschmuggelt wurden – dunkle Geschäfte, mit denen viel Geld verdientwurde. Wir hatten zwar nur wenige K<strong>of</strong>fer dabei, doch wenn die alledurchsucht würden, dauerte das solange, bis der Gelbe Fluss <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a re<strong>in</strong>gewaschen würde. Sollten wir hier e<strong>in</strong>e Ewigkeit warten? Bis dah<strong>in</strong> würde


224 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>unser Zug schon abgefahren se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>er von uns geriet <strong>in</strong> Panik. Ihm fiele<strong>in</strong>e Schweizer Münze aus se<strong>in</strong>er Tasche, e<strong>in</strong> Schweizer Franken, nichtsWertvolles. Ich hatte entsetzliche Angst, dass der Kontrolleur aufbrausenwürde. Da passierte etwas Erstaunliches. Der Beamte nahm die Münzeund steckte sie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e eigene Tasche. Danach kritzelte er etwas aufunsere K<strong>of</strong>fer. Wir hatten es geschafft.Wir erreichten unser Ziel Marseille. Das erste Mal <strong>in</strong> Frankreich! Alles warneu für mich. Etwas fiel mir gleich auf der Straße auf, das ganz anderswar als <strong>in</strong> der Schweiz: Die Rassendiskrim<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong> Frankreich schiennicht so schlimm zu se<strong>in</strong> wie <strong>in</strong> Amerika und England. In den zehn<strong>Jahre</strong>n <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> habe ich niemals auf der Straße e<strong>in</strong>e deutscheFrau Arm <strong>in</strong> Arm mit e<strong>in</strong>em Schwarzen gesehen, unter der Herrschaftder Faschisten wäre das undenkbar gewesen. In der Schweiz gab es dasauch nicht. In Marseille aber sah ich überall schwarz-weiße Paare Arm <strong>in</strong>Arm auf der Straße. Wenn man nicht genau h<strong>in</strong>schaute, sahen sie aus wieweiße Birnenblüten gepaart mit Holzkohle. In Frankreich schien das gangund gebe zu se<strong>in</strong>. Die Menschen machten e<strong>in</strong>en frohen und zufriedenenE<strong>in</strong>druck.Hier erblickte ich zum ersten Mal <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben das Meer. Ich lachteüber mich. Wahrsche<strong>in</strong>lich war ich der E<strong>in</strong>zige, der auf der Halb<strong>in</strong>selShandong geboren worden war, über zehn <strong>Jahre</strong> im Ausland gelebt undnoch nie e<strong>in</strong> Meer gesehen hatte. Jetzt hatte ich endlich e<strong>in</strong>e Gelegenheit,mich von dieser lächerlichen Tatsache zu befreien. Ich war begeistertvon den grenzenlosen brausenden Wellen des Meeres. „Himmel undErde spiegeln sich Tag und Nacht auf dem Dongt<strong>in</strong>g-See wider.“ 58Wahrsche<strong>in</strong>lich hatte auch dieser große Dichter nie e<strong>in</strong> Meer gesehen,58aus: „Betreten des Yueyang – Gebäudes“ (《 登 岳 阳 楼 》)von Du Fu (s.Anm. 9).


35 Von der Schweiz nach Marseille 225sonst hätte er se<strong>in</strong>e schönen Gedichte dem Meer gewidmet.Mit von den amerikanischen Soldaten <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen ausgestelltenPapieren suchten wir e<strong>in</strong>e Behörde auf, die vor Ort zuständig war fürKriegsflüchtl<strong>in</strong>ge. Zum Übernachten wies man uns e<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong> großesLager. Es war schlicht und sauber, das Essen <strong>in</strong> Ordnung. Welche Freude,dort als Lagerverwalter auf deutsche Kriegsgefangene zu treffen. Dakonnten solche Erlebnisse wie „Dema<strong>in</strong> deux jours“ nicht passieren.Ganz zufrieden waren wir mit dem Lagerleben dennoch nicht. Auch <strong>in</strong>Marseille gab es e<strong>in</strong>e diplomatische Vertretung der Nanj<strong>in</strong>g-Regierung.Und Erfahrungen im Umgang mit dem ch<strong>in</strong>esischen Personal besaßen wirauch: Besser Stärke als Schwäche zeigen. Diese E<strong>in</strong>stellung führte erneutzum Erfolg. Wir konnten das große Lager verlassen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Hotelziehen. Selbst unsere Forderung, auf dem Schiff <strong>in</strong> der ersten Klasse nachCh<strong>in</strong>a zu reisen, wurde akzeptiert. In Marseille hielten wir uns vom 2. bis 8.Februar 1946 auf. Dann war alles erledigt und wir atmeten auf. Jeden Tagverbrachten wir am Strand, kauften Orangen auf der Straße und aßen imRestaurant – frei und froh wie die Götter.


36 Das Leben auf dem Schiff 227Der ch<strong>in</strong>esische Generalkonsul <strong>in</strong> Marseille hatte uns doch persönliche<strong>in</strong> Ticket Erster Klasse zugesagt. Es war kurz nach Kriegsende. Weildas Schiff nur Soldaten an Bord mitnahm, wurde die Klasse auf demTicket nicht vermerkt. Und wir hatten gedacht, <strong>in</strong> Marseille gesiegt zuhaben. Doch der Generalkonsul, dieser alte Fuchs, hatte uns übers Ohrgehauen. Wir mussten selbst darüber lachen. Aus Fehlern sollte manlernen. Um unser Gesicht als Ch<strong>in</strong>esen allerd<strong>in</strong>gs zu wahren, mussten wirauf das Oberdeck kommen. Selbst wenn wir dazu unser eigenes Geld fürden Kauf e<strong>in</strong>es Tickets der Ersten Klassen ausgeben mussten. Das ware<strong>in</strong>e Frage der Ehre. Darüber verhandelten wir mit dem Kapitän. Undder hatte e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>sehen und erlaubte uns, das Oberdeck zu betreten. Wirfreuten uns, dass wir knapp e<strong>in</strong>en Monat dort verbr<strong>in</strong>gen konnten.Dann tauchte e<strong>in</strong> weiteres Problem auf. Die Briten s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e redliche,konservative und ernsthafte Nation, die viel Wert auf Höflichkeit undEtikette legt. Sie erschienen im Frack zum Abendessen. Wir armenStudenten konnten das nicht. Unsere Kleider reichten gerade dazu aus,unsere Blöße zu bedecken. Woher sollten wir e<strong>in</strong>en Frack nehmen? Derwar nun aber mal Vorschrift, und die Vorschrift musste e<strong>in</strong>gehaltenwerden. Was sollten wir machen? Also g<strong>in</strong>gen wir wieder zum Kapitän.Wieder hatte dieser e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>sehen und versicherte uns, dass es e<strong>in</strong>sauberer Anzug mit Krawatte und Lederschuhe auch tun würden. Damitkönnten wir im Speisesaal essen. Wir bedanken uns herzlich für se<strong>in</strong>eUnterstützung. Wir setzten das Menschenmögliche e<strong>in</strong>, um se<strong>in</strong>e Worte zubefolgen, und zogen das Beste an, was wir hatten. Zu der <strong>Jahre</strong>szeit war esnoch nicht so heiß. Ich trug e<strong>in</strong>en geschniegelten und gebügelten Anzug.Von der Decke spürte ich den Luftzug des Ventilators. Ich saß gerade amTisch, aß me<strong>in</strong>e Suppe ohne zu schlürfen und g<strong>in</strong>g vorsichtig mit Messerund Gabel um, so wie sich das hier gehörte. Nach dem Essen aber lief


228 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>mir der Schweiß <strong>in</strong> Strömen über den Rücken. Erschöpft erreichte ichme<strong>in</strong>e Kab<strong>in</strong>e und nahm e<strong>in</strong>e Dusche. Das ertrugen wir e<strong>in</strong>ige Zeit, bisdas Schiff <strong>in</strong> das Rote Meer e<strong>in</strong>lief, wo es unvorstellbar heiß war. Selbstwer nur e<strong>in</strong> Hemd trug und sich nicht bewegte, schwitzte. Es schien, alssei selbst das „Menschenmögliche“ nicht mehr genug, um dem Kapitängegenüber Wort zu halten. Wir hatten große Angst vor dem Speisesaalund ke<strong>in</strong>e Lust mehr dort zu essen. Deshalb verhandelten wir mit demPersonal <strong>in</strong> der Küche und aßen dann <strong>in</strong> der Kab<strong>in</strong>e. Das Problem wargelöst.Es gab auch angenehme Situationen auf dem Schiff. Wir beobachtetengelassen die französischen Soldaten. Es mochten e<strong>in</strong>ige Tausende se<strong>in</strong>,Männer und Frauen, die allerd<strong>in</strong>gs deutlich <strong>in</strong> der M<strong>in</strong>derheit waren. DieFranzosen hatten e<strong>in</strong>e gesellige Natur. Sche<strong>in</strong>bar trugen sie ihr Herz aufder Zunge und waren jederzeit bereit, sich mit jemandem anzufreunden.Der Kontakt zu ihnen ist leichter als zu Deutschen oder Briten. Nache<strong>in</strong>em ersten Treffen und nach wenigen Worten schienen sie schon alteFreunde geworden zu se<strong>in</strong>. Die französischen Soldaten auf dem Schiffverhielten sich jedenfalls so. Männer und Frauen waren herzlich undlebendig. Sie umarmten sich und waren ausgelassen. Niemand fand dasaußergewöhnlich. Nur abends konnte es schon mal unangenehm werden,wenn wir auf dem Deck spazieren g<strong>in</strong>gen, um uns den W<strong>in</strong>d um dieOhren pusten zu lassen und das Meer zu genießen. E<strong>in</strong> seltenes Glück!Dabei stolperten wir manchmal über e<strong>in</strong>en Menschen – oder auch gleichüber zwei, die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er dunklen Ecke versteckt hatten, natürlich e<strong>in</strong>Mann und e<strong>in</strong>e Frau. Uns machte das verlegen. Die Betr<strong>of</strong>fenen selbsthatten damit ke<strong>in</strong> Problem und blieben e<strong>in</strong>fach liegen. Wir flüchteten <strong>in</strong>unsere hell erleuchteten Kab<strong>in</strong>en. Das Erlebnis an Deck war vorüber. NurBruchstücke von Er<strong>in</strong>nerungen blieben.


36 Das Leben auf dem Schiff 229Ich lernte e<strong>in</strong>en jungen französischen Offizier kennen, dessenmilitärischen Rang ich nicht kannte. Er war dünn und sah nett aus. Da erEnglisch sprach, hatten wir e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Basis. Wir trafen uns häufigan Deck, unterhielten uns, g<strong>in</strong>gen spazieren und redeten über Gott unddie Welt. Er machte sich <strong>of</strong>t lustig über die französische Armee, <strong>in</strong> deres mehr Offiziere gebe als e<strong>in</strong>fache Soldaten und mehr höherrangigeOffiziere als Vertreter niedrigerer Ränge. Die abendlichen Verhältnissean Deck tolerierte er. In den mehr als zwanzig Tagen hatten wir unsangefreundet und er hatte mir se<strong>in</strong> Vertrauen geschenkt. Das freute michsehr.Die Beziehungen zwischen den französischen Soldaten und den britischenSeeleuten schienen sehr harmonisch zu se<strong>in</strong>. Besonders die Boxkämpfezwischen den englischen Matrosen und den französischen Soldatenhaben mich tief bee<strong>in</strong>druckt. Sie fanden immer abends statt. Nach demAbendessen wurde e<strong>in</strong> Kampfplatz auf dem vorderen Deck hergerichtet.Der Abstand zur Rel<strong>in</strong>g betrug nur e<strong>in</strong> bis zwei Meter. Ab da g<strong>in</strong>g es zehnoder zwanzig Meter <strong>in</strong> die Tiefe, wo sich hohe Wellen auftürmten undan den Schiffsrumpf schlugen. Das Meer war jadegrün, so weit das Augereichte. Dar<strong>in</strong> hatten sich Fische, Drachen und Wassergeister versteckt.Sie hörten wahrsche<strong>in</strong>lich die Menschen oben an der Rel<strong>in</strong>g, sahen ihreSpiegelbilder auf dem Wasser und verschwanden erschrocken <strong>in</strong> die Tiefe.Auf dem hell erleuchteten Deck kämpften die kraftvollen jungen Männeraus England und Frankreich wie steigende Drachen und spr<strong>in</strong>gende Tiger.Sie zeigten ke<strong>in</strong>e Schwäche. Das Schiff dampfte weiter und weiter, undwir waren wahrsche<strong>in</strong>lich schon viele hundert Kilometer vom Festlandentfernt. Wir befanden uns mitten auf dem Meer wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigenenkle<strong>in</strong>en Welt, wie im Traum, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Märchen. Alles um mich herumhatte ich vergessen.


230 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Unser Schiff fuhr weiter durch das Rote Meer. Warum heißt das RoteMeer Rotes Meer? Jetzt endlich fand ich e<strong>in</strong>e Antwort auf die Frage.Am 19. Februar schrieb ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Tagebuch:Heute war es sehr heiß, und ich schwitzte die ganze Zeit. Nach dem Mittagessen wollteich mich ausruhen, aber es war so heiß, dass ich nicht schlafen konnte. Deshalb g<strong>in</strong>gich auf das Oberdeck. In der Ferne sah ich rote Wellen wie e<strong>in</strong>e Blutl<strong>in</strong>ie. Das Meerwar dunkelgrün und bewegt, aber die Wellen konnten diese L<strong>in</strong>ie nicht brechen. Sieblieb immer rot. Ob das Meer daher se<strong>in</strong>en Namen trägt? Heute sahen wir Fische ausdem Wasser auftauchen.Es war e<strong>in</strong> Glück, diese Blutl<strong>in</strong>ie mit eigenen Augen zu sehen. Auf derüber tausend Kilometer langen Reise habe ich die e<strong>in</strong>ige Meter breite undundef<strong>in</strong>ierbar lange Blutl<strong>in</strong>ie gesehen. Dazu braucht man Glück. Wennich nicht zur richtigen Zeit an Deck gegangen wäre, hätte ich sie nichtgesehen. Vor lauter Glück geriet ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Freudentaumel.Es gab e<strong>in</strong>en anderen Vorfall, den wir alle glücklich überstanden haben.In der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Seem<strong>in</strong>en nochnicht beseitigt. Auf der ganzen Strecke vom Mittelmeer durch das RoteMeer bis zum Indischen Ozean stellten sie e<strong>in</strong>e ernste Bedrohung dar.Unser Schiff war e<strong>in</strong>es der wenigen, die zu der Zeit von Europa nachAsien fuhren. Vor uns gab es e<strong>in</strong>ige Schiffe, die auf Seem<strong>in</strong>en gelaufenund gesunken waren. Zu Beg<strong>in</strong>n der Reise wussten wir das nicht, aberwir hatten e<strong>in</strong> komisches Gefühl. Warum mussten wir uns bei Antritt derReise an Deck versammeln und die Rettungsr<strong>in</strong>ge ausprobieren? Warumhatte ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Tagebuch vermerkt, dass ich täglich e<strong>in</strong>en Wachdienstan Deck übernehmen musste? Dafür gab es bestimmt e<strong>in</strong>en Grund.Nachdem wir die Straße von Malakka durchfahren hatten, teilte uns derKapitän frühmorgens mit, dass er die ganze Nacht habe Wache haltenmüssen, weil es <strong>in</strong> diesem Gebiet Seem<strong>in</strong>en gab. Er hatte Angst, dass


36 Das Leben auf dem Schiff 231etwas passieren würde. Jetzt läge das gefährliche Gebiet aber bereits h<strong>in</strong>teruns, und nun könne auch er ruhig schlafen. Als wir das hörten, bekamenwir nachträglich Angst. Wir waren der Gefahr entkommen, aber die Angststeckte uns <strong>in</strong> den Knochen.Was hatten wir für e<strong>in</strong> Glück gehabt! Das war allen klar.Glücklich erreichten wir unser Ziel – Saigon.


232 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>37. Zwei Monate <strong>in</strong> SaigonNach fast e<strong>in</strong>em Monat auf dem Schiff erreichten wir am 7. März1946 Saigon. Die Stadt lag nicht direkt am Meer. Die „NewHellas“ fuhr zunächst auf e<strong>in</strong>em großen Fluss und machte nach e<strong>in</strong>igerZeit <strong>in</strong> Saigon fest. Der große Fluss war breit und er<strong>in</strong>nerte an die Wortevon Zhuang Zi: „Wenn die Herbstzeit mit viel Wasser kam, bildetedas Wasser e<strong>in</strong>en Fluss. Das Flussbett war so breit, dass man von dere<strong>in</strong>en Seite des Ufers auf der anderen Seite e<strong>in</strong>e Kuh nicht von e<strong>in</strong>emPferd unterscheiden konnte.“ Wir hatten viele Tage auf dem Meerverbracht und ke<strong>in</strong> Land gesehen. Das Schiff schien <strong>in</strong> der Luft zuschweben. Jetzt erblickten wir Schilf auf beiden Seiten des Flusses, der <strong>in</strong>unterschiedlichen Phasen blühte. Überall war es grün. Wir kamen endlichwieder an Land. Unsere Herzen wurden warm.Aber an Land war durchaus nicht alles „warm“. Als wir ausstiegen,befanden wir uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em lauten Hafen voller Menschen. In dieserquirligen Umgebung er<strong>in</strong>nerte ich mich an den jungen französischenOffizier, den ich auf dem Schiff kennen gelernt hatte. Ich wollte von ihm


37 Zwei Monate <strong>in</strong> Saigon 233Abschied nehmen. Nach längerem Suchen unter den vielen Menschenfand ich ihn. Voller Freude lief ich auf ihn zu, um mich mit Handschlagzu verabschieden. Aber er drehte se<strong>in</strong>en Kopf zur Seite und übersahmich. Das war e<strong>in</strong>e kalte Dusche. Ich war wie vor den Kopf geschlagen,entsetzt, dann aber ruhig und gefasst. Aha! Jetzt waren die Franzosen<strong>in</strong> ihrer Kolonie, und er musste se<strong>in</strong>e Rolle als Kolonialherr spielen.Damit hatte er se<strong>in</strong> Herz zurückgenommen, das er mir auf dem Schiffzugewandt hatte. Ich war ihm nicht böse, fand es jedoch <strong>in</strong>teressant.Saigon liegt <strong>in</strong> der tropischen Zone. Ich war noch nie <strong>in</strong> diesen heißenBreiten gewesen und lernte ihre Landschaft zum ersten Mal kennen. ZumFrühl<strong>in</strong>gsende und Sommeranfang brannte die Sonne wie Feuer. Es gabviele Kokospalmen zu sehen, überall dichte dunkelgrüne Vegetation.Pflanzen und Tiere schienen ihre grenzenlose Lebenskraft direkt aus derMitte der Erde zu bekommen. Als Ch<strong>in</strong>ese aus Nordch<strong>in</strong>a überraschtemich besonders die Zahl der Geckos überall an den Wänden. SolcheBilder sah ich später <strong>in</strong> Xishuangbanna 59 wieder. Ich entdeckte auche<strong>in</strong>e Art Eidechse, die ich vorher noch nie gesehen hatte. E<strong>in</strong>e von ihnenkletterte auf e<strong>in</strong>em Baum h<strong>in</strong> und her. Als ich sie mit e<strong>in</strong>em Zweigberührte, wechselte sie s<strong>of</strong>ort ihre Farbe von grau und gelb nach hellgrün.War das e<strong>in</strong> so genanntes Chamäleon?Jetzt begann gerade die alljährliche Regenzeit. Es regnete jeden Tag,meistens nachmittags. Und jeden Tag setzte der Regenschauer zurgleichen Zeit e<strong>in</strong> – und zwar genau zu jener Stunde, zu der es am erstenTag der Regenzeit gegossen hatte. Regnete es also am ersten Tag um 14Uhr, dann regnete es jeden Tag um 14 Uhr. Vor dem heftigen Regengussschien überall die Sonne. Niemand dachte an Regen. Dann zogen sich59Stadt <strong>in</strong> der Prov<strong>in</strong>z Yunnan.


234 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>blitzschnell dunkle Wolken zusammen. Der Himmel war grau und dieErde dunkel. Blitz, Donner und Regen wechselten sich ab, und zwar sogewaltig, dass es Himmel und Erde erschreckte und die Geister zumWe<strong>in</strong>en brachte. Auf der Straße spritzte überall Wasser auf und bildeteBlumen aus Perlen. Kurz danach war es vorbei. Die dunklen Wolkenhatten sich verzogen, der blaue Himmel schaute hervor, und überallschien wieder die Sonne.Für das Wetter <strong>in</strong> der tropischen Zone gab es passende Kleidung, die vorallem bei den Damen zu sehen war. Die Vietnames<strong>in</strong>nen trugen Kleider,die dem ch<strong>in</strong>esischen Qipao ähnelten, hergestellt aus weißer Seide. Dere<strong>in</strong>zige Unterschied bestand dar<strong>in</strong>, dass der Schlitz bis zur Achselhöhlereichte. Die Hose darunter war aus schwarzer Seide. Oben weiß undunten schwarz, oder anders gesagt, <strong>in</strong>nen schwarz und außen weiß. Weilder Schlitz so groß war, flatterten die weißen Qipaos und die schwarzenHosen der jungen hübschen Frauen im W<strong>in</strong>d, wenn sie ihm entgegeng<strong>in</strong>gen. Sie sahen wie aus schwarzem und weißem Marmor gemeißelteGött<strong>in</strong>nen aus, die sich im Gegensatz zu diesen Frauen freilich nicht regenkönnen. E<strong>in</strong> wunderschöner Anblick. Ihre Ausstrahlung belebte das ganzeStraßenbild – östliche Schönheiten eben, wie man sie <strong>in</strong> Europa nichtsieht. Außerhalb von Vietnam f<strong>in</strong>det man sie so auch nicht <strong>in</strong> Ostasien.In diesen tropischen Zonen wird jährlich drei- bis viermal Reis geerntet,weshalb er sehr billig war. Angeblich gab es hier ke<strong>in</strong>e Bettler. DerReis war so preisgünstig, dass jeder sich leicht ernähren konnte. Jederkonnte ohne Mühe se<strong>in</strong>en Lebensunterhalt bestreiten und viel Zeit aufden Straßen verbr<strong>in</strong>gen. Die Menschen standen nicht unter Druck.Wenn es nicht regnete, hielten sie sich auf der Straße auf. Sie lagenunter Kokospalmen oder anderen Bäumen, rauchten, tranken Tee undunterhielten sich. Rundum herrschte Zufriedenheit. Es gibt e<strong>in</strong>en Satz <strong>in</strong>


37 Zwei Monate <strong>in</strong> Saigon 235Europa: „Alle auf der Welt haben Angst vor der Zeit, aber die Zeit hatAngst vor dem Osten.“ Dieser Satz traf hier wirklich zu.Unter den E<strong>in</strong>wohnern lebten viele ehemalige ch<strong>in</strong>esische Staatsbürger,die vorwiegend am Hafen und <strong>in</strong> der Nähe der Innenstadt wohnten. Aufden Straßen und <strong>in</strong> den Läden <strong>in</strong> dieser Gegend sah man nur Ch<strong>in</strong>esen,und auch die Inhaber der Geschäfte waren samt und sonders Ch<strong>in</strong>esen,die Ladenschilder waren ch<strong>in</strong>esisch beschriftet und die Kunden warenebenfalls Ch<strong>in</strong>esen. Ch<strong>in</strong>esen betrieben viele kle<strong>in</strong>e Fabriken, meistensReisschälfabriken und e<strong>in</strong>ige Ziegeleien. Und das Essen war natürlichch<strong>in</strong>esisch. Sowohl <strong>in</strong> den großen Restaurants als auch <strong>in</strong> den kle<strong>in</strong>enLokalen auf der Straße gab es typische Kanton-Spezialitäten. Die Regaleh<strong>in</strong>gen voll mit Würsten und geräuchertem Fleisch aus Kanton. Überallbot man teure Spezialitäten von jungen Schwe<strong>in</strong>en an. Früher hieß es„Essen wie <strong>in</strong> Kanton“. Es sollte besser heißen „Essen wie <strong>in</strong> Saigon“.In Saigon existierten viele ch<strong>in</strong>esische Grund- und e<strong>in</strong>ige Mittelschulen,ch<strong>in</strong>esische Zeitungen und ch<strong>in</strong>esische Buchläden. Hier lebten ch<strong>in</strong>esischeSchriftsteller und Akademiker. Es gab auch ch<strong>in</strong>esische Krankenhäusermit ch<strong>in</strong>esischen Ärzten und Patienten. Wahrsche<strong>in</strong>lich weil wir ebenfallszu den Akademikern gehörten, machten wir schon kurz nach unsererAnkunft Bekanntschaft mit den e<strong>in</strong>heimischen Akademikern. Sie hattengroßen Respekt vor uns, weil wir uns durch das Auslandsstudiumsozusagen „vergoldet“ hatten. Sie luden uns zum Essen e<strong>in</strong>, baten unsVorträge zu halten und Artikel für die Zeitungen zu schreiben. Wirbedankten uns für ihre Freundlichkeit.Wahrsche<strong>in</strong>lich existierte noch e<strong>in</strong> weiterer Grund, warum sie unsrespektierten. Die Nanj<strong>in</strong>g-Regierung hatte e<strong>in</strong>en Generalkonsulnach Saigon geschickt. Vorher gab es zwar schon e<strong>in</strong>ige Konsuln undVizekonsuln. Nun aber hatten sie e<strong>in</strong> großes Generalkonsulat gegründet,


236 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>um die Angelegenheiten der Ch<strong>in</strong>esen vor Ort zu regeln. Das Konsulatwar e<strong>in</strong>e klassische ch<strong>in</strong>esische Behörde, die alle heimischen Eigenartengeerbt hatte. Früher gab es dazu zwei Sätze <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a: 1.Mit demch<strong>in</strong>esischen Schriftzeichen „acht“ bezeichnete Behörden öffnen schwerihre Türen. 2. Wer nur mit dem Recht auf se<strong>in</strong>er Seite, aber ohne Geldkommt, hat ebenfalls schwer Zugang. Das traf auch auf diese Behördezu. Genaue Informationen über das Generalkonsulat besaß ich nicht,aber ich hörte nach e<strong>in</strong>iger Zeit von der schlechten Behandlung e<strong>in</strong>igerCh<strong>in</strong>esen. Sie hatten ke<strong>in</strong>e Möglichkeit sich zu beschweren. Der Himmelwar hoch, der Kaiser weit weg und Nanj<strong>in</strong>g mehrere tausend Kilometerentfernt. So mussten sie es stumm ertragen. Als wir <strong>in</strong> Saigon e<strong>in</strong>trafen,vermuteten die Konsulatsangestellten und die dort ansässigen Ch<strong>in</strong>esen,dass starke H<strong>in</strong>termänner und e<strong>in</strong>flussreiche Familien h<strong>in</strong>ter uns stünden.Sonst hätten wir uns nicht im Ausland „vergolden“ lassen können.Daher behandelten uns e<strong>in</strong>ige Landsleute wie den „Großen Herrn derGerechtigkeit und Hüter des blauen Himmels“. Sie beauftragten uns,mit dem Generalkonsulat zu verhandeln und <strong>in</strong> ihrem Interesse e<strong>in</strong>igeD<strong>in</strong>ge zu erledigen. Aber wir hatten ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>flussreichen Familienh<strong>in</strong>ter uns und waren auch nicht berechtigt, uns <strong>in</strong> ihre persönlichenAngelegenheiten zu mischen. Das wollten wir auch nicht. Dennoch: Alswir e<strong>in</strong>es Tages e<strong>in</strong>en Beamten des Konsulats trafen, sprachen wir ihn aufe<strong>in</strong>ige Probleme an – mit dem Erfolg, dass uns die Ch<strong>in</strong>esen <strong>in</strong> Saigon ihrVertrauen und ihre Freundschaft schenkten. Sie suchten unseren Kontaktund baten um Hilfe. Das führte dazu, dass es vor unserer Hoteltür zug<strong>in</strong>gwie auf e<strong>in</strong>em Markt und wir jeden Tag zum Essen e<strong>in</strong>geladen wurden.Nach anfänglichen Schwierigkeiten kümmerte sich das Generalkonsulatsehr gut um uns. Schlau geworden durch unsere Erfahrungen mit derdiplomatischen Vertretung <strong>in</strong> der Schweiz und <strong>in</strong> Marseille wandten wir


37 Zwei Monate <strong>in</strong> Saigon 237unsere Taktik auch <strong>in</strong> Saigon an: Stärke zeigen! Beim ersten Essen imKonsulat lagen Essstäbchen aus Bambus auf dem Tisch. Wir verlangtennach Stäbchen aus Elfenbe<strong>in</strong>. Beim nächsten Essen bekamen wir sie. Daswar provozierend.Zwei Absätze dazu aus me<strong>in</strong>em Tagebuch:13. März 1946:Um 10 Uhr hatten wir e<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong> beim Generalkonsul Y<strong>in</strong> Fengzao. Um 11 Uhrkam er. Er war unfreundlich. Ich schäumte vor Wut und beschwerte mich. Daraufh<strong>in</strong>wurde er höflich. Was macht man mit solchen Bürokraten?13. April 1946:Frühmorgens um 6 Uhr standen wir auf. Nach dem Frühstück g<strong>in</strong>gen Huwen,Shix<strong>in</strong>, Xiao und ich zum Generalkonsulat, um über e<strong>in</strong>en Kab<strong>in</strong>enplatz auf demSchiff „Reich der Mitte“ zu verhandeln. Y<strong>in</strong> wollte sich herausreden. Wir wurdenunfreundlich – und er versprach uns den Platz.Diese beiden Auszüge verdeutlichten die damalige Situation. Wir lerntensehr viel daraus.In Saigon waren wir unserer Heimat viel näher als <strong>in</strong> Europa. Wir spürtendie Nähe auch wirklich stärker. Die hier lebenden Ch<strong>in</strong>esen schenktendem Krieg <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a sehr viel Aufmerksamkeit. Sie liebten Ch<strong>in</strong>a ebensowie die Ch<strong>in</strong>esen <strong>in</strong> anderen Ländern und nahmen regen Anteil amSchicksal ihrer Heimat. Inzwischen war der Krieg beendet, aber dieVeränderungen, die er <strong>in</strong> den acht <strong>Jahre</strong>n verursacht hatte, waren <strong>in</strong> ihrenHerzen und Köpfen. Als ich zum Beispiel das erste Mal die ch<strong>in</strong>esischeNationalhymne <strong>in</strong> Saigon hörte, packte mich, e<strong>in</strong>en von weither gereistenÜbersee-Ch<strong>in</strong>esen, Rührung. Ich fühlte mich ermutigt, geehrt, begeistertund stolz. Ich konnte me<strong>in</strong>en Kopf wieder höher tragen. E<strong>in</strong>malerwähnte ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Mittelschule den Namen von Chiang Kai-shek. Dastanden alle Leute plötzlich auf. Ich war erschrocken und verdutzt. Später


238 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>erfuhr ich, dass es damals überall so üblich war. Das kam aus Ch<strong>in</strong>a. Dorthabe ich es später allerd<strong>in</strong>gs nicht erlebt – für mich ist es bis heute e<strong>in</strong>Rätsel. Von den Ch<strong>in</strong>esen <strong>in</strong> Saigon lernte ich viele neue Wörter, wie zumBeispiel „shangnaoj<strong>in</strong> = man hat Schwierigkeiten“ oder „gao = machen,tun“. Diese Wörter gab es bei me<strong>in</strong>er Abreise aus Ch<strong>in</strong>a noch nicht. Siewaren Produkte, die <strong>in</strong> der Zeit me<strong>in</strong>er Abwesenheit entstanden waren.Sie zeigten mir e<strong>in</strong>deutig, dass ich nun nicht mehr weit von me<strong>in</strong>er Heimatentfernt war. Sie lag vor mir. Me<strong>in</strong> Herz wurde warm.


38 Von Saigon nach Hongkong 23938. Von Saigonnach HongkongAm 19. April 1946 verließen wir Saigon und betraten das Schiff nachHongkong.Dieses Schiff war mit e<strong>in</strong>er Wasserverdrängung von weniger als tausendTonnen wesentlich kle<strong>in</strong>er als die „New Hellas“. Die E<strong>in</strong>richtung <strong>in</strong> derErsten Klasse war sehr schlicht und alles andere als luxuriös. Über dieZweite und Dritte Klasse oder das Zwischendeck will ich erst gar nichtreden.Mit dem Wetter hatten wir ke<strong>in</strong> Glück. Schon am zweiten Tag gab ese<strong>in</strong>en Sturm. Ob es e<strong>in</strong> Taifun war, weiß ich nicht mehr. Der W<strong>in</strong>d heulteschrecklich. Das Schiff bewegte sich wie e<strong>in</strong>e Wasserl<strong>in</strong>se im Meer, aufund ab, mal <strong>in</strong> den Himmel, mal <strong>in</strong> die Hölle. E<strong>in</strong>mal befanden wir uns<strong>in</strong> den höchsten Gefilden des Himmels, e<strong>in</strong> anderes Mal auf dem tiefstenGrund der Hölle. Die Wellen schienen den Himmel zu berühren unddie W<strong>in</strong>de wie verrückt zu brüllen. In den Wellen bewegten sich Fische,Drachen und Wassergeister. Blitzschnell änderten sich die Situationen,


240 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>als hätte der Affenkönig Sun Wukong das Drachenschloss mit se<strong>in</strong>erZauber-Nadel herumgedreht und damit das Meer erschüttert. Ich warseekrank und erbrach ständig das Essen. Auch als ich nichts mehr zu mirnehmen konnte, erbrach ich weiter, bis ich nur noch dunkelgrünes Wasserausspuckte. So konnte ich auch nicht mehr <strong>in</strong> der Kab<strong>in</strong>e bleiben. Ichlegte mich oben auf das Deck mit dem Kopf an der Rel<strong>in</strong>g. Noch warich bei Bewusstse<strong>in</strong> und sah die Schiffsmasten mal hoch über mir undmal tief im 90-Grad-W<strong>in</strong>kel neben mir. Das Wasser spritzte an Deck. Ichkonnte nichts dagegen tun. Wie benommen lag ich mit halbgeschlossenenAugen da und konnte mich nicht mehr bewegen. Der Sturm dauerte zweiTage. Später berichtete der Kapitän, se<strong>in</strong> Schiff sei e<strong>in</strong>e ganze Nacht langmit voller Kraft gegen die Wellen gefahren, ohne e<strong>in</strong>en Meter vorwärtszu kommen. Es dampfte e<strong>in</strong>en Meter voran und die Wellen schlugen ese<strong>in</strong>en Meter zurück.Auch nach dem Sturm konnte ich ganze zwei Tage ke<strong>in</strong> Essen und ke<strong>in</strong>Wasser anrühren. Als es mir wieder besser g<strong>in</strong>g, wurde auf dem SchiffHühnerbrühe angeboten. Sie schmeckte mir besonders lecker und vielbesser als alle Schwalbennester und Haifischflossen, e<strong>in</strong> von Geisterngeschicktes Lebenselixier, e<strong>in</strong> köstliches Süppchen. Es war die leckersteund schönste Brühe me<strong>in</strong>es Lebens, die ich bis heute <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerunghabe. Jetzt klarte der Himmel auch wieder auf, und die schöne Sonnestand hoch am Firmament. Das Meer zeigte sich ruhig und flach wie e<strong>in</strong>Spiegel. Fische tauchten aus dem Wasser auf wie fliegende Vögel. In derFerne lag verschwommen der Horizont, aber ke<strong>in</strong>e Insel war <strong>in</strong> Sicht. Wirentfernten uns immer weiter vom Festland. Ich schaute mich um undhätte am liebsten e<strong>in</strong>en Freudentanz aufgeführt.Am 25. April 1946 erreichten wir Hongkong. Hier gab es e<strong>in</strong>eaußerordentliche diplomatische Behörde der Nanj<strong>in</strong>g-Regierung,


38 Von Saigon nach Hongkong 241vergleichbar mit e<strong>in</strong>er Botschaft <strong>in</strong> anderen Ländern. Diese Behördehatte die Aufgabe, uns zu empfangen. Ihre Vertreter holten uns am Hafenab und brachten uns zu e<strong>in</strong>er Pension. Die E<strong>in</strong>richtung der Pension waraußergewöhnlich schlicht. Die Zimmer sahen aus wie Hühnerställe aufdem Festland. Wir zogen <strong>in</strong> zwei kle<strong>in</strong>e Zimmer. Davor lag e<strong>in</strong> langer Flurvon etwa zwanzig bis dreißig Quadratmetern, der wahrsche<strong>in</strong>lich auch alsAuffangsraum genutzt wurde. Betten gab es auf diesem Flur nicht. Se<strong>in</strong>eknapp dreißig Bewohner hausten auf dem Fußboden. E<strong>in</strong>ige waren kle<strong>in</strong>eHändler, andere wahrsche<strong>in</strong>lich arbeitslos. Diese Leute hatten ke<strong>in</strong>e Kulturund ke<strong>in</strong>e Moral. Sie sprachen laut, spuckten überall h<strong>in</strong> und rauchtenschlechte Zigaretten. Alles g<strong>in</strong>g drunter und drüber. In Hongkong lebtenviele Menschen auf wenig Platz. E<strong>in</strong> Stück Land war so teuer wie Gold.Es war hier auch nicht e<strong>in</strong>fach, überhaupt e<strong>in</strong>e Unterkunft zu f<strong>in</strong>den.Wir warteten auf e<strong>in</strong> Schiff nach Shanghai. Solange mussten wir uns mitdieser Unterkunft begnügen.Hongkong kannte ich vom Namen her sehr gut, war allerd<strong>in</strong>gs noch nieda gewesen. Gleich nach der Ankunft fiel mir e<strong>in</strong>iges auf, das auf michke<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>druck machte. Mehr als zehn <strong>Jahre</strong> hatte ich bereits<strong>in</strong> Europa gelebt. Ich hatte die große Welt <strong>in</strong> der Schweiz, Frankreichund <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> kennen gelernt. Wer das heutige Hongkongmit dem Hongkong Mitte der vierziger <strong>Jahre</strong> vergleicht, sieht vieleUnterschiede, aber manches hat sich auch bis heute nicht verändert.Es gibt immer noch viele Menschen und wenig Platz. Die Unterschiedezu unserer heutigen Zeit: Damals war Hongkong ländlich. Es fehltedas wissenschaftliche Leben. Es war sehr schwer, e<strong>in</strong>en Buchladen zuf<strong>in</strong>den. Auf den wenigen Straßen drängten sich Menschen Schulter anSchulter. In den Hochhäusern g<strong>in</strong>g es zu wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Taubenschlag. Wiee<strong>in</strong>en donnernden Wasserfall hörte man überall die umfallenden Ste<strong>in</strong>e


242 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>der Leute beim Ma-Jiang-Spielen. Wie bei e<strong>in</strong>em Sturm, der über e<strong>in</strong>egroße Fläche fegt. Kaum zu glauben, aber so sah die Wirklichkeit aus.Im damaligen Hongkong gab es die Natur, das Meer und die nächtlicheSzenerie. Ähnlich wie <strong>in</strong> der Bergstadt Chongq<strong>in</strong>g leuchteten überall <strong>in</strong>der Nacht viele tausend Lichter. Große und kle<strong>in</strong>e, runde und eckigeLichter funkelten wie zahlreiche Sterne am Himmel – e<strong>in</strong>e idyllische Welt.Dennoch schienen auch hier Ause<strong>in</strong>andersetzungen unvermeidbar.Die diplomatische Vertretung entpuppte sich wie <strong>in</strong> der Schweiz, <strong>in</strong>Marseille und Saigon mal wieder als unser Gegner. Wir hatten uns mitdem außerordentlichen diplomatischen Vertreter Guo Dehua verabredet,um unsere Weiterfahrt nach Shanghai zu besprechen. Was ich zu hörenbekam, kannte ich schon aus Saigon: „Die Abfahrt des Schiffes istunbestimmt“, hieß es. Also brauchten wir se<strong>in</strong>e tatkräftige Unterstützung.Guo Dehua hatte e<strong>in</strong> großes helles Büro. Er saß h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em riesigenSchreibtisch und gab sich sehr würdevoll. Die Bügel se<strong>in</strong>er Brillewaren aus Schildpatt hergestellt. Er trug e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Bart, hatte e<strong>in</strong>Millionärsgesicht und machte sich wichtig. Gnädig w<strong>in</strong>kte er uns heran.Se<strong>in</strong> Verhalten kam uns bekannt vor. Wie sagt doch e<strong>in</strong> Sprichwort: „Nurdurch Kampf lernt man e<strong>in</strong>e Sache richtig kennen.“ Das mussten wirihm jetzt zeigen. Guo Dehua stand nicht auf, und wir setzten uns auchnicht auf den Platz, den er uns zugewiesen hatte. Stattdessen machtenwir es uns geradewegs auf se<strong>in</strong>em Schreibtisch bequem. Das zeigte soschnell Wirkung, als hätte man e<strong>in</strong>en Stab aufgestellt und schon e<strong>in</strong>enSchatten bekommen. Er schnellte hoch, lächelte, und das Problem mit derSchiffsreise war erledigt.Uns fiel e<strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> vom Herzen. Wir verbrachten noch e<strong>in</strong>ige Tage <strong>in</strong>Hongkong, besuchten e<strong>in</strong>ige Freunde und warteten auf die Abfahrt.


39 In den Armen der Heimat 24339. In den Armender HeimatNachdem wir nun auch mit dem Diplomaten <strong>in</strong> Hongkong siegreichgekämpft und endlich das Ticket erhalten hatten, betraten wir am13. Mai 1946 das Schiff nach Shanghai. Das war unsere letzte Fahrt aufdem Weg <strong>in</strong> die Heimat. Wie aufregend!Das Schiff war wieder sehr kle<strong>in</strong>, hatte e<strong>in</strong>e Wasserverdrängungvon weniger als tausend Tonnen und e<strong>in</strong>e erschütternd miserableE<strong>in</strong>richtung. An Bord befanden sich noch weitere Ch<strong>in</strong>esen, die imAusland studiert hatten und nun <strong>in</strong> die Heimat fuhren. Wir waren alsonicht mehr so e<strong>in</strong>sam. Überdies drängten sich noch mehrere hundertch<strong>in</strong>esische Passagiere auf dem Schiff. Für sie gab es ke<strong>in</strong>en Schlafplatz.Normalerweise bietet das Zwischendeck die billigste und primitivsteUnterkunft auf e<strong>in</strong>em Schiff, aber hier existierte noch e<strong>in</strong> zusätzlichesDeck. Überall lagen Gepäckstücke herum, aus denen es nach e<strong>in</strong>gelegtemFisch stank. Die Menschen drängten sich, jeder hatte nur e<strong>in</strong>ennotdürftigen Platz. Die Stärksten verschafften sich mehr Platz, ebenso


244 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>die Reisenden mit Geld. Überall gab es daher heftige Diskussionen undStreitereien. Die meisten Passagiere rauchten. Es g<strong>in</strong>g drunter und drüberauf dem Zwischendeck. Luft und Lärm schufen e<strong>in</strong> vielstimmiges Lied,das sogar den Schiffslärm <strong>in</strong> den Schatten stellte.Wir wohnten <strong>in</strong> der Ersten Klasse und bildeten mit den anderench<strong>in</strong>esischen Studenten <strong>in</strong> der Zweiten Klasse e<strong>in</strong>e privilegierte Gruppe.Wie laut und schmutzig es da draußen auch se<strong>in</strong> mochte, wir machtene<strong>in</strong>fach die Tür zu. In unseren Kab<strong>in</strong>en war es ruhig und sauber.Manchmal brauchten wir allerd<strong>in</strong>gs auch frische Luft und mussten anDeck. Es lag nur e<strong>in</strong>en Schritt entfernt, aber dieser e<strong>in</strong>e Schritt gestaltetesich außerordentlich schwierig. Es war nicht e<strong>in</strong>fach, sich e<strong>in</strong>en Weg durchdie Menschen zu bahnen. An Deck sah ich plötzlich unter den vielenMenschen e<strong>in</strong>e Student<strong>in</strong>, die mit uns geme<strong>in</strong>sam an Bord gegangenwar. Sie hatte <strong>in</strong> Belgien und Frankreich studiert. Ihre Augen warengeschlossen, sie aß und trank nichts. Sie bewegte sich auch nicht. E<strong>in</strong>igestiegen über ihren Körper. Als jemand über sie stolperte und Wasser aufihr Gesicht schüttete, reagierte sie immer noch nicht, wie bewusstlos.Ihre Augenlider regten sich nicht. War sie e<strong>in</strong>geschlafen? War sie wach?Ich wusste es nicht. So lag sie e<strong>in</strong>ige Tage bis Shanghai. Erstaunlich! DieStudent<strong>in</strong> hatte Mathematik studiert und war e<strong>in</strong>e überzeugte Katholik<strong>in</strong>.Ihrer Miene konnte ich nicht ansehen, ob sie Nonne war. Egal, sie hattesicherlich ihren persönlichen Gott. Anders konnte ich mir ihr Gongfu-Verhalten auf dem Schiff nicht erklären.Ich glaubte nicht an Gott und wollte auch nicht bewegungslos liegen. Ichwollte essen, tr<strong>in</strong>ken, mich bewegen und denken. Nun lag me<strong>in</strong>e Heimatunmittelbar vor mir. Das elfjährige Leben im Ausland war beendet.Nache<strong>in</strong>ander tauchten die Erlebnisse aus diesem Leben vor me<strong>in</strong>enAugen auf. Tausend Gedanken entströmten me<strong>in</strong>em Herzen. Ich wollte


39 In den Armen der Heimat 245sie über me<strong>in</strong>em Heimatland ausschütten. Was sollte ich sagen? Vorelf <strong>Jahre</strong>n war ich noch jung und hatte wenig Erfahrung. Mit me<strong>in</strong>emganzen Herzen hatte ich mich entschieden, me<strong>in</strong>e Heimat zu verlassen,um Ch<strong>in</strong>a zu retten und zu vergolden. Ursprünglich waren nur zwei <strong>Jahre</strong>geplant, die ich mit zusammengebissenen Zähnen überstehen wollte. Aberich war nicht <strong>in</strong> der richtigen Zeit geboren. Der Krieg <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>dauerte endlos. Aus zwei <strong>Jahre</strong>n waren elf geworden. Was ich <strong>in</strong> derZeit an Schwierigkeiten, Härten und Ungerechtigkeit erlebt und wie vielRückschläge ich erlitten hatte, darüber wollte ich nicht mehr nachdenken.Alle Tage hatte ich gehungert und die Todesgefahr vor Augen gehabt.Die britischen und amerikanischen Flugzeuge flogen zu jeder Zeitüber unseren Köpfen. Zwischen Leben und Tod lag nur e<strong>in</strong>e Sekunde.Tausend Male hatte ich Glück gehabt und war dem Tod um Haaresbreiteentkommen. Seit e<strong>in</strong>igen <strong>Jahre</strong>n gab es ke<strong>in</strong>e Nachricht von Zuhause.Me<strong>in</strong>e nächsten Verwandten waren alt, me<strong>in</strong>e Frau jung und die K<strong>in</strong>dernoch kle<strong>in</strong>, me<strong>in</strong>e Mutter begraben. Ihr Geist sorgte sich bestimmt ummich. Ich sehnte mich nach dem Tag, an dem ich me<strong>in</strong>e Erlebnisse <strong>in</strong>me<strong>in</strong>er Heimat ausschütten konnte. Jetzt war sie vor me<strong>in</strong>en Augen, dieZeit war gekommen, aber was konnte ich ausschütten?Ich konnte nicht bewegungslos daliegen wie die Katholik<strong>in</strong>. Ich lehntemich an die Rel<strong>in</strong>g und konzentrierte mich auf die herumwälzendenWellen im Meer. Me<strong>in</strong> Herz wälzte sich noch stärker herum, als esdie Wellen taten. Während me<strong>in</strong>er Zeit <strong>in</strong> Europa hatte ich viele Malegedacht, wenn ich me<strong>in</strong>e Heimat wiedersehen würde, müsste ich aufdie Knie fallen und ihren Boden küssen, sie sanft streicheln und Tränenvergießen. Das fiel mir jetzt schwer. Ich hatte tief <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em HerzenProbleme damit, und me<strong>in</strong> Blick war nicht mehr frei. In Saigon hatteich von den dort lebenden Ch<strong>in</strong>esen, die Ch<strong>in</strong>a liebten, ab und zu


246 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Informationen über die Nanj<strong>in</strong>g-Regierung erhalten. In Hongkong erfuhrich mehr darüber. Nach dem Sieg im anti-japanischen Widerstandskriegraubten und beschlagnahmten die hochrangigen, mittleren und kle<strong>in</strong>enBeamten, die über entsprechende Verwandtschaft, H<strong>in</strong>termänner,Beziehungen und Freundschaften verfügten oder durch Bestechung<strong>in</strong> ihre Positionen gekommen waren, überall <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a. Sie raubten undbeschlagnahmten Wohnungen, Grundstücke, Dollar, Gold, Lebensmittel,Lager und sogar Frauen. Sie richteten überall e<strong>in</strong> wüstes Chaos an. DasVolk geriet <strong>in</strong> helle Empörung. Die Täter waren noch schmutziger als die<strong>in</strong> den Aufzeichnungen aus der Q<strong>in</strong>g-Dynastie beschriebenen Beamten,die ihre wahre Natur zeigten. 60 Die so genannte Heimat bestand auszwei Teilen: aus der Natur und aus den Menschen. Die Natur war immernoch schön, sie konnte ich une<strong>in</strong>geschränkt lieben. Wie konnte ich abersolche Menschen lieben? Was konnte ich solchen Menschen sagen?E<strong>in</strong> ch<strong>in</strong>esisches Sprichwort lautet: „K<strong>in</strong>der f<strong>in</strong>den ihre Mutter niemalshässlich, Hunde ihr Zuhause niemals arm.“ Me<strong>in</strong>e Heimat war überhauptnicht hässlich. Durfte man behaupten, dass diese Räuber hässlich waren?Hätten Sie, verehrte Leser, gegen solche Menschen nicht auch e<strong>in</strong>eAbneigung?Me<strong>in</strong> Herz war aufgewühlt. So kamen wir <strong>in</strong> Shanghai an. Es war der 19.Mai 1946. In me<strong>in</strong>em Tagebuch hielt ich fest:Shanghai, ist das wirklich e<strong>in</strong>e ch<strong>in</strong>esische Stadt? Ich verließ me<strong>in</strong>e Heimat vor elf<strong>Jahre</strong>n. Früher habe ich immer versucht mir vorzustellen, wie es se<strong>in</strong> würde, wenn ichdie Heimat wiedersehe. Jetzt b<strong>in</strong> ich angekommen, aber ich empf<strong>in</strong>de sie als besondersfremd, mir fehlt jegliches warme Gefühl. Habe ich mich geändert oder die Heimat?“Mit widersprüchlichen Gefühlen kam ich zurück, mit e<strong>in</strong>em lachenden60aus: „Die Aufzeichnung der wahren Natur der Beamten“ (《 官 场 现 行 记 》)von Li Baojia 李 宝 嘉 (1867 –1906), Schriftsteller, Q<strong>in</strong>g-Dynastie.


39 In den Armen der Heimat 247und e<strong>in</strong>em we<strong>in</strong>enden Auge. Ich fühlte mich wie e<strong>in</strong> alter umgestoßenerirdener Sojamilchkrug, der nicht weiß, wie die Milch schmeckt.<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> Europa waren wie e<strong>in</strong> Traum.<strong>Zehn</strong>tausend Fässer konnte ich mit Abschieden füllen.Heimat, ich b<strong>in</strong> da! Der Reisende ist zurückgekehrt.


248 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Nachklang: Verbleibende Töne<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>, mehr als e<strong>in</strong> halbes Jahr <strong>in</strong> der Schweiz,<strong>in</strong> Frankreich und <strong>in</strong> Saigon – damit habe ich me<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerungenan das knapp elfjährige Leben beendet.Solche Er<strong>in</strong>nerungen aufzuschreiben bereitet nicht immer Vergnügen.Insgesamt schrieb ich sie zweimal. Der erste Entwurf entstand <strong>in</strong> der Zeitvom 1. März 1988 bis zum 11. April 1988; das zweite Mal schrieb ich vom13. Januar 1991 bis zum 11. Mai 1991. Die zweite Fassung unterscheidetsich völlig von der ersten, da ich beide unabhängig vone<strong>in</strong>ander schrieb.Warum schrieb ich das Buch und warum schrieb ich drei <strong>Jahre</strong> späternoch e<strong>in</strong>e zweite druckreife Fassung? Das ist nicht so schnell zu erklären.Also lassen wir das.Ich berichte nur über die Phase des Schreibens. Sie ist eigentlich e<strong>in</strong>ePhase des Er<strong>in</strong>nerns mithilfe me<strong>in</strong>er Tagebücher. Und dabei war nichtnur me<strong>in</strong> Gedächtnis alle<strong>in</strong> aktiv. Vielmehr erlebte ich das elfjährige Lebennoch e<strong>in</strong>mal, <strong>in</strong>dem sich mir alle Menschen, die ich damals kennen lernte,erneut vor Augen stellten. Obwohl e<strong>in</strong>ige Freunde bereits gestorben s<strong>in</strong>d,wurden sie vor me<strong>in</strong>en Augen wieder lebendig. Das Leben mit ihnen


Nachklang: Verbleibende Töne 249Dr. Ji mit se<strong>in</strong>em Doktorvater Pr<strong>of</strong>. Dr. Waldschmidt 1980Institut für IndologieBesuch von Dr. Ji Xianl<strong>in</strong> <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen 1980Institut für Indologie


250 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>zusammen war sauer, süß, bitter und scharf. Zweimal, e<strong>in</strong>mal für vierzigTage und das zweite Mal für vier Monate, erlebte ich das elfjährige Lebenwieder neu. Dieses Gefühl war nicht immer schön. Aber ich biss dieZähne zusammen und überwand mich. Ich h<strong>of</strong>fe nur, dass ich mich <strong>in</strong>Zukunft nicht mehr an vergangenes Glück und vergangene Schmerzen zuer<strong>in</strong>nern brauche.Soll das heißen, dass ich ke<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerungen mehr aufschreiben werde?So ungefähr. Nach me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung war me<strong>in</strong> Leben normal und esgab ke<strong>in</strong>e Heldentaten. Jeden Tag schrieb ich etwas beliebig auf, bis zudiesem Tage. Aber es ist wie mit e<strong>in</strong>er trockenen Orangenschale: Egal,wie man sie bearbeitet, man kann ke<strong>in</strong>en Saft mehr aus ihr herauspressen.So gibt es auch <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em achtzigjährigen Leben nur zwei wertvolleZeiträume, die es sich lohnt darzustellen: Der e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d die zehn <strong>Jahre</strong><strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>, der andere ist die Zeit der noch nie dagewesenenKatastrophe, worüber ich ebenfalls 1988 den Entwurf „Kuhstall-Er<strong>in</strong>nerungen“ geschrieben habe. Letzterer hat eben denselben Umfangwie „<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>“. Wann die endgültige Fassung ersche<strong>in</strong>t,kann ich noch nicht sagen. Vielleicht geht es sehr schnell, vielleicht bleibtes immer e<strong>in</strong> Entwurf. Wer weiß. Zusammenfassend kann ich aber sagen:Es gab ke<strong>in</strong>e anderen sich lohnenden Er<strong>in</strong>nerungen außerhalb dieserbeiden Zeiträume.Am Anfang des Buches schrieb ich e<strong>in</strong>en Prolog, am Ende e<strong>in</strong>enNachklang unter der Überschrift „Verbleibende Töne“. Zwar ich b<strong>in</strong>bereits achtzig <strong>Jahre</strong> alt, aber es sieht so aus, als verblieben mir noch e<strong>in</strong>ige<strong>Jahre</strong>. Es gibt noch viel zu tun und viel auszuprobieren: Süßes, Saures,Scharfes und Bittereres. Ich h<strong>of</strong>fe, dass die verbleibenden Töne nochlange nachkl<strong>in</strong>gen.11. Mai 1991


Nachklang: Verbleibende Töne 251Nachwort der ÜbersetzerNach se<strong>in</strong>er Rückkehr <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a ist Dr. Ji Xianl<strong>in</strong> e<strong>in</strong> weltberühmterrenommierter Sanskrit- und Tocharischforscher geworden. Durchzahlreiche Übersetzungen hat er e<strong>in</strong>en herausragenden e<strong>in</strong>zigartigenBeitrag für die Wissenschaft auf dem Gebiet der Indologie geleistet.Zwischen <strong>Deutschland</strong> und Ch<strong>in</strong>a hat er mit dem vorliegendenBuch e<strong>in</strong>e Brücke gebaut, die bis heute ch<strong>in</strong>esische Studenten,Wissenschaftler und Freunde der Literatur nach Gött<strong>in</strong>gen br<strong>in</strong>gt, umse<strong>in</strong>en Spuren zu folgen.Anfang 1991 hat Dr. Ji Xianl<strong>in</strong> das Buch über se<strong>in</strong>en zehnjährigenAufenthalt <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a veröffentlicht. Es beruht auf eigenenTagebuche<strong>in</strong>trägen (<strong>in</strong> der Übersetzung kursiv gedruckt) und se<strong>in</strong>enEr<strong>in</strong>nerungen.Pr<strong>of</strong>essor Li Kuiliu, Frau Roswitha Br<strong>in</strong>kmann und Herr Liu Daoqianhaben das Buch jetzt <strong>in</strong> die deutsche Sprache übersetzt. SämtlicheAnmerkungen haben die Übersetzer zum tieferen Verständnis selbsth<strong>in</strong>zugefügt.In der vorliegenden deutschen Übersetzung wurde die <strong>in</strong> derVolksrepublik Ch<strong>in</strong>a standardisierte P<strong>in</strong>y<strong>in</strong>-Umschrift verwendet undnur <strong>in</strong> Ausnahmefällen die <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> verbreiteten Versionen, z.B.Pek<strong>in</strong>g, Chiang Kai-shek etc.


252 <strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>Unser Dank gilt Wolfgang Lüdde für die redaktionelle Mitarbeit beider Übersetzung.Die historischen Fotos aus der Zeit von 1935-1945 stellte für diesesBuch das Stadtarchiv der Stadt Gött<strong>in</strong>gen und die Staats- undUniversitätsbibliothek Gött<strong>in</strong>gen bereit. Die beiden Fotos von demspäteren Besuch Dr. Ji Xianl<strong>in</strong>s 1980 <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen wurden vomInstitut für Indologie der Universität Gött<strong>in</strong>gen zur Verfügung gestellt.Am 11. Juli 2009 ist Dr. Ji Xianl<strong>in</strong> <strong>in</strong> Pek<strong>in</strong>g verstorben. Er hatuns autorisiert se<strong>in</strong> Buch <strong>in</strong> die deutsche Sprache zu übersetzen.Wir werden ihm immer e<strong>in</strong> ehrendes Andenken bewahren. Dasvorliegende Buch ist ihm gewidmet.Die Übersetzer, September 2009

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