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Goethe aus Goethe gedeutet - im Shop von Narr Francke Attempto

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Auf der Ebene des Satzes vollzieht sich ein Ähnliches. Zunächst einmal wandeltsich das negierende Pronomen „niemand“ der dritten Zeile zum positiven „man“der vierten. Sodann wechseln Prädikat und Zeitbest<strong>im</strong>mung in diesem Verspaarihren Ort; <strong>aus</strong> „Niemand versteht zur rechten Zeit! –“ wird „Wenn man zu rechterZeit verstünde“ – auch hier die Bewegung des ‚Glockenklöppels’ diesmal <strong>im</strong> Platzt<strong>aus</strong>ch<strong>von</strong> Verb und Adverbiale. Dabei wandelt sich das klanglich blasse, wennauch durch seinen Indikativ best<strong>im</strong>mtere, jedoch negierte „versteht“ zum <strong>im</strong>merhinpotentialen „verstünde“, das mit seiner volleren Intonation, der stärkerenAkzentuierung am Versende und seinem auf die utopisch-kl<strong>im</strong>aktische Schlußzeilehinzielenden Re<strong>im</strong> Hoffnung erweckt.Der „Glockenton, der ernst-freundlich durch die Lüfte wogt“ – man denke andas befreiende Läuten der Osterglocken in F<strong>aus</strong>t – manifestiert sich auch <strong>im</strong>Metrum. Der ansteigende Klang der vierhebigen Jamben, den der erste Verszunächst modellhaft kirchenlied-ähnlich darstellt (etwa wie in „Ein’ feste Burg istunser Gott“) wird unterbrochen. Die Verse 2 bis 4 kennzeichnet ein anderesMetrum: sie setzen jeweils mit einem Choriambus ein, ehe sie das jambische Versmaßweiterführen. Eine zweite Glocke scheint sich dazugesellt zu haben. Zu Endedes Gedichts stellt sich der steigende rein jambische Rhythmus des Beginns wiederher, die beiden Endverse sind <strong>von</strong> ihm getragen, das ‚Wogen’ hat aufgehört, bevordas Gedicht nun in Ruhe <strong>aus</strong>klingt.Wenn man sich nun den einzelnen Lauten zuwendet, bemerkt man das alliterierende‚w’, das <strong>im</strong> ersten Vers mit „Warum“ und „weit“ das Wort „Wahrheit“umrahmt, mit „Wenn“ den vierten einleitet, dann <strong>im</strong> fünften in „wäre Wahrheit“wieder aufscheint, innerlich ergänzt durch das ‚w’ in ‚weit’, das wir bei „breit“mitdenken, und letztlich nochmals aufgenommen <strong>im</strong> nur wenig betonten „wäre“des letzten Verses. Es ist, als nähme man anfangs und am Ende, da die Jambenihren regulären Ablauf nehmen und das ‚Wogen’ noch nicht oder nicht mehrerklingt, das Wehen des Luftstroms wahr, den die Glocke erzeugt. Ferner: wenn<strong>von</strong> der Wahrheit, ihrem Tun oder Sein, die Rede ist, taucht der helle ‚i’-Laut auf,eingeführt durch den Diphthong ‚ei’, der phonetisch ja ‚a’ und ‚i’ vereint. In „Birgtsich hinab in tiefste Gründe“ best<strong>im</strong>mt das ‚i’ den Vers fast <strong>aus</strong>schließlich, (dennauch das ‚ü’ <strong>von</strong> „Gründe“ wird zuletzt seinen Re<strong>im</strong>respons in einem ‚i’-Wort finden),aber der helle Vokal kommt noch nicht zum Tragen und bleibt, dem Inhaltder Zeilen entsprechend, verhalten. Noch fehlt ihm der Konsonant, der vor demletzten Vers <strong>im</strong> ganzen Gedicht kein einziges Mal vorkommt: das ‚l’. Mit dem dre<strong>im</strong>alerklingenden und, wie man später <strong>im</strong>mer wieder sehen wird, <strong>von</strong> <strong>Goethe</strong> alsChiffre intensiver Bejahung, ja Beglückung, eingesetzten Phonem „li“ 18 in „lieblichund gelinde“ erreicht das Gedicht seinen Höhepunkt und seinen Ausklang.Zurück bleiben, nachschwingend, klangliche Assoziationen <strong>von</strong> Lindheit, Lichtund Liebe als Erscheinungsformen der Wahrheit, ihren Hypostasen. Aber sie werdennur verhalten genannt. Der Konjunktiv wird nicht aufgehoben, das „wäre“bleibt in Doppelung unvermindert bestehen, und dennoch wurde mögliche Erfüllunggewiß. Denn: „Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wirmüssen es <strong>aus</strong> seinen Manifestationen erraten.“18 Zu <strong>Goethe</strong>s Sprachmusik und ihrer Auslegung siehe S. 35–37.9

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