Zu Ernst Jünger - gesamtausgabe
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253Zu Ernst JüngerDie Auseinandersetzung mit der abendländischen Metaphysik alssolcher im Ganzen gehört in den Wesensbestand des sich anbahnendenÜbergangs der Besinnung in einen anderen Anfang derGeschichte des Seyns. Dieser Auseinandersetzung stellt sich alsnächste metaphysische Grundstellung jene, die Nietzsche gegründethat. Diese Metaphysik steht uns aber nicht nur der Zeitrechnungnach historisch am nächsten, sondern weit näher dadurch,daß wir geschichtlich in der von ihr enthüllten Wirklichkeit (desWirklichen als Wille zur Macht) handeln und »denken«, auchdort, wo man dieses Wirkliche nicht eigens so erfahrt, auch dann,wenn man Nietzsches Lehre nicht kennt, selbst da, wo man sieablehnt. Nietzsches Metaphysik ist so wenig wie das »System derWissenschaft« Hegels ein »Privatsystem« (Dilthey), sondern erstelltmit diesem in wesentlicher Einheit die Vollendung und damitdas Ende der abendländischen Metaphysik.Die Auseinandersetzung mit der abendländischen Metaphysikist keine Erörterung von Lehrmeinungen, weil hier »Metaphysik«im voraus wesentlicher begriffen und erfahren ist als das geschichtlicheGefüge der Wahrheit über das Seiende als solches imGanzen, welches Gefüge selbst der Grund der Geschichte desabendländischen Menschentums bleibt bis in die nächste Zukunft.Die Auseinandersetzung mit der Metaphysik wird zur Besinnungauf die Wahrheit über das Seiende im Ganzen und muß daheraus unserer Zugehörigkeit zum Seienden her und kann nurinnerhalb des uns durchwaltenden Bezugs zum Wirklichen vollzogenwerden. Das fordert aber von uns das Erwachen in der vonNietzsche bezogenen Grundstellung. Und das fordert eine Auseinandersetzungmit Nietzsche. Dabei ist dessen Metaphysik sogleichund stets als das Ende jenes Anfangs gedacht, aus dem die ältestengriechischen Denker (Anaximander, Heraklit, Parmenides) dasSein erfragten. Gemeint sind nicht die historischen BeziehungenNietzsches zur weit abliegenden Frühzeit des abendländischen
254 TL Teil: Aussprache über Ernst JüngerIV, Zu Ernst Jünger 19]9/40255Denkens, sondern erfahren ist die geschichtliche Nähe jenes Anfangsin der jetzt vollendeten Metaphysik.Aber das heutige Denken, das nur noch ein rechnendes Meinenund ein Spiel mit »Chiffren«! ist, vermag nicht mehr oder nochnicht in den Vollzug einer Auseinandersetzung mit Nietzsche sichzu finden. Die wahl- und endlose Mißdeutung Nietzsches ist nurdie Folge dieses Unvermögens.Die willkürliche Ausbeutung seines Werkes zu wechselndenZwecken erweckt aber den Schein, als sei jene Mißdeutung dieechte geschichtliche »Wirkung« Nietzsches in der Gegenwart.Diese »Wirkung« Nietzsches, und was man dafür hält, trifft nirgendwomehr auf Grenzen und Bedenken, sonst könnte Nietzschenicht gleichzeitig als Stützung gegenchristlicher Weltanschauungen,als Verteidigung des Christentums in der zeitgemäßen Zurechtmachungder Kirchenlehren, als Auffrischung einer ödenFreidenkerei, als Fundgrube für »psychologisch«-»biologische«Lehren gelten. Dies alles gleitet darüber hinweg, daß in NietzschesDenken die Metaphysik den geschichtlichen Augenblick erreichte,in dem das Seiende als Wirkliches im Sinne des Willenszur Macht offenbar wurde. Zwar kennt man freilich diese »Lehre«Nietzsches vom Willen zur Macht und verschafft ihr grobeund platte »Anwendungen« im sogenannten »Leben«; aber manübernimmt eine »Lehre« und anerkennt darin einen »Standpunkt«eines Menschen, der eben, weil er krank und schwach war,die Gesundheit und die Gewalt als höchste Werte zu predigenversuchte. »Rasseforscher« spielen sich als Verehrer des Lehrers 2vom Willen zur Macht auf, ohne sich daran zu kehren, daß Nietzsehegerade in den Jahren seiner Arbeit am »Willen zur Macht«1886/7 in sein Notizbuch geschrieben: »Maxime: Mit keinemMenschen umgehn, der an dem verlognen Rassen-Schwindel Antheilhat.« »Wieviel Verlogenheit und Sumpf gehört dazu, umKarl Jaspers: Philosophie. 3 ßde. ßerlin 1932. Das >,Wesen der Chiffren«wird im dritten ßand »Metaphysik« erläutert.2 r=_:J _____ schreibt zunächst »Philosophen«, streicht dies durch und komdaherwiederIm heutigen Mischmasch-Europa Rassenfragen aufzuwerfen!«(XIII, 356)Nietzsches angeblich »große« Wirkung ist diese Stickluft einesausgesprochenen oder versteckten oder unbemerkten »Nietzscheanismus«.Diese »Wirkung« wird noch einige Zeit die wissendeAneignung seiner Grunderfahrung verzögern. Und wer möchteleugnen, daß Manches in Nietzsches Art, sich zu äußern, diese»Wirkung« begünstigen mußte. Trotzdem bleibt das Eine die Not:das Wirkliche in der Wahrheit des geschichtlichen Augenblickszu erfahren. Das bedeutet aber, Nietzsches metaphysische Grundnichtals Lehrmeinung zu kennen, sondern das Wirkwiees sich aus dieser Grundstellung und für sie eröffnet, zusehen, um es zu bedenken. Je mehr die von Nietzsche selbst mitgebrachtenund zu seiner Zeit unvermeidlichen Übermalungenseines Wesentlichen verschwinden, um so klarer wird der eigentlicheGesichtskreis der Grundstellung Nietzsches.Ernst einzige geschichtliche Bedeutung erfüllt sichdarin, dieses Wirkliche frei von den Nachbildern der Romantik,aber auch herausgehoben aus der zu flachen und niedrigen Ebenedes Positivismus sichtbar zu machen. Dieses Zeigen schreibt dasWirkliche nicht ab für eine unverbindliche Vorführung, sonderndie Beschreibung schreibt uns selbst ein in die Zugehörigkeit zudiesem Wirklichen. Nietzsche mußte, um den Willen zur Machtals die Wirklichkeit des Wirklichen zu ersehen, und so das Wirklichein diesem Gesichtskreis ins Offene zu bringen, ein Fragendersein.Jünger, der sich sogleich in diesem offenen Bezirk bewegt,kann ein Beschreiber bleiben, der sich der Antwort jenes Fragersunterstellt. Was aber nur durch ein Erfragen gegründet werdenkonnte, läßt sich auch allein durch ein Fragen überwinden, wenndafür die Notwendigkeit sich erhebt. Ja, um auch nur über dasbeschriebene Wirkliche »hinaus« die WIrklichkeit zu erfahren,müssen wir fragen, fragen können und fragen wollen. Allein dasZeitalter der »dezidierten« Gedanken-Iosigkeit muß zufolge derBegriffsangst, von der es gejagt ist, jedes Fragen jener Art als eine
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