Prof. Dr. Kh. A. GeißlerInzwischen lernen alle, nicht nur Individuen.Es lernen Organisationen, Verwaltungen, ja,man glaubt es kaum, es lernen Schulen <strong>und</strong>auch Universitäten spekulieren neuerdingsdamit. Bald werden wir – das ist erwartbar –den lernenden Verkehr, zumindest den auf derStraße, erwarten dürfen.Die Anforderungen zum unentwegten Lernenbedrängen uns; <strong>und</strong> wir „K<strong>und</strong>en“ mit unsereranerzogenen Neigung zum Statusgewinn, lassenuns auch gerne drängen. „Ohne Lernen“,so die Drohung, „keine Chance“. Das wisseninzwischen alle. Es müssen ja auch alle wissen.„Wer aufhört zu Lernen, hört auf zu Leben“– behauptet nämlich die MünchnerVolkshochschule <strong>und</strong> plakatiert dies großformatigin der ganzen Stadt, um noch mehr TeilnehmerInnenvon sich zu überzeugen. Lernenerscheint als das universelle Entwicklungs<strong>und</strong>Veränderungsmodell. Die ökonomischen<strong>und</strong> die gesellschaftlichen Einredungen scharensich derzeit auffällig häufig um Bildungs<strong>und</strong>Lernbegriffe. Die Politiker, die Managerin den Betrieben <strong>und</strong> Spitzenverbänden <strong>und</strong>auch die Wissenschaftler, sie beschwören die„Ressource Geist“. „Wissen“, so ihre Behauptung,„sei der wichtigste Rohstoff der Zukunft“.Dabei führt uns der Weg in eine „Wissensgesellschaft“<strong>und</strong> Lernen soll der vielfachnutzbringende Schlüssel für diese sein! Wirsind unterwegs auf dem ‚Qualification-highway’<strong>und</strong> transportieren dort den „RohstoffGeist“ im immer dichter werdenden ‚Berufsverkehr’von einem Stau in den nächsten. ImmerwährendesLernen – das ist angesagt. EinEntkommen davon scheint es nicht zu geben.Nur mehr der Tod befreit uns davon. Dochmeist nur, wenn man vorher eines dieser Seminare(erfolgsreich?) besuchthat, in denen man das Sterbenlernen kann. Lernen, also nichtnur lebenslang, sondern auchlebenslänglich.„Bildung total“ ist das politischeProgramm, das von einerBildungspolitik konterkariertwird, die nicht viel mehr zubieten hat, als eben diese vollm<strong>und</strong>igeRhetorik. Warum aberdieser sprachliche Aufwand?Warum diese unübersehbareFülle von Appellen? Warum dieDrohung, dass ohne lebenslangeBildungsbemühungen„nichts mehr läuft“, weder dieWirtschaft, noch die Wohlstandsmehrung<strong>und</strong> erst recht nicht die ersehnte,aber immer unwahrscheinlichere Karriere?Die Antwort ist einfach. Unsere Zukunft,so die Botschaft, die gerne mit dem Gespensteiner zunehmend beschleunigten Verfallszeitdes Wissens operiert, liegt in unsererHand (Oder besser: in unseren Köpfen). Essoll, um des ökonomischen Wachstums willen,mehr aus uns Menschen gemacht werden,<strong>und</strong> zwar durch stetige Selbstverbesserung.Nur dann geht’s weiter, wenn es mit unsselbst weitergeht. Nicht die Politik, wir selbststehen unter Zugzwang. Eine seltsame Arbeitsteilung.Für das ständig schlechte Gewissen,zu wenig gelernt zu haben, <strong>und</strong> für die Angst,morgen von gestern sein zu können, dafürsorgen unsere Politiker; alles andere haben
Prof. Dr. Kh. A. Geißlerwir selbst zu erledigen. Ist das die Bildung, diewir uns von ihr erwarten? Ist das die <strong>Freiheit</strong>,die wir durch <strong>und</strong> mit Bildung zu vermehrenhoffen? Bezweifelt werden darf <strong>und</strong> mussdies, wenn man sich die neu geschaffenenLernlandschaften anschaut, Sie sind, wie unsereübrige Landschaft auch, vom Dauerinnovationsdruckgezeichnet. Die Lernwege indiesen Lernlandschaften wurden zu Hochgeschwindigkeitsstreckenausgebaut.Unsere Weiterbildung gleicht mehr <strong>und</strong> mehrden fast-food Errungenschaften unserer „Esskultur“.Gezwungen <strong>und</strong> zwanghaft verschlingenwie die Lehr- <strong>und</strong> Lernstoffe. IBMetwa proklamierte jüngst die „Just-in-TimeWeiterbildung“. Das ist jene Bildung, die nurnoch für den aktuellen Moment ihres Einsatzesmit hohem Verderblichkeitsrisiko bestimmtist. So wird das Lernen ein zentralerTeil unserer Beschleunigungsgesellschaft, inder die Individuen ruhelos ihrer eigenen, immerschneller verfallenden Brauchbarkeit hinterherrennen (müssen).Eine „R<strong>und</strong>-um-die-Uhr-Produktion“ produziert ein „R<strong>und</strong>-umdie-Uhr-Lernen“<strong>und</strong> das ist nicht etwa diegroße <strong>Freiheit</strong>, sondern die lebensumfassendeGlobalisierung der Lernzumutung. Wer aufmerksambeobachtet <strong>und</strong> mit kritischem Geistdie Lernaufforderungen analysiert, merkt,dass Lernen nicht mehr, wie ehemals, eineWahlmöglichkeit von vielen ist, sondern zueiner Notwendigkeit wurde, die nicht seltenvon einer Nötigung nicht mehr zu unterscheidenist.Im Konzept des lebenslangen Lernens, wie esuns heute angepriesen wird, ist der Anspruchauf Reife <strong>und</strong> Sicherheit, aufs Erwachsensein,aufgegeben. Man wird nie mehr erwachsen,muss sich aber ein Leben lang darum bemühen– <strong>und</strong> jede Bildungsveranstaltung dementiert,dass man es vielleicht bereits sein könnte.Wir werden nicht mehr fertig (eher schonfertig gemacht), wir werden permanent als defizitärdefiniert; <strong>und</strong> das heißt, wir können unsimmer seltener als souverän erleben <strong>und</strong> verstehen.Das staatssubventionierte Programmdes lebenslangen Lernens ist, so gesehen, dieVerurteilung zu lebenslanger Dummheit, sowieder endlose, weil aussichtslose Kampf dagegen.Um den Preis einer durchs System aufgezwungenenInfantilität werden wir von unsererUnwissenheit befreit <strong>und</strong> damit lebenslangdem Wettbewerbsprinzip als Scheinselbständigeausgeliefert. Wenn wir immerzulernen müssen, wird das gesamte Leben zurSchule. Dann sind wir – mit einem Ausdruckvon Habermas – „Dauer-Adoleszenten“. Sogesehen produziert das lebenslange Lerneneine infantil-orale Lebensauffassung. Lernsituationenhaben nämlich ein strukturellesHerrschaftsgefälle. Es besteht eine Hierarchiezwischen Lehrenden <strong>und</strong> Lernenden <strong>und</strong> zwischendem „Gelernthaben“ <strong>und</strong> dem „Immerweiter-Lernen-müssen“:Einen festen Platz findenwir nicht mehr. Als Lern-Nomaden, imschlechteren Fall als ewig wandernden Baustelle,müssen wir unser Leben fristen. Dasganze Leben wird zur Vorbereitung auf dasLeben.Bildungspolitisch wurde in den letzten Jahrenein gr<strong>und</strong>legender Perspektivenwechsel vollzogen.Hieß das Bildungsprogramm früher:„Durch Abhängigkeit zur Selbständigkeit“, soverlagert das Konzept des „lebenslangen Lernens“die erhoffte Selbständigkeit in die Zeitnach dem Ende des lebenslangen Lernens. Indemman alles tut, um über Bildung autonomerzu werden, gerät man immer mehr in derenAbhängigkeit. Dies ist die neue Paradoxieder alten Dialektik der Aufklärung. Wobei diesesnicht zuletzt deshalb so gut funktioniert,weil ein lebenslanges Lernen unserer Neigungentgegenkommt, das Altern <strong>und</strong> den Tod zuverdrängen. In der inzwischen ziemlich aufgedunsenenlife-style Vokabel vom „lebenslangenLernern“ hat sich der Geist der Aufklärung<strong>und</strong> d.h. die Idee, sich aus der selbstverschuldetenUnmündigkeit via Lernen befreienzu können, aufgelöst. In der täglichenNötigung, den Bildungszug ja nicht zu verpassen,hat sich die immer schon etwas über-