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Heft #14 Angst - Schauspiel Hannover

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Die <strong>Angst</strong> hat Zukunft.Gerhard Uhlenbruck


Das Wirtshaus im Spessart von Wilhelm Hauff. Szene mit Daniel Nerlich, Sandro Tajouri.


Das Wirtshaus im Spessart von Wilhelm Hauff. Szene mit Rainer Süßmilch, Katja Gaudard, Christoph Müller.Foto: Katrin Ribbe


BÜHne Der anGstALJOSCHA BEGRICH IM GESPRÄCH MIT SEBASTIAN WEBER UND MICHAEL BOHNEAuftrittsängste, Rollen und PerlenkettenDie <strong>Angst</strong> vorm Auftritt kennt jeder. Aber die <strong>Angst</strong>starre? Den Sprachausfall? Dasvöllige Blackout? Bei der Premiere von Richard III. in Berlin ging vor einigen Jahrender Hauptdarsteller an die Rampe, blieb dort stehen und schwieg. Machte nichts, sagtenichts, wußte nichts. Die Zuschauer wurden unruhig, buhten, pfiffen. Nach einigenMinuten fiel der Vorhang herunter, die Premiere war aus. Ein schlimmer Moment. Nurnicht daran erinnern. Dieser <strong>Schauspiel</strong>er konnte es nicht mehr vergessen, er spieltenie wieder. Denn schlimmer als der Moment des Versagens, ist die <strong>Angst</strong> davor, dasser immer wieder kommt. – <strong>Angst</strong> vor Fehlern, und <strong>Angst</strong> vor der ausbleibenden Bestätigungsind bei fast jedem Bühnenauftritt präsent und dennoch ist es ein Tabu, diesezu thematisieren. Dabei sind <strong>Schauspiel</strong>er und ihre Situation nur ein Brennspiegel einerWelt, in der es immer mehr um den gelungenen Moment, den guten Auftritt unddie Anerkennung durch Wichtige geht. Die anderen und ihr Urteil machen unserSelbstwertgefühl aus, aber diese Fremdbestimmung lähmt und versklavt uns. Wiekönnen wir uns endlich wieder selbst genug sein? Aber wer sind wir überhaupt?+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Der <strong>Schauspiel</strong>er Dominik Maringer vor seinem Auftrittin Staatsfeind Kohlhaas in der Maske bei Sarah Nerlich.Sebastian, Du warst <strong>Schauspiel</strong>er, nun bist Du Coach. Wie ist es dazu gekommen?Arbeitest Du heute mehr mit <strong>Angst</strong> als zuvor? __ SEBASTIAN WEBER Als<strong>Schauspiel</strong>er hatte ich an meine Figuren immer zwei grundlegende Fragen: Wo sitztdie <strong>Angst</strong>? und Wo sitzt die Liebe? Das gehört zum grundlegenden <strong>Schauspiel</strong>handwerk.Irgendwann fragte ich mich: Wieso stell ich mir diese Fragen eigentlich nichtmal selbst? Das hat dann bei mir eine Lawine losgetreten – bis hin zu einer beruflichenKorrektur.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Aber das ist ein sehr ungewöhnlicher, überraschender und auch mutiger Schritt.__ SEBASTIAN WEBER Ich weiß gar nicht ob es wirklich so mutig ist. Natürlich hatteich <strong>Angst</strong>, das Theater und die Anstellung aufzugeben. Aber es war eine Entscheidung,die über einen langen Zeitraum in mir gereift ist. Von einem bestimmten Momentan konnte ich aber die <strong>Schauspiel</strong>erei – zumindest auf Vollzeitbasis – nichtmehr weiter ausüben. Ich war einfach im falschen Leben, wie man so sagt. Schonwährend meiner Ausbildung bekam ich Zweifel an dem Beruf. Aber ich wurde sehrfrüh, als 19-Jähriger, auf die Ernst-Busch-<strong>Schauspiel</strong>schule in Berlin aufgenommen.Ich wußte, was das für eine Auszeichnung ist und wie viele andere auf so eine Gelegenheitwarten. Und ich war sehr neugierig nach der Frage: Wie funktioniert Menschsein?Etwas, womit man sich in der <strong>Schauspiel</strong>erei viel beschäftigt. Also machte ichzunächst das Studium fertig und ging dann an die Kammerspiele nach München. IchFoto: Arzu Sandalwollte den Beruf wirklich kennen, bevor ich ihn aufgebe und habe mir eine Frist vonfünf Jahren gesetzt. Aber nach fünf Jahren waren meine Zweifel nicht weniger, sondernmehr und ich war zunehmend unglücklich. Ich hatte zwar das Gefühl, diesenBeruf zu können, aber was war mit meinem Wollen? Ich glaube, das Wissen, dass soviele Andere mich um diesen Job beneideten, zwang mich dazu, ihn für mich auszureizen.Aber beides muss zusammenkommen: Können und Wollen. Nur dann entstehenstabile, gute, gesunde Leistungen. Also habe ich mich entschieden, mit demTheaterspielen aufzuhören. Letztendlich bin ich aber nur den eingeschlagenen Wegweitergegangen und habe woanders nach Antworten auf meine Frage nach demMenschsein gesucht. Diverse Weiterbildungen waren da sehr hilfreich: Coachingausbildung,Design-Thinking-Lehrgang, Reiss-Profil-Master-Ausbildung und bei Dr.Michael Bohne eine Ausbildung in Prozess- und Embodiment fokussierter Psychologie,kurz PEP genannt. Das ist beispielsweise eine wunderbare Hilfe, um mit <strong>Angst</strong>,meiner eigenen und der <strong>Angst</strong> von Klienten umzugehen. Und deshalb sitzt Dr. MichaelBohne, der wirklich ein Spezialist im Umgang mit <strong>Angst</strong> ist, auch neben mir.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Michael, Du hilfst vor allem Musikern bei der Beseitigung ihrer Ängste. Aberwas genau heißt das? __ MICHAEL BOHNE Zunächst einmal möchte ich sagen, dass<strong>Angst</strong>haben ja nicht nur etwas Schlechtes ist, sondern es auch eine wohlbegründeteund gesunde <strong>Angst</strong> gibt. Immer wenn ein Mensch in Gefahr ist, sollte er <strong>Angst</strong> haben.Wenn er in solchen Situationen keine <strong>Angst</strong> hat, hat er ein Problem. Daher sprecheich auch von <strong>Angst</strong>kompetenz oder <strong>Angst</strong>fähigkeit. Es gibt auch Leute, die können garkeine <strong>Angst</strong> mehr empfinden. Aber seit 15 Jahren habe ich mich auf das Thema Auftrittsstressspezialisiert. Und das meint nicht Lampenfieber, sondern eine <strong>Angst</strong>, ausder heraus Leute schlechter sind, als sie sein können. Es ist ein Riesentabuthema,denn als Profimusiker oder –schauspieler sollte man ja nach der Ausbildung alleskönnen, nur das Thema kommt in der Ausbildung gar nicht vor. Und dann kann mannicht drüber reden.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Werden die Musiker oder <strong>Schauspiel</strong>er besser, nachdem sie bei Dir waren? __MICHAEL BOHNE Nein, aber sie werden so gut, wie sie eigentlich sind. Ziel einesAuftrittscoachings ist es, sich bei öffentlichen Auftritten oder Vorspielen wohler zufühlen und so seine persönliche Bestleistung störungsresistent präsentieren zu können.Ich helfe, Ängste abzubauen, um letztendlich die Bühne nicht als Gefahrenort zuerleben, sondern als Möglichkeitsort. Es gibt verschiedene Methoden: wir versuchenerstmal nicht, im klassisch traditionellen, analytischen Sinn nach den Ursachen zuforschen, was sehr langwierig und aufwendig ist, sondern die beschriebene Situationzu nehmen und zu gucken, was tut dir gut auf der Bühne, was tut dir nicht gut undwie kann man da etwas ändern. Es gibt da ganz klar beschriebene Symptome, diesich bei der Mehrheit der Klienten finden lässt. Viele Leute fühlen sich jünger als siesind, haben also eine sogenannte Altersregression. Die meisten wollen darüberhinaus gut sein oder gut gefunden werden. Beides sind hochtoxische Strategien, dieden Auftretenden massiv unter Leistungsdruck setzen und dazu führen, dass er meistweit unter seinen Möglichkeiten bleibt. Viele haben eine zu geringe Fehlerfreundlichkeit.Je höher mein Streben nach Perfektion ist, desto größer muss meine Fehlerfreundlichkeitsein. Dass heißt nicht, dass ich andauernd Fehler machen möchte, aberich darf Fehlern gegenüber nicht ängstlich sein. So gibt es noch eine Reihe andererKlassiker, die man häufig findet und die den Auftretenden meist nicht bewusst sind.Problemanalyse ist neben der Stärkenanalyse ein wesentlicher Punkt.Es geht aber auch ganz konkret um das Erlernen bestimmter Techniken, damit mansich in Stresssituationen vor Auftritten selbst beruhigen kann. Gefühle bestehen zueinem großen Teil aus Körperwahrnehmungen. Deshalb erscheint es logisch, denKörper bei der Veränderung mit einzubeziehen. In der PEP werden dysfunktionale


08.09Auf dem Weg zum Auftritt.Emotionen durch eine Verstörung mittels Stimulationen verändert. Das können nebendem Klopfen auch Augenrollbewegungen, Summen oder Zählen sein. Die sogenannteKlopfmethode, die überaus erfolgreich und für den Selbstanwender ganz einfach ist,besteht verknappt gesagt darin, auf verschiedene Akupunkturpunkte am Körper zuklopfen, um eine Verstörung der Emotionsverarbeitung zu erreichen.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Es ist die <strong>Angst</strong>, die uns blockiert? __ MICHAEL BOHNE Ja, es ist kein Zufall, dassin Castings, Probespielen oder Aufnahmeprüfungen oft die erfolgreich waren, diemeinten, sie hätten sowieso keine Chance oder die, die eigentlich gar nicht genommenwerden wollten. Denn dann bin ich entspannt und kann souverän agieren, währendwenn mir der Wert meines Auftritts und die Auswirkungen ständig bewusstsind, bin ich gelähmt. Ich kannte einen Musiker, der wollte schon als Kind an einbestimmtes Haus, und als er nach seiner Ausbildung dort ein Vorspielen hatte, war ervöllig blockiert. Er konnte nicht spielen, denn für ihn ging es in diesem Moment nichtum Mozart, sondern um sein Leben. Nach einem Casting, vor allem einem schlechten,sollte man im Grunde den Musiker oder <strong>Schauspiel</strong>er immer fragen, wie er sich gefühlthat; und wenn er sich schlecht gefühlt hat, kann man das Casting oder Probespielgar nicht werten. Es war ungültig, weil die Fähigkeiten gar nicht sichtbarwaren. Die Betreffenden können ihre persönliche Bestleistung in solchen Situationenhäufig nicht wirklich abrufen. Viele Musiker oder <strong>Schauspiel</strong>er können in solchenSituationen, in denen sie in kurzer Zeit ihr ganzes Können zeigen sollen und eineextrem hohe Erwartungsspannung vorhanden ist, ihr Wissen und Können nur eingeschränktpräsentieren. Dies bedeutet, dass sie schlechter ›rüberkommen‹ als sie inWirklichkeit sind. Und dies sind fatalerweise sogar oft die Besten, weil gerade sie sichmeist auch am intensivsten selbst unter Druck setzten. __ SEBASTIAN WEBER Aberin der <strong>Schauspiel</strong>ausbildung spielte die Frage nach dem Umgang mit der <strong>Angst</strong> keineRolle. Es ging immer nur um die handwerklichen Fragen, die Figur und die Wiederholbarkeit.Wenn der Intendant der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier, inInterviews sagt, für ihn sei <strong>Schauspiel</strong>erei ein <strong>Angst</strong>beruf, dann weiß ich genau, waser meint. Ich führe gerade eine Studie durch mit sehr erfolgreichen <strong>Schauspiel</strong>ern ausFilm und Theater, den sogenannten Leistungsträgern. Dafür nutze ich das sogenannteReiss-Profil – ein sehr präzises Analyse-Instrument, welches auch im Leistungssport,z.B. in der Fußball-Bundesliga, eingesetzt wird. Das Profil wurde von dem amerikanischenWissenschaftler Steven Reiss entwickelt, der die menschliche MotivationFoto: Arzu Sandalerforscht. Es geht da um grundsätzliche Fragen wie: Was will ich? Was treibt michan? Unter welchen Umständen blühe ich auf? In den Auswertungen mit meinen<strong>Schauspiel</strong>kollegen merke ich – und das klingt vielleicht erstmal banal – deren Riesenantriebist Anerkennung. Das heißt, dass sie ihr positives Selbstbild sehr starküber die Bestätigung durch Andere aufbauen; vielmehr, als die übrigen Menschen –und das ist der Samen für <strong>Angst</strong>. Denn sobald sie nicht mehr die gewohnt hohe Leistungbringen und die Anerkennung ausbleibt, ist das Selbstbild in Gefahr.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Aber ist das nicht etwas anderes als Auftrittsangst? __ MICHAEL BOHNE Dassteckt darin. Ein Aspekt von Auftrittsangst ist die Erwartungshaltung des Auftretenden:Ich will geliebt werden.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Also ist es eine <strong>Angst</strong> vor dem ersten Schritt, also vor dem Anfang oder eine vordem letzten, dem Ergebnis? __ MICHAEL BOHNE Es ist mehrschichtig. Zum einenist da die <strong>Angst</strong>, dass das Bild, was wir von uns haben, dass ich ein guter <strong>Schauspiel</strong>erbin, zerstört wird, dass ich nicht das leiste, was mein Idealbild von mir vorgibt.Bedrohlich wäre eben die Erkenntnis, bzw. der Eindruck, dass ich gar nicht so gut bin,wie ich dachte. Zweitens: Ich will geliebt werden. Und das läuft dann auch über dieAnerkennung der Anderen. Und dadurch bin ich denen ganz ausgesetzt. Das Gemochtwerdenwollenist für mich eine zentrale Schnittstelle beim Thema Auftrittsängste.Man würde doch sagen, ein gelungener Auftritt ist, wenn die Leute unten dasoben Gebotene gut finden oder dass der oben von unten für gut befunden wird. Abergenau das darf ich oben eigentlich nicht wollen, denn wenn ich allein im Hinblickdarauf auftrete, hoffentlich findet ihr mich gut, dann habe ich mich dem Publikumversklavt. Ich muss, wenn ich oben stehe, denken, wir haben uns für diese Varianteentschieden, wir haben das so geprobt, so mache ich das jetzt und ich stehe auchdazu. Und wenn die Leute das Scheiße finden, ist das vollkommen okay. Nur dannkann es eine Kraft entwickeln. Jeder, der zu mir ins Auftrittscoaching kommt, hatdieses Thema, Gutgefundenwerdenwollen: Ich will, dass die Anderen mich gut finden.Und dann arbeiten wir daran, dass das sich selbst gut finden aktiviert wird.Denn wenn ich für mein Selbstwertgefühl immer die Bestätigung von außen brauche,bin ich versklavt. Und diese Abhängigkeit von der Meinung der Anderen ist eineQuelle von <strong>Angst</strong>.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Aber diese Frage des zweifelnden Selbstvertrauens hat ja im Grunde jeder. __SEBASTIAN WEBER Nicht unbedingt. Bei Menschen, die durch Anerkennung überdurchschnittlichmotiviert werden, wie z.B. viele <strong>Schauspiel</strong>er, hat auch der Zweifeleine andere Qualität. Das kann bis in existenzielle Dimensionen gehen und einenMenschen im Mark erschüttern. Geschichten von Drogenmissbrauch und Suizid kennenwir ja aus den Medien. Andererseits: Bekommt ein Mensch mit solch einer Persönlichkeitsstrukturdie Anerkennung, nach der er sich sehnt, lädt dies enorm auf –bis hin zur Euphorisierung. D.h., so jemand profitiert von der positiven Wirkung derAnerkennung viel mehr als andere Menschen. Und ich spreche hier nicht nur von<strong>Schauspiel</strong>ern. Ich hatte schon mal einen Arzt in der Beratung oder auch einen Projektmanager,bei denen war das genau so. Dennoch finden sich in der <strong>Schauspiel</strong>ereiüberdurchschnittlich häufig Menschen mit dieser speziellen Antriebsstruktur. Geradehervorragende <strong>Schauspiel</strong>er sind oft Leute, die durch Anerkennung eine enorm positiveAufladung ihres Selbstbildes erfahren. Das ist natürlich unschätzbar hilfreich ineinem Beruf, wo es darum geht, eine erarbeitete Leistung immer wieder hochmotiviertzu wiederholen.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Gerade diese Wiederholbarkeit ist ja etwas absolut Theaterspezifisches. Also nurim Theater kann ich mir ja jeden Abend diese Aufladung durch die Anerkennung


10.11Dominik Maringer in der Garderobe. Arzu Sandal porträtierte den <strong>Schauspiel</strong>er für eine Fotoserie im Jahr 2012.SEBASTIAN WEBER, geboren 1976 in Leipzig, ist <strong>Schauspiel</strong>er, Coach undVortragsredner. Nach seinem Diplom an der Berliner Hochschule für<strong>Schauspiel</strong>kunst »Ernst Busch« war er fünf Jahre festes Ensemblemitgliedder Münchner Kammerspiele. Es folgten Gastengagements am<strong>Schauspiel</strong>haus Hamburg, Theater Zürich und am <strong>Schauspiel</strong> <strong>Hannover</strong>,wo er 2009 in »Die Träumer« zu sehen war. Darüber hinaus spielte er inzahlreichen TV- und Kinofilmen. Von 2008 bis 2013 hat er sich zum Coachund psychologischen Berater weitergebildet und das »Büro für Selbsterkenntnis«gegründet. Hier verhilft er Menschen zu Antworten auf dieFrage: Wer bin ich und was wiLL ich wirklich? Ausserdem hält er Vorträgezu dem Thema. Sein Motto formulierte Walter Benjamin: gLück ist, seinerselbst, ohne zu erschrecken, inne zu werden. www.sebastianweber.tvMICHAEL BOHNE, geboren 1963 in Langenhagen bei <strong>Hannover</strong>, ist Arzt undDeutschlands bekanntester Auftritts-Coach für Opernsänger undklassische Musiker. Im Rahmen dieser Tätigkeit trainiert und coacht erverschiedene Profiorchester für den Bereich High Peak Performanceund effizientes Stressmanagement bei musikalischen Spitzenleistungen.Gastdozenturen und Lehraufträge führten ihn an verschiedene Musikhochschulenund Orchesterakademien. Ferner trainiert er als Auftritts-Coachdie Fernseh- und Radiomoderatoren von ard und zdf. Er isteiner der bedeutendsten Vertreter der sogenannten kLopftechniken inDeutschland und hat diese entmystifiziert und weiterentwickelt, zu demist er Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher über Auftrittsoptimierung,kLopfen und pep. www.dr-michael-bohne.de


FÜnf ÄNGste in KafKas VerWanDLunGVON LUCIE ORTMANNKafka und <strong>Angst</strong> – beinahe könnte man soweit gehen zu behaupten, die zwei seienSynonyme. Mit dem Adjektiv »kafkaesk« beschreiben wir – oft ohne ein konkretesBeispiel aus dem Kafkakosmos im Sinn – diffuse Erfahrungen der <strong>Angst</strong>, der Unsicherheitund des Ausgeliefertseins an anonyme, bürokratische Mächte, Erfahrungen derSchuld und inneren Verzweiflung, absurde Situationen der Ausweg- und Sinnlosigkeit.Sucht man nach Zuständen der <strong>Angst</strong>, beispielsweise in Die Verwandlung, tauchenzahlreiche, oft ganz konkrete Beispiele auf: Unruhe, Hilflosigkeit, Melancholie,Schmerz, Kälteschauer, Erschrecken, Vorsicht, höchste, schmerzliche Aufregung, Not,Erregung, Ärger, Wagnis, Gefahr, Sorge, Furcht, Bedrohung, Bedenken, Zögern, Scham...Elke Heidenreich hat über Kafka pointiert festgehalten: »Da hat einer immer nur<strong>Angst</strong>. <strong>Angst</strong> vorm Vater, vor den Frauen, vor Mäusen, vorm Büro, ein Mann über einenMeter achtzig groß, unter sechzig Kilo meist, was für ein armes banges kleines Hühnchenund dann so eine riesige Fluchtfantasie im Kopf! Da will er ein Käfer sein! Ungezieferwie Gregor Samsa, Ungeziefer wie sein jüdischer Freund Jizchak Löwy, densein Vater so bezeichnet hat: als Ungeziefer. Ein Käfer müsste man sein, einfach imBett bleiben, allenfalls ab und zu die Wände hoch krabbeln, und nur ja kein Sex, lieberdie Dame mit dem Pelz auf dem Bild betrachten und ein wenig träumen…« [DasBuch als Magazin: Die Verwandlung, München: 2013, S. 57] ------------------------Bezeichnenderweise beginnen beide Stoffe von Kafka, die auf dem Spielplan des<strong>Schauspiel</strong> <strong>Hannover</strong> stehen, mit einer ähnlichen Situation: Die Protagonisten erwachenund irgendetwas ist wesentlich anders als sonst. In das vertraute, routinierteLeben platzt plötzlich eine sonderbare Begebenheit hinein – eigentlich schon einGrund zur Panik, tun die Helden dies allerdings zunächst als möglichen Scherz oderals Illusion ab. Josef K. ruft in Der Prozess eines Morgens das Dienstmädchen nachdem Frühstück, dass er nicht wie üblich vorfindet, und wird anschließend von zweigrotesken Handlangern »verhaftet«. Der Handelsreisende Gregor Samsa verschläft inDie Verwandlung eines Morgens zum ersten Mal in seinem Leben und findet sich imBett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. In beiden Fällen beginnt die Geschichteauf der Schwelle zwischen Nacht und Tag, Schlaf und Wachsein. Samsabeschreibt: »Er erinnerte sich, schon öfters im Bett irgendeinen vielleicht durch ungeschicktesLiegen erzeugten, leichten Schmerz empfunden zu haben, der sich dannbeim Aufstehen als reine Einbildung herausstellte, und er war gespannt, wie sichseine heutigen Vorstellungen allmählich auflösen würden. Dass die Veränderung derStimme nichts anderes war, als der Vorbote einer tüchtigen Verkühlung, einer Berufskrankheitder Reisenden, daran zweifelte er nicht im geringsten.« Doch die Vorstellungenlösen sich eben nicht allmählich auf, sondern die Bedrängnis von Josef K. undGregor Samsa steigert sich kontinuierlich – bis die Ereignisse in beiden Fällen obendreinmit dem Tod enden. -----------------------------------------------------------Im Folgenden greife ich fünf Ängste auf, die in der Erzählung Die Verwandlung einetragende Rolle spielen: --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------1. Die <strong>Angst</strong>, seine Arbeit zu verlierenAls Gregor Samsa aufwacht und feststellt, dass sich sein Körper anders anfühlt alssonst, gilt seine erste Sorge nicht sich selbst und dieser sonderbaren Veränderung,sondern der Tatsache, dass er verschlafen und den Zug verpasst hat und dass erdringend zur Arbeit muss. Er ahnt bereits, dass sein Fehlen sofort bemerkt und geahndetwerden würde – die Firma würde einen Angestellten, vielleicht sogar den Krankenkassenarztzur Kontrolle vorbei schicken. »Man kann im Augenblick unfähig seinzu arbeiten, aber dann ist gerade der richtige Zeitpunkt, sich an die früherenLeistungen zu erinnern und zu bedenken, dass man später, nach Beseitigung desHindernisses, gewiss desto fleißiger und gesammelter arbeiten wird. Ich bin ja demHerrn Chef so sehr verpflichtet, das wissen Sie doch recht gut. Andererseits habe ichdie Sorge um meine Eltern und die Schwester. Ich bin in der Klemme, ich werde michaber auch wieder herausarbeiten«... Er hätte sich ja längst krankmelden sollen, aber:»Man denkt eben immer, dass man die Krankheit ohne Zuhausebleiben überstehenwird.« So versucht Gregor den Prokuristen, der höchstpersönlich zu den Samsas gekommenist, um sich nach seinem Verbleib zu erkundigen, von sich und seiner Arbeitswilligkeitzu überzeugen. Gregor hatte, so berichtet die Mutter, nichts im Kopf alsdie Arbeit, abends saß er immer noch lange da und studierte die Fahrpläne. Er warnoch nie zu spät gekommen und hatte noch nie gefehlt, nicht einen Tag krankgefeiert.Nun hat er den Zug verpasst und liegt noch immer im Bett, unfähig aufzustehen.Vater, Mutter und Schwester sind in heller Aufregung, denn die Familie lebt von GregorsEinkommen. Und Gregor wartet auf den Moment, an dem die Familie ihn endlichzu Gesicht bekommt: »Würden sie erschrecken, dann hatte Gregor keine Verantwortungmehr und konnte ruhig sein. Würden sie aber alles ruhig hinnehmen, dannhatte auch er keinen Grund sich aufzuregen, und konnte, wenn er sich beeilte, umacht Uhr tatsächlich auf dem Bahnhof sein.« -----------------------------------------Aus heutiger Perspektive könnte man Gregors Verwandlung durchaus als Fall des sogenannten Burnout-Syndroms lesen: als einen Zustand körperlicher, emotionaler undgeistiger Erschöpfung aufgrund beruflicher Überlastung, der ihn schließlich komplettlähmt. Die Stress-Expertin Carola Kleinschmidt bemerkt in diesem Zusammenhang:»Das Frontalhirn – das ist die Hirnregion, die für klares Denken zuständig ist – ist vorallem im entspannten Zustand aktiv. Wenn der Körper aber zu viele Stresshormoneausschüttet, die nicht abgebaut werden, dann wird vor allem das <strong>Angst</strong>zentrum imHirn angeregt.« [DIE ZEIT, 26.9.13] --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------2. Die <strong>Angst</strong> vor dem Ausschluss aus dem menschlichen KreisNeben der existentiellen Not seinen Arbeitsplatz um jeden Preis zu erhalten, wird einGrund für Fälle des Burnout-Syndroms in einer zunehmenden Vereinsamung ausgemacht:Der Zerfall von Familien und Gemeinschaften, fehlende Bindungen außerhalbder Erwerbsarbeit gäben dem Job für viele Menschen eine überragende Bedeutung,ja die einzige Quelle für Lebenssinn [vgl. Süddeutsche Zeitung zur Zukunft derArbeit, 20.12.11]. Das tschechische Wort Samsa bedeutet übrigens so viel wie derEinsame: »Ich bin allein«. Gregor beklagt den für ihn als Handelsreisenden üblicherweisenie andauernden, nie herzlich werdenden menschlichen Umgang. Neben derFamilie scheint es ohnehin keine engeren Vertrauten in seinem Leben zu geben unddas Verhältnis der Familie zu Gregor ist, trotz der enormen Leistung, die er für derenLebensunterhalt bisher aufgebracht hat, nicht von einer besonderen Wärme undNähe geprägt. Die Familie hatte sich schnell daran gewöhnt, dass Gregor viel arbeiteteund dass er das Geld nach Hause brachte. In seiner neuen Situation spürt Gregorden Wunsch nach Unterstützung und hofft auf den Moment, in dem die Familie seineVerwandlung – seine Notlage und Hilfsbedürftigkeit – bemerken würde. Ihn freut esbereits, dass die Eltern nach einem Schlosser, der die Tür zu seinem Zimmer aufbrechen,und nach einem Arzt, der ihn gegebenenfalls untersuchen soll, schicken: »DieZuversicht und Sicherheit, mit welchen die ersten Anordnungen getroffen wordenwaren, taten ihm wohl. Er fühlte sich wieder einbezogen in den menschlichen Kreisund erhoffte von beiden, vom Arzt und vom Schlosser, ohne sie eigentlich genau zuscheiden, großartige und überraschende Leistungen.« -------------------------------Später versucht Gregor durch größte Rücksichtnahme sein neues, nutzloses Daseinder Familie so erträglich wie möglich zu machen. Nun, da alle anderen gemeinsam fürden Lebensunterhalt aufkommen mussten, beschämte ihn das sehr: »Wer hatte indieser abgearbeiteten und übermüdeten Familie Zeit, sich um Gregor mehr zu kümmern,als unbedingt nötig war?«... »Was die Welt von armen Leuten verlangt, erfülltensie bis zum äußersten.« Zwei Monate nach seiner Verwandlung, hält Gregor fest, dassder Mangel jeder unmittelbaren menschlichen Ansprache, verbunden mit dem einförmigenLeben inmitten der Familie, seinen Verstand hatte verwirren müssen. Denn


12.13Die Verwandlung von Franz Kafka.Szene mit Sebastian Schindegger.die Familie geht ganz automatisch davon aus, dass Gregor durch seinen Sprachverlustauch sie nicht mehr verstehen kann: »Wenn er uns verstünde, dann wäre vielleichtein Übereinkommen mit ihm möglich. Aber so – .« -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------3. Die <strong>Angst</strong> vor dem VaterKafka plante Die Verwandlung gemeinsam mit anderen Texten unter dem ÜbertitelDie Söhne zu publizieren. Das eigene konfliktreiche Verhältnis zum Vater hat er wenigeJahre nach Die Verwandlung in seinem Brief an den Vater, einem Text, den erallerdings nie abschickte, festgehalten. Seine Protagonisten, so auch Josef K. aus DerProzess und Gregor Samsa aus Die Verwandlung, sind in der Regel Junggesellen –junge Männer, die zwar ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, sich aber (noch)nicht aus dem familiären Kontext gelöst haben beziehungsweise keine eigenen Familiengegründet haben. Auch Josef K. konzentriert sein Leben komplett auf seine Arbeitin der Bank und scheitert an der Verwirklichung seines »Lebensglücks«. In ähnlicherWeise rechtfertigt sich Gregor: »Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte,ich hätte längst gekündigt, ich wäre vor den Chef hin getreten und hätte ihmmeine Meinung von Grund des Herzens aus gesagt.« Es ist eine umso härtere Einsicht,dass der Vater ihn nicht über die tatsächlichen Vermögensverhältnisse aufklärt undFoto: Karl-Bernd Karwaszseinen Sohn somit in gewisser Weise ausbeutet und betrügt. Der Vater ist es auch, derseinen verwandelten Sohn mehrfach brutal verletzt: »Gregor wusste noch vom erstenTage seines neuen Lebens her, dass der Vater ihm gegenüber nur die größte Strengefür angebracht ansah«. Es sind sehr patriarchalische Familienverhältnisse, die Kafkahier schildert. In Die Verwandlung ist das Verhältnis des Sohnes zum Vater darüberhinaus durch Konkurrenz geprägt – Gregor hatte quasi die Aufgaben des Familienoberhauptsund des Ernährers, des Versorgers der Familie übernommen. Durch seineVerwandlung muss der Vater diese Rolle wieder übernehmen und blüht dadurch indieser auch regelrecht (wieder) auf. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------4. Die <strong>Angst</strong> vor der eigenen PotenzIn Die Verwandlung berichtet Gregor vom Wunsch der Schwester, am KonservatoriumViolinspiel zu studieren, an dessen Verwirklichung aber nicht zu denken war, dieEltern hörten nicht einmal die unschuldigen Erwähnungen gerne. Kafka kam nebenseiner schriftstellerischen Tätigkeit selbst einem Brotverdienst nach – er arbeitete alshoher Beamter einer Versicherungsgesellschaft – und sein Vater, so berichtet er,schätzte seine literarische Arbeit überhaupt nicht. Dies mag bürgerliche, pragmatischeGründe gehabt haben, also Unverständnis einer wie auch immer geartetenkünstlerischen Laufbahn gegenüber, und/oder auch tatsächlich einem beschränktenfinanziellen Hintergrund geschuldet gewesen sein, der es einem nicht zu erlaubenschien, Risiken bei der Berufswahl einzugehen. Vladimir Nabokov beschreibt Gregorin seiner Vorlesung zu Kafkas Die Verwandlung als Künstler, als ein Genie in einerspießigen Umgebung. Gregor versucht demnach zugunsten eines künstlerischen Lebensund seiner Selbstverwirklichung die Enge der Verhältnisse zu verlassen –schlägt einen Weg der Erkenntnis aus der Selbst-Entfremdung und reinen Funktionalitätan: in dem Sinne kann auch der Apfel als Symbol einer verbotenen Erkenntnisgelesen werden, den der Vater schließlich auf seinen Sohn wirft, der ihn dann auchverletzt: ein Stück Apfel bleibt im Ungeziefer-Rücken stecken und verfault dort. ------Bezeichnenderweise kommt Gregor auch nur in seltenen Momenten auf die Idee,seinen verwandelten Körper positiv zu sehen und dessen Potentiale zu erproben.Einmal beschreibt er, wie gerne er an der Decke hängt und an den Wänden entlangkriecht. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------5. Die <strong>Angst</strong> vor InsektenKafkas Die Verwandlung spielt auf ein phantastisches Motiv der Literatur an: DieVerwandlung in ein Tier. Heute kennen wir dieses Motiv hauptsächlich aus dem HorroroderScience-Fiction-Genre, aber auch in Märchen und Sagen tauchen Tierverwandlungenauf. In beiden Fällen gibt es meist einen Grund: Götter, Hexen, überirdischeWesen verwandeln jemanden zum Beispiel als Strafe oder aus reiner Lust heraus. ImBereich des Horror spielen Tiere ohnehin eine große Rolle: sie evozieren die <strong>Angst</strong> vordem Fremden, dem Gefährlichen – vertraute oder domestizierte Tiere wie etwa dieVögel bei Hitchcock oder ein Haustier wie der Hund werden plötzlich bedrohlich,monströs. Insekten kommt hierbei noch mal größere Bedeutung zu: sie lösen durch ihrAussehen und bestimmte Fähigkeiten besonders stark Faszination und Ekel aus –man denke an Buñuels und Dalís berühmte Ameisen. Im Science-Fiction-Horror-Genrekommen den Protagonisten nach missglückten Experimenten die besonderen körperlichenFähigkeiten beispielsweise von Spinnen oder Fliegen zu. Aber in seiner Abscheugegenüber dem ausbeuterischen Angestelltendasein und seinem Widerstandgegen die »normalen«, bürgerlichen Familienverhältnisse, die in seiner drastischenInaktivität und Trägheit kulminieren, ist Gregor Samsa letztlich wahrscheinlichFiguren wie Melvilles Bartleby oder auch Gontscharows Oblomow doch näher, alsden von Göttern in Tiere verwandelten Figuren von Ovid und auch näher als denverwandelten Wissenschaftlern aus Spider-Man oder Die Fliege. --------------------


ANGst VOR DEM LebenDIE ERZÄHLUNG »ANGST« ALS VORLÄUFER DER »DREI SCHWESTERN« VON ANTON TSCHECHOWVON JOHANNES KIRSTENUNSER LEBen UND DAS Jenseits SIND IN GLEICheM MAsseunBegreifliCH UND ERREGEN <strong>Angst</strong>.Ob Tschechow ein ängstlicher Mensch gewesen ist, wurde nicht überliefert.Zu vermuten ist, dass er, der aus einfachen Verhältnissen kamund Zeit seines Lebens den Kontakt zu den einfachen Menschen, zuden Bordellen, Bars und zweifelhaften Vierteln der Städte aufrechterhielt, eher furchtlos und von Neugier getrieben durchs Leben ging,immer auf der Suche nach Stoffen und Sujets für neue Erzählungen.Vielleicht ließ auch die Allgegenwärtigkeit des Todes mit der er als Arztund als Tuberkulosekranker konfrontiert war, ihn für die <strong>Angst</strong> unempfänglichwerden. Dem Leben schmetterte er entgegen: »Und wir? Wir?Wir beschreiben das Leben, wie es ist, und weiter - nicht hü, nicht hott.Weiter prügeln sie uns auch mit der Peitsche nicht. Wir haben keinenahen Ziele und keine fernen, und in unserer Seele ist es hohl. Wirhaben keine Politik, an eine Revolution glauben wir nicht, und ich persönlichhabe nicht einmal <strong>Angst</strong> vor dem Tod oder dem Erblinden.«----In einer kleinen Erzählung von 1892 unter dem Titel <strong>Angst</strong> veröffentlicht,widmete sich Tschechow direkt dem Thema. Der Erzähler ist immerwieder auf dem Gut seines Freundes Dmitrij Petrovič Silin zu Gast.Die Freundschaft und Vertrauensseligkeit Silins hat aber auch etwasBeschwerliches und Belastendes für ihn, »ich hätte ihr eine gewöhnlichegute Bekanntschaft gern vorgezogen.« Grund dafür ist auch MarijaSergeevna, die Frau Silins, die dem Erzähler außerordentlich gut gefällt.Immer wenn er mit ihr allein ist, wird er linkisch und verklemmt,was sie darauf zurückführt, dass er sich ohne seinen Freund Silin anscheinendlangweilt. Eines Tages machen Erzähler und Freund einenAusflug. An einem nächtlichen Flussufer kommt es zu einem Gesprächüber <strong>Angst</strong>. Auslöser sind die am Ufer stehenden sich im Wasser gespenstischspiegelnden Weiden. Silin stellt die Frage, warum man,wenn man etwas <strong>Angst</strong>erregendes und Geheimnisvolles erzählen willden Stoff nicht aus dem Leben nimmt, sondern aus der Welt der Geister.»<strong>Angst</strong> macht, was unbegreiflich ist.« antwortet der Erzähler. »BegreifenSie etwa das Leben? Sagen Sie: begreifen Sie das Leben etwabesser als das Jenseits?« hält Silin dagegen und weitet damit das Gesprächzu einer Lebensbeichte aus. Das Leben ist es nämlich, das Silinviel mehr ängstigt. »Wie soll ich es sagen, Visionen machen <strong>Angst</strong>,aber auch das Leben macht <strong>Angst</strong>. Ich, mein Lieber, begreife das Lebennicht und habe <strong>Angst</strong> vor ihm.« Die Gedanken, die Tschechowseine Figur Dmitrij Petrovič Silin sagen lässt, könnten auch Figuren ausTschechows Drama Drei Schwestern formulieren. Schaut man sich Erzählungenaus dem Jahrzehnt vor den Drei Schwestern an (In der Heimat,Auf dem Wagen, Die Dame mit dem Hündchen), dann hat manden Eindruck, als läse man Vorstudien zu dem berühmten Stück. DieProtagonisten einzelner Erzählungen lässt Tschechow dann in seinemStück aufeinandertreffen. Wie viel von Tschechow selbst in die Redenseiner Figuren eingeflossen ist und wie viel Selbstsuggestion in demoben zitierten Ausruf der <strong>Angst</strong>losigkeit liegt, sei dahingestellt. WennSilin sagt, »<strong>Angst</strong> macht mir hauptsächlich das Alltagsleben, vor demsich niemand von uns verstecken kann. Ich bin unfähig zu unterscheiden,was an meinen Handlungen wahr ist und was Lüge, also machensie mir Sorge; ...« ist er ein Geistesverwandter Tschebutykins, des altenArztes und Freundes der Familie aus den Drei Schwestern und in unsererInszenierung als alter ego Tschechows verstanden.- ------------Oder Andrej, der Bruder der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina.In einer Szene mit dem Diener Ferapont, die in unserer InszenierungCamill Jammal als furiose Solonummer spielt, klagt Andrej: »Ich mussmit jemandem reden, aber meine Frau versteht mich nicht, vor meinenSchwestern habe ich irgendwie <strong>Angst</strong>, ich habe <strong>Angst</strong>, dass sie michauslachen, beschämen...« Später wirft er sich Tschebutykin an denHals und klagt über Luftlosigkeit. Die Erwartungen, die die Schwesternin ihn gesetzt haben, hat er enttäuscht. Am Ende des Stückes ist er,statt Professor in Moskau, Mitglied der Landverwaltung, verheiratet mitder Provinzschönheit Natascha und Vater von zwei Kindern.----------Auch Silin in der Erzählung <strong>Angst</strong> leidet an seinem Alltag. Erneutspricht Dmitrij Petrovič den Erzähler an: »wenn sie wüssten, welche<strong>Angst</strong> mir meine gewöhnlichen Alltagsgedanken machen, die doch,wie mir scheint, nichts <strong>Angst</strong>erregendes haben sollten. Um nichts zudenken, stürze ich mich in die Arbeit, arbeite vorsätzlich bis zur Erschöpfung,nur um nachts einen festen Schlaf zu haben. Kinder, Ehefrau– für andere etwas Normales, doch mich bedrückt das alles!« Oderetwas später: »Mein Familienleben, das Ihnen so entzückend erscheint,ist mein größtes Unglück und meine größte <strong>Angst</strong>.« Derartig mit denverborgenen Wahrheiten des Lebens seines Freundes konfrontiert, trittder Erzähler auch der Frau Silins ganz anders entgegen. Es kommt zueiner Liebesnacht in der Marija Sergeevna dem Erzähler ihre bereitslänger währende Liebe gesteht und ihn bittet, sie zu sich zu nehmen.Als er im Begriff ist zu gehen, kommt Dmitrij Petrovič, der seine Mützevergessen hatte. Er begreift sehr wohl, was geschehen ist, geht aberunverrichteter Dinge. »Seine Hände zitterten, er war in Eile und wandtesich mehrmals zum Haus um; wahrscheinlich hatte er <strong>Angst</strong>.«------Wie viele Entscheidungen werden aus <strong>Angst</strong> getroffen und wie vielegerade nicht? Mascha verliebt sich in den Drei Schwestern in den geistreichenBatteriekommandeur Werschinin. Sie ist die einzige der Schwestern,die bereits verheiratet ist. »Mich hat man verheiratet, da war ichachtzehn Jahre alt, und ich hatte <strong>Angst</strong> vor meinem Mann, denn er warLehrer, während ich damals kaum die Schule hinter mir hatte.« Am Endereist die Brigade ab. Das Abenteuer mit Werschinin bleibt eine Episode.Auch der Erzähler in <strong>Angst</strong> reist am Ende zurück nach Petersburg. Erwird das Ehepaar Silin nie wieder sehen und das Liebesbekenntnis MarijaSergeevnas bleibt folgenlos. »Die <strong>Angst</strong> Dmitrij Petrovičs, die mirnicht aus dem Kopf ging, war auch auf mich übergesprungen.« ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------


WELtaussteLLunG XXI: KrieG unDZeuGnis. ferne DROHnenGerÄuscHEAUSZUG AUS EINEM GESPRÄCH ZWISCHEN CAROLIN EMCKE, ARNON GRÜNBERG UND ILIJA TROJANOW IM RAHMEN DER »WELTAUSSTELLUNGPRINZENSTRASSE«TRANSKRIPTION: KERSTIN BEHRENSKAnn MAN ÜBerhAUPT TÖten, Wenn Der ANDere kein freMDer ist,Wenn er niCht eine AMorPhe MAsse Der BEDrohung BilDet?Wir wollen uns heute darüber unterhalten, was esbedeutet, vom Krieg zu berichten, was für eineFunktion dieses Berichten hat für eine Gesellschaft,die sich im Frieden wähnt und was es mit demjenigenanstellt, der diese Aufgabe auf sich genommenhat. Zu diesem Zweck habe ich zwei Menschen eingeladen,die zu den herausragenden Kriegsberichterstatternunserer Zeit gehören: Carolin Emcke undArnon Grünberg. Carolin Emcke war lange Zeitbeim Spiegel. Arnon Grünberg schreibt für die führendeTageszeitung Hollands eine tägliche Kolumne.Beide waren in den letzten Jahren in den meistender uns bekannten Kriegsgebiete unterwegs,teilweise auch mit den jeweiligen Armeen. ArnonGrünberg u.a. zuletzt in Afghanistan auch mit derdeutschen Armee, Carolin Emcke in Gaza. Wir gehörenalle einer Generation an, die im vermeintlichenFrieden aufgewachsen ist. Könnt Ihr Eucherinnern, wann Ihr zum ersten Mal vom Krieg gehörthabt? __ EMCKE Der Krieg war bei uns zu Hauseimmer ein Thema. Für mich war das Reden über denKrieg immer der Resonanzraum, in dem alle über Moralund über Unmenschlichkeit nachdachten. Der markantesteUnterschied zwischen meinen Eltern, die ja auszwei verschiedenen Kulturen stammen, ist der, dassmeine Mutter in einem Land aufwuchs, in dem sie keinenKrieg erlebt hatte, mein Vater aber, 1933 geboren,während des Krieges aufgewachsen ist, mit dem nationalsozialistischenRegime, das sehr verstörend, versehrendund dominant gewesen war. __ GRÜNBERG MeineMutter wurde 1927 geboren, mein Vater 1912; beidesind Juden aus Berlin, die den Krieg überlebt haben. Dableiben Erfahrungen mit dem Thema Krieg nicht aus.Wenn meine Mutter zum Beispiel mit uns beiden Kindernböse war, sagte sie oft, also im KZ war ich glücklicherals bei euch. Das hat mich fasziniert, verstehst Du?+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Ich verstehe. Und kannst Du Dich erinnern, wannder Krieg für Dich zu einem Thema geworden ist,dem Du Dich dann ein Leben lang widmen wolltest?__ GRÜNBERG Das kam erst viele Jahre später. Wennich mich früher mit Krieg beschäftigte, dann mit dem,den meine Eltern erlebt hatten. Erst später, als ich 2006zum ersten Mal mit der holländischen Armee für meineerste Kriegsreportage nach Afghanistan reiste, wurdemir bewusst, dass der Krieg nie wirklich aufgehört hat.Vor kurzem war ich mit der Bundeswehr unterwegs.Ein Leutnant, ein älterer Herr, sagte zu mir, dass mangemeinhin behauptet, dass wir seit 1945 Frieden haben.Aber mein Großvater war im Krieg, mein Vater warim Krieg, ich bin im Krieg und mein Sohn ist bei derBundeswehr auch wieder im Krieg. Was bedeutet danndieser Frieden?+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Carolin, Du hast Philosophie studiert. Man würdegemeinhin sagen, dass das nicht die typische Vorbereitungfür den Job ist, den Du machst. __ EMCKEEs gibt keine Vorbereitung auf diese Arbeit. Wer daserste Mal in so eine Region fährt, bei mir war das 1999der Kosovo, ist zunächst nur überwältigt, ganz egal, womitman sich vorher beschäftigt hat. Das vorherrschendeGefühl ist, dass diese Erfahrung meine Fähigkeit, sie zubeschreiben, übersteigt.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Die Frage nach dem, was beschreibbar ist, ist jaeine philosophische Urfrage. __ EMCKE Genau. Andersals Arnon, der Soldaten begleitet hat, schreibe ichüber Zivilisten, über Menschen, die aus der Opferperspektiveden Krieg erfahren. Sehr viele von denen sindin einer Weise traumatisiert, dass sie nicht beschreibenkönnen, was ihnen eigentlich widerfahren ist. Wennaber die Opfer von Folter und Gewalt und Krieg nichtmehr in der Lage sind zu beschreiben, was ihnen widerfahrenist, dann gehen Täter und Diktatoren immerals Sieger vom Feld, und das ist etwas, was mich umtreibtund beschäftigt.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Arnon, Du richtest deinen ironischen Blick auf absurde,groteske Momente in dem Apparat, den wirArmee nennen. __ GRÜNBERG Der Kriegsplatz, das isteigentlich ein Platz der Groteske. Was da geschieht, 200Meter von dem Ort entfernt, wo Leute getötet werden(da wird noch schnell ein Kaffee getrunken, gelacht)das wirkt völlig absurd. Ich glaube, dass auch viele vonden Soldaten das wissen. Ein Gespräch, über Käse z.B.,ist sogar ein sehr typisches Gespräch, denn über diegroßen Dinge, den Krieg, den Einsatz, kann man nichtreden. __ EMCKE Was Arnon beschreibt, ist das gleichzeitigeVorhandensein von Dingen, die überhaupt nichtzusammen gehören. Das Tragische steht neben demwirklich Komischen. Das Berichten aus diesen Regionenist nicht nur eintönig, es ist nicht nur elend, schrecklichund furchtbar. Da finden auch Hochzeiten statt, es wirdauch gefeiert. Keiner von uns kann sich wochenlangnur Orte anschauen an denen Massaker stattgefundenhaben. Es ist völlig normal, dass man irgendwann abschaltenwill, z.B. eine Party machen, und das wirklichnicht aus Abgebrühtheit oder Zynismus, sondern weil indiesen Gegenden das Komische eben genauso präsentist wie das Schwere und Traurige. __ GRÜNBERG Esgibt Soldaten, die das Kämpfen wirklich lieben. Esmacht sie süchtig, und ich bin mir gar nicht sicher, obdas Zyniker sind. Die haben etwas erlebt, und dasmöchten sie nochmal erleben. Das zynisch zu nennen,ist mir zu einfach. Ich will gerne wirklich verstehen,warum jemand, der es nicht muss, wieder zurück will zudieser Erfahrung, die er Zuhause im Frieden nicht habenkann und warum er das Zuhause nicht mehr aushält.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Ist das so? Gibt es Soldaten, die sozusagen den Heimaturlaubnicht mehr aushalten? __ GRÜNBERG Esgibt diejenigen, die mir sagen, dass sie nie wieder ausder Sicherheit des Lagers heraus wollen, aber ebenauch die Soldaten, die den Einsatz als ihr größtesGlücksgefühl erlebt haben. Sie vergleichen es mit einemSexualerlebnis. Das ist nicht neu, wenn man die altenKriegsgeschichten hört oder liest. Harald Welzer undSönke Neitzel haben ein Buch geschrieben, »Soldaten«,über deutsche Soldaten im zweiten Weltkrieg, die abgehörtwurden. Auch darin liest man viel über den Vergleichvon Kämpfen und Sex und über die Verbindungvon Glück und Krieg. Für uns ist das eher unverständlich,aber wenn man sich längere Zeit mit Soldatenunter hält, dann beginnt man zu verstehen, warum sieso sprechen und warum sie so denken.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Carolin, Du hast vorhin die Sprachlosigkeit der Opfererwähnt. Die Kehrseite davon ist, dass der Staat,die Armee mit ihren verschiedenen Institutionen,kaum, dass der Krieg begonnen hat, eine »Sprachmaschinerie«,eine Maschinerie der Propaganda,der Verfälschung und der Lüge aufbaut. Insofernsind solche Texte, wie Ihr sie schreibt, immer auchin diesem Zwiespalt gefangen. Zwischen der Wahrheit,die geopfert wird auf dem Altar der Propagandaund der Stimmlosigkeit der Opfer. __ EMCKESeitdem man Kriege militärische Interventionen nennt,für die es humanitäre Gründe gibt, oder zu klärende Menschenrechtsfragen,seitdem wird es unglaublich kompliziert,über Menschrechtsverletzungen oder ethni scheSäuberung oder Vertreibung zu schreiben. Denn manbekommt auf einmal das Gefühl, die eigenen Berichtekönnen auch zur Rechtfertigung für eine militärischeIntervention dienen. Das Schwierige ist nicht, dass ichmich dann mit einer schon bestehenden Propagandaauseinandersetzen muss oder versuchen muss, diesesubversiv zu unterwandern, es ist eher, dass die eigenenTexte sich einreihen in eine Rechtfertigung vonKriegen.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Der Krieg bringt eine ganz eigene Sprache hervor,eine euphemistische Sprache und ich frage mich,wie Du damit umgehst? Benutzt Du die Begriffe immernur in Anführungszeichen, hinterfragst Du sieständig, stellst Du Deine eigenen ehrlichen Begriffedagegen?__ EMCKE Da gibt es auf ganz vielen Ebenenunterschiedliche Strategien, mit denen man versuchenkann, in einer anderen Sprache über solche Konflikte zuschreiben. Z.B. nicht über die identitätsstiftende Logik


16.17von Kollektiven und Gruppen: Sind die so wie wir odersind die anders? »Wir« sind immer die Demokraten, »die«sind immer die Barbaren. Da oft nur über Identität undDifferenz nachgedacht wird, ist eine meiner Strategienbeim Schreiben, über Ähnlichkeiten nachzudenken:Was gibt es für Details, anhand derer ich den Leser mitetwas vertraut machen kann?+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Kann man überhaupt töten, wenn der Andere keinFremder ist, wenn er nicht eine amorphe Masse derBedrohung bildet? __ GRÜNBERG Man braucht dieses»Wir gegen sie«. Allerdings ist dieses »Wir« immer einsehr kleines Wir, auch innerhalb der Armeen gibt esstarke Ressentiments. __ EMCKE Wenn wir mit unserenBerichten Verwirrung stiften und das Ganze dadurchvielfältiger und weniger fremd wird, dann bin ich schonzufrieden. __ GRÜNBERG Das kann nur gelingen, wennman sich, wie Du schon sagtest, auf die Details konzentriert.__ EMCKE Wenn ich die Frage der Details aus derZivilisten-Perspektive beschreiben soll, dann bedeutetdas mitunter auch, dass ich nicht einfach nur aufzähle,wie viele Leute verwundet wurden, wie viele Tote esgab, sondern dass ich zu erzählen versuche, wie dieWunden aussehen. Um ein Beispiel zu geben: Man weiß,dass es Brandopfer gibt, also muss man als Berichterstatterauch bereit sein, in so ein Krankenhaus zu gehen,in dem diese Brandopfer liegen. Ich weiß nicht,wie viele so etwas gesehen haben, aber es gehört definitivzu den schrecklichsten Erfahrungen meines Lebens,einen Verbandwechsel bei Brandwunden-Opfernmitzuerleben. Es kann nicht sein, dass über einenKriegseinsatz nachgedacht wird und die Menschen hiernicht wissen, was das heißt. Das heißt eben nicht nur,dass Soldaten irgendwo hingeschickt werden, nein, esheißt auch, dass da irgendwo jemand ist, der zieht mitjedem Verband die gerade irgendwie frisch nachgewachseneHaut wieder ab. Nicht selten habe ich dasGefühl, dass man uns unterstellt, wir würden unsereBerichte aus publizistischen Gründen dramatisieren.Davon kann überhaupt gar nicht die Rede sein. All das,was ich gesehen habe, ist viel schlimmer als das, wasdann als Bericht hier ankommt.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Wer entscheidet denn, welche Reportagen Ihrmacht? Wäre es denn möglich zu sagen, ich möchtenach Westafrika, da gab es schreckliche Bürgerkriege,ich möchte erzählen, wie jetzt, Jahre danach,die Situation ist? __ GRÜNBERG Ich entscheideimmer selbst, wo ich hingehe. Zum Beispiel versucheich alle zwei Jahre in den Irak zu gehen. __ EMCKE Wirsind vermutlich eher Ausnahmen und haben das großeGlück, dass wir das können.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Der erste berühmte Kriegsberichterstatter warWilliam Howard Russel für The Times in London.Seine Texte sind bis zum heutigen Tag bedrückendund berührend und sehr stark. Über ihn heißt es,dass er eine Art Abhängigkeit vom Krieg entwickelthat und dass er, gerade in London angekommen,schon einige Tage später wieder hinaus wollte.Kennt Ihr dieses Phänomen? __ GRÜNBERG Der PulitzerPreisträger Chris Hedges beschreibt in seinemBuch War ist the force that gives us meaning, wie vieleseiner Kollegen das Bedürfnis entwickelt haben, ähnlichwie die Soldaten immer wieder ein neues Risikoeinzugehen, um sich noch lebendig zu fühlen. Er selbstdistanzierte sich davon. __ EMCKE Ich habe bisher injeder Region Menschen getroffen, die flehend vor mirstanden und mich baten, alles aufzuschreiben. Die habennicht nach Geld gefragt, nicht nach dem Pass, diewollten nicht im Auto mitgenommen werden, diefragten, schreibst du das auf? Mich treibt nicht die Lustam Risiko, sondern ich habe das ganz starke Gefühl gebrauchtzu werden. Das bestimmt darüber, ob ich in einKrisengebiet fahre oder nicht. __ GRÜNBERG Hast Duwirklich das Gefühl, dass Du durch Deine Reportagenetwas veränderst? __ EMCKE Nein und ja. Aber das hatsich für mich verändert. Als ich anfing zu arbeiten, warder Adressat meines Schreibens die hiesige Öffentlichkeit.Ich hatte die Hoffnung, mit den Texten irgendetwasauszulösen. Natürlich ändern meine Texte hier garnichts. Inzwischen glaube ich aber, dass der Adressatmeines Tuns die Leute vor Ort sind. Es macht für sieeinen riesigen Unterschied, dass da überhaupt maljemand sitzen bleibt und mit ihnen spricht und sich anhört,was sie zu sagen haben. Ich glaube, wenn ich vonihnen gebeten werde, das, was ich erlebe, aufzuschreiben,dann tun sie das, nicht aus dem naiven Glaubendaran, das übermorgen der große Hilfstransport kommtoder so, es geht vielmehr darum, Anerkennung zu bekommen.Das ist viel existenzieller.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Es geht um ein Zeugnis? __ EMCKE Ja, genau. Das istes, was mich drängt, dahin zu fahren. Kompliziert wirdes, wenn ich zurückkomme. Seit 14 Jahren reise ich mitdem Fotografen Sebastian Bolesch, und der sagt, wennwir zurückkommen, brauchen wir ein bisschen Quarantäne,bevor wir alltagstauglich sind. Man ist nicht sofortdarauf eingestellt, die immer gleichen alltäglichen Problemewieder ernst zu nehmen.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Arnon, bewirken diese Texte wirklich nichts? __GRÜNBERG Also fast nichts, würde ich sagen. Die Leserwissen halt wieder, ach ja, wir sind noch da, unsereJungs sind noch da, das ja. Carolin, Du sagst, dass Dudas Gefühl hast, gebraucht zu werden. Ich habe auchöfter von Soldaten gehört: Danke, dass du dich für unserenKrieg interessierst, denn unsere eigenen Frauenhaben das Interesse verloren. Solche Sachen hört manöfter, aber das Wichtigste ist doch die eigene Neugier.Ich bin tatsächlich neugierig zu sehen, wie es da wirklichaussieht. Ich bin ja nicht nur mit Soldaten in denKriegsgebieten, sondern auch mit Zivilisten und sogenanntenFixern.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Ein Fixer ist jemand, der übersetzt. __ GRÜNBERGDer Fixer steht zwischen der Wirklichkeit und den Journalisten.Er übersetzt, damit steigt das Risiko der Manipulation.Oft weiß man nicht, ob man in einem <strong>Schauspiel</strong>gelandet ist oder nicht. __ EMCKE Das Schwierigebei den Fixern ist, dass die dann nicht nur für Arnonarbeiten, sondern für alle internationalen Journalisten.Manche von denen sind nicht sonderlich fleißig, alsogibt es dann auch Fixer, die die schlechten Eigenschaftenvon schlechten Journalisten angenommen haben.So einer kann schon mal auf den Gedanken kommen,da kommt jetzt einer von der International HeroldTribune und der will wissen, wie das so in Haiti läuft,also organisiere ich doch mal einen Flüchtling, einenBauern, eine Mutter und eine Krankenschwester. So weitso gut, aber wenn Sie internationale Zeitungen lesen,stellen Sie auf einmal fest, dass da immer derselbeFlüchtling, dieselbe Krankenschwester und derselbeBauer zu Wort kommen. Das ist schon, mit Verlaub, gespenstisch.Will man dann gern mal einen anderenBauern sprechen, bekommt man eine Abfuhr. Der hatimmer nur seine vier. Vorsortieren der Wirklichkeit. __GRÜNBERG Im Irak 2008/2009 waren es oft Leute, diees für Geld gemacht haben. Auch mit dem bloßen Übersetzenist es nicht unproblematisch. Vor allem in Afghanistanhabe ich bemerkt, dass einige Übersetzer sichschämen, meine Fragen zu übersetzen, weil man dieseFrage nicht stellen oder die Antwort nicht erfahren darf.Auch beim Übersetzen gibt es diese Grenze zwischendir und der Wirklichkeit.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Ich möchte jetzt noch mal in Frage stellen, was ihrbeide behauptet und was ich nicht verstehe: Carolin,Du sagst, es sei Deine Verantwortung, dass Du denOpfern hilfst, Zeugnis abzulegen. Gleichzeitig behauptestDu, es bewirke nichts. Das hieße aber,dass Du… __ EMCKE Das eine ist die Frage, wie ist dieWirkung des Textes, und da bin ich jetzt zumindestskeptischer geworden. Die Skepsis hat damit zu tun,dass ich, als ich anfing beim Spiegel zu arbeiten, 2 Jahreaus dem Inland berichtet habe. Wenn der Text vonderselben Gemeinschaft gelesen wird, die sozusagendie Figuren dieser Geschichte stellt, dann hat er natürlichauch eine große Chance, dass die Leute beleidigt


sind oder sich schämen oder sich ernst genommen fühlen– dass er Wirkung erzielt. Das ist beim Auslandsberichterstatternicht so. Die Menschen hier lesen etwasüber eine andere Region und das ist sehr viel wenigerwirkungsmächtig.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Dem möchte ich widersprechen. Wenn wir nicht dieganze Berichterstattung gehabt hätten über Guantánamo,über Abu Ghraib, wenn wir nicht Wikileaksgehabt hätten mit diesem Video, bei dem dieganze Welt gesehen hat, wie Zivilisten zusammengeschossenwerden und wie Soldaten darauf reagieren,wenn wir nicht die vielen anderen Berichtegehabt hätten, dann weiß ich nicht, ob Misstrauenund Skepsis in unseren Gesellschaften auch gegenüberden nächsten Konflikten vorherrschen würden.__ EMCKE Ich wäre schon unglaublich dankbar, wenndie Texte, die ich aus derselben Region schreibe, wenndie vielleicht so ein bisschen wie ein Kieselstein imSchuh funktionieren würden.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Ich möchte darauf beharren, dass es um einen existenziellenKampf um Wahrheit geht. Wenn wir nichtdie Berichterstattung darüber hätten, was bei denDrone strikes passiert, dann müssten wir glauben,was das Pentagon sagt, dass da ganz gezielt schlimmeTerroristen umgebracht werden. _ GRÜNBERGDas stimmt, es geht um einen existenziellen Kampf umdie Wahrheit, aber wenn wir etwas näher an die Wahrheitheran gekommen sind, ändert sich dann etwas? __EMCKE Was sich ändert ist die Begründungslast, dieverlagert sich. Es gibt nicht mehr die Unschuld desNichtwissens. Die Leute können nicht mehr sagen, wirhaben es nicht gewusst. Diejenigen, die es nicht ändern,müssen jetzt Gründe dafür angeben. Das findeich als Anspruch und Leistung schon ganz okay. __GRÜNBERG Aber viele werden sagen, dass es ihnengleichgültig ist, was in Pakistan oder Afghanistan passiert,es ist ihnen zu weit weg.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Ich finde, es ist eine unerfreuliche Entwicklung,dass selbst jene Leute, die eine sehr sinnvolle Arbeitmachen, von Zweifeln erfüllt sind, ob diese ArbeitSinn ergibt. __ EMCKE Ich sage nicht, dass das keinenSinn macht. Wie gesagt: Ich schreibe für die Leute, zudenen ich immer und immer wieder fahre und die danneben letztendlich das Gefühl haben, somebody cares.__ GRÜNBERG Übersetzt Du Deine Texte für diese Leute?__ EMCKE Das ist, ehrlich gesagt, eine Frage desGeldes. Manche meiner Texte habe ich übersetzen lassenund dann selbst bezahlt. In der Tat wäre es natürlichschöner, wenn Die Zeit das übernehmen und onlinestellen würde. __ GRÜNBERG Es ist wichtig, dass dieLeute, mit denen man gesprochen hat, die Texte lesenkönnen, und erleben, dass sie mit Respekt behandeltworden sind. Manchmal hat jemand noch eine Korrekturvorzunehmen. Die Korrespondenz muss weitergehen.Recherchen hören nicht auf. __ EMCKE Auch dieBeziehungen hören nicht auf. Menschen, die man kennenlerntauf diesen Reisen, bleiben ja nicht einfach eineInformationsquelle. Manchmal entstehen Vertrauenssituationen,dann bleiben die Beziehungen.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Vor ein paar Wochen klingelte früh am Morgenmein Telefon. Es rauschte und es klang, als würdejemand von ganz weit weg anrufen, und dann hörteich nur: Hier ist Suleiman aus Timbuktu. Und ich:Ach Suleiman, wie geht’s dir? Suleiman war derKellner aus der Pension, in der ich vor anderthalbJahren 4 Wochen verbracht habe, und ich dachte(das spricht für meinen Zynismus): Er ruft an, weiler jetzt irgendwas von mir möchte. Ich habe erwartet,dass er mich bittet, ihm Geld zu schicken. Dabeiwar es ihm ein ganz großes Anliegen, mir mitzuteilen,dass es ihm und den anderen Leuten, die ichkenne, gut geht. An so einem Erlebnis merkt man,dass in diesen besonderen Situationen besondereBeziehungen entstehen, die man gar nicht hoch genugschätzen kann.-------------------------------------------------------Seit Januar 2013 ist der Übersetzer, Verleger undSchriftsteller Ilija Trojanow Kurator und Gastgeber derWeltausstellung Prinzenstraße.-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------CAROLIN EMCKE, geboren 1967, studierte Philosophieund promovierte über den Begriff »kollektiveIdentitäten«. Seit 1998 bereist sie weltweitKrisengebiete, u.a. Kosovo, Afghanistan,Gaza, Irak. 2003/04 lehrte Carolin Emcke als VisitingLecturer für Politische Theorie an derYale University mit Seminaren über »Theoriender Gewalt« und »Zeugenschaft von Kriegsverbrechen«.von ihr erschienen: »Von den Kriegen.Briefe an Freunde«, »Stumme Gewalt. Nachdenkenüber die raf« sowie »Wie wir begehren«.Die Friedrich-Ebert-Stiftung ehrte Carolin Emckemit dem Preis »Das politische Buch«, ausserdemwurde sie mit dem Förderpreis des ErnstbLoch-Preisesausgezeichnet und mit demDeutschen Reporterpreis sowie als »Journalistindes Jahres«, 2012 mit dem Journalistenpreisfür Kinderrechte.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +ARNON GRÜNBERG, geboren 1971 in Amsterdam,Niederlande, lebt und arbeitet heute in NewYork. Er gründete zunächst einen eigenen Verlag(Kasimir) und publizierte 1994 sein erstesBuch »bLauer Montag«. Grünberg veröffentlichtemehrere Essays, Theaterstücke und Romane,die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurdenu.a. mit dem niederländischen ako-Literaturpreisund dem Anton-Wachter-Preis. 2009erhielt er für sein Gesamtwerk den Constantijn-Huygens-Preis.Seine Bücher wurden in 26Sprachen übersetzt. aLs Autor von Reportagenreiste er u.a. zu den in Afghanistan stationiertenniederländischen Truppen sowie zur us-Armee in den Irak.-------------------------------------------------------in der sPielzeit 2013/14 wird die Reihe »WeltausstellungPrinzenstrAsse« mit unterstützung der stiftung niedersAChsenfortgesetzt. IliJA TroJAnow wird AM 2. Februar2014 mit harald Welzer ÜBer »widerstand« und AM 23. März2014 mit Marianne Gronemeyer ÜBer »arbeit« sprechen.weitere termine folgen.------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------


18.19Foto: Klaus LefebvreFoto: Katrin RibbeSachiko Soldaten. Hara Protokolle in »Die vom Nibelungen« Kämpfen, Töten und Sterben von Sönke Neitzel und Harald Welzer. Szene mit Mathias Max Herrmann, Andreas Schlager.


SOLDaten – GesPRÄCHE Über GEWALT,tecHniK unD frauenDIE ARBEIT WEST-ALLIIERTER GEHEIMDIENSTE WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGES ERMÖGLICHT ES UNS, IN DIE KÖPFE DIESERMÄNNER ZU SCHAUEN UND UNS IHRE ERFAHRUNGEN UND WELTSICHT NÄHER ZU BRINGEN.VON FELIX MATHEISDer Leser dieser Gesprächsprotokolle taucht ein in die Geistes- undErfahrungswelt der WehrMACht, die schockierend sein kann und unswohl nicht selten freMDArtig vorkoMMt.Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben von Sönke Neitzel undHarald Welzer. Szene mit Dominik Maringer, Jakob Benkhofer, Philippe Goos.Es ist der 1. Dezember 1944, der Zweite Weltkrieg geht aufdem europäischen Schauplatz in sein letztes Halbjahr. Am frühenAbend, gegen halb 7, befinden sich zwei deutsche Soldatenim Gespräch. Der 22-jährige SS-Oberscharführer FritzSwoboda berichtet dem Oberleutnant Werner Konrad übereigene Erlebnisse aus der besetzten Tschechoslowakei: ------»Da waren doch Erschießungen am laufenden Band, da gab esdie 12 Mark Zulage, 120 Kronen am Tag für die Erschießungskommandos.Da haben wir nichts anderes gemacht, also dieGruppen von 12 Mann haben jeweils 6 Mann geführt und dannumgelegt. Da habe ich vielleicht 14 Tage lang nichts anderesgemacht. Und da haben wir doppelte Verpflegung gekriegt,weil das doch ungeheuer die Nerven kostet. Immer 2 Mann aufeinen geschossen, und dann hat der tschechische Arzt auf dieToten ein Kreidekreuz gemacht. Frauen haben wir auch erschossen,die Frauen waren besser wie die Männer. Männerhaben wir viele gesehen, auch Juden, die gewimmert haben imletzten Augenblick. Und wenn da so Schwächlinge waren, dannsind zwei National-Tschechen hin und haben die in die Mittegenommen und hochgehalten. Weiber waren dort, also Patriotinnen,die waren bestimmt in Ordnung, die haben sich da hingestellt,die Kleider aufgerissen, und noch was geschrien, niedermit Deutschland, oder es lebe die Tschechei oder so was. Aberdie doppelte Verpflegung und die 12 Mark hat sich der Mannschon schwer verdient, so 50 Weiber umlegen in einem halbenTag. (…) Zuerst hat man gesagt, prima, besser wie Dienst machen,aber nach ein paar Tagen hätte man lieber wieder Dienstgemacht. Das ging auf die Nerven, und dann wurde man stur,dann war es egal. Da hat es bei uns welche gegeben, die bei demWeiber-Erschießen schwach geworden sind, und wir hatten dazulauter alte Frontsoldaten ausgesucht. Aber es war eben Befehl.«--So manchem Leser, so mancher Leserin, wird dieser entsetzlicheBericht vermutlich das Blut in den Adern gefrieren lassen. Erstammt aus einem Abhörprotokoll, das US-amerikanische Geheimdienstmitarbeiteraus einer heimlichen Aufnahme des Gesprächszwischen Swoboda und Konrad anfertigten. Die beiden Soldatenwaren nämlich im Sommer und im Herbst 1944 in amerikanischeKriegsgefangenschaft geraten und waren Anfang Dezember 1944Zellengenossen im hochgeheimen Speziallager Fort Hunt in denUSA. Die Einrichtung, die sich einige Kilometer südlich vonWashington D.C. befand, war wichtiger Bestandteil der Feindaufklärungder US-amerikanischen und britischen Nachrichtendiensteim Zweiten Weltkrieg, die mehrere derartiger Lager unterhielten.Die Zellen des Gefangenenlagers Fort Hunt waren mit verstecktenMikrofonen präpariert, sodass die heimlichen Zuhörer alle Äußerungender Gefangenen mithören konnten. Hielten sie ein Gesprächfür besonders interessant, wie im Falle von Swoboda und Konrad,oder auch Tausenden weiteren Fällen, schalteten sie ein Aufnahmegerätein und zeichneten mit. Doch nicht nur Abhörprotokolle wurdenin Fort Hunt angefertigt. Auch eine Vielzahl von Verhörprotokollen,politischen Meinungsumfragen, Lebensläufen, persönlichen Datenund anderen Dokumenten erstellten die Geheimdienste. Insgesamtproduzierte die sogenannte »German work« im Gefangenenlager Fort


20.21Hunt einen Papierberg von 103.000 Aktenseiten, der auf Informationen von rund 3.000 deutschenSoldaten fußte. Weitere derartiger Gefangenenlager gab es u.a. in Großbritannien, wieetwa in Trent Park, wo vor allem höhere Offiziere dem Lauschangriff ausgesetzt waren. Hierwurden ebenfalls Zehntausende Seiten von Akten produziert. Wozu dieser riesige Aufwand? --Zum einen boten die gefangenen deutschen Soldaten einen reichhaltigen Fundus an wichtigenmilitärischen Informationen zu Waffen, Technologien oder Kampfeinheiten der Wehrmacht, dieabgeschöpft werden sollten. Getreu dem Motto »Kenne den Feind« hielten es die westlichenAlliierten zum anderen aber auch für wichtig, neben der »klassischen« militärischen Aufklärung,die Mentalitäten und Denkweisen des deutschen Feindes zu erforschen. Die Kenntnisse darübersollten wiederum in die psychologische Kriegsführung einfließen und außerdem eine Grundlagefür die spätere »Re-Education« des deutschen Volkes sein. --------------------------------------Viele Jahrzehnte lagen die Abhörprotokolle in Archiven in den USA und Großbritannien, fastvöllig unbeachtet von der Nachwelt. Erst im Jahr 2001 wurde der Historiker Sönke Neitzel auf dieDokumente aufmerksam und machte sich daran sie zu bergen. Eine vielköpfige Forschungsgruppedes Projektes »Referenzrahmen des Krieges« konnte das Quellenmaterial in jahrelanger Arbeitauswerten. Es offenbarte sich eine wahre Goldgrube für Historiker. Sönke Neitzel und der SozialwissenschaftlerHarald Welzer konnten mit »Soldaten« ein Buch vorlegen, das eine weitreichendeinterdisziplinäre Analyse vor allem britischen Aktenmaterials darstellt. Des Weiteren wurde vonFelix Römer im Jahr 2012 mit Kameraden eine weitere Analyse veröffentlicht, die erstmals auchdie Akten US-amerikanischer Herkunft umfassend untersucht. -----------------------------------Der Erkenntnisabsicht der Alliierten nicht unähnlich, kann man heute diese Protokolle nutzen, umdie Weltsicht deutscher Soldaten, mithin »gewöhnlicher« Deutscher, zu erkunden. Was ging vor inden Köpfen unserer Väter, Großväter und Ur-Großväter, die selbst ein Teil des schrecklichstenKrieges der Geschichte waren? Wie haben sie diesen Krieg wahrgenommen und gedeutet? Wiehaben sie das alles geistig verarbeitet, die Gewalt, das Töten und Sterben, ihre Feinde, ihre eigeneRolle als Soldaten? Was war ihre Einstellung zu Adolf Hitler und dem »Dritten Reich«? Die Abhörprotokollebieten hierbei einen völlig neuen, bis dato unbekannten Ansatz. Gewiss, auch vorherkonnten hierfür etwa Tagebücher, Feldpostbriefe oder Memoiren von Soldaten studiert werden.Doch diese Zeugnisse unterlagen häufig der (Selbst-)Zensur oder waren Produkte intellektuellerReflexion, mit der eigenes Handeln im Nachhinein erklärlich gemacht werden sollte. Die Abhörprotokollebieten hingegen massenhafte, kaum verfälschte Ausschnitte aus dem »unaufhörlichenRattern der Konversationsmaschine« einer Vielzahl von Menschen. --------------------------------Der haarsträubende Ausschnitt aus Swobodas und Konrads Unterhaltung gibt uns etwa einen Einblickin soldatischen Härtekult und die spezifisch nationalsozialistische Tötungsmoral, nach der einSS-Mann nur ein guter SS-Mann ist, wenn er in der Lage ist »stur« zu töten, wenn man es ihm befiehlt.Swobodas Gespräch über Gräueltaten und Gewalt ist dabei ein Beispiel von vielen. Dochsprachen die Soldaten grundsätzlich über alles. Stundenlanges Fachsimpeln über Technik, überPolitik oder auch über Frauen ist dokumentiert. Der Leser dieser Gesprächsprotokolle taucht ein in dieGeistes- und Erfahrungswelt der Wehrmacht, die schockierend sein kann und uns wohl nicht seltenfremdartig vorkommt. Dann wiederum bringt uns die Lektüre vieles näher, was uns bislang als unerklärlicherschien. Wie zum Beispiel die Frage, wie Menschen wie Swoboda sich selbst in ihrer Rolle alsMassenmörder wahrnahmen. -----------------------------------------------------------------------Insgesamt durchliefen etwa 17,3 Millionen Männer die deutschen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg.Viele Leserinnen und Leser werden wohl eigene Familienmitglieder kennen, die Soldaten der Wehrmachtwaren. Oft haben sich diese gegenüber ihren Kindern und Enkelkindern über ihre Erlebnisse imKrieg ausgeschwiegen. Die Abhörprotokolle bieten die Möglichkeit uns deren Welt näher zu bringen,die glücklicherweise nicht mehr die unsrige ist.+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +FELIx MATHEIS, 1986 geboren, hat Geschichte und Soziologie in Mainz und Toruń (Polen)studiert. Von 2008 bis 2012 war er als wissenschaftliche Hilfskraft im Forschungsprojekt»Referenzrahmen des Krieges« tätig. In Zusammenhang mit dem Forschungsprojekthat er sich mit Akten aus dem us-amerikanischen Abhörlager Fort Hunt auseinandergesetzt,die Grundlage des Theaterstücks »Soldaten« waren.Foto: Klaus Lefebvre


Wer hat <strong>Angst</strong> vor Virginia Woolf? . Keine <strong>Angst</strong>vor Kolibris . Zeitalter der <strong>Angst</strong> . <strong>Angst</strong> reistmit . <strong>Angst</strong> vör de Ehe . Kein bisschen <strong>Angst</strong> vorEifersucht . <strong>Angst</strong> vor sChlägen . Keine <strong>Angst</strong>vor der hÖlle, IsABelle? . Wovor hast du eigentlich<strong>Angst</strong>? . <strong>Angst</strong> essen Seele auf . Die <strong>Angst</strong>NuMMer Eins . Die Toten MAChen keine <strong>Angst</strong> . Geschäftmit der <strong>Angst</strong> . Hohn der <strong>Angst</strong> . <strong>Angst</strong>in allen gAssen . Das hAus der <strong>Angst</strong> oder dergoldene sChlüssel . Keine <strong>Angst</strong> vor Pferden .<strong>Angst</strong> verboten . Der Dicke und die <strong>Angst</strong> . <strong>Angst</strong>. <strong>Angst</strong> vor der Liebe . MACh mir keine <strong>Angst</strong> oderdie Neue . ADAM sChaf hat <strong>Angst</strong> . Keine <strong>Angst</strong> –tAPferes sChneiderlein . Wer hat <strong>Angst</strong> vor HildegardKnef? . <strong>Angst</strong> und Abscheu in der BRD .Zukunft oder iCh hABe noch nicht so viel <strong>Angst</strong>. <strong>Angst</strong>!! Eine theatrale tAlkshow . <strong>Angst</strong> zu leben. ePhebiphobia – <strong>Angst</strong> vor Teenagern . DerRevisor oder <strong>Angst</strong> ist aller sChrecken Anfang. <strong>Angst</strong> ist die Wurzel der sÜnde . Keine <strong>Angst</strong>vor Hotzenplotz . Jenseits der <strong>Angst</strong> . Die <strong>Angst</strong>der Forelle . Wer hat <strong>Angst</strong> im Zirkus Zirbelnuss. Nur keine <strong>Angst</strong>! . Marcus Curtius und die<strong>Angst</strong> . Wer hat <strong>Angst</strong> vor Oliver tWist? . <strong>Angst</strong>im Kopf . Einstein oder Die sPuren der <strong>Angst</strong> .Wer hat <strong>Angst</strong> vorm schWArzen rABen? . <strong>Angst</strong>


22.23Foto: Katrin RibbeFoto: Katrin RibbeSachiko Schillers Hara Räuber. in »Die Ein Abend Nibelungen« für fünf Spieler und einen Geräuschemacher. Szene mit Thomas Mehlhorn.


Der KrieG GEHT WeiterERINNERUNGEN AN EINE REISE ODER WAS TSCHECHOW MIT KRIEG ZU TUN HATVON JOHANNES KIRSTENWir fahren nACh tAganrog. Links liegt DAs AssowscheMeer. Am StrAssenrand verkaufen Leute eimerweise Flusskrebse.IrgenDWo ein riesiges KriegsdenkMAl in der StePPe,DAs langsAM verwittert. Hier also kAM Tschechow her.Seit zwei Tagen fährt der Zug und je weiter er nach Süden kommt,desto mehr Leute bevölkern die Bahnsteige. Piroggen, gekochte Kartoffeln,Hühnerkeulen, kaltes Bier, Gurken, Tomaten, eine Fülle anSpeisen und Getränken wird den Fernreisenden angeboten. Das Lichtist hier anders als im Norden. Wir fahren durch weite Steppenlandschaftund immer wieder durchschneiden tiefe, durch jahrhundertelangeErosion entstandene Täler dieses ansonsten ebene Land.Tschechows Erzählung Die Steppe fällt mir ein. Es gibt keine treffendereBeschreibung dieser Gegend. »Der gemähte Roggen, dasSteppengras, die Wolfsmilch, der wilde Hanf – alles, von der Hitzeversengt, rötlich gefärbt und halbtot, lebte nun auf, vom Tau benetztund von der Sonne liebkost, um von neuem zu erblühen. Über denWeg flogen mit lustigem Schrei die Steppenlerchen, im Gras pfiffendie Zieselmäuse einander zu, und irgendwo weit links klagten dieKiebitze.« Der junge Egoruschka, der in die nächste Stadt fährt, umdort eine höhere Schule zu besuchen. Die Kindheit ist vorbei. Die Reisedurch die Steppenlandschaft ist eine Abschiedsreise. Am Abend sitzendie Männer des Wolltrecks, dem sich der Junge angeschlossen hat, amLagerfeuer zusammen und erzählen sich Geschichten. Von ermordetenKaufleuten wird erzählt und von einem Gasthof, wo der altePantelej, der erzählt, nur knapp einem Mordanschlag entgangen ist.Man muss unwillkürlich an Hauffs Wirtshaus im Spessart denken. DasErzählen bannt die Furcht. -------------------------------------------Am Morgen Ankunft in Rostow am Don. Eine Millionenstadt, Hauptstadtdes Föderationskreises Südrussland und Sitz des Oberkommandosfür Tschetschenien. Am Bahnhof schwer bewaffnete Militärpostenund auch sonst ist spürbar, dass der Kaukasus und dieser unerklärteKrieg nicht fern sind. Es ist 2002, es ist Sommer und 800 Kilometerweiter liegt Grosny, die Hauptstadt Tschetscheniens, die 1994, als derKrieg begann, Schauplatz heftigster Kämpfe war. Der russische AutorArkadi Babtschenko ist so alt wie ich. Als er als Rekrut in den Kriegziehen muss, ist er achtzehn. In den zweiten Tschetschenienkrieg dreiJahre später zieht er freiwillig. Der Krieg lässt ihn nicht los. »Ich liebedich, Krieg« [...] »Du bist für immer in mir.« [...] »Das erste Mal hast dumich noch lebend ausgespuckt, hast mich gehen lassen, aber ichkonnte nicht allein, ich bin zurückgekehrt.« --------------------------Onkel Tolja holt mich in seinem grauen Wolga ab. Früher waren dasdie Taxis in Ostberlin, gasbetrieben. Onkel Tolja ist alter Taxist, außerDienst jetzt, aber seinem Wolgataxi treu geblieben. Das Auto hat dieFederung eines amerikanischen Straßenkreuzers und bei den zahlreichenAusflügen der nächsten Tage habe ich eher das Gefühl überdie Fahrbahn zu schwimmen, als zu fahren. Wir fahren nach Starocherkassk,der alten Kosakenhauptstadt, wir fahren nach Novocherkassk,der neuen Kosakenhauptstadt. Wir fahren nach Taganrog. Linksliegt das Assowsche Meer. Am Straßenrand verkaufen Leute eimerweiseFlußkrebse. Irgendwo ein riesiges Kriegsdenkmal in der Steppe, daslangsam verwittert. Hier also kam Tschechow her. Die kleine Stadt,deren Hafen bereits im 19. Jahrhundert versandete und sie damit inder Bedeutungslosigkeit versinken ließ, liegt wie eine Katze in derSonne da. Das Geburtshaus Tschechows ist winzig. Drei kleine Zimmerchenund eine Küche auf dreißig Quadratmeter verteilt. ----------Ein Brautpaar eilt zu einem Denkmal. Wenn man heiratet ist es Brauchin Russland, sich vor einem Denkmal ablichten zu lassen. Heute pendelndie Paare zwischen dem Denkmal des unbekannten Soldaten und deninzwischen flächendeckend wieder erstandenen Denkmälern für PeterI. hin und her. Die alte Zeit und die neue, die vielleicht die alte ist inabsurder Synthese. Hier in Taganrog pilgert man zu Tschechow, der,ein Buch in der Hand, auf einem Stein sitzt. Er schaut auf seine Geburtsstraße,davor tummeln sich schon drei Brautpaare samt Stretchlimousinen.Von hier ist Tschechow mit 19 aufgebrochen nach Moskau,nach Moskau, dem Sehnsuchtsort seiner Drei Schwestern. Er nimmtein Medizinstudium auf und fängt bereits kurz nach seiner Ankunft inder Stadt an, unter dem Pseudonym »Antoscha Tschechonte« ersteTexte in satirischen Zeitschriften zu veröffentlichen. Während diegroßen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, Dostojewski, Tolstoi, alle inden sogenannten dicken Journalen, den gewichtigen Literaturzeitschriften,veröffentlichten, ist Tschechow der erste russische Autor vonRang der im Boulevard erste Publikationserfolge feierte. Die Texte musstenkurz und eingängig sein und den Anforderungen eines Publikums,das mehr und mehr unterwegs las, genügen. Tschechows gesamtesErzählwerk ist von ehrfurchtgebietendem Umfang, 600 kurze und längereErzählungen entstehen in den fünfundzwanzig Jahren in denenTschechow schreibt und damit das Leben seiner Familie finanziert unddieses Leben wieder in seine Texte einfließen lässt. Als Tschechow anden Drei Schwestern arbeitet, ist er bereits von einer schweren Tuberkulosegezeichnet. Er stirbt 1904 in Badenweiler, in Deutschland. ---Von Taganrog geht es auf Onkel Toljas Datscha. Am Abend gibt es UnmengenKrebse und Schaschlik, das die Russen auf dem i betonen undbei dem die Stücken in meiner Erinnerung so groß wie eine Faust sind.Vermutlich gab es auch Wodka, aber das weiß ich nicht mehr. -------Von dem Denkmal muss ich noch erzählen, das an einem Platz unweitvon Onkel Toljas Haus steht. Es ist ein Denkmal zu Ehren der in Afghanistangefallenen Soldaten aus diesem Stadtbezirk, Granitplatten miteingravieren Namen, Dienstrang und Lebensdaten. Auf die schräggestelltenPlatten der Afghanistankämpfer, sind neue noch unverblassteSteine gesetzt. Namen, Lebensdaten auch hier, viele jünger als ich,aber aus einem anderen Krieg, aus dem, der noch oder wieder, zumzweiten Mal, im Gange ist. Ich frage mich, ob es Zynismus oder reinerPragmatismus ist, wenn auf einer Platte steht: »Tschetschnia 1994– ...«. -Der Krieg lässt mich nicht mehr los. Von Rostow will ich weiter nachWolgograd, dem ehemaligen Stalingrad. Der Zug hat den EndhaltepunktDerbent am kaspischen Meer in Dagestan. Früher verlief dieStrecke über Wladikawkas und Grozny nach Derbent, aber da ist jetztKrieg und so fährt der Zug erst einmal nach Nordosten, ehe er steilnach Süden seinem Zielort zustrebt. Ich fahre Platzkartny, wie die Russensagen. Es gibt keine Abteile, nur offene Compartements mit jeweilsvier Betten, zwei Betten sind längs der Fahrtrichtung gegenüber dieserVerschläge. Auf diesen Plätzen neben mir sitzt ein junger Soldat, abgemagertmit einer riesigen Narbe am Kopf. Anscheinend darf er nichtmit uns sprechen, eine mitreisende Krankenschwester wacht über ihn.Seine Mutter sucht umso mehr das Gespräch. Sie erzählt, dass sie ihngerade aus dem Militärlazarett in Rostow abgeholt hat. Er sei dortwegen einer Gehirnerschütterung behandelt worden. Ich glaube derGeschichte nicht wirklich. Jetzt fahren sie auf einen kurzen Genesungsurlaubnach Hause. Verzweifelt erzählt sie, wie schwer es sei, um denMilitärdienst herum zu kommen. Hat man kein Geld, bleibt einem


24.25Die Mutter-Heimat-Statue auf dem Mamajew-Hügel in Wolgograd.nichts anderes übrig, als die zwei Jahre durchzuhalten. Die russischeArmee, ist berüchtigt für ihre, als »dedowtschina« betitelte, institutionalisierteQuälerei der älteren an den jüngeren Jahrgängen. Als wenndas nicht schon schlimm genug wäre, bedeutet in diesen Zeiten Militärdienst,Kriegsdienst in Tschetschenien. Als ich erzähle, dass ich aufdem Weg nach Wolgograd bin, erinnert sie eine Reise dorthin, gemeinsammit ihrem Sohn. Sie erzählt von der »Mutter Heimat« demberühmten Denkmal auf dem Mamajewhügel und den tausenden vonNamen in der Ehrenhalle »so jung« sagt sie, »sie waren alle so jung«und sie erzählt über die gefallenen Rotarmisten von Stalingrad undspricht doch die ganze Zeit von ihrem Sohn. - -----------------------Ich zähle die Namen in der Halle und komme auf ungefähr 12000. Washier gewaltig und beeindruckend aussieht ist doch nur eine verschwindendgeringe Zahl der Opfer, die in der Schlacht von Stalingradfielen. Mein Großvater war hier. Irgendwo vor der Stadt, hatte er dasGlück, mit Gelbsucht in einem der letzten Flugzeuge aus dem Kesselausgeflogen zu werden. Aber vielleicht ist das auch alles Legende.Wie viel wissen wir eigentlich von dem, was unsere Großväter dorttaten? Die meisten können wir nicht mehr fragen. Hätten sie erzählt?Haben wir es versäumt zu fragen? Ich habe nur zwei Tage in Wolgograd.Ein altes Planetarium. Alt heißt hier aus den 50er Jahren. Wolgogradist als sozialistische Modellstadt auf den Ruinen Stalingradserbaut worden. Von der alten Stadt war nichts übrig geblieben. DieVorführung im Planetarium beginnt mit einer Projektion der heutigenStadtkulisse, die schlagartig umklappt in eine Ruinenansicht der Stadtkurz nach dem Krieg, roter Hintergrund, dräuende Musik. Als dieSterne sich anfangen zu drehen, spielt Guten Abend, gute Nacht. Indieser Stadt, die zum Wendepunkt des 2. Weltkrieges wurde, 2002 eindeutsches Schlaflied als Untermalung für die Sternenvorführung?Vielleicht ist das Gefühlt, das mich damals beschlich heute, 2013,schon gar nicht mehr vermittelbar. Wer weiß. -----------------------Wolgograd liegt hinter mir. Platzkarten für einen Zug habe ich nichtmehr bekommen. Inzwischen gibt es findige Busunternehmer, die dieStrecke Wolgograd – Moskau sehr günstig anbieten. Start 18 Uhr,zwölf Stunden später ist man in Moskau. Die Busse sehen vertrauenswürdigaus. Bei den Fahrern bin ich mir nicht so sicher. Was folgt istein wahrer Höllentrip. Die Strecke ist nur zweispurig, Lastwagen anLastwagen. Ich sitze soweit vorn, dass ich die ganze Zeit sehen kann,wie unser Bus bis auf einen Meter an den vorausfahrenden Lastwagenauffährt, zum überholen ansetzt und im letzten Moment, die entgegenkommendenAutos blinken schon mit den Scheinwerfern, vor demüberholten Lastwagen einschert. Das wiederholt sich die ganze Nacht,dazu zur Unterhaltung Filme, krude Mischungen aus Gewalt und Herzschmalz,ein Soldat in einem Lager im Kaukasus, brutale Kämpfe ineinem Käfig, ein Knochen sticht aus einem Arm heraus, die Lastwagenblinken, der Fahrer war in Afghanistan, der Tod interessiert ihn nicht,der Soldat entflieht, die Lastwagen blinken, ein Selbstmordattentäter,eine Explosion und das Russlanddeutsche Kind in der Reihe hinter mirfragt »Mama, wo ist der Mann hin?«, ich schlafe nicht, die Lastwagenblinken, war hier mein Großvater?, ist das der Weg nach Tschetschenienund ich denke nur »nach Moskau, nach Moskau« und endlich, derMorgen dämmert, Kasanski Voksal, in Moskau. -------------------------------------------------------------------------------------------


ICH HABE MIT NIEMANDEM DARÜBER GESPROCHEN.MIT WEM AUCH.EIN ZWEITES KIND HÄTTE ICH NICHT MEHR VERKRAFTET.ES HAT EINFACH NICHT GEPASST.EIN SOHN WÄRE MIR LIEBER GEWESEN.IN DER NATUR HAT ALLES SEINEN PLATZ UND SEINE BESTIMMUNG.HIER ÜBERLEBT NUR WAS WUCHERT.ICH MACHE MIR KEINE ILLUSIONEN,IN 4 JAHREN IST HIER SCHLUSS,AUCH FÜR MICH.DIE PFLANZEN WAREN VOR UNS DA UND WERDEN UNS ÜBERLEBEN.DAS IST DIE LETZTE KLASSE, DIE ES HIER NOCH GEBEN WIRD,GERADE NOCH ZUSAMMENGEKRATZT.WÄreMan GRÜN,brÄucHteMan GarnicHtsMEHR tun.es WÄreWunDerbar.BEATRICE FREY DESTILLIERT»DER HALS DER GIRAFFE«DIE MENSCHEN KOMMEN NICHT HIERHER, DIE FAHREN WEG.DIE HÄTTEN LIEBER EINE EINBAHNSTRASSE BAUEN SOLLEN.ENDSTATION VORPOMMERN.WÄRE MAN GRÜN, BRÄUCHTE MAN GAR NICHTS MEHR TUN.ES WÄRE WUNDERBAR.STILLEN GING NICHT. MILCH HAB ICH KEINE GEHABT.WAS NÜTZT MIR EIN KIND AUF DER ANDEREN SEITE DER WELT?MEIN ENKELKIND WIRD MICH NICHT VERSTEHEN.HUMANISMUS WAR FRÜHER MAL EIN SCHIMPFWORT.GAR KEINE STAATSFORM WÄRE DIE ALLERBESTE.ES WÜRDE SICH ALLES SCHON VON ALLEINE ORGANISIEREN.ICH REDE MIT HANS, WEIL ER EINE ARME SAU IST.HEUTE KANN MAN JA ALLES MACHEN, ABER ES INTERESSIERT AUCH KEINEN.ICH BIN FROH, DASs ICH MIT WOLFGANG, MEINEM MANN, NICHT REDEN MUSS.ABHAUEN IST JA KEINE KUNST.FREIHEIT WIRD ÜBERSCHÄTZT.NIEMAND HAT EINE WAHLMÖGLICHKEIT.KEINER WUSSTE, WIE ES WEITERGING.EINE UNRUHIGE ZEIT, DIE GRENZEN OFFEN.DIE MOLKEREIEN HATTEN DICHT GEMACHT.VON EINEM TAG AUF DEN ANDEREN WUSSTEN WIR NICHT, WOHIN MIT DER MILCH.MIT EINER ANMERKUNG VON LUCIE ORTMANNIN DER SCHULE TRANKEN ALLE COLA.DIE MILCH SCHÜTTETEN WIR AUF DEN ACKER.ZUM OPFER MACHT MAN SICH IMMER NUR SELBST.ZUM PROFESSIONELLEN VERHÄLTNIS GEHÖRT KEINE NÄHE, KEIN VERSTÄNDNIS.SCHWACHE MITSCHLEIFEN, WOZU DIE HEUCHELEI?ICH HABE CLAUDIA GEBOREN UND GEFÜTTERT.MEINE PFLICHT ERFÜLLT.DIE SCHÜLER SIND BLUTSAUGER, SIE ERNÄHREN SICH VOM LEHRKÖRPER.WAS HÄTTE ICH MEHR TUN KÖNNEN?EIN FALTIGER BATZEN, HÄSSLICH WIE DIE NACHGEBURT.WER HAT DAS GESAGT?WAS WILLST DU VON MIR?


26.27»Irgendetwas ist zutiefst unheimlich an dieser Frau.Zeitweise fühle ich mich in ihrer Lebenswelt sehr unwohl,dann wieder eigenartig sicher aufgehoben; siespricht einem phasenweise aus der Seele, dann wiederwie aus ihrem eigenen Zwangslager«, beschreibt BeatriceFrey die Wirkung der Figur der Inge Lohmark aus ihremMonologabend Der Hals der Giraffe. Als ich sie auf einenBeitrag für das neue HEFT zum Thema <strong>Angst</strong> anspreche,hat sie sofort eine Idee: eine Art Destillat, das sie ausdem Gedankenstrom Lohmarks gewinnen will. Der soentstandene eigene Text von Frey legt vehement dieVerletzungen Inge Lohmarks frei, die deren Leben begleitenund bestimmen. In einem unserer Gesprächebeschreibt Beatrice Frey, wie wichtig Tatsachen in LohmarksLeben sind: Wissen, das gesichert sei und durchkeine Umstellung auf ein anderes politisches Systemhinfällig würde. Ihre Tatsachen verhielten sich wie Haltegriffeim Bus oder Fußtritte in der Felswand, ohne dieman in Abgründe stürzen könne. Sie beschreibe immerdas, was sichtbar sei, aber nicht, was sie dazu bewogenhabe, es so zu sehen. Ihr Innenleben klammere sie dabeiaus. Es ginge niemanden etwas an, irgendwie auchnicht mal sie selbst. Mit ihrem naturwissenschaftlichenSinn für Systematik versuche die Bio logie lehrerin immerwieder Ordnung in ihre Gedanken, Eindrücke und Gefühlezu bringen. Obwohl Lohmark rigoros an der Bekräftigungihres geschlossenen Systems arbeite, könnesie sich letztlich nicht dem Versuch einer Aufarbeitung,Der Hals der Giraffe von Judith Schalansky. Szene mit Beatrice Frey.Foto: Arzu Sandalauch einer Erklärung oder sogar Rechtfertigung entziehen.In unserer szenischen Umsetzung entspricht diesihrer Rückkehr in das leere, vielleicht schon verfalleneCharles-Darwin-Gymnasium, wo Beatrice Frey als IngeLohmark die Reise zurück beginnt. Gedanken an einenUmzug oder die Scheidung tauchen auf, um gleich wiederabgewehrt zu werden und wieder muss ein Bild ausder Biologie dafür herhalten, denn einen alten Baumverpflanzt man eben nicht. Beatrice Frey erkennt hierwieder die <strong>Angst</strong> vor Haltlosigkeit: Einerseits frage Lohmarksich, was sie dort noch halte, andererseits was sieirgendwo anders verloren hätte. Dieser Leere wird imRoman die landschaftliche Ödnis der Region gegenübergestellt– doch die Pflanzen wuchern, über alleswächst das sprichwörtliche Gras und irgendwie, soscheint es, solle man sich besser nicht erinnern. Es seigar nicht wünschenswert, dass man sich an alles erinnert.Lohmarks ganzer früherer Lebensinhalt, ihre Methodendes Unterrichtens, alles ist hinfällig geworden:Doch wo bleibt man dann mit seinen gelebten Jahrzehnten?Beatrice Frey beschreibt, dass das, was überdie »Verarbeitbarkeit« hinausgehe – Lohmarks Übermaßan Enttäuschungen, erlebter Nichtakzeptanz und Lieblosigkeit– wohl so tief unter Verschluss gehalten würde,dass es bewusst nicht mehr zu einem gehöre, nichtmehr abrufbar sei. Inge Lohmark käme ihr vor wie einausrangierter Eisenbahnwaggon, der von seinem leidenschaftlichen,sinnlichen, warmherzigen Waggon abgekoppeltwurde, abgekoppelt vom unkontrolliert Erlebbaren.Inge Lohmarks utopische Vorstellung wäre eseine Pflanze zu sein, grün, mit Chloroplasten unter derHaut. Solche Zustände verbindet Beatrice Frey mit derMeditation: Es sei die Sehnsucht nach einem paradiesischenZustand des Seins, ohne Qual, Verantwortungund Gefühle, die Sehnsucht nach einer Art kollektivemWeltenrausch ohne Zweifel oder Sinnfrage, in dem allesseine Bestimmung hat, alles mit allem in Verbindungsteht. Doch stecke in dieser Utopie auch die <strong>Angst</strong> vorEntscheidungen und selbstbestimmtem Handeln. DerStücktext endet mit einer absoluten Selbstbehauptung,einer großen Selbstannahme in der professionellen Rolleder Lehrerin: »Ich war Frau Lohmark. Ich bin FrauLohmark«. Viel früher jedoch stellt sich die Frage, obInge Lohmark das tatsächlich auch tut, überhaupt kann.Lehrerin ist sie nicht etwa aus idealistischen Gründengeworden, sondern weil ihre Eltern meinten, dass daszu ihr passe. In gewisser Weise sei sie sehr fremdbestimmt,sagt Frey. Freiheit und Selbstverwirklichungseien zwar Konzepte, die sie vehement ablehne, vielleichtseien es aber auch ihre besonders wundenPunkte. Insofern sei Der Hals der Giraffe auch eine Untersuchungdarüber, wie stark Strukturen seien, oderwie stark Strukturen uns prägen würden, und wie weitder Einzelne in der Lage sei, Strukturen zu durchbrechen– insbesondere wenn das Durchbrechen dieserStrukturen eine Gefährdung des eigenen, bisher geführtenLebens bedeute. »Es macht einen sehr nachdenklich,weil wir oft so tun, als hätten wir unsere eigenePosition, dabei werden auch wir am Gängelbandgeleitet. Heute zwar wohlig, aber wo ist das vielbeschworeneEigene? Das, was der Mensch wirklichsucht? Wie stark schüttet man sich mit fremden Wünschenund Vorstellungen zu, wie man sein müsste, damitman entspricht?«+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +BEATRICE FREY, geboren in Thun am Thunersee(Schweiz), <strong>Schauspiel</strong>ausbildung am Mozarteumin Salzburg. 1978 Gründungsmitglied des Wiener<strong>Schauspiel</strong>hauses, dort engagiert von 1978bis 1984 und 2002 bis 2004 (in der Zeit enge Zusammenarbeitmit Barrie Kosky), ausserdem am WienerEnsemble (1987 bis 1991). 1985 Förderung zurKainz-MedaiLLe für die DarsteLLung der Oi in»Mercedes« von Thomas Brasch am <strong>Schauspiel</strong>haus.Festengagements am SchlossparktheaterBerlin und am Volkstheater Wien. 2000 Josephine-Baker-Projekt»Chez Moi«. Seit 1979 zahlreicheRoLLen in Film und Fernsehen. 2012 EhrenmedaiLLeder Stadt Wien. Seit der Spielzeit2009/10 festes Ensemblemitglied am <strong>Schauspiel</strong><strong>Hannover</strong>.


»Der aberGLauben scHLIMMster ist,Den seinen FÜR Den ertrÄGLicHerenZU HALten«. GottHOLD ePHraim LessingTHEATERLEUTE GEHEN AUF DER BÜHNE JEDES RISIKO EIN, UM IHR PUBLIKUM ZU UNTERHALTEN UND WAPPNEN SICH, SO GUT SIE KÖNNEN,GEGEN DEN UNVERDIENTEN MISSERFOLG.VON KERSTIN BEHRENSEin Toi Toi Toi-Wunsch aus der Sammlung der Dramaturgin Kerstin Behrens.Da wird auf der Bühne geraubt, geliebt, gehadert, gemordet,angeklagt, aufgedeckt und abgezockt, verwandeltund abgehört, leidenschaftlich gesehnt und lustvollseziert – Abgründe, wohin man schaut. Wer sich sofurchtlos dem Schicksal stellt, hat etwas Beistand verdient,notfalls von den Theatergöttern, denen er durchdas Einhalten unzähliger Regeln und Riten dient. DasZentralblatt für Okkultismus wusste bereits in seinem<strong>Heft</strong> 2 des Jahrgangs 1908/9 ausführlich zu berichten,wie Theaterleute ihre <strong>Angst</strong> vor dem Misserfolg undanderen Widrigkeiten zu besiegen versuchen. --------»Bekanntlich gehören die vom Erfolg abhängigen Bühnenleutevon jeher zu den abergläubischen Menschen,die auf böse und gute Vorzeichen achten. So fürchtetensich Theodor Döring und Nestroy beim Gang ins Theaternicht nur vor schwarzen Katzen und alten Weibern,sondern auch vor Leichenzügen. Eleonora Duse trägtScheren und Bonbons als glückbringende Gegenständebei sich, während die Wolter gleich manchen anderenBühnenkünstlerinnen ein Bild ihrer Mutter als Talismanverehrte und Sarah Bernhardt nicht ohne eine langegoldene Kette mit allerhand daran befestigtem Nippesauftritt. Ganz besonders scheint der Aberglaube an derenglischen Bühne verbreitet zu sein. Englische Dramatikersollen zum Beispiel nie die Schlussworte einesBühnenstückes ins Manuskript schreiben, sondern sieerst am Abend der Vorstellung dem betreffenden Künstlermitteilen, um auf diese Weise das verhängnisvolleOmen zu verscheuchen; ein recht gewagtes Mittel, da esbei einem vergesslichen <strong>Schauspiel</strong>er BU? unter Umständendie Schlusspointe und damit den Erfolg des ganzenAbends verderben kann. Ganz verpönt ist das Erscheineneines Regenschirms auf der Bühne. Wer gar diesennützlichen Gegenstand auf den Tisch des Regisseurslegt, stürzt das Stück unfehlbar ins Verderben. Nichtminder gefürchtet sind Pfauenfedern. Aus diesem Grundsind mythologische Szenen, in denen die Göttermutterauftritt, wenig beliebt. Für besonders glückbringend giltdas Tragen alter Schuhe, insbesondere am verkehrtenFuße. Auch Kleider, in denen ein <strong>Schauspiel</strong>er mit Glückdebutiert hat, soll er, einer alten Theaterregel zufolge,möglichst lange, wenn auch von einem anderen Kostümverdeckt, am Leibe tragen.« ---------------------------Es sind strenge Theaterbräuche, bei denen viel zusammenspielt:Volksglaube früherer Zeiten, Eitelkeit, aber auchSicherheitsaspekte. Realer Unfallgefahr mit tapferemAberglauben zu begegnen – es ist diese vernünftige Unvernunft,die auch Skeptikern und Berufsanfängernerlaubt, sich mit mehr als seltsamen Ritualen nicht nur anzufreunden,sondern sie mit Begeisterung zu praktizieren. -Auf der Bühne darf man nicht pfeifen!Das Pfeifen lockt nicht nur Geister an, sondern ärgert sieauch. Deshalb ist es auf der Bühne verboten, immerhinkönnte ein Echo aus dem Zuschauerraum widerhallen.Tatsächlich entstand der Brauch aus einer Schutzfunktionheraus. Als nämlich noch Gaslampen die Bühnebeleuchteten, kam es vor, dass die eine oder andereihren Dienst versagte und mit einem leisen Pfiff ihre Explosionankündigte. Pfiff nun jemand auf der Bühne, inden Kulissen oder während der Probe, konnte es leichtzu Verwechslungen kommen. --------------------------------------------------------------------------------Toi Toi ToiTheaterleute glauben fest daran, dass es Glück bringt,wenn man sich vor der Premiere umarmt und den anderenKollegen drei Mal über die linke Schulter spuckt.Man spuckt das Schlechte einfach weg und der Erfolgkann nicht ausbleiben, allerdings nur, wenn man bereitsin Kostüm und Maske ist, und es darf darauf kein»Danke« folgen, denn dann passiert genau das Gegenteil.Anstatt »Toi Toi Toi« sagen die Franzosen »merde«,ein Brauch der auf das 19. Jahrhundert zurückgeht. Damalsfuhr das Theaterpublikum in Pferdekutschen vor,und viel Pferdescheiße bedeutete viel Publikum.--------------------------------------------------------------Auf der Bühne verboten!Die Bühne ist ein magischer, geradezu heiliger Ort, demman mit Respekt begegnet. Deshalb ist es nicht ratsam,aus privaten Gründen auf der Bühne zu essen, zu trinken,eine Kopfbedeckung oder private Kleidungsstückezu tragen. ----------------------------------------------------------------------------------------------------Nenne niemals das Stück, in dem die Hexen echteVerwünschungen aussprechen!Im Land Shakespeares erkennt man den Theaterbanausendaran, dass er den Namen eines Stückes ausspricht,das man, solange man sich in einem Theater aufhält,tunlichst nur mit ›The Scottish Play‹ umschreiben sollte.Wenn man Macbeth doch einmal hören sollte, hilft nur,sich dreimal linksherum um die eigene Achse zu drehenund anschließend dreimal auf Holz zu klopfen.----------------------------------------------------------------Man darf all das belächeln und ignorieren – aber niemals,niemals die unumstößliche Gewissheit, dass einererfolgreichen Premiere stets eine misslungene Generalprobevorauszugehen hat. -----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------


Die PrOGraMM-HöhepunkteNOVEMBER 2013 BIS JANUAR 201428.2903.11.13 <strong>Schauspiel</strong>haus06.11.13 Cumberlandsche Galerie16.11.13 <strong>Schauspiel</strong>haus17.11.13 Cumberlandsche BühnePeter PanPremiereFamilienstück nach James Matthew BarrieWendy und ihre Brüder sind allein zuHause, als Peter Pan sie in ein Zauberreichnamens Nimmerland entführt. Dorterwarten sie jede Menge Abenteuer, docham Ende muss Wendy einen Entschlussfassen. Die Geschichte über einen Jungen,der nicht älter werden möchte. MitPeter Pan schuf James Matthew Barrieeinen klassischen Helden der Kinderliteraturund begeistert damit bis heuteunzählige Menschen jeder Generation.Das neue Familienstück inszeniert MinaSalehpour. Kooperationspartner: enercityAndrzej Wirth:Flucht nach vornBuchvorstellung mit dem Autor und demHerausgeber Thomas Irmer, Preview-Ausschnitte aus dem Film Theater ohnePublikumAndrzej Wirth wurde 1927 in Wlodawageboren. Später lebte er in Warschau,New York, Venedig und war scheinbar immeram richtigen Ort, wenn es um neuesTheater ging. 1982 gründete er das Institutfür Angewandte Theaterwissenschaftenin Gießen, die Kaderschmiededes postdramatischen Theaters. Fluchtnach vorn, erschienen bei Spector Books,Leipzig, versammelt Wirths gesprocheneAutobiografie und Materialien.Das weisse AlbumEin Konzert mit Live-Musiknach dem gleichnamigen Beatles-AlbumPremiere1968 sind die Beatles auf ihrem künstlerischenHöhepunkt. Neben zahlreichenGeschichten ist Das weiße Album auchZeugnis der Zeit und Ausdruck des damaligenLebensgefühls: Ermordung JohnF. Kennedys, Attentat auf Rudi Dutschke,Papst-Enzyklika gegen die Pille... RolandSchimmelpfennig übertrug alle Songsvon The White Album neu ins Deutsche.Übernahme der Inszenierung vom <strong>Schauspiel</strong>Frankfurt (Regie: Florian Fiedler).Sie können das allessenden!Reden in der Demokratie.Ein TrainingslagerPremiereSehr geehrte Damen und Herren, liebeNeger. Reden führt zu unklaren, undeutlichenDingen. Sie können das alles senden.– Ein Theaterabend über das öffentlicheSprechen, seine Wirkung, seineBe di ngungen, seine Mittel. Christoph Frickkehrt mit dieser theatralen Untersuchungüber die Kunst der Rede an das <strong>Schauspiel</strong><strong>Hannover</strong> zurück, wo er bereits u.a.Tod eines Handlungsreisenden und Nathander Weise inszenierte.25.11.13 Künstlerhaus03.12.13 <strong>Schauspiel</strong>haus07.12.13 <strong>Schauspiel</strong>haus30.12.13 Ballhof ZweiFilmTheater:Theatermacher zu Gastim KünstlerhausKatja Gaudard zeigt Die Karamasovsvon P. Zelenka (Cz. 2009). Moderationund Übersetzung von Simona BaraziUnser Ensemblemitglied Katja Gaudardzeigt in Anwesenheit des Regisseurs denFilm über eine Prager <strong>Schauspiel</strong>ergruppe,die für ein Festival eine Theateradaptionvon Dostojewskis Die Brüder Karamasovpräsentieren soll. Es geht umVertrauen, Unsterblichkeit, die Erlösungdes Menschen und um Liebe und Eifersucht.Anschließend wird in der Montagsbar»tschechisch gefeiert«.Walter Sittler spieltErich KästnerAls ich ein kleiner Junge war…GASTSPielWalter Sittler spielt Erich Kästner in einereindrucksvoll inszenierten Erzählung. Ausimmer wiederkehrenden Erzählphasenwachsen kleine Szenen, nicht theaterhaftdramatisiert, sondern ausschließlichdurch eine Architektur aus Sprache, Musikund <strong>Schauspiel</strong> zusammengehalten.Der Abend zählt zu den erfolgreichstendeutschsprachigen Theaterproduktionendieser Tage – ein stilles Meisterwerk überdie Kraft des Erinnerns.Der VornameKomödie von Alexandre de la Patellièreund Matthieu DelaportPremiereMit Der Vorname landeten Alexandre dela Patellière und Matthieu Delaport dengrößten Presse- und Publikumserfolg derPariser Saison 2010/11. Die Komödie übereinen gemütlichen Abend mit Freundenund Familie des Literaturprofessors Pierreund seiner Ehefrau Elisabeth mündet ineine hitzige Debatte, als sein JugendfreundVincent den geplanten Vornamenseines ungeborenen Sohnes verkündet:Adolphe...Süd ParkEine Comic Trash RevuePremiereIst das politisch korrekt? Stän, Keil, Kartmänund Kennie fragen sich: Was darfman eigentlich tun oder sagen – undwas nicht? Dass das gar nicht so einfachzu beantworten ist, merken die vierFreunde aus dem Städtchen Süd Parkschnell. Aber warum eigentlich die ganzeAufregung um Professor*Innen, Burkinasim Schwimmunterricht und furzendeKühe? Political Correctness lässt denJungs keine ruhige Minute mehr. Da hilftnur noch eins: Glitter and be gay!01.01.14 <strong>Schauspiel</strong>haus16.01.14 Cumberlandsche Bühne17.01.14 Ballhof Eins18.01.14 <strong>Schauspiel</strong>hausQueenz of Piano:TastatourZwei preisgekrönte Pianistinnenund zwei KonzertflügelGASTSPielCharmant verpackt, kreativ inszeniert undamüsant dargeboten meistern die Queenzof Piano gekonnt den Spagat zwischenUnterhaltung und anspruchsvoller Musik,bieten die perfekte Kombination aus weiblichemCharme, mitreißendem Enter tainmentund musikalischem Können undmachen ihrem Namen alle Ehre. DennKöniginnen am Klavier, das sind siezweifelsohne – aber mit einem Augenzwinkern.Kaspar Häuser Meervon Felicia ZellerPremiereDrei Jugendamtssozialmitarbeiterinnen imständigen Bemühen, der Zeit nachzujagen,schneller zu sein. Jeden Tag zwischenAufopferungsbereitschaft und der<strong>Angst</strong> vor Fehlentscheidungen. FeliciaZeller sammelte ihr Material im Büroalltagdeutscher Jugendämter und schriebmit Kaspar Häuser Meer eines der klügstenStücke der Gegenwart. Bei den 33.Mülheimer Theatertagen erhielt es denPublikumspreis und wird seitdem zahlreichgespielt.Der Minator 2 –Judgement DayDAS HELMIPremiereMensch gegen Maschine: In Der Minator2 – Judgement Day begeben sich ein ausder Zukunft gesandter Zerstörungsroboterund ein Mensch zurück in die Gegenwart,um die katastrophalen Ereignisseder Zukunft zu verhindern. Mit Schaumstoffpuppenund stahlharten Muskelnnimmt sich DAS HELMI den Kultfilm mitArnold Schwarzenegger vor.Gefördert im Fonds Doppelpass der Kulturstiftungdes BundesEin Sommernachtstraumvon William ShakespearePremiereShakespeares Komödie über eine Sommernacht,in deren Verlauf einiges durcheinandergerät:Ekstase zwischen Traum und Albtraumim Labyrinth der Gefühle. »Shakespeareergreift nicht Partei, propagiert keineWahrheiten und liefert keine Richtlinienzur Bewältigung des Lebens. Indem er Problemeaufwirft, ohne sie durch zeitbedingteAntworten zu verschleiern, fordert er jedeGeneration aufs Neue dazu heraus, ihre eigeneHaltungen zu finden.« (Peter Brook)


Tschick von Wolfgang Herrndorf. Szene mit Daniel Nerlich.


30.31Foto: Arzu Sandal


Karten (0511) 9999 1111 . www.schauspielhannover.de . findet uns beiIMPRESSUM <strong>Heft</strong> <strong>#14</strong> HERAUSGEBER Niedersächsische Staatstheater <strong>Hannover</strong> GmbH, <strong>Schauspiel</strong> <strong>Hannover</strong>, Spielzeit 2013/14 INTENDANT Lars-Ole Walburg REDAKTIONDramaturgie GESTALTUNG María José Aquilanti, Philipp Baier, Birgit Schmidt DRUCK Berlin Druck, Achim

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