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Allein unter Schafen - Alexandre Dupeyron

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SKEPTISCHER BLICKAUS DER HERDE.UND KUSCHELNWOLLEN DIE SCHA-FE AUCH NICHT SOWIE GEDACHT.IM ALMRAUSCH:URKO UND ELIASRENNEN DENSCHAFEN HINTER-HER.<strong>Allein</strong><strong>unter</strong> <strong>Schafen</strong>TEXT NATALY BLEUELFOTO ALEXANDRE DUPEYRONMit Schäfer und Tieren auf der Weide, nachts <strong>unter</strong> dem Sternenhimmelschlafen: Eigentlich ein Traum-Familienurlaub, oder?2 3


DAMIT DIE HERDE GE-HORCHT, BRAUCHTMAN EINEN HIRTEN-STAB. URKO ZEIGT ELI-AS, WIE MAN DAMITUMGEHT.DER LETZTE SEINERART: ENRIKES SÖHNEWOLLTEN NICHT WIEER HIRTE WERDEN.SCHAFE ZÄHLEN.WÄRE EINE GUTEIDEE GEWESEN,DENN DIE NACHTAUF DER ALM WARNICHT SO GUT.dDIEDen Wald haben wir hinter uns gelassen,der Weg wird steinig und steil. Die Berge sinkenins Abendlicht, über die Weiden legt sichzartes Rosa. Das Gemecker der Kinder verstummt,die Stimmung hat sie eingefangen.Wir kommen auf eine riesige Alm <strong>unter</strong>halbdes Gipfels. Dort steht eine steinerne Schäferhütte,an einem Felsen, fast wie eine Burgruine.Über der Tür steht in großen Buchstaben:Enrike. Die Tür ist zu, keiner da. „Wo ist derSchäfer?“, fragt Matteo.Dass wir hier sind, am Berg Gorbeia imHinterland von Bilbao, auf der Suche nacheinem Schäfer, genauer gesagt: auf der Suchenach dem Schäfer – an alledem ist Tomi Ungererschuld. Er hat das in seinem Liederbuchso gemalt: Ein Schäfer am Fuß eines Felsens,neben ihm grast seine Herde, wie weiße Wollwölkchenauf einer Wiese. Er trägt einen hohenHut und stützt sich auf einen Stab. Es istNacht, und der Schäfer schaut auf eine Burgruine.In einem der Fenster brennt warmesLicht. Auf dem Bild ist alles gut. Das Liederbucherschien 1975, da war ich so alt wie meineKinder heute. Seitdem habe ich dieses Bildvon Schäferidylle in meinem Kopf.Dieses Bild will ich in echt sehen. Deshalbplane ich mit meinen Söhnen eine Reise: einpaar Tage raus aus der Stadt, Schafe hüten.Elias und Matteo sind neun und sieben Jahrealt, also im besten Hirtenjungenalter. Ob siedarauf Lust haben, frage ich erst gar nicht. Ichkenne die Antwort: Matteo hasst wandern,Elias hasst zelten. Ich muss sie zu ihremGlück zwingen.Aber erstmal muss ich einen Schäfer auftreiben,einen wie bei Tomi Ungerer.Ich suche im Internet, da finde ich SchäferMeinecke aus dem Wendland. Dort sieht manihn mit einem hohen Hut wie der Schäfer aufdem Ungerer-Bild und einem gezwirbeltenBart. Er sagt am Telefon, wir sollten ruhigkommen, er würde uns durch die NemitzerHeide führen und uns allerlei über Gräserund Vögel erzählen. „Denn die größte Herausforderungbeim Schafe hüten ist die Langeweile“,brummt er in den Hörer. Allerdingsbleibe er nicht bei seiner Herde, gemütlichersei es doch daheim im warmen Bett. MeineSöhne strahlen, als sie das hören: Nicht zel-FAMILIENATALY BLEUEL, 44 JAHREIST EIGENTLICH KEIN TIER-TYP – AUSSER, WENN MAN SIE ESSEN KANN.AM LIEBSTEN MAG SIE GEGRILLTE LAMMKOTELETTS MIT VIEL KNOBLAUCH.ELIAS LJUBIC, 9 JAHREKANN KEINE MESSER SEHEN UND SCHON GAR NICHT AN LAMMHAXEN.DAHER LÄSST ER JETZT NUR NOCH SCHAFSKÄSE AUF SEINEN TELLER.MATTEO LJUBIC, 7 JAHREHAT DIE VERBINDUNG ZWISCHEN LAMM UND KOTELETT NOCH NICHTGANZ VERSTANDEN UND TRÄUMT WEITER VON KUSCHELSCHAFEN.ten! Cool! Doch ich hatte mir das nicht sovorgestellt. Ein paar Tage später sagt unsSchäfer Meinecke ab: Bandscheibenvorfall.Ich suche überall – in Deutschland, Irland,Schottland, Skandinavien, Rumänien, Griechenland,Frankreich, in den ganzen Alpen.Aber Wanderschäfer sind schwer zu finden.Überall gibt es fast nur noch Acker- undkaum noch Weideland, es gibt mobile Koppeln,die sich schnell dorthin verschiebenlassen, wo gerade Futter zu finden ist. DiePreise sind zu niedrig, um von Käse, Wolleoder Fleisch leben zu können. Mit <strong>Schafen</strong>über Wiesen zu wandern – das ist heutekaum mehr möglich.Eine Spanienkennerin gibt mir einenTipp, und so landen wir am Gorbeia, imnordwestlichen Baskenland. Hier sind dieBerge mit grünen Matten und Wäldern überzogen,auf den Wiesen blühen Butterblumen,durch die Täler plätschern Bäche. Der Gorbeiaist mit 1480 Metern der höchste Berg inder Gegend. An seinem Fuß lebt Aser AstorganoMartin. 42 Jahre alt, ein kugeliger Mannmit wachen dunklen Augen. Er hat eine Frau,zwei Söhne, drei Hunde und xx Schafe. AsersHof liegt oberhalb des Dorfs Ubide. Ein neumodischerZementkasten mit Stall, Käserei,Wohnküche und Vorhof zum Ballspielen.Aser und seine Familie können allein vomKäse, den sie mit der Schafsmilch machen,nicht leben. Während er am Wochenende aufMärkten den Käse verkauft, kellnert seineFrau in einem Lokal.Wir stehen auf dem Hof, die Sonne brenntauf Asers Halbglatze, es riecht streng nachMolke. Und, wo sind jetzt die Schafe? Aserdeutet Richtung Berg: „Ein paar Minuten mitdem Auto die Straße hoch.“ Mit dem Auto?Wir wollen wandern, mit den <strong>Schafen</strong>! Unterdem baskischen Sternenhimmel schlafen!Aser lacht. „In die Berge gehen nur noch dieAlten“, sagt er, und es klingt wie „die Irren“. Ertreibt seine Schafe morgens auf die Gemeindeweide,abends holt sein fünfjähriger SohnUrko sie zurück. Ich erzähle nichts von meinemUngerer-Schäfer.Der kleine Urko steht braun und breitbeinigvor meinen blassen blonden Söhnen.„Jetzt holen wir meine Schafe!“ Wir fahrenauf dem Pick-up zur Weide, ein Hund darfmit, die beiden anderen bleiben zurück – siewürden sich nur gegenseitig vom Arbeitenablenken. Matteo hat vor fast allen Tieren*HINTENIM BILD:URKO, DERSOHN DESSCHÄFERS.4 5


»Mama, das nächste Malsuchen wir Termiten. Die sindschlauer als Schafe«WIE RÜCKLICHTER: DAMITDIE SCHAFE NICHT VERLO-REN GEHEN, WERDEN SIEMIT FARBE MARKIERT.6 7


DIE WELT DES SCHAFSMEHR ALS NUR MÄH50bAngst, deshalb bleibt er immer an meinerSeite. Aber Schafe haben vor Kindern mehrAngst als umgekehrt. Wir klettern über dasGatter, Matteo pirscht sich vorsichtig an dieTiere heran, er will sie streicheln – da rennensie davon.Etorri, Asers Hund, hört auf die knappenKommandos und treibt die Tiere zusammen.Gute drei Dutzend laufen jetzt auf die Straße.Mein Sohn Elias fragt: „Die passen doch garnicht alle ins Auto!?“ Die Antwort ist ein langerHirtenstab, Aser drückt ihn Elias in dieHand – und schon folgt die Herde brav meinemSohn. Matteo geht lieber auf Abstandund trottet den <strong>Schafen</strong> hinterher. Am Hofangekommen, lotst Elias die Herde in denStall, schließt das Tor und strahlt wie nacheiner bestandenen Prüfung.Schafe hätten wir jetzt also schon mal ausnächster Nähe gesehen. Aber wo ist ein Schäfer,wie ich ihn mir erträume? Einer, der Tageund Nächte lang mit seinen <strong>Schafen</strong> über dieWeiden zieht. Nicht so ein Moderner mit Geländewagen,Handy und steriler Käserei.Nachdem die Tiere versorgt sind, frage ichAser danach.Aser zeigt Richtung Berg. „Da drüben istEnrikes Hütte – da müsst ihr hinwandern!“Meine Söhne blicken dem ausgestrecktenArm von Aser nach. Und murren nicht.Natürlich hat auch Schäfer Enrike einHandy. Wir sollen ihn bei seiner Hütte treffen.Endlich wandern!Wir verabschieden uns von Aser und seinerFamilie und schultern Zelt, drei Schlafsäcke,Klamotten für jede Witterung, vielWasser, Brot, Wurst und Käse. Ein paar Meter– und schon stapft Elias auf der Jagd nacheiner Heuschrecke in den Sumpf und kriegtnasse Füße. Eine dreiviertel Stunde späterwill Matteo getragen werden. Bis wir endlichvor jener Hütte stehen, die Enrike gehört.Aber Enrike ist nicht da.Ich verrate nicht, dass er erst morgen frühkommen wird, mit dem Auto. Enrike ist 68Jahre alt und verzichtet lieber aufs Zelten. Ichblicke über die Alm, schwärme: „Ist das nichttoll?“ Elias brummt: „Und wo sind die Schafe?“Auf der Alm stehen Pferde und Kühe.Keine Schafe. Am Horizont, dort wo die Almzum Gorbeia aufsteigt, entdecken wir lauterweiße Punkte. Wir rennen los – und die Schafeweg. Sie haben rote Punkte auf dem Hintern,wie Rücklichter, keuchend sehen wirden hoppelnden Farbtupfern in der Dämmerungnach. Schließlich pirschen wir uns andie Herde heran, wie Indianer. Matteo flüstert:„Die haben Angst. Vor mir!“ Elias erklärt,ganz fachmännisch: „Wir braucheneinen Stab und einen Hund, wir müssen aufEnrike warten.“Wir sitzen vor dem Zelt, kauen auf Baguetteund Chorizo-Wurst und schauen zu,wie sich die Nacht über die Welt legt. DieKuhglocken verstummen. „Ganz schön gemütlich“,sagt Elias.Von wegen: Die Nacht ist beschissen, derBoden aus Stein. Ich klaue Matteos Kissenund fühle mich mies dabei. Heftiger Windlässt jeden Zeltzipfel flattern. Beim Pinkelntritt sich Elias Disteln in den Fuß. Am Morgenseufzt Matteo: „Ich will heim.“Am nächsten Morgen klappert ein uralterLandrover den Berg herauf. Ein weißhaarigerMann steigt aus und lacht uns an. An den Füßenträgt er dicke Wollsocken, um die Sohlensind Lederriemen gebunden. Das kann nurEnrike sein, der Schäfer. Die – mehr oder weniger– wirkliche Version jenes Bildes, dasmir Tomi Ungerer in den Kopf gepflanzt hat.Er ist der letzte seiner Art hier. Seit er vierzehnJahre alt ist, hütet er Schafe. Wie schonsein Vater, wie schon sein Großvater. Enrikehat seinen Hof im Tal, dort baut er Obst undGemüse an. Seine Söhne wollen weder damitnoch mit den 300 <strong>Schafen</strong> hier oben auf derABENTEUER AM MORGEN:KATZENWÄSCHE AM TÜMPEL.Alm irgend etwas zu tun haben. „Denen istdas zu blöd“, sagt Enrike.Jetzt ist der Schäfer da, gehen wir also dieSchafe holen! Aber Matteo greint: „Schonwieder wandern?“ Ich übersetze Enrike, dassmein Sohn lauffaul ist. Er lacht: „Ich auch.Aber ich hab ja den Hund – der holt die Schafefür mich.“ Der Hund rennt los, wir springenhinterher.Enrike gibt pfeifend Kommandos undlotst den Hund damit aus der Ferne. DieSchafe trappeln wie eine Wolke über die Weide,im Zeitraffertempo kommen sie zu unsherüber – wir klatschen dem Hund Applaus.Elias rennt im Slalom um Disteln, Kuhfladenund Schafsköttel, „so macht Wandern Spaß!“,sagt er. Wir folgen der Herde und ihrem Hirtendie Alm hinauf, so gut es eben geht. DennEnrike hat für sein Alter einen strammenSchritt. Zurück an seiner Hütte, müssen wirschieben und pressen, Schafe sind ja so stur!Enrike möchte die Lahmenden verarzten,aber die Schafe wollen nicht in die Koppel, siestemmen sich mit ihren Hufen und Hinternwie Türstopper in die Wiese, doch sie habenkeine Chance. Enrike zückt ein scharfes Messerund schneidet großzügig Hufe ein, bis erdie Dornen und Splitter entfernt hat. Eliasschlägt die Hand vor die Augen, er kann keinBlut sehen. Erst nach einer Weile schielt ervorsichtig durch die Finger.Matteo versucht, sich einem Schaf zu nähern.Es hoppelt weg. Wie es denn heißt, willer wissen. „Ardiak,“ sagt Enrike. Und das da?Matteo deutet auf das nächste. „Ardiak.“ Ardiakheiße Schaf auf baskisch, sagt Enrike, sieFOTOS: GETTYSTER MUSTERMANN/BLINDAGENTUR; MUSTER MUSTERMANN/BLINDAGENTURPAAR DICKE SOCKEN KANN MANAUS DER WOLLE STRICKEN, DIE EINMILCHSCHAF PRO JAHR PRODUZIERT.SCHAFE KÖNNEN ZWISCHEN50 VERSCHIEDENEN ARTGENOS-SEN UNTERSCHEIDEN UND INSCHNEE EINGEGRABEN BIS ZUZWEI WOCHEN ÜBERLEBEN.MUTTERSCHAFZIBBEEXTREME SHEEP HERDING, SCHAF-KREISEL UND ERNIE & BERT UNTERNIDO.DE/SCHAFESCHAFE TRINKENNIEMALS AUSFLIESSENDENGEWÄSSERN.VATERSTÄRBOCKWIDDERHILFT SCHÄFCHENZÄHLEN?1 2 3 4 5PROF. CHRISTIAN KRÜGERVOM SCHLAFMEDIZINISCHENZENTRUM HAMBURG:„LEIDER OFT NICHT. DAS ZÄHLEN BASIERTAUF DER GEISTIGEN VORSTELLUNGSKRAFTUND ERZEUGT MONOTONE BILDER IM KOPF.FÜR VIELE IST DAS SO LANGWEILIG, DASS SIEMIT DER ZEIT ABSCHWEIFEN UND SICHANDERWEITIG GEDANKEN MACHEN.“KINDLAMMDAS LAMM IST NEBENDER TAUBE DAS AM HÄU-FIGSTEN VORKOMMENDETIER IN DER CHRISTLICHEN IKONOGRAFIE.DER ERSTE HEISS-LUFTBALLON DERBRÜDER MONTGOL-FIER WURDE AM 5.JUNI 1783 IN DERNÄHE VON ANNO-NAY IN FRANKREICHSTEIGEN GELASSEN.DARIN: EINE ENTE,EIN HAHN UND EINSCHAF.chaben keine Namen. Er <strong>unter</strong>scheide sie nachGröße, Alter, Geschlecht und nach ihremHinken. „Kuscheln kann man nicht, die rennenimmer davon.“ Matteo verschränkt dieArme und stellt fest: „Außerdem sind die hiernackt.“ Kein Wunder: Enrike hat sie erst vorzwei Wochen geschoren.Plötzlich platschen dicke Tropfen auf unsher<strong>unter</strong>, schnell in die Hütte. Enrike öffnetdie rote Tür, darin stehen ein Ofen und sechsStockbetten. „Hier haben mal viele Hirten geschlafen.Alle ausgestorben – bis auf mich“,lacht er. Auf einem Regalbrett stehen Gin,Brandy und Sherry. „Schnell noch einSchlückchen“, sagt Enrike und hält den Jungseine Flasche hin. „Ich will heim. Wollt ihrbleiben?“Meine Kinder schütteln die Köpfe. Siewollen mit Enrike fahren. Im Auto schimpftMatteo: „Die Hunde sind cool, aber die Schafewaren dämlich“. Und Elias sagt: „Dasnächste Mal gehen wir Termiten suchen, diesind schlau und können sogar Häuser bauen.“Der Wagen ruckelt über das Geröll, talabwärts,und ich denke über die letzten Tagenach. Ja, ich bin schuld. Daran dass wir in derStadt leben. Dass wir uns einbilden, alles wasFell hat, wolle sich von uns kraulen lassen.Dass wir alte Bilderbücher lesen und romantischenIdealen nachhängen. Den nächstenUrlaub dürfen die Kinder bestimmen!Einige Wochen später fahren wir über denBrenner. Matteo sagt: „Hier sieht es aus wiebei Enrike“, und Elias erwidert versonnen:„Nur nicht so schön.“ Ich bin fassungslos:„Das Schafehüten hat euch also gefallen?“Das sei doch eine super Reise gewesen, sagensie. Die schönen Wiesen. Die Nacht auf demBerg. Das Wandern mit Enrike. Und dieSchafe!8 9

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