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temeswarer beiträge zur germanistik - Facultatea de Litere, Istorie şi ...

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TEMESWARERBEITRÄGEZURGERMANISTIKBand 10V E R L A GM I R T O N2 0 1 3


TEMESWARER BEITRÄGEZUR GERMANISTIKBand 10


Gedruckt mit För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Konsulats <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublikDeutschland in TemeswarDank gebührt Herrn Konsul Klaus Christian Olasz für seinfreundliches EntgegenkommenDer Band einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Je<strong>de</strong>Verwertung außerhalb <strong>de</strong>r engen Grenzen <strong>de</strong>s Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmung <strong>de</strong>s Mirton Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson<strong>de</strong>re fürVerfielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen.Printed in RomaniaISSN: 1453-7621


TEMESWARER BEITRÄGEZUR GERMANISTIKBand 10Mirton VerlagTemeswar 2013


Herausgeberin:Prof. Dr. Roxana Nubert (West-Universität Temeswar)Universitatea <strong>de</strong> Vest din TimișoaraColectivul <strong>de</strong> limba și literatura germanăBd. V. Pârvan 4RO-300223 TimișoaraE-Mail: ana@litere.uvt.ro.Redaktion:Dr. Laura Cheie (West-Universität Temeswar)Dr. Kinga Gáll (West-Universität Temeswar)Dr. Alwine Ivănescu (West-Universität Temeswar)Dr. Beate Petra Kory (West-Universität Temeswar)M. A. Anna Lindner (OeAD, Wien)Doz. Dr. Marianne Marki (West-Universität Temeswar)Dr. Alina Olenici-Crăciunescu (West-Universität Temeswar)Dr. Grazziella Predoiu (West-Universität Temeswar)Dr. Gabriela Șandor (West-Universität Temeswar)Dr. Mihaela Șandor (West-Universität Temeswar)Redaktionsbeirat:Emer. Dr. Herbert Bockel (Universität Passau)Prof. Dr. Johann Holzner (Leopold-Franzens-Universität Innsbruck)Prof. Dr. Mariana-Virginia Lăzărescu (Universität Bukarest)Prof. Dr. Hermann Scheuringer (Universität Regensburg)Sonstige Hinweise:Die Zeitschrift erscheint jährlich in einem Band.Bestellungen nimmt <strong>de</strong>r Germanistik-Lehrstuhl an <strong>de</strong>r West-Universität entgegen.Alle Informationen <strong>zur</strong> Zeitschrift sind online auf <strong>de</strong>r Webseite <strong>de</strong>s Germanistik-Lehrstuhls an <strong>de</strong>r West-Universität Temeswar:http://www.litere.uvt.ro/lb._germ.htm zu fin<strong>de</strong>n.Druckvorlagenherstellung:Dr. Mihaela Șandor (West-Universität Temeswar)Ladislau Szalai (Mirton Verlag Temeswar)


Inhaltsverzeichnis„Leben wir also. Aber man lässt uns nicht leben. Leben wir also im Detail.“Zur Fokussierung auf ‚kleine Dinge‘ in Herta Müllers Romanen(Grazziella Predoiu, Temeswar) ................................................................. 7Der Nobelpreis für Literatur: Atemschaukel (Roxana Nubert/Ana-Maria Dascălu-Romiţan, Temeswar/ Bukarest) ................................ 33Herta Müllers Sprachpantomime Atemschaukel.Ein Annäherungsversuch an die Zentralmetapher <strong>de</strong>s Romans(Beate Petra Kory, Temeswar) .................................................................. 59Zu einer literarischen Kippfigur: Carmen Francesca Bancius„Mutter unser“ (Laura Cheie, Temeswar) .............................................. 69Die Wandlungen <strong>de</strong>s Dichters Manfred Winkler (Hans Bergel, München) ..... 85Die Sammlung <strong>de</strong>r Banater Märchen und Sagen im Kontext <strong>de</strong>rEuropäischen Ethnologie und <strong>de</strong>s Multikulturalismus(Bianca Andrea Barbu, Temeswar) .......................................................... 97Literaturzeitschriften, Kulturpolitik und Kanonbildung in Österreich,1933 bis 1965 (Sigurd Paul Scheichl, Innsbruck) .................................. 117Ent<strong>de</strong>ckungen und Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckungen. Literatur in Österreich2010-2012 – Festvortrag gelegentlich <strong>de</strong>s 20-jährigen Jubiläums<strong>de</strong>r Österreich-Bibliothek Temeswar (Johann Holzner, Innsbruck) ... 139„Nur kein Kind!“ – Anmerkungen zu einer gesellschaftlichen Utopie inRobert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (Anna Lindner, Wien) 157Außenseiterfiguren in Anna Mitgutschs Roman In frem<strong>de</strong>n Städten(Maria Stângă, Temeswar) ...................................................................... 171I<strong>de</strong>ntität, Familie und Geschichte o<strong>de</strong>r das Scheitern <strong>de</strong>r sozialistischenUtopie (Filomena Viana Guarda, Lissabon) ........................................... 197Der Einsatz authentischer Texte <strong>zur</strong> Vermittlung interkulturellerKompetenz im DaF-Unterricht (Andreea Rodica Ruthner, Temeswar) 209Zur Übersetzung <strong>de</strong>r Form das ins Rumänische (Karla Lupșan/Marianne Marki, Temeswar) .................................................................. 221Modalpartikeln in Dialogen (Thilo Herberholz, Bad Kissingen/Temeswar) .... 247Be<strong>de</strong>utungswan<strong>de</strong>l im Rumänischen: Freund o<strong>de</strong>r Feind <strong>de</strong>rrumänischen Deutschlernen<strong>de</strong>n? (Adriana Ionescu, Bukarest) .......... 2615


Das Konzept <strong>de</strong>s Autors in <strong>de</strong>r Inlands- und Auslands<strong>germanistik</strong>(Mathil<strong>de</strong> Hennig/ Robert Niemann, Gießen) ........................................ 277Rezensionen ........................................................................................................ 301Adressen <strong>de</strong>r Verfasserinnen und Verfasser <strong>de</strong>r in diesem Hefteenthalten<strong>de</strong>n Beiträge ........................................................................... 325Dank an externe Gutachterinnen und Gutachter <strong>de</strong>r TBG ........................... 327Hinweise für Autorinnen und Autoren <strong>de</strong>r TBG ............................................ 3296


Grazziella PredoiuTemeswar„Leben wir also. Aber man lässt uns nicht leben. Leben wiralso im Detail.“ Zur Fokussierung auf ‚kleine Dinge‘ in HertaMüllers RomanenAbstract: The article focusses on the increasing role of the <strong>de</strong>tail, which has a significantmeaning in Herta Müller’s novels. Random elements and their meanings are evaluated innovels like Der Fuchs war damals schon <strong>de</strong>r Jäger, Herztier, Atemschaukel. Müller’saffinity for <strong>de</strong>tails, for minor forms seemly insignificant, is rooted in her discontent with adictatorial system and provi<strong>de</strong>d through sequential view the survival of the main characters.The excessive use of metaphorical elements ubiquitous in all of her novels, those „things offear“ „metaphor of the moments“ serve to outline the profound hopelessness of atotalitarian world. While in the first two novels the thick web of references to symbols andimages of the <strong>de</strong>structive influence of dictatorship serve to outline the oppressive invasionof the private sphere, the <strong>de</strong>tails in Atemschaukel focus on supporting the protagonists’ willto survive, offering a respite throughout the pervasive senselessness.Keywords: Dictatorial system, totalitarian, observation, affinity for the <strong>de</strong>tail, wi<strong>de</strong>metafors, seqeuncences, resistance, survival.Herta Müllers Texte, die im dörflichen Gewand, auf „d[en] Fransen <strong>de</strong>rWelt“ (Müller 2002: 8) spielen, han<strong>de</strong>ln von <strong>de</strong>r tödlichen Konformität <strong>de</strong>sbanatschwäbischen Dorfes, geprägt von Deutschtümelei, Scheinwerten,Anpassungsdruck, Kontrollmechanismus und Ethnozentrismus. In ihrennegativen Dorfidyllen aus <strong>de</strong>n Erzählbän<strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rungen, Drücken<strong>de</strong>rTango, Barfüßiger Februar postuliert die Autorin eine Absage an falscheDorfutopien, eine schonungslose Kritik an bestehen<strong>de</strong>n Denksystemen undutopischen Heimatdarstellungen. Die städtische Welt, die sich alsVerdopplung <strong>de</strong>r dörflichen erweist, jener „Teppich [...] aus Asphalt“(Müller 2002: 8) thematisiert die grauenvolle Unterdrückung und dieÜberlebensstrategien inmitten <strong>de</strong>r rumänischen Diktatur. Von <strong>de</strong>nVorformen rumänischer Diktatur, von <strong>de</strong>m Leben in <strong>de</strong>n stalinistischenArbeitslagern han<strong>de</strong>lt <strong>de</strong>r in Zusammenarbeit mit Oskar Pastior begonneneRoman Atemschaukel.Ein bei Müller beliebtes Sujet literarischer Darstellung ist also dasLeben in einer Diktatur jeglicher Couleur. Und so wie sich die totalitäre7


Macht in allen Texten <strong>zur</strong> Sichtbarkeit verdichtet, so gibt es auch dieGegenbewegungen <strong>de</strong>s Individuums, welches in seiner Angst wi<strong>de</strong>rständigist und eine „Ästhetik <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstands“ anwen<strong>de</strong>t und sich an die kleinenDinge klammert, um überleben zu können.Die im Banat geborene Schriftstellerin hat ihr Schreiben, welchesaus <strong>de</strong>n erlebten Traumata schöpft, in Anlehnung an Georges-ArthurGoldschmidt als ‚autofiktional‘ eingestuft:Es ist seltsam mit <strong>de</strong>r Erinnerung. Am seltsamsten mit <strong>de</strong>r eigenen. Sie versucht,was gewesen ist, so genau wie nur möglich zu rekonstruieren, aber mit <strong>de</strong>rGenauigkeit <strong>de</strong>r Tatsachen hat das nichts zu tun. Die Wahrheit <strong>de</strong>r geschriebenenErinnerung muß erfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, schreibt Jorge Semprun. Und Georges-ArthurGoldschmidt nennt seine Texte ‚autofiktional‘(IF: 21).Mit diesem Begriff ist eine doppelte Optik gemeint, einerseits <strong>de</strong>rauthentische Schreibanlass, das biografisch fundierte Erleben, das sich indie Wörter einsenkt und an<strong>de</strong>rerseits jener Schritt <strong>de</strong>r Verwandlung in dieSchrift, <strong>de</strong>r „Autonomisierung <strong>de</strong>r Texte“ (Köhnen 1997: 9). Damit machtdie Autorin ihre eigene Biografie zum Material eines steten Nachsinnensüber die alltäglichen Demütigungen, Bedrohungen und Zerstörungen <strong>de</strong>sIndividuums in <strong>de</strong>r menschenverachten<strong>de</strong>n rumänischen Diktatur. Somitfassen die Müllerschen Texte <strong>de</strong>n erlebten Schrecken im ästhetischenModus einer Repräsentation, „die nicht das Unerträgliche in <strong>de</strong>n gelungenenMetaphern poetisch aufzuheben sich anschickt, son<strong>de</strong>rn Wun<strong>de</strong>n schlagen,erschrecken und irritieren, verwun<strong>de</strong>rn und verwun<strong>de</strong>n soll“ (Eke 2002: 65).Programmatisch für die Texte ist eine Zerglie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>rWahrnehmung in <strong>de</strong>r Sprache als Demontage <strong>de</strong>r Syntax, so wie sie dieAutorin in ihrer Poetikvorlesung Der Teufel sitzt im Spiegel. WieWahrnehmung sich erfin<strong>de</strong>t umrissen hat:Beim Schreiben, will man dieses Hintereinan<strong>de</strong>r und die Brüche fassen, muss mandas, was sich im Fortschreiben <strong>de</strong>s Gedankens zusammenfügt, zerreißen. Manzerrt am Geflecht <strong>de</strong>r Sätze, bis sie durchsichtig wer<strong>de</strong>n, bis in <strong>de</strong>r Reihenfolge<strong>de</strong>r Worte im Satz und in <strong>de</strong>r Reihenfolge <strong>de</strong>r Sätze im Text die Rissedurchscheinen (TS: 81). 11 Zwecks Lektüreerleichterung und aufgrund unzähliger Beispiele aus ein und <strong>de</strong>m gleichenBand wer<strong>de</strong>n in diesem Beitrag Abkürzungen <strong>de</strong>r Romantitel Müllers eingesetzt. Soerscheint Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfin<strong>de</strong>t als TS, Hungerund Sei<strong>de</strong> als HS, In <strong>de</strong>r Falle als IF, Herztier als H, Der Fuchs war damals schon <strong>de</strong>rJäger als F, Der König verneigt sich und tötet als K und Atemschaukel als A und8


In solchen Fragmenten und Partikeln entstehen Freiräume. In diesenAuslassungen eröffnen sich eigene Erfahrungsmöglichkeiten, welche dieautobiografischen Grenzen <strong>de</strong>s Textes überschreiten. Schreiben be<strong>de</strong>utet fürHerta Müller das Parzellieren, das Isolieren, die Analyse als „Entkleidung<strong>de</strong>r Wahrnehmung. Man nimmt ihr das Eigentliche, das Bild [...] bis imText die Risse durchscheinen. Bis die verschwiegenen Sätze zwischen <strong>de</strong>ngeschriebenen überall ihr Schweigen hinhalten“ (TS: 81). Diesen Vorgang<strong>de</strong>s Spaltens und Trennens wichtiger Bezüge bringt Müller in <strong>de</strong>ranagrammatischen Technik <strong>de</strong>r Collage <strong>zur</strong> Darstellung, in ähnlicher Weisewie Pastior mit <strong>de</strong>n Anagrammen verfährt. Er kommt aber auch imAufsplittern <strong>de</strong>r Syntax zum Tragen, in <strong>de</strong>m gezielten Vermischen <strong>de</strong>rWörter aus <strong>de</strong>m Rumänischen und Deutschen.Dadurch wird in ihrer Prosa das Detail überbewertet zuungunsten<strong>de</strong>s Ganzen. Nicht mehr die Totalität wird gepriesen, son<strong>de</strong>rn das Kleine,<strong>de</strong>r Gegenstand, welcher bis dahin als minoritär und randständig erschien:„Leben wir also. Aber man lässt uns nicht leben. Leben wir also im Detail“(HS: 61), äußerte sich Müller in <strong>de</strong>m Essay Zehn Finger wer<strong>de</strong>n keineUtopie dazu. In <strong>de</strong>m gleichen Essay aus <strong>de</strong>m Band Hunger und Sei<strong>de</strong>schil<strong>de</strong>rt Müller wie ihre Affinität fürs Detail gera<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Unbehagen an<strong>de</strong>m Regime, aus <strong>de</strong>n Schikanen einer Disziplinargesellschaft, wie sie vonFoucault dargestellt wur<strong>de</strong>, entstan<strong>de</strong>n ist:Meine Einzelheiten hatten keine Gültigkeit, sie waren nicht ein Teil, son<strong>de</strong>rn einFeind <strong>de</strong>s Ganzen. Wer wie ich damit anfing, in Einzelheiten zu leben, brachte dasGanze nie zusammen. Wer im Detail leben mußte, stellte nur Hür<strong>de</strong>n auf für dasGanze. Meine angeborene Unfähigkeit, mit <strong>de</strong>m Ganzen umzugehen, quälte mich.Ich war immer schuldig, egal wo ich mich befand und was ich tat. Als Kind undals Übersetzerin in <strong>de</strong>r Fabrik, als Lehrerin in <strong>de</strong>r Schule war ich immer schuldig(HS: 61).Aus <strong>de</strong>m Ungenügen, nicht zu entsprechen, we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>müberschaubaren Dorf als Ganzem, noch <strong>de</strong>r ubiquitären städtischen Welt,entstand die Vorliebe für das Kleine, für die Zwischenräume. Dabei wirddas Ganze „mit totalitärer I<strong>de</strong>ologie in Verbindung gebracht“ (Apel 1998:222), während unter <strong>de</strong>m Druck <strong>de</strong>r permanenten Kontrolle das Detail dasÜberleben gestattet:Gelber Mais und keine Zeit als GM, Lebensangst und Worthunger als LW, Immer<strong>de</strong>rselbe Schnee und immer <strong>de</strong>rselbe Onkel als SO.9


10Wer mit <strong>de</strong>m Detail nicht leben kann, wer es verbietet und verachtet, wird blind.Tausend Details ergeben etwas, aber keinen gespannten Fa<strong>de</strong>n vom Leben, keineallgemeine Übereinkunft, keine Utopie. Details sind nicht in Kette und Glied zustellen, in keiner geradlinigen Logik <strong>de</strong>r Welt.Ich habe mich nie für das Ganze geeignet. Ich sorgte mit aller Verzweiflung, dieKleinigkeiten, die meinen Weg streiften, nachzuvollziehen (HS: 61).Durch genaues Hinsehen erfolgt eine Wahrnehmung <strong>de</strong>s Details,wobei die Fokussierung aufs Detail, auf die ständige Überwachung, dieKontrolle und die Schikanen <strong>de</strong>r Diktatur <strong>zur</strong>ückzuführen ist.Ja, ich glaube, daß in <strong>de</strong>r Wahrnehmung das Detail immer eine Rolle spielt, unddaß man umso mehr sieht, je mehr man Einzelheiten sieht. Aber ich glaube nicht,daß, wenn man das Ganze auf einmal ansieht, daß man genau sieht. Wenn man dasDetail ansieht, sieht man zwar nur einen Teil, aber ich glaube, aus diesem Teilheraus sieht man tiefer, als wenn man das Ganze an <strong>de</strong>r Oberfläche sieht. Und ichglaube, daß die Wahrnehmung insgesamt sich aus <strong>de</strong>m Detail zusammensetzt, unddaß verschie<strong>de</strong>ne Dinge immer mitspielen (Beverly 1999: 330).Der Überbewertung <strong>de</strong>r Details, welche in <strong>de</strong>r Prosa Herta Müllerseine signifikante Rolle erhalten, soll dieser Beitrag nachgehen, wobei dieRomane Der Fuchs war damals schon <strong>de</strong>r Jäger, Herztier undAtemschaukel in die Diskussion einbezogen wer<strong>de</strong>n. In allen drei Büchernwer<strong>de</strong>n Beschädigungen und Grun<strong>de</strong>rfahrungen im Spannungsfeld <strong>de</strong>rbei<strong>de</strong>n Totalitarismen <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts thematisiert, wobei sich dieProtagonisten zwecks Überleben an kleine Dinge klammern.Erzähltechnisch sind die Texte durch „Fraktalisierungen und Fragmentierungen“(Eke 2002: 66) konstituiert, durch Brüche und Risse, <strong>de</strong>nn überweite Strecken wird das Kontinuum narrativer Strukturen durch eine„Ästhetik <strong>de</strong>r Sequenzialisierung“ (Eke 2002: 66), durch fragmentarisierteWahrnehmungen ersetzt, die Fabel wird bis zu einem Grundgerüstamputiert, Bil<strong>de</strong>r summieren sich hinter Bil<strong>de</strong>r. Dahinter steht eigentlich diegleiche Vorliebe <strong>de</strong>r Autorin für die Miniatur, für die gebrochenen Formen.Der Fuchs war damals schon <strong>de</strong>r Jäger ist Müllers erster Roman,<strong>de</strong>r die rumänische Diktatur zum Thema hat und <strong>de</strong>r als Drehbuch für einenSpielfilm 1990 entstan<strong>de</strong>n ist. Darin wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r seelische Terror, dieOhnmacht und Ausweglosigkeit, die menschenunwürdigen Zusammenhängekurz vor <strong>de</strong>m Zusammenbruch <strong>de</strong>r Diktatur dargestellt. Bezwecktwird eine hautnahe Beschreibung <strong>de</strong>r Zustän<strong>de</strong> in Rumänien vor und nach<strong>de</strong>r Dezemberrevolution, doch <strong>de</strong>r Blick <strong>de</strong>r „Eingeweihten“ misslingtöfters, zumal das Dargestellte <strong>de</strong>r neuen Lebenswelt Müllers und ihren


Erfahrungen mittlerweile fremd gewor<strong>de</strong>n war, da ja die Autorin Rumänienzwei Jahre vorher verlassen hatte und da vielen Szenen das MüllerscheVerfahren <strong>de</strong>r Verabsolutierung, <strong>de</strong>r Übertreibung gemeinsam ist (vgl.Predoiu 2001: 114).In <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund treten Personen aus verschie<strong>de</strong>nen Kreisen <strong>de</strong>sAlltagslebens, hauptsächlich Intellektuelle wie die Lehrerin Adina, ihreFreundin Clara, <strong>de</strong>r Arzt Paul, Liviu, <strong>de</strong>r Dorflehrer, <strong>de</strong>r Ungar Abi, die zuDissi<strong>de</strong>nten gewor<strong>de</strong>n sind. Ihnen entgegengestellt ist ein Vertreter <strong>de</strong>rMacht, <strong>de</strong>r Geheimdienstoberst Pavel. Die ersteren versuchen sich <strong>de</strong>mSystem zu wi<strong>de</strong>rsetzen, dichten Lie<strong>de</strong>r mit politischem Hintergrund, die alsWi<strong>de</strong>rstandsform, als Variante <strong>de</strong>s Ausharrens in einem totalitären Staatge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n können. Der Letztere passt sich an, nicht zuletzt wegenmateriellen und sozialen Privilegien. Anhand <strong>de</strong>r Details lassen sich diebei<strong>de</strong>n Formen <strong>de</strong>s Umgangs mit einer Diktatur, die Dissi<strong>de</strong>nz und dasAnpassen erklären.Die Stirnlocke repräsentiert eine Form <strong>de</strong>r Bedrohung, sie gehört<strong>de</strong>m Diktator und verweist auf das permanente Observieren:Die Zeitung ist rau, doch die Stirnlocke <strong>de</strong>s Diktators hat auf <strong>de</strong>m Papier einenhellen Schimmer. Sie ist geölt und glänzt. Sie ist aus gequetschtem Haar. DieStirnlocke ist groß, sie treibt kleinere Locken auf <strong>de</strong>n Hinterkopf <strong>de</strong>s Diktatorshinaus. Auf <strong>de</strong>m Papier steht: <strong>de</strong>r geliebteste Sohn <strong>de</strong>s Volkes. Was glänzt, dassieht. Die Stirnlocke glänzt. Sie sieht je<strong>de</strong>n Tag ins Land. Der Bil<strong>de</strong>rrahmen <strong>de</strong>sDiktators ist je<strong>de</strong>n Tag in <strong>de</strong>r Zeitung, so groß wie <strong>de</strong>r halbe Tisch (F: 27).Sie entpuppt sich als Inbegriff von Ceauşescus absoluter Herrschaft,<strong>de</strong>utet auf das Auge <strong>de</strong>s Tyrannen, <strong>de</strong>r sein ganzes Land beobachtet undkontrolliert. Der Satz, „was glänzt, das sieht“, wird <strong>de</strong>s Öfteren in diesemKapitel gebraucht und unterstreicht die Allgegenwart <strong>de</strong>r Bewachung. In <strong>de</strong>rPoetikvorlesung erzählt die Autorin, wie in ihrer Anwesenheit einmal einFreund das Auge <strong>de</strong>s Diktators aus <strong>de</strong>r Zeitung herausgeschnitten hatte:davor hatte sie größere Angst empfun<strong>de</strong>n als vor <strong>de</strong>r Person selbst. 2Metonymisch hatte es das Subjekt ersetzt, hatte sich verselbstständigt, <strong>de</strong>nndas sehen<strong>de</strong> Auge vermag das ganze Ausmaß <strong>de</strong>r Bedrohung, die Kraft <strong>de</strong>rGefährdung zu ver<strong>de</strong>utlichen. Als Symbol <strong>de</strong>r Gewalt übt <strong>de</strong>r Diktatorseinen Einfluss selbst auf die Natur negativ aus: Die Hun<strong>de</strong> bellen und2 „Ein Freund hat einmal, als wir zusammensaßen, aus <strong>de</strong>m Photo <strong>de</strong>s Diktators ein Augeausgeschnitten. Er hat das Auge auf ein Bogen Packpapier geklebt. […] Wir haben gelacht,schallend gelacht, weil uns das Auge jetzt noch mehr bedrohte. Er hatte die Überwachungdurch das ausgeschnittene Auge auf die Überwachung selbst gestoßen“ (TS: 27-28).11


haben Angst, die Bäume wer<strong>de</strong>n aggressiv und würgen sich. Die Menschenentgleiten aus ihren normalen Bahnen.Ein weiteres Detail, welches sich auf die üblen Zustän<strong>de</strong> im Land,die Mangelerscheinungen und die Ausweglosigkeit bezieht, ist <strong>de</strong>r Draht. Erwird in Verbindung mit <strong>de</strong>r Fabrik erwähnt und erhält im Text einemotivähnliche Funktion. „Die Vorstadt ist mit Drähten an die Stadtgehängt“ (F: 12), am Straßenen<strong>de</strong> liegen rosten<strong>de</strong> Drahtrollen, rostigeDrahtrollen sind auch im Hof <strong>de</strong>r Fabrik zu sehen, die Köpfe <strong>de</strong>r Passantenbewegen sich zwischen Drahtrollen:12Er zieht das Gesicht schnell <strong>zur</strong>ück, <strong>de</strong>nn er schaut aus Gewohnheit in <strong>de</strong>n Drahthinaus. […] Er schaut in <strong>de</strong>n Draht und fragt, wie heißt <strong>de</strong>r Zwerg. Der Pförtnerschaut auch in <strong>de</strong>n Draht, weil die Augen <strong>de</strong>s Direktors seine Augen nachziehen,und weil <strong>de</strong>r Pförtner meint, dass <strong>de</strong>r Direktor mit <strong>de</strong>m ganzen Kopf in diesemDraht ist. Denn, wer in <strong>de</strong>n Draht schaut, <strong>de</strong>r schaut mit <strong>de</strong>m ganzen Kopf hinein,wer in diesen Draht schaut, <strong>de</strong>r hört nicht mehr zu (F: 118).Der Draht wird allen zum Verhängnis, die Menschen können ihremSchicksal nicht ausweichen und bewegen sich wie in einer Zelle. Doch ist<strong>de</strong>r eiserne und starre Draht durch <strong>de</strong>n Rost selbst <strong>de</strong>m Verfallpreisgegeben. Im Text verweist <strong>de</strong>r Draht auf das Eingesperrt-Sein, dasAbgekapselt-Sein, auf ein Gefängnis, <strong>de</strong>m man nicht entrinnen kann. Indiesem Käfig sind alle Opfer, gehetzte und zerbrochene Gestalten, <strong>de</strong>nn dieelen<strong>de</strong>n Verhältnisse haben die Individuen entmenscht, sie ihrer Wür<strong>de</strong>beraubt. Zu dieser Überlegung leitet ein Satz <strong>de</strong>r Autorin: „[…] dass dieDonau das Dorf [in übertragener Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>n Staat] von <strong>de</strong>r Weltabschnei<strong>de</strong>t“ (F: 106), es also hermetisch einschließt. Deswegen ist MartinaHoffmann und Kerstin Schulz zuzustimmen, wenn sie die Degradierung <strong>de</strong>rDonau zum Instrument <strong>de</strong>r Herrschaft konstatieren (Hoffmann/Schulz 1997:87).Die Drahtfabrik, in welcher die Korruption an <strong>de</strong>r Tagesordnung ist,entspricht auf Textebene <strong>de</strong>n schmutzigen Industriestädten aus <strong>de</strong>mHerztier, in <strong>de</strong>nen das „Proletariat <strong>de</strong>r Blechschafe und Holzmelonen“ (H:97) einan<strong>de</strong>r angeglichen wird. Dadurch wird das realsozialistischeErscheinungsbild mit seiner das gesamte Leben in <strong>de</strong>n Städtenbestimmen<strong>de</strong>n Monoproduktion von Herta Müller karikiert. Grotesk mutendie surrealistischen Bil<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m <strong>de</strong>solaten Alltag an, in <strong>de</strong>nen dieArbeiter Blut trinken, Parkett stehlen.Dass auch die Natur als ein von <strong>de</strong>r Staatsmacht okkupierter Bereichfungiert, ver<strong>de</strong>utlicht ein an<strong>de</strong>res wichtiges Symbol, die Pappel. „Sie sind


höher als die Dächer <strong>de</strong>r Stadt. [...] Und wo nichts mehr hinreicht,zerschnei<strong>de</strong>n die Pappeln die heiße Luft. Die Pappeln sind grüne Messer“(F: 9). Für die auf <strong>de</strong>m Dach sitzen<strong>de</strong>n weiblichen Protagonistinnen wer<strong>de</strong>ndie mit Messern bewaffneten Pappeln zu „Symbole[n] <strong>de</strong>r Überwachungund Bedrohung“ (Apel 1998: 226), wobei die negative Bewertung <strong>de</strong>ngesamten Text hindurch beibehalten wird.Die von <strong>de</strong>n Pappeln ausgehen<strong>de</strong> Bedrohung verliert hier ihrepunktuelle Begrenzung und wird so zu einem in je<strong>de</strong>n Bereichmenschlichen Zusammenlebens hineinreichen<strong>de</strong>n Sinnbild für dasumfassen<strong>de</strong> Ausgeliefertsein <strong>de</strong>s Individuums an das System (Hofmann/Schulz 1997: 82). In ähnlicher Weise, wie die Schatten <strong>de</strong>r Pappeln auch in<strong>de</strong>n kleinsten Lebensbereich eindringen, kann auch das Individuum „nichtvor <strong>de</strong>r Dominanz herrschen<strong>de</strong>r Strukturen in einen machtfreien Raumflüchten.“ (Hofmann/Schulz 1997: 84).Im Zentrum <strong>de</strong>r Bildwelt <strong>de</strong>s Romans liegt ein Fuchsfell, erstarrteNatur, „die als Zerschnittenes zu einem beängstigen<strong>de</strong>n Leben“ (Apel 1998:226) erwacht. Das in Adinas Wohnzimmer als Läufer umfunktionierteFuchsfell ist Inbegriff <strong>de</strong>r Menschenjagd und Mittel im psychologischenNervenkrieg gegen An<strong>de</strong>rs<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>. Adina wird vom Geheimdienstbeschattet und „erfährt“ über <strong>de</strong>n unbefugten Zutritt in ihre Privatsphärevom Fuchsfell. Zuerst wird ein Bein zerstückelt, dann das an<strong>de</strong>re, bis nurnoch <strong>de</strong>r Kopf abgetrennt wer<strong>de</strong>n soll, wobei in <strong>de</strong>r Klomuschel immerIndizien <strong>de</strong>s Einbruchs, Sonnenblumenkerne, zu fin<strong>de</strong>n sind: „Gegenstän<strong>de</strong>ersetzen Gesagtes“, schreibt Verena Auffermann und meint weiter, „<strong>de</strong>rVerräter genießt es, die Angst seines Opfers wachzuhalten“ (Auffermann1992: 5). Damit wird das Fuchsfell <strong>zur</strong> Parabel für Gefahr und Bedrohung,im Zerstückelten offenbart sich das Wesen <strong>de</strong>s Totalitarismus:Der Jäger kam von draußen und brachte <strong>de</strong>n Fuchs. Er sagte, das ist <strong>de</strong>r größte.[…] Und ich fragte, kann ich die Flinte sehen. Der Jäger legte <strong>de</strong>n Fuchs auf <strong>de</strong>nTisch und strich ihm das Haar glatt. Er sagte, auf Füchse schießt man nicht,Füchse gehen in die Falle. Sein Haar und sein Bart und seine Haare auf <strong>de</strong>nHän<strong>de</strong>n waren rot wie <strong>de</strong>r Fuchs. Auch seine Wangen. Der Fuchs war damalsschon <strong>de</strong>r Jäger (F: 167).Im Fuchs verschmelzen die Wahrnehmungen <strong>de</strong>s Bewachungsobjektesund jene <strong>de</strong>s Geheimdienstes. Der von Adina in <strong>de</strong>r Kindheitgehegte Wunsch, ein Fuchsfell zu besitzen, wird ihr in <strong>de</strong>r Gegenwart zumVerhängnis, zum Zeichen für die Bespitzelung. Die Hoffnungen <strong>de</strong>rKindheit gehen in <strong>de</strong>r brutalen Wirklichkeit zugrun<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Fuchs ist <strong>de</strong>r13


Jäger, die Grenzen zwischen Täter und Opfer lösen sich auf. Auf <strong>de</strong>nUmstand, dass sich in <strong>de</strong>m Fuchs Täter und Opfer vereinen, hat HertaMüller in einem Interview hingewiesen:Ja, <strong>de</strong>r Fuchs ist <strong>de</strong>r Jäger. Das ist für mich eine Parabel. Für mich war das eineMöglichkeit, Gefahr, Bedrohung, also all die abstrakten Vorgänge, die hinter <strong>de</strong>rBühne geschehen, konkret wer<strong>de</strong>n zu lassen. Die Person sieht im Fuchsfell <strong>de</strong>nGeheimdienst. Der Geheimdienst sieht im Fuchs die Person. Das ist die Kreuzung,wo sich die Dinge überschnei<strong>de</strong>n und absurd wer<strong>de</strong>n (Müller 1992: o. S.).Kurz bevor <strong>de</strong>r Kopf <strong>de</strong>s Fuchses abgetrennt wer<strong>de</strong>n sollte, rettetsich Adina.Herztier führt die Problematik <strong>de</strong>s ersten Romans weiter, vertieftdas Motiv <strong>de</strong>r verratenen Freundschaft, <strong>de</strong>r Gruppenzugehörigkeit, <strong>de</strong>rBedrohung durch die Securitate und <strong>de</strong>r Ausharrungsmodalitäten in einertotalitären Gesellschaft. Bil<strong>de</strong>r und die exzessive Metaphorik sind einhervorstechen<strong>de</strong>s Merkmal dieses Buches, wobei die bildreiche Sprache dieauswegslose und resignative Grundhaltung unterstreicht. „Nicht zuletztwer<strong>de</strong>n die wechseln<strong>de</strong>n Bildkonstellationen zu Instanzen <strong>de</strong>s Standhaltenswi<strong>de</strong>r die im Roman vorgestellte totalitäre Gesellschaft“, notierte PhilippMüller in Bezug auf <strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>rholten Einsatz <strong>de</strong>r Bildfolgen (Müller 1997:110) in diesem Roman.Im Essayband Hunger und Sei<strong>de</strong> äußert sich Herta Müller überGegenstän<strong>de</strong>, welche Angst einflößen, <strong>de</strong>nn sie wer<strong>de</strong>n mit Ritualien <strong>de</strong>rMacht in Zusammenhang gesetzt:Begegnungen mit <strong>de</strong>m Geheimdienst vergisst man nicht. Wer heute sagt, er habees verdrängt, <strong>de</strong>r lügt. Denn egal, wie viel Zeit vergeht, egal, wo man hinschlüpft,man tut es immer mit <strong>de</strong>r eigenen Person. Denn bei wem soll man leben, wennnicht bei sich selbst. Die Lüge, die Verharmlosung kommt aus <strong>de</strong>m Wissen um dieeigene Schuldigkeit, nicht aus <strong>de</strong>r Lücke <strong>de</strong>r Erinnerung. Das Gedächtnis lässtvielleicht manche Erlebnisse <strong>de</strong>r Leichtigkeit fallen. Aber es behält die Dinge <strong>de</strong>rAngst. Gera<strong>de</strong> da, wo Ohnmacht war, wo man damals in <strong>de</strong>r Defensive stand, wirdie Erinnerung offensiv. Sogar aggressiv (HS: 99-100).Im Herztier gibt es auch solche „Dinge <strong>de</strong>r Angst“, als Leitmotive<strong>de</strong>r Verfolgung gebraucht: Es sind die drei To<strong>de</strong>sarten, die grünenPflaumen, das gemähte Gras und das Herztier.Bereits auf <strong>de</strong>n ersten Seiten <strong>de</strong>s Buches erinnert sich die Ich-Erzählerin an folgen<strong>de</strong>n Satz: „Ich kann mir heute noch kein Grabvorstellen. Nur einen Gürtel, ein Fenster, eine Nuss und einen Strick“ (H:14


7). Es sind, wie es <strong>de</strong>r Verlauf <strong>de</strong>r Handlung zeigen wird, mit <strong>de</strong>mSelbstmord <strong>de</strong>r Kommilitonin Lola, <strong>de</strong>m Freund Georg, <strong>de</strong>m KrebstodTerezas und <strong>de</strong>m Tod Kurts assoziierte Objekte, wobei sich die Handlunghauptsächlich entlang <strong>de</strong>s Gürtels und <strong>de</strong>r Nuss entwickelt. Die evoziertenTo<strong>de</strong>sinstrumente und To<strong>de</strong>sfälle wer<strong>de</strong>n lediglich im Zusammenhang mit<strong>de</strong>r Diktatur dargestellt.Der mit Müller befreun<strong>de</strong>te rumänien<strong>de</strong>utsche Schriftsteller RolfBossert, <strong>de</strong>r im Roman unter <strong>de</strong>m Namen Georg als han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Personvorkommt, war innerlich durch die Verhöre <strong>de</strong>r Securitate zermürbt undbeging kurz nach seiner Auswan<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>n Westen Selbstmord. Ersprang aus <strong>de</strong>m Fenster eines Übergangsheims in Frankfurt am Main, wobeiim Textgefüge nicht zufällig auf ein Fenster angespielt wird. Bossert wur<strong>de</strong>von <strong>de</strong>n Schergen <strong>de</strong>r Securitate brutal zusammengeschlagen und „durchdie Zerschmetterung <strong>de</strong>s Kiefers förmlich mundtot gemacht“ (Schau 2003:239). Der Lyriker hatte in Rumänien die Gedichtbän<strong>de</strong> Auf <strong>de</strong>rMilchstraße wie<strong>de</strong>r kein Licht und <strong>de</strong>n Band Neuntöter veröffentlicht.Den Neuntöter, <strong>de</strong>n Vogel welcher seine Beute bei Nahrungsüberfluss aufDornen aufspießt, übernimmt Müller im Roman, <strong>de</strong>nn Georg i<strong>de</strong>ntifiziertsich mit <strong>de</strong>ssen Beute, er steht synonym für die Verfolgung durch dieSecuritate und für die fortschreiten<strong>de</strong> Verengung <strong>de</strong>s inneren wie äußerenLebensraumes. Ähnlich wie die Beute <strong>de</strong>s Neuntöters mag sichwahrscheinlich Georg in Deutschland gefühlt haben, als er mit <strong>de</strong>n durchdie Ausreise bedingten Verän<strong>de</strong>rungen seines Lebens nicht fertig wer<strong>de</strong>nkonnte. Nach seinem geheimnisvollen Tod ent<strong>de</strong>ckt Kurt neun Gedichte,welche <strong>de</strong>n Titel Neuntöter tragen, wodurch „das Gedichtete bzw. <strong>de</strong>rGesang <strong>de</strong>s Neuntöters [....] <strong>de</strong>r Intention [entspringt], <strong>de</strong>r Zensur <strong>de</strong>sAllgemeinen zu entkommen, zugleich das Detail zu retten“ (Müller 1997:119).Vieles an <strong>de</strong>n Lebens- und To<strong>de</strong>sumstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Figur Kurt weist aufRoland Kirsch hin, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>s Adam-Müller-GuttenbrunnLiteraturkreises in Kontakt zu Herta Müller stand, in Temeswar alsIngenieur tätig war und Prosa von surrealistischer Bildlichkeit verfasste.1989 wur<strong>de</strong> er in Temeswar erhängt aufgefun<strong>de</strong>n, doch über Ursachen o<strong>de</strong>rUrheber <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s können nur Vermutungen angestellt wer<strong>de</strong>n: manvermutet dahinter die Securitate. Strick und Fenster sind alsoTo<strong>de</strong>srequisiten, die <strong>zur</strong> Bloßstellung einer menschenwidrigen Gesellschafteingesetzt wur<strong>de</strong>n, in welcher <strong>de</strong>r Tod o<strong>de</strong>r die Ausreise die einzigenAlternativen zum Leben repräsentieren.15


Zu To<strong>de</strong>sinstrumenten <strong>de</strong>r zwei weiblichen Protagonistinnen wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Gürtel und die Nuss. Lola erhängt sich mit einem Gürtel imStu<strong>de</strong>ntenheim, während Tereza an einem nussförmigen Krebsgeschwürstirbt. Die Gegenstän<strong>de</strong> stehen für einen unnatürlichen Tod, <strong>de</strong>nn auch dieKrankheit wird als Befall von außen ge<strong>de</strong>utet, als Verrat an <strong>de</strong>r Freundin.Für die Ich-Erzählerin ist die Erinnerung an diese Gegenstän<strong>de</strong> verbun<strong>de</strong>nauch mit analogen Gewalterlebnissen aus <strong>de</strong>r Kindheit. 3 In einer Welt <strong>de</strong>runterschwellig wirken<strong>de</strong>n Angst wer<strong>de</strong>n diese To<strong>de</strong>sinstrumente zuempirischen Symbolen für mör<strong>de</strong>rische Verhältnisse, <strong>de</strong>nen sich <strong>de</strong>rEinzelne bedient, um <strong>de</strong>n Fesseln <strong>de</strong>r Diktatur zu entkommen.Überhaupt wer<strong>de</strong>n im Zusammenhang mit <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m armen Sü<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s in die Stadt gekommenen Lola weitere signifikante Detailseingesetzt, die ebenfalls <strong>zur</strong> Umreißung <strong>de</strong>r Aussichtslosigkeit einertotalitären Welt dienen. Lolas Physiognomie trägt Spuren <strong>de</strong>r dürftigenHerkunftsbedingungen, <strong>de</strong>nn ihre Gesichtszüge wer<strong>de</strong>n im Spiegel ihrerHeimatregion beschrieben, wobei sie selbst „gesichtslos“ (Glajar 2004: 135)bleibt.Lola kam aus <strong>de</strong>m Sü<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s, und man sah ihr eine armgebliebene Gegendan. Ich weiß nicht wo, vielleicht an <strong>de</strong>n Knochen <strong>de</strong>r Wangen, o<strong>de</strong>r um <strong>de</strong>n Mund,o<strong>de</strong>r mitten in <strong>de</strong>n Augen. Je<strong>de</strong> Gegend im Land war arm geblieben, auch inje<strong>de</strong>m Gesicht. Doch Lolas Gegend, und wie man sie an <strong>de</strong>n Knochen <strong>de</strong>rWangen, o<strong>de</strong>r um <strong>de</strong>n Mund, o<strong>de</strong>r mitten in <strong>de</strong>n Augen sah, war vielleicht ärmer.Mehr Gegend als Landschaft (H: 10).Ein abgeschlossenes Russischstudium wür<strong>de</strong> sie als sozialerEmporkömmling <strong>de</strong>s Dorfes etablieren. Ihr Wunsch, Karriere zu machen,geht einher mit <strong>de</strong>m Bedürfnis nach Liebe. Liebe verbin<strong>de</strong>t Lola mit <strong>de</strong>mWunsch nach einem Mann mit „weißem Hemd“ (H: 13), <strong>de</strong>n sie heiratenund ins Dorf mitnehmen möchte. Darin konzentriert sie ihr Begehren nachgesellschaftlichem Aufstieg, nach <strong>de</strong>r Überwindung <strong>de</strong>r ausgetrocknetenGegend. Zur Verwirklichung ihres Vorhabens prostituiert sich die Frau imverwahrlosten Stadtpark, um ihrem I<strong>de</strong>al, „durch die Äste <strong>de</strong>rMaulbeerbäume“ (H: 9) ins Dorf zu gehen, näher zu kommen. Wenn3 Vgl. die Episo<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m Nägelschnei<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>m Anbin<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>n Stuhl. DasNägelschnei<strong>de</strong>n fungiert auch als „Ding <strong>de</strong>r Angst“ und ist eine Reminiszenz aus <strong>de</strong>rKindheit <strong>de</strong>r Ich-Erzählerin, wodurch die dörfliche Enge als Sinnbild <strong>de</strong>r Diktatur <strong>de</strong>mstaatlichen Terror gleichgestellt wird. Das Szenario von <strong>de</strong>n abgeschnittenen Nägeln nimmtalle Schrecken <strong>de</strong>r Diktatur in sich auf und potenziert diese. Diese rühren vonZurichtungen, die im Bild <strong>de</strong>s Gefesseltwer<strong>de</strong>ns und Verstümmelns ihren Ausdruck fin<strong>de</strong>n.16


Schafe, Dürre und Melonen als Metaphern für Armut und Mangelerscheinen, so wer<strong>de</strong>n die Maulbeerbäume im Text zum Bild <strong>de</strong>s Aufbruchsaus <strong>de</strong>m Dorf, verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Sehnsucht nach einem besseren Leben. 4Liest man das Wort als Maul-beere, so bezeichnet <strong>de</strong>r erste Teil <strong>de</strong>n Mund,<strong>de</strong>n Ort <strong>de</strong>s Sprachvollzugs, auch wenn Maul als geläufige Tierbezeichnungeher als Schimpfwort eingesetzt wird. So gelesen können dieMaulbeerbäume auch als Symbol <strong>de</strong>r Gier nach einem besseren Leben, alsAusdruck <strong>de</strong>r nicht versprachlichten Bedürfnisse, <strong>de</strong>r durch Herkunft o<strong>de</strong>rdie Denkzwänge <strong>de</strong>s totalitären Staates bedingten Spracharmut ge<strong>de</strong>utetwer<strong>de</strong>n.Ein weißes Hemd besitzt <strong>de</strong>r Turnlehrer, <strong>de</strong>r sie missbraucht, sieverrät und in <strong>de</strong>n Tod treibt.Es wird unmöglich sein, seine Hem<strong>de</strong>n weiß zu halten. Er hat mich beimLehrstuhl angezeigt. Ich wer<strong>de</strong> die Dürre nie los. Was ich tun muss, wird Gottverzeihen. Aber mein Kind wird niemals Schafe mit roten Füßen treiben (H: 33).Dürre erscheint als Metapher für die absolute Erstarrung Rumäniens.Lola gelingt es nicht, sich von <strong>de</strong>r dörflichen Armut zu befreien, und siescheitert mit ihrem Versuch, durch politische und erotische SelbstaufgabeKarriere in <strong>de</strong>r menschenunwürdigen Gesellschaft zu machen und <strong>de</strong>swegenbegeht sie Selbstmord.Erstarrt ist nicht nur die dörfliche Gegend, die Stadt steht auch imZeichen <strong>de</strong>r Armut und Uniformität. Die Arbeiter wer<strong>de</strong>n zum „Proletariat<strong>de</strong>r Blechschafe und Holzmelonen“ <strong>de</strong>gradiert, sie sind <strong>de</strong>m DorfEntlaufene, die im Fraß und Alkoholismus ihre Bedürfnisse unterdrücken.Sie machten Klötze und Klumpen statt Industrie. Alles, was groß und eckig seinsollte, wur<strong>de</strong> in ihren Hän<strong>de</strong>n ein Schaf aus Blech. Was klein und rund sein sollte,wur<strong>de</strong> in ihren Hän<strong>de</strong>n eine Melone aus Holz (H: 37).Dass man anstelle von echten Schafen und Melonen solche ausBlech und Holz produziert, erweckt <strong>de</strong>n Eindruck, das ganze Land sei einearm gebliebene Gegend, genau so rückständig wie Lolas Dorf. DieIndustrialisierung hat keineswegs <strong>de</strong>n Fortschritt gebracht, wenn alles aufUniformität beruhte, eher wird damit mit Hilfe prägnanter Bil<strong>de</strong>r dasScheitern <strong>de</strong>r Industrialisierung in Rumänien betont. Durch Metaphernhomogenisiert Müller unterschiedliche industrielle Produktionszweige,4 „Nie wie<strong>de</strong>r Schafe […], nie wie<strong>de</strong>r Melonen, nur Maulbeerbäume, <strong>de</strong>nn Blätter habenwir alle“ (H: 11).17


gleicht sie <strong>de</strong>r agrarischen Produktion <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s an und reduziert sie aufdas gemeinsame Merkmal <strong>de</strong>r trotz Arbeit nicht überwun<strong>de</strong>nenArmseligkeit (vgl. Schmidt 1998: 68).Da es wegen <strong>de</strong>r schlechten Versorgungslage in Rumänien nicht vielzu kaufen gab, stehlen die Arbeiter das ihnen Zugängliche am Arbeitsplatzund sie überziehen ihre Wohnung damit. Der Totalitarismus mit seinerTen<strong>de</strong>nz <strong>zur</strong> Uniformität konkretisiert sich somit als Szenerie <strong>de</strong>s Absur<strong>de</strong>n,wenn beim Arbeiter aus <strong>de</strong>r Pelzbranche Sofakissen, Bett<strong>de</strong>cken,Stuhlpolster, Teppiche und sogar Hausschuhe aus Pelz sind. Die Arbeiteraus <strong>de</strong>r Holz verarbeiten<strong>de</strong>n Industrie verlegen auch die Wän<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>mgestohlenen Parkett und die Arbeiter aus <strong>de</strong>n Schlachthäusern stehlenInnereien.Sie besuchen <strong>de</strong>n Sommergarten <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>ga, in <strong>de</strong>m niemand einGast ist und betäuben ihre Angst mit Schnaps. Der Einheitsschnaps <strong>de</strong>utetdie Mangelsituation im Land an. Aber „diese Art <strong>de</strong>r Flucht führt nur um sotiefer in <strong>de</strong>n dumpfen Zwangszusammenhang“ (Apel 1998: 228), weil siesogar <strong>de</strong>r Kellner verraten könnte. Die Angst, unter <strong>de</strong>r die vier Dissi<strong>de</strong>nten,die Kin<strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>n, bestimmt auch ihr Han<strong>de</strong>ln.Über das Motiv <strong>de</strong>r „grünen Pflaumen“ wird die gemeinsameHerkunft von Überwachern und Verfolgern konstruiert. „Das Unheimlichebesteht darin, dass sich die Metaphern <strong>de</strong>r Verfolgten an die <strong>de</strong>r Verfolgerannähern. Die Absurdität im Denken zu Hause spiegelt sich in <strong>de</strong>rAbsurdität <strong>de</strong>r Überwachungskriterien im Staat [wi<strong>de</strong>r],“ notierte Beatricevon Matt (1994: 5). Die Rituale <strong>de</strong>r Demütigung, ausgeübt von <strong>de</strong>nWächtern eines totalitären Staates, vorausge<strong>de</strong>utet von <strong>de</strong>n Wächtern <strong>de</strong>rKindheit, das Bewachen und Überwachen, das Strafen, die Gewalt, sindPartikeln <strong>de</strong>s Zwangs und <strong>de</strong>r Not und diese umreißen <strong>de</strong>n Alltag einesPolizeiregimes. Repräsentanten <strong>de</strong>r <strong>de</strong>struktiven Gier sind diePflaumenfresser, die als Opportunisten alles verachten:18Ich sah auch die Wächter auf <strong>de</strong>n Straßen auf und ab gehen. Sie wussten in je<strong>de</strong>mRevier, das sie bewachten, wo Pflaumenbäume stan<strong>de</strong>n. Sie gingen auf Umwege,um an Pflaumenbäumen vorbeizukommen. […] Denn Pflaumenfresser war einSchimpfwort. Emporkömmlinge, Selbstverleugner, aus <strong>de</strong>m Nichts gekrocheneGewissenslose und über Leichen gehen<strong>de</strong> Gestalten nannte man so (H: 59).Das Bild <strong>de</strong>s ‚gemähten Grases‘ lässt sich mit <strong>de</strong>r Figur Terezas,einer Systemtreuen, assoziieren, es kann „als Problem <strong>de</strong>r Liebe und <strong>de</strong>sVergebens, [...] nicht weit entfernt von <strong>de</strong>r Unmöglichkeit <strong>de</strong>s sozialenAustausches“ (Müller 1997: 119) gelesen wer<strong>de</strong>n. Tereza ist die Freundin


<strong>de</strong>r Ich-Erzählerin, steht auf <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>r Macht, kann sich westlichenWohlstand leisten. Durch passives Mitmachen arbeitet sie <strong>de</strong>r Securitate zu.Durch das Motiv <strong>de</strong>r verratenen Freundschaft wie<strong>de</strong>rholt Müller eine ihrerbeliebten Szenerien: Macht im Innenraum <strong>de</strong>s Subjekts, Macht, die dasPrivatleben und die Freundschaft aushöhlt:Du und ich. Tereza hatte kein Gespür dafür, dass du und ich vernichtet war. Dassdu und ich nicht mehr zusammen auszusprechen war. Dass ich <strong>de</strong>n Mund nichtschließen konnte, weil mir das Herz hineinschlug. […] Ich wollte, dass die Liebenachwächst, wie das gemähte Gras (H: 158 u. 161).Erfun<strong>de</strong>n hat die Autorin das „gemähte Gras“ (H: 8) als Sinnbild fürdie verratene Freundschaft. Das Gras, erläutert die Autorin, ist die Liebe,die nie gewachsen ist. Und das zerstörte Vertrauen. Lola und Tereza„mähen das Gras“, sie sind bei<strong>de</strong> Opfer: Tereza stirbt an einemKrebsgeschwür am Arm, das die Form einer Nuss hatte. Dass die VerräterinTereza auch in <strong>de</strong>r Reihe <strong>de</strong>r Opfer <strong>de</strong>r Diktatur genannt wird, weist daraufhin, dass ihre Krebserkrankung als Ausdruck psychischer Spannungengelesen wer<strong>de</strong>n kann: Die Frau wird zwischen <strong>de</strong>r Liebe <strong>zur</strong> Freundin und<strong>de</strong>r Diktatur zerrieben (Schmidt 1998: 64).Aus <strong>de</strong>r Kindheit <strong>de</strong>r Erzählerin stammt die titelgeben<strong>de</strong> MetapherHerztier, welche die singen<strong>de</strong> Großmutter am Bett <strong>de</strong>s schlafen<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>sgebraucht hatte. „Ruh <strong>de</strong>in Herztier aus, du hast heute zu viel gespielt“ (H:8). Das Bild ist gekennzeichnet von wie<strong>de</strong>rholter Verschiebung in seinenpotenziellen Be<strong>de</strong>utungen und weist mehrere Vorstellungen zugleich auf.Für Josef Zier<strong>de</strong>n wird das Herztier <strong>de</strong>r Großmutter „in dieser unwirtlichenWelt <strong>zur</strong> Chiffre für Wärme und Vertrauen“ (Zier<strong>de</strong>n 1995: 8). Doch seineDeutung vernachlässigt <strong>de</strong>n Kontext, <strong>de</strong>nn die Frau, welche es gebraucht,trägt keine positiven Züge. Zur Nazizeit hatte sie einen Mann angezeigt,einer an<strong>de</strong>ren Frau <strong>de</strong>n Mann weggenommen und <strong>de</strong>n Großvater nur<strong>de</strong>swegen geheiratet, weil er viel Feld besaß. Dass die Diktatur auch dieGroßmutter vernichtet, ver<strong>de</strong>utlicht die Tatsache, dass diese ‚ihr‘ Feld nach<strong>de</strong>r Enteignung verloren hat. Sie wird wahnsinnig, weil ihre Lebensplanungdurch ein repressives Regime zunichte gemacht wur<strong>de</strong>. Ihr Bescheidwissenüber das Herztier eines je<strong>de</strong>n Menschen gibt ihr Macht über die an<strong>de</strong>ren.Über ihren Mann heißt es: „Er liebt sie nicht, aber sie kann ihn beherrschen,in<strong>de</strong>m sie zu ihm sagt: Dein Herztier ist eine Maus“ (H: 81). Eher bleibt dasHerztier-Motiv viel<strong>de</strong>utig und rätselhaft, bezieht sich sowohl auf Intimitätund Verletzlichkeit, aber auch auf die Diktatur, so wie es die Autorin selbstin einem Interview suggeriert hatte: „Es muss je<strong>de</strong>s Herztier in <strong>de</strong>n Kontext,19


in <strong>de</strong>m es steht und in <strong>de</strong>r Person, in <strong>de</strong>r es verankert ist, für sich sprechen.Es ist nichts genau Bestimmbares. Es wird nicht klar, ob das Herztier retteto<strong>de</strong>r ob es das ist, was an einem zerstört o<strong>de</strong>r verletzt wird“ (Haines/Littler1998: 22).An <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n besprochenen Romanen lassen sich durch ein dichtesVerweisnetz an Bil<strong>de</strong>rn und Symbolen <strong>de</strong>r zerstörerische Einfluss <strong>de</strong>rDiktatur, die Machteingriffe in <strong>de</strong>n persönlichen Bereich ausmachen. DieseStrukturen, welche Macht und Gewalt suggerieren und damit als Kritik an<strong>de</strong>r Diktatur eingesetzt wer<strong>de</strong>n, verweisen auf einer höheren Ebenenochmals auf die Diktatur und können mit einem Begriff Petra Meurers als„diktatorisches Erzählen“ zusammengefasst wer<strong>de</strong>n:Wie in realen Diktaturen mit <strong>de</strong>m Skandieren von Parolen das Volk manipuliertwird, wird in <strong>de</strong>n Texten von Herta Müller durch stete Wie<strong>de</strong>rholung beim Lesereine Annahme <strong>de</strong>r neuen Be<strong>de</strong>utungen <strong>de</strong>r Wörter als Erinnerungsformelnerreicht. So wird eine diktatorische Formel <strong>zur</strong> Kritik an <strong>de</strong>r Diktatur genutzt.Ebenso geben die Personifikationen <strong>de</strong>m Leser ein genau festgelegtes Welt- bzw.Gesellschaftsbild vor, das ihm wenig Spielraum für eine eigene Haltung undindividuelle Wertungen lässt. Insofern ist hier auch ein diktatorischer Gestus zuerkennen (Meurer 1999: 194).Atemschaukel, Müllers bislang letzter Roman, beschäftigt sich mit<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren diktatorischen Regierungsform <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts, <strong>de</strong>mStalinismus und untersucht am Beispiel eines männlichen ProtagonistenWi<strong>de</strong>rstands- und Überlebensformen im Lager Nowo-Gorlowka in <strong>de</strong>rUkraine. Dahin wur<strong>de</strong>n auf Grund <strong>de</strong>r Kollektivschuldthese alleRumänien<strong>de</strong>utschen zwischen 18 und 45 <strong>zur</strong> Aufbauarbeit <strong>de</strong>portiert, wobeisehr viele Menschen aufgrund <strong>de</strong>r Arbeitsbedingungen und <strong>de</strong>r schlechtenVersorgungslage ums Leben gekommen sind. Die Mutter von Herta Müllerwur<strong>de</strong> auch <strong>de</strong>portiert, sie hat aber nur in An<strong>de</strong>utungen über dietraumatischen Ereignisse berichtet und <strong>de</strong>n mit Müller befreun<strong>de</strong>tenSchriftstellerkollegen ereilte das gleiche Schicksal. Das Buch wur<strong>de</strong> alsGemeinschaftsprojekt mit <strong>de</strong>m experimentellen Dichter Oskar Pastiorbegonnen und es wur<strong>de</strong> nach <strong>de</strong>ssen Tod 2006 alleine von Müller fertiggeschrieben. Auf Einzelheiten in Bezug auf das Zustan<strong>de</strong>kommen <strong>de</strong>sTextes hat Herta Müller im Artikel Gelber Mais und keine Zeit selbsthingewiesen:Er raffte die Sprache an<strong>de</strong>rs als meine Mutter. Er re<strong>de</strong>te vom ‚Nullpunkt <strong>de</strong>rExistenz‘. Sein Erinnern lebte von <strong>de</strong>n Einzelheiten, war kompliziert, <strong>de</strong>nn seinelebenslange Beschädigung bekannte sich zu einer lebenslangen Nähe zum Lager.20


Er sagte ohne zu erschrecken: ‚Meine Sozialisation ist das Lager‘. Dengerafftesten Satz aller Sätze hat er als nackte Rechnung formuliert: 1 Schaufelhub= 1 Gramm Brot (GM: 15-16).Während Müllers Mutter, die als Überleben<strong>de</strong> ins Dorf<strong>zur</strong>ückgekehrt ist, ihre seelischen Beschädigungen im Verschweigen, imSich-Anpassen verarbeiten konnte 5 , lehrte sie <strong>de</strong>r Siebenbürger Pastior,gera<strong>de</strong> im Versprachlichen eine Möglichkeit zu fin<strong>de</strong>n, um die erlebtenTraumata zu bewältigen:Von Oskar Pastior kenne ich jedoch das Re<strong>de</strong>n über die Beschädigung inverblüffen<strong>de</strong>n Details. Diese gibt es wahrlich in allen seinen Texten, poetischgebrochen in seiner Sprache, <strong>zur</strong> Unkenntlichkeit ver<strong>de</strong>utlicht (GM: 17).Ihm verdankt <strong>de</strong>r Roman eine Reihe von Einzelheiten, hauptsächlichüber die Anlage <strong>de</strong>s Lagers, <strong>de</strong>n Alltag, die Arbeitsläufe. Pastiors gesamteDichtung speist sich thematisch aus <strong>de</strong>m biografischen Trauma <strong>de</strong>rJugendjahre, das in allen Bän<strong>de</strong>n verfrem<strong>de</strong>nd nachklingt:Ein paar meiner Generalthemen, Problemfel<strong>de</strong>r, Unruheher<strong>de</strong>, verdanke ich diesenfünf Jahren im Donbass. Die ganze Sache mit <strong>de</strong>r perfi<strong>de</strong>n ‚Kausalität‘ und wasdran hängt (persönlich unschuldig – aber mit unleugbaren Grün<strong>de</strong>n <strong>zur</strong>Rechenschaft und zu ihrer Akzeptanz gezogen wor<strong>de</strong>n zu sein – und dann, alsÜberleben<strong>de</strong>r, die Austauschbarkeit von Schuld und Sühne, das Umkippen vonFolgen in Begründungen, Begründungen in Zweckgerichtetheiten, von Logik inWillkür). Die ganze Sache mit <strong>de</strong>m Ausgeliefert-Sein und <strong>de</strong>m freien Willen,dieser Arena, wie ich heute sage, diesem Lagerhof [...] ohne diese fünf Jahre hingeich nicht so vital an dieser nur scheinbar philosophischen permanenten Aufgabe,<strong>de</strong>n Spielraum zwischen Determiniert und In<strong>de</strong>terminiert mit aller Neugier undSkepsis und Lust und Angst davor, ‚was an Text da herauskommt‘ auszuloten(Sienerth im Gespräch mit Pastior 1997: 209-210).Pastiors Zuwendung <strong>zur</strong> experimentellen Poesie war also keinezufällige Entscheidung, sie stellt eine literarische Antwort auf dasIndividuell-Biografische dar. Sein Schreiben gegen die herrschen<strong>de</strong>nSchreibweisen und Konventionen, die Umkippung <strong>de</strong>r Logik in A-Logik,5 Vgl. dazu die Ausführungen Müllers aus <strong>de</strong>m Artikel Gelber Mais und keine Zeit: „Vonmeiner Mutter kannte ich das Schweigen in <strong>de</strong>r Beschädigung und die Komplizenschaft mit<strong>de</strong>r Kartoffel, die im chronischen Hunger das Grundnahrungsmittel war. Meine Mutterwollte mir als Kind beibringen, beschei<strong>de</strong>n zu sein, gerecht zu sein, sparsam zu sein [...]Meine Mutter ließ mich im Schatten ihrer Handgriffe nur rätseln über das Lager. Dieverkniffene Normalität und das Schweigen waren immer da und wur<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Zeitmonströs, wühlten mich auf, gaben keine Ruhe“ (GM: 17).21


die Rückführung <strong>de</strong>r Sprache auf sich selbst, die Opposition gegen dieInhaltsebene lässt sich so erklären. Herrschaftsverhältnisse sind <strong>de</strong>m Dichterverhasst, er attackiert sie in <strong>de</strong>r Sprache, <strong>de</strong>ren Sinn er verbirgt, in <strong>de</strong>rGeschichte, sogar im privaten Bereich. Stellt die sprachlich sinnvolleAussage eine Bestätigung <strong>de</strong>r Normen <strong>de</strong>s Sprachsystems dar, diewie<strong>de</strong>rum eine Form von Herrschaft wi<strong>de</strong>rspiegelt, so muss diesezerschlagen und umgestülpt wer<strong>de</strong>n. ‚Sinn‘ und ‚Grammatik‘, ‚Sprache‘verstan<strong>de</strong>n als Beschreibungskategorien von Herrschaft wer<strong>de</strong>n verformt,<strong>de</strong>-formiert, ver-rückt.Wenn Müller berichtet, Pastior habe sich an „Ein-zu-eins Erzählen“gehalten, so be<strong>de</strong>utete das, er habe „nahe am eigenen Erleben, ohnebeson<strong>de</strong>re Ausschmückung“ (Steinecke 2011: 20) erzählt, wobei sich <strong>de</strong>rversierte Sprachexperimentelle auch im Verstecken übte,[...] er war ein Meister im kurzen Verstecken, und mich reizte das riskanteHerauslocken. Für ihn war das ein nochmaliges Herumschieben <strong>de</strong>s eigenenLebens, [...] er war nicht frei. [...] Von mir verlangte sein Eins-zu-eins Erzählen,seine Skrupel zu durchkreuzen und die Person <strong>de</strong>s Oskar Pastior durch eine Text-Person zu konterkarieren, durch eine künstlich gebaute Ich-Person (GM: 23).Auch wenn es sich nicht rekonstruieren lässt, welcheFormulierungen auf Pastior und welche auf Herta Müller <strong>zur</strong>ückgehen, stehtfest, was Ina Hartwig in <strong>de</strong>r Rezension <strong>de</strong>s Buches festhält, „dass einekongeniale Nähe von bei<strong>de</strong>r Sprachempfin<strong>de</strong>n zusammengeschmie<strong>de</strong>tvorliegt in diesem Buch, das auf <strong>de</strong>r persönlichen Ebene als Hommage an<strong>de</strong>n Freund zu lesen erlaubt ist“ (Hartwig 2009: o.S.).So entstand die Figur Leo Aubergs, eines Siebenbürger Sachsen, <strong>de</strong>raus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r fiktionalen Freiheit nicht mit <strong>de</strong>m experimentellen Dichtergleichzusetzen ist, <strong>de</strong>r aber einige biografische Details mit <strong>de</strong>m Autorgemeinsam hat: er wur<strong>de</strong> im gleichen Jahr geboren, stammt aus <strong>de</strong>rbildungsbürgerlichen Schicht Hermannstadts, hat <strong>de</strong>n Makel <strong>de</strong>rHomosexualität, welches ihm eine doppelte Außenseiterposition 6 aufzwingt,verbringt fünf Jahre in einem russischen Arbeitslager, studiert in Bukarestund kehrt später seinem Heimatland <strong>de</strong>n Rücken. Genau wie Pastior beweister eine Vorliebe für kleine Gegenstän<strong>de</strong>, an die er sich fesselt. Ver<strong>de</strong>utlichtsich in <strong>de</strong>n Romanen, in welchen <strong>de</strong>r rumänische Totalitarismus seinenNachklang fand, die Allgegenwart <strong>de</strong>r Securitate, das Observieren und die6 Vgl. <strong>zur</strong> Außenseiterposition und zum Verlust <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>n Aufsatz von Bologa,Elvine: Sprache und Heimatlosigkeit in Herta Müllers Atemschaukel (Bologa 2010: 83-93).22


Bedrohung gera<strong>de</strong> anhand <strong>de</strong>r kleinen, belanglosen Details, so verleihen in<strong>de</strong>r Atemschaukel gera<strong>de</strong> die unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n, scheinbar belanglosenElemente einen Halt. „Je weniger man besitzt, um so wichtiger wer<strong>de</strong>n dieGegenstän<strong>de</strong>“ klingt Müllers (GM: 24) apodiktische Formulierung, die sichauf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s Textes mit <strong>de</strong>m Räsonnement Leo Aubergs ergänzenlässt:Alles, was ich trage, habe ich bei mir. Geraubtes Leben mit eigenenGegenstän<strong>de</strong>n, die beweisen, dass man existiert. Man hält sie in <strong>de</strong>r Hand und siegarantieren einem sogar, dass man <strong>de</strong>n Verstand noch nicht verloren hat. Entwe<strong>de</strong>rhaben sie eine Herkunft von zu Hause, o<strong>de</strong>r sie sind neu erworben. Bei<strong>de</strong>s machtstolz. Gegenstän<strong>de</strong> übertragen ihre Geduld auf <strong>de</strong>n Besitzer, ihr Gebrauch bringtGewohnheiten mit sich. Und Gewohnheiten geben Halt, beson<strong>de</strong>rs dort, wolückenlose Überwachung herrscht. Sogar Werkzeuge, die <strong>de</strong>m Lager gehören,simulieren Privatheit und verlangen nichts dafür (GM: 24).Detailreichtum ist ein Merkmal <strong>de</strong>s Textes, <strong>de</strong>r sich, wie es HartmutSteinecke einleuchtend bewiesen hat, an <strong>de</strong>r manisch obsessivenBeschreibung <strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong> aufzeigt, an Räumen o<strong>de</strong>r Einrichtungen, anRezepten o<strong>de</strong>r Speisen. Auch die 2010 in München präsentierte Ausstellung„Der kalte Schmuck <strong>de</strong>s Lebens“ bewies die Vorliebe Müllers für Details,für Skizzen <strong>de</strong>s Lagers, Gebäu<strong>de</strong>, Schlafräume und auch für bestimmteVorgänge (vgl. Steinecke 2011: 24).Den Elementen, die Stütze inmitten <strong>de</strong>r Sinnlosigkeit bieten können,aber auch das Überleben Leos gewähren, geht dieser Teil meines Beitragsnach, <strong>de</strong>r sich hauptsächlich auf <strong>de</strong>n Grammophonkoffer, <strong>de</strong>n sei<strong>de</strong>nenSchal, die Le<strong>de</strong>rgamaschen, auf das Taschentuch, wie auch auf dieleitmotivartigen Symbole Hungerengel, Herzschaufel und die titelgeben<strong>de</strong>Atemschaukel stützt.Der Protagonist Leo Auberg entgeht als Siebenbürger Sachse <strong>de</strong>rDeportation nicht und muss seinen Koffer packen. Er berichtet aus <strong>de</strong>r Ich-Perspektive, die manchmal zu einer Wir-Perspektive gerinnt, über seineÜberlebensstrategien in einer Extremsituation, über <strong>de</strong>n anstrengen<strong>de</strong>nLageralltag, <strong>de</strong>n allgegewärtigen Hunger, das Wühlen im Abfall, das Hortenvon Nahrungsmitteln, <strong>de</strong>n Diebstahl <strong>de</strong>s Brotes und <strong>de</strong>n Tausch <strong>de</strong>s eigenenersparten Brotes, die Selbstjustiz getarnt als Brotgericht, wie auch über dasAuskommen mit an<strong>de</strong>ren Inhaftierten. Die fünf Jahre wer<strong>de</strong>n nicht alschronologischer Ablauf wie<strong>de</strong>rgegeben, son<strong>de</strong>rn in Bezug auf Zustän<strong>de</strong>, aufJahreszeiten, auf die Farbe <strong>de</strong>s Mel<strong>de</strong>krauts und <strong>de</strong>ssen Essbarkeit.Zusammengebün<strong>de</strong>lt wird <strong>de</strong>r Text mit Hilfe von zwei wichtigen Themen,23


<strong>de</strong>r lebenslänglichen Dauerbeschädigung durch ein traumatisches Erlebnis 7 ,<strong>de</strong>r Deformationen durch ein Zwangssystem und <strong>de</strong>m Heimweh, <strong>de</strong>rzielgerichteten Hoffnung auf die Rückkehr nach Hause, die durch <strong>de</strong>n Satz<strong>de</strong>r Großmutter eingeleitet wur<strong>de</strong>: „ICH WEISS DU KOMMST WIEDER“(A: 14). „Alles, was ich habe, trage ich bei mir“ (A: 7), heißt es schon zuBeginn <strong>de</strong>s Buches in Bezug auf das mitgenommene Gepäck. EinGrammophonkistchen wird zu einem Koffer umgebaut, worinLebenswichtiges eingepackt wird:Auf <strong>de</strong>n Kofferbo<strong>de</strong>n legte ich vier Bücher: <strong>de</strong>n Faust in Leinen, <strong>de</strong>n Zarathustra,<strong>de</strong>n schmalen Weinheber und die Sammlung Lyrik aus acht Jahrhun<strong>de</strong>rten. KeineRomane, <strong>de</strong>nn die liest man nur einmal und dann nie wie<strong>de</strong>r. Auf die Bücher kamdas Necessaire. Darin waren 1 Flacon Toilettenwasser, 1 Flacon RasierwasserTarr, 1 Rasierseife [...] Ganz oben hin kam <strong>de</strong>r neue Sei<strong>de</strong>nschal, dass er sich niezerdrückt. Er war weinrot in sich kariert, mal glänzend, mal matt. Da war <strong>de</strong>rKoffer voll (A: 13).Gegenstän<strong>de</strong> in ihrer alltäglichen Nacktheit und ihrer poetischenÜberhöhung begleiten <strong>de</strong>n Protagonisten im Lager. Fungiert <strong>de</strong>r Koffer alsSymbol <strong>de</strong>r behüteten bürgerlichen Existenz, aus <strong>de</strong>r Leo Aubergwi<strong>de</strong>rrechtlich herausgerissen wird, so begleitet er ihn während <strong>de</strong>r fünfJahre und er fin<strong>de</strong>t später, nach <strong>de</strong>r Rückkehr eines Entwurzelten, seineursprüngliche Bestimmung <strong>zur</strong>ück. Der mittlerweile abhan<strong>de</strong>n gekommeneInhalt kehrt aber in <strong>de</strong>n schlaflosen Nächten in die Erinnerung <strong>zur</strong>ück undwird zu „Nachtkoffersachen“.Sie [die Gegenstän<strong>de</strong> Anm. GP] sind meine Nachtkoffersachen. Seit <strong>de</strong>r Heimkehraus <strong>de</strong>m Lager ist die schlaflose Nacht ein Koffer aus schwarzer Haut. Und dieserKoffer ist in meiner Stirn. Ich weiß nur nach sechzig Jahren nicht, ob ich nichtschlafen kann, weil ich mich an die Gegenstän<strong>de</strong> erinnern will, o<strong>de</strong>r ob esumgekehrt ist. Ob ich mich mit ihnen herumschlage, weil ich sowieso nichtschlafen kann. So o<strong>de</strong>r so, packt die Nacht ihren schwarzen Koffer gegen meinenWillen, das muss ich betonen. Ich muss mich erinnern gegen meinen Willen (A:33-34).7 Vgl. dazu <strong>de</strong>n Aufsatz von Beate Petra Kory: Das Trauma als Mahnmal in Herta MüllersDeportationsroman „Atemschaukel“ (Kory 2013: 76-97), in welchem das Ausmaß vonLeos Beschädigung <strong>zur</strong> Sprache kommt: „Gera<strong>de</strong> diese auch noch nach 60 Jahren in <strong>de</strong>rErinnerung vorhan<strong>de</strong>ne Präsenz <strong>de</strong>s Lagers mit seinen kleinsten Einzelheiten vermag dasganze Ausmaß <strong>de</strong>s damals durch <strong>de</strong>n Ich-Erzähler erlittenen Traumas zu beleuchten. Sostellt dieses literarische Verfahren <strong>de</strong>r Erinnerung aus einem 60-jährigen Rückblick einegelungene Metho<strong>de</strong> <strong>zur</strong> Umsetzung <strong>de</strong>s Traumas in <strong>de</strong>r Textstruktur dar“ (Kory 2013: 83).24


Seelische, ein Leben lang währen<strong>de</strong> Beschädigungen, die Leo auchzu verschriftlichen versucht, wer<strong>de</strong>n somit anhand <strong>de</strong>s leitmotivartigverwen<strong>de</strong>ten Koffers ver<strong>de</strong>utlicht. Dazu gehört auch <strong>de</strong>r Zwang, sich zuerinnern. Damit repräsentiert <strong>de</strong>r Koffer die lebenslange Gefangenschaft in<strong>de</strong>n Lagererinnerungen und die Abhängigkeit von diesen. Zwar hat <strong>de</strong>rVersehrte überlebt, er bleibt aber unauslöschlich von <strong>de</strong>n Erinnerungengezeichnet.Die vier mitgenommenen Bücher sollten als geistige Nahrungdienen, mentale Freiräume in <strong>de</strong>r Düsternis <strong>de</strong>s Lagers eröffnen. Wo manaber auf einen zivilisatorischen Nullpunkt <strong>zur</strong>ückgeworfen wird, wer<strong>de</strong>n siezu Tauschobjekten, zu Lebensmitteln und sie tragen zum Überleben bei.Auch <strong>de</strong>n roten Schal überlässt Leo <strong>de</strong>r mit Tur Prikulitsch liierten BeaZakel, damit er für Essbares eingetauscht wird. Damit erhält Leo von Turdie Erlaubnis, auf einem Kartoffelacker Kartoffeln zu pflücken undmitzunehmen. Zum „Kartoffelmensch[en]“ (A:199) gewor<strong>de</strong>n, rettet das in<strong>de</strong>r Freiheit als ästhetisch fungieren<strong>de</strong>s Anhängsel <strong>de</strong>m Protagonisten dasLeben, stärkt seinen Wi<strong>de</strong>rstand.Relevant sind auch die Le<strong>de</strong>rgamaschen, welche <strong>de</strong>r Inhaftierte auf<strong>de</strong>m Basar eintauschen möchte. Nach<strong>de</strong>m sie ein Händler in die Luftgeworfen hat, fand Leo an jener Stelle 10 Rubel, die ihm eine wahreEssorgie eröffneten und ihm später das Unwohl-Sein bescherten.Ich kotzte an <strong>de</strong>n Baum, und es tat mir so leid um das ganze teure Essen, dass ichkotzte und weinte. [...] Unterm ersten Wachturm ging ich dann im leeren Wind,mit leerem Kissen und leerem Magen. Derselbe wie vorher, nur ohneLe<strong>de</strong>rgamaschen. Lebensgamaschen (A: 142).Durch die Verrohung und Aushungerung können die„Lebensgamaschen“ zu ‚To<strong>de</strong>sgamaschen‘ umgepolt wer<strong>de</strong>n. Anhand <strong>de</strong>sSchals und <strong>de</strong>r Le<strong>de</strong>rgamaschen, <strong>de</strong>nen erzähltechnisch je ein Kapiteleingeräumt wird, wird <strong>de</strong>r feine Gradunterschied zwischen Überleben undSchmerz/ Tod, zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Alternativen, lebend o<strong>de</strong>r tot das Lagerzu verlassen, ver<strong>de</strong>utlicht.Zum Symbol für die verlorene Welt <strong>de</strong>r Kindheit, für die Wärmeund Geordnetheit <strong>de</strong>r Welt von zu Hause wird das von einer alten Russin25


geschenkte Taschentuch 8 , welches Leo unbenutzt im Koffer aufbewahrt undwie eine Gedächtnisstütze mit nach Hause nimmt:Das schneeweiße Taschentuch aus feinstem Battist war alt, ein gutes Stück aus <strong>de</strong>rZarenzeit. Es hatte einen handgestickten Ajour-Rand, Stäbchen aus Sei<strong>de</strong>nzwirn.Die Lücken zwischen <strong>de</strong>n Stäbchen waren akkurat genäht und in <strong>de</strong>n Ecken kleineSei<strong>de</strong>nrosetten. So etwas Schönes hatte ich lang nicht mehr gesehen. DieSchönheit <strong>de</strong>r normalen Gebrauchsgegenstän<strong>de</strong> war zu Hause nicht <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> wert.Im Lager ist es gut, sie zu vergessen. In <strong>de</strong>m Taschentuch erwischte sie mich.Diese Schönheit tat mir weh (A: 78).Es repräsentiert auch die fürsorgliche Mutterliebe, zumal die RussinLeo das Taschentuch in Erinnerung an ihren nach Sibirien verschlepptenSohn geschenkt hatte. Mit <strong>de</strong>m Taschentuch verbin<strong>de</strong>t Leo dieGrun<strong>de</strong>rfahrung <strong>de</strong>r Sicherheit und Vertrautheit, <strong>de</strong>r im <strong>de</strong>solaten Alltaglängst verlorenen Humanität und <strong>de</strong>swegen tauscht er es auch nicht gegenLebensmittel ein. Mit <strong>de</strong>m Taschentuch als Erinnerungsträger an <strong>de</strong>ngroßmütterlichen Abschiedssatz „ICH WEISS DU KOMMST WIEDER“verbin<strong>de</strong>t sich auch die I<strong>de</strong>e eines Halt geben<strong>de</strong>n Gegenstan<strong>de</strong>s.Genau wie im Roman Herztier spielen auch in diesem TextMetaphern eine wichtige Rolle, von <strong>de</strong>ren Darstellungsweise Müller inGelber Mais und keine Zeit Auskunft gibt: „Man läßt nur die äußersteSpitze <strong>de</strong>s Gesprächs mit <strong>de</strong>n Gegenstän<strong>de</strong>n im geschriebenen Satz, mankatapultiert <strong>de</strong>n Vergleich in ein einziges Wort, stutzt das Gespräch <strong>zur</strong>Metapher“ (GM: 19), wobei „je<strong>de</strong>s neu erfun<strong>de</strong>ne Wort [...] aus <strong>de</strong>mGespräch mit <strong>de</strong>n realen Gegenstän<strong>de</strong>n [resultiert]“ (GM: 19). Solch eineMetapher ist <strong>de</strong>r Hungerengel, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Alltag <strong>de</strong>r Eingekerkerten dominiert,aber auch in zwei Kapiteln zum Hauptprotagonisten wird, <strong>de</strong>nn er stellt <strong>de</strong>neigentlichen Gegenspieler <strong>de</strong>r Leute dar. Hartmut Steinecke istzuzustimmen, wenn er behauptet, <strong>de</strong>r Hungerengel sei, „eine fantasierteVerkörperung <strong>de</strong>r Qual, [...] <strong>de</strong>r gera<strong>de</strong>zu mysthische Gegenspieler“(Steinecke 2011: 27).8 Das Taschentuch als Symbol <strong>de</strong>r mütterlichen Fürsorglichkeit kommt auch in HertaMüllers Nobelpreisre<strong>de</strong> zum Tragen. „Hast du ein Taschentuch, fragte die Mutter je<strong>de</strong>nMorgen am Haustor, bevor ich auf die Straße ging. Und weil ich keins hatte, ging ich nochmal ins Zimmer <strong>zur</strong>ück und nahm mir ein Taschentuch. [...] Die Frage HAST DU EINTASCHENTUCH war eine indirekte Zärtlichkeit. Eine direkte wäre peinlich gewesen, soetwas gab es bei <strong>de</strong>n Bauern nicht“ (SO: 7). Dem Übergang von <strong>de</strong>r Fürsorge <strong>zur</strong>Administrierungswut eines totalitären Staates geht <strong>de</strong>r Beitrag von Otto Norbert Eke nach:Von Taschentüchern und an<strong>de</strong>ren Dingen, o<strong>de</strong>r Die „akute Einsamkeit <strong>de</strong>s Menschen“Herta Müller und <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruch (Eke 2011: 71-83).26


Diese Müller’sche Neuschöpfung lässt sich in zwei Begriffe trennen,<strong>de</strong>n chronischen Hunger als Wi<strong>de</strong>rpart aller und <strong>de</strong>n Engel, von welchemman sich Schutz und Heil verspricht. Der Hungerengel als Verkörperung<strong>de</strong>r Qual tritt erstmals im Kapitel „Mel<strong>de</strong>kraut“ in Erscheinung, als er imZusammenhang mit dieser im Frühjahr genießbaren Pflanze erwähnt wird,die das Leid <strong>de</strong>r Lagerinsassen erträglicher wer<strong>de</strong>n lässt. Dass er wie eineTo<strong>de</strong>sdrohung fungiert, beweist eine erste Abhandlung über <strong>de</strong>n Hunger:Was kann man sagen über <strong>de</strong>n chronischen Hunger. Kann man sagen, es gibteinen Hunger, <strong>de</strong>r dich krankhungrig macht. Der immer noch hungrigerdazukommt, zu <strong>de</strong>m Hunger, <strong>de</strong>n man schon hat. Der immer neue Hunger, <strong>de</strong>runersättlich wächst und in <strong>de</strong>n ewig alten, mühsam gezähmten Hungerhineinspringt. Wie läuft man in <strong>de</strong>r Welt herum, wenn man nichts mehr über sichzu sagen weiß, als dass man Hunger hat. Wenn man an nichts an<strong>de</strong>res mehr<strong>de</strong>nken kann (A: 24-25).Die fehlen<strong>de</strong>n Fragezeichen <strong>de</strong>uten darauf hin, dass keine Antwortauf <strong>de</strong>n quälen<strong>de</strong>n Hunger gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann, dass er <strong>de</strong>n Verstandverwüstet. Die Macht übernimmt nicht <strong>de</strong>r Kapo Tur Prikulitsch, auch nicht<strong>de</strong>r russische Lagerkommandant, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r alle terrorisieren<strong>de</strong>„Hungerengel.“ Diesem kommt die Hauptrolle zu. Den Hungerengel kannman sich wie einen Geist vorstellen, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Hungern<strong>de</strong> sich schafft, umgegen ihn kämpfen zu können. Das gelingt Leo auch, immerhin überlebt erdie „Hautundknochenzeit“ – im Unterschied zu vielen an<strong>de</strong>ren. DerHungerengel nimmt ihn in Besitz für immer:Es gibt keine passen<strong>de</strong>n Worte fürs Hungerlei<strong>de</strong>n. Ich muss <strong>de</strong>m Hunger heutenoch zeigen, dass ich ihm entkommen bin. Ich esse buchstäblich das Leben selbst,seit ich nicht mehr hungern muss. Ich bin eingesperrt in <strong>de</strong>n Geschmack <strong>de</strong>sEssens, wenn ich esse. Ich esse seit meiner Heimkehr aus <strong>de</strong>m Lager, seit sechzigJahren gegen das Verhungern (A: 25).Der Kampf gegen das Hungern ist zentral im Buch eingebaut, wennvom Hausieren die Re<strong>de</strong> ist, von <strong>de</strong>m durch optische Täuschungverursachten Tausch <strong>de</strong>s „Eigenbrots“ und <strong>de</strong>s „Wangenbrots“, von <strong>de</strong>rBrotjustiz, von <strong>de</strong>n vielen erdachten Kochrezepten, die auch sprachlich inPastiors Band Fleischeslust vorkommen. Im Kampf ums Überlebenbewahren einige noch einen Rest <strong>de</strong>r Menschlichkeit, wenn einerseits dasBrotstehlen bestraft wird, an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>r Advokat Paul Gast seiner Fraudas Essen wegstiehlt.27


Schon auf <strong>de</strong>n ersten Seiten <strong>de</strong>s Buches, als das wichtigste Leitmotiv<strong>de</strong>s Textes, „ICH WEISS DU KOMMST WIEDER“ gebraucht wird,ge<strong>de</strong>nkt <strong>de</strong>r sich erinnern<strong>de</strong> Leo <strong>de</strong>r Herzschaufel, als eines „Kontrahenten<strong>de</strong>s Hungerengels“ (A: 14), als „Chiffre für die Hoffnung auf dasÜberleben, auf Wi<strong>de</strong>rstand“ (Steinecke 2011: 28). Das von Leo erfun<strong>de</strong>neBild, welches auf sein Vermögen verweist, einen Wi<strong>de</strong>rstand in <strong>de</strong>r Sprachezu fin<strong>de</strong>n, wird im Kapitel „Von <strong>de</strong>r Herzschaufel“ als „herzförmig und tiefgewölbt“ (A: 82) <strong>de</strong>tailliert dargestellt, wobei auf <strong>de</strong>m Prozess <strong>de</strong>sKohleabla<strong>de</strong>ns, <strong>de</strong>r Gewichtverlagerung beharrt wird. Die Rollen vonInhaftiertem und Werkzeug wer<strong>de</strong>n vertauscht, „[i]ch wünschte, dieHerzschaufel wäre mein Werkzeug. Aber sie ist mein Herr. Das Werkzeugbin ich. Sie herrscht, und ich unterwerfe mich“ (A: 86), die Knechtschaft<strong>de</strong>s Individuums geht mit <strong>de</strong>r Befreiung <strong>de</strong>s Werkzeugs einher. Wenn sichein Zärtlichkeitsverhältnis zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n herstellt, ist es auch darauf<strong>zur</strong>ückzuführen, dass Leo dank <strong>de</strong>r Herzschaufel zu Essbarem kommt unddie Quintessenz seiner Arbeit auf <strong>de</strong>n Punkt bringen kann: „1 Schaufelhub =1 Gramm Brot“ (A: 86). Sie wird auch gegen die Zerstörungsmacht <strong>de</strong>sLagers eingesetzt, wenn Leo nach einem ermü<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Tag im Keller äußernkann, „[j]e<strong>de</strong> Schicht ist ein Kunstwerk“ (A: 169) und somit <strong>de</strong>n Alltagästhetisiert. Damit zeigt das Buch, wie sich im trostlosen Alltag ein Künstlerherausbil<strong>de</strong>n kann.Zur dritten Zentralmetapher, welche <strong>de</strong>m Buch <strong>de</strong>n Titel verleiht,notierte Herta Müller:28Es ist ein Wort hinter <strong>de</strong>m Tod von Oskar Pastior. Auch dies Wort ist einePantomime, in <strong>de</strong>r am meisten das schaukelt, worüber Oskar Pastior und ich niegesprochen haben: <strong>de</strong>n Unterschied zwischen Tod und Verlust. Es balanciert in<strong>de</strong>r ‚Atemschaukel‘, was ich aus <strong>de</strong>m Tod von Oskar Pastior lernen musste: Mit<strong>de</strong>m Tod lässt sich nicht leben. Aber mit <strong>de</strong>m Verlust muss man es tun. (GM: 26).Es ist <strong>de</strong>r Verlust eines Freun<strong>de</strong>s und das Buch ist als Hommage andiesen Freund gedacht. Sie taucht sowohl in Verbindung mit <strong>de</strong>rHerzschaufel auf, „die Herzschaufel wird <strong>zur</strong> Schaukel in meiner Hand, wiedie Atemschaukel in <strong>de</strong>r Brust“ (A: 82), als auch mit <strong>de</strong>m Hungerengel:„Der Hungerengel stellt meine Wangen auf sein Kinn. Er lässt meinen Atemschaukeln. Die Atemschaukel ist ein Delirium und was für eins“ (A: 87).Die Zentralmetapher stellt eine Verbindung zwischen quälen<strong>de</strong>r Arbeit undÜberlebenswillen aber auch <strong>de</strong>m chronischen Hunger her, ein„Gleichgewicht zwischen <strong>de</strong>m Hunger und <strong>de</strong>m Leben, ein fragilesGleichgewicht zwischen ausatmen und einatmen“ (Steinecke 2011: 29).


Auch 60 Jahre nach <strong>de</strong>m Verlassen <strong>de</strong>s Lagers kehren dieseverselbstständigten Gegenstän<strong>de</strong> zwanghaft in die Erinnerung Leos <strong>zur</strong>ückund wer<strong>de</strong>n zu „Chiffren für die Dissoziation und Deformation <strong>de</strong>rPersönlichkeit, die im Lager stattgefun<strong>de</strong>n hat, ja für die Auslöschung <strong>de</strong>sIndividuums, das sich nur noch im erlittenen Trauma wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n un<strong>de</strong>rfahren kann“ (Konradt 2010: 38).Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass die Romane Herta Müllerseine Chronik <strong>de</strong>s Überlebenswillens inmitten je<strong>de</strong>r Form von Totalitarismusdarstellen, <strong>de</strong>ren Insignien das Ausharren, <strong>de</strong>r Wunsch nach Freiheit,Freundschaft, Menschlichkeit und Gerechtigkeit sind. Dabei bedient sie sich<strong>de</strong>r „Metaphern <strong>de</strong>s Augenblicks“ (LW: 41), um über die Schreckenjedwelcher diktatorialen Erfahrung „in einer eigentümlichen,unverwechselbaren Sprache“ (Naumann 2004: 41) zu berichten. In ihrenTexten „wimmelt es gera<strong>de</strong>zu von Dingen, die ein Eigenleben führen“(LW: 24). Müllers nuancenreiche Bil<strong>de</strong>rsprache erzeugt durch ihreOriginalität und in <strong>de</strong>r Konzentration auf Details <strong>de</strong>s privaten Alltagslebenseine nachdrückliche Bloßstellung <strong>de</strong>r Diktatur und ihrerenthumanisieren<strong>de</strong>n Wirkung auf <strong>de</strong>n Einzelnen.Literatur***: „Gerechtigkeit ist ein Unwort. Ein Gespräch mit <strong>de</strong>r SchriftstellerinHerta Müller über die Staatssicherheit, die Sprache und die Macht.“In: Süd<strong>de</strong>utsche Zeitung, 14/15.8.1992.Apel, Friedmar (1998): Landschaft als Totalitarismuskritik. Herta Müller.In: Ders (1998): Deutscher Geist und <strong>de</strong>utsche Landschaft. EineTopographie, München: Albrecht Kanus, 220-232.Auffermann, Verena (1992): „Wo bei an<strong>de</strong>ren das Herz ist, ist bei <strong>de</strong>nen einFriedhof. Herta Müllers Roman über die Angst, die Staatssicherheitund das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Diktators Ceauşescu.“ In: Süd<strong>de</strong>utsche Zeitung.Literaturbeilage, 30.9.1992. o.S.Beverley Driver Eddy (1999): „Die Schule <strong>de</strong>r Angst“- Gespräch mit HertaMüller. In: German Quaterly, 72(1999), Nr. 4, 329-340.Bologa, Elvine: Sprache und Heimatlosigkeit in Herta MüllersAtemschaukel. In: Mun Yeong Ahn (Hrsg.): Jahrbuch fürInternationale Germanistik, 2/2010, 83-93.Braun, Michael (2011): Die Erfindung <strong>de</strong>r Erinnerung: Herta MüllersAtemschaukel. In: Paul Michael Lützeler/ Erin Mc. Glothlin (Hrsg.):29


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Roxana Nubert/Ana-Maria Dascălu-RomiţanTemeswar/BukarestDer Nobelpreis für Literatur: AtemschaukelAbstract: The novel Atemschaukel of the Nobel laureate in literature, Herta Müller, was<strong>de</strong>signed along with the writer Oskar Pastior, who had the same fate as that of theprotagonist of the novel, Leo Auberg.Herta Müller continues with her masterpiece the tradition of the great Russian writers(Tschechow, Solchenizyn, Schalamow or Sinjiawski), who <strong>de</strong>scribed in their works thehorrors of labor camps in Russia and in the Soviet Union.It is remarkable in this novel the first disclosure of the tragedy of the Germans in Romania,who were sent to forced labor in the Soviet Union in the period 1945-1950.The paper examines the inhuman living and working conditions which the Saxon <strong>de</strong>porteesfaced in an Ukrainian labor camp, culminating in a permanent state of hunger. Thus, HertaMüller’s novel completes the mo<strong>de</strong>l created in mo<strong>de</strong>rn literature by Franz Kafka (EinHungerkunstler), Knut Samsun (Hunger) and Samuel Beckett (Molloy).Keywords: gulag, extermination, forced labor, hunger, fear, German speaking literature inRomania, Herta Müller.Wolfgang Paterno (2009: 101) zählt Herta Müller „zu <strong>de</strong>n wichtigstenChronistinnen staatlichen Terrors“. Schon in <strong>de</strong>r ersten Erzählung ihresDebütban<strong>de</strong>s Nie<strong>de</strong>rungen, in <strong>de</strong>r Grabre<strong>de</strong> 1 , erwähnt die Autorin dieDeportation <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Bevölkerung aus <strong>de</strong>m Banat in die Sowjetunion 2 .1 Vgl. Herta Müller: „Schon in meinem ersten Buch Nie<strong>de</strong>rungen kommt das Thema amRan<strong>de</strong> vor.“ (Müller 2009d: 55).2 Kurz vor Kriegsen<strong>de</strong>, am 23. August 1944, setzt König Michael (geb. 1921) unter <strong>de</strong>mDruck <strong>de</strong>r Russen <strong>de</strong>n Verbün<strong>de</strong>ten Adolf Hitlers (1889-1945), <strong>de</strong>n Marschall IonAntonescu (1882-1946), ab. Rumänien wechselt die Fronten und erklärt Hitler<strong>de</strong>utschland<strong>de</strong>n Krieg. Aufgrund ethnischer Kriterien und als wirtschaftliche Wie<strong>de</strong>rgutmachungsleistungenfür die Zerstörungen <strong>de</strong>s Zweiten Weltkrieges wur<strong>de</strong>n im ZeitraumJanuar 1945 – Dezember 1949 circa 70.000 Rumänien<strong>de</strong>utsche, Männer und Frauen, imAlter zwischen 17 und 45 in Arbeitslager in die Sowjetunion, überwiegend in Bergwerkeund in die Schwerindustrie in <strong>de</strong>r Ukraine, aber auch in <strong>de</strong>n Kaukasus verschleppt. DieRussen haben nicht von Zwangsarbeit, son<strong>de</strong>rn von „Wie<strong>de</strong>raufbau“ (A, 299) imkriegszerstörten Land gesprochen. Herta Müller geht darauf ein: „Die Lager waren in <strong>de</strong>nKohlengebieten zwischen Dnjepropetrowsk und Donezk, im Donbass […]. Der Alltagbestand aus Arbeitskolonne, Schuften, Abendappell, chronischem Hunger. Das Sterbenhieß Verhungern und Erfrieren“ (Müller 2006: 32). Fast 10.000 Deportierte sind ums Lebengekommen.33


Es geht um die fünfjährige Erfahrung, die ihre Mutter in einemsowjetischen Arbeitslager erlebt hat 3 :In Russland haben sie mich geschoren. Ich taumelte vor Hunger. Nachts kroch ichin ein Rübenfeld. Der Hüter hatte ein Gewehr. Wenn er mich gesehen hätte, hätteer mich umgebracht. Das Feld raschelt nicht. Es war Spätherbst, und dieRübenblätter waren schwarz und zusammengeklappt vom Frost (N, 11 ).Im Jahr 2009 legt die Nobelpreisträgerin offen, dass sie immer dieAbsicht hatte, über das Tabu-Thema Deportation zu schreiben 4 , von <strong>de</strong>r allein ihrem Heimatdorf wussten, aber über die keiner sich traute, zu sprechen:Das Thema war noch Jahrzehnte danach ein Tabu, weil es an die VerstrickungRumäniens mit <strong>de</strong>n Nazis erinnerte (Müller 2009d: 55).Bei <strong>de</strong>nen, die nach <strong>de</strong>r Deportation aus Russland <strong>zur</strong>ückkamen, war alles an<strong>de</strong>rs.Die Tracht war abhan<strong>de</strong>ngekommen, vom Kahlscheren waren auch die Zöpfe weg.Dieses Bild hat mich immer begleitet […] Ich hatte immer vor, darüber zuschreiben, habe mich aber auch davor gefürchtet, weil ich nicht wusste, wie, außerin diesen pauschalen Klagen, man habe gehungert und gefroren. Ich aber wolltebeschreiben, was Beschädigung wirklich ist (David 2009b: 34).Wie die Verfasserin im Nachwort zum Roman (A, 299) bekennt,habe sie schon acht Jahre vor <strong>de</strong>m Erscheinen <strong>de</strong>s Meisterwerks begonnen,Gespräche mit ehemals Deportierten aus ihrem Heimatdorf Nitzkydorfaufzuzeichnen. Doch diese Gespräche sind fruchtlos geblieben (vgl.Wichner 2005: 135; Müller 2009d: 55). Ernest Wichner (2005: 135)berichtet, dass Herta Müller ihm während einer zusammen mit OskarPastior unternommenen Reise zum Literaturfestival nach Lana in Südtirol,im September 2002, erzählt habe, dass sie „gern“ ein Buch schreiben wür<strong>de</strong>,in <strong>de</strong>m es um die Deportation <strong>de</strong>r Rumänien<strong>de</strong>utschen in die Sowjetunionzu Beginn <strong>de</strong>s Jahres 1945 gehen sollte. Seit <strong>de</strong>m Herbst 2002 haben sich3 Herta Müller schreibt in diesem Zusammenhang: „‚Atemschaukel’ ist nicht meineGeschichte, aber es ist die Geschichte meiner Umgebung, die Geschichte meiner Mutter“(David 2009: 34).4 Herta Müller erkennt in einem Interview: „Ich wollte einen Roman über diese Deportationschreiben“ (Müller 2006: 32). Und an einer an<strong>de</strong>ren Stelle schreibt die Autorin: „Ich sitzegera<strong>de</strong> über <strong>de</strong>n Druckfahnen meines Romans Atemschaukel. Sein Thema ‚Deportation undArbeitslager’ begleitet mich seit meiner Kindheit“ (Müller 2009d: 55).34


Herta Müller und Oskar Pastior, <strong>de</strong>r genau so wie Herta Müllers Mutter fünfJahre lang in <strong>de</strong>r Ukraine verschleppt war, regelmäßig getroffen:Wir trafen uns einmal pro Woche, und ich habe ihm meistens Fragen gestellt(David 2009a: 102).Wir begannen […] im Aufschreiben zu erfin<strong>de</strong>n, zu „flunkern“, wie Oskar Pastiores nannte. […] Er erzählte, und ich schrieb es auf (Müller 2006: 32).Ich wollte wissen, was ein Mensch in so einer Situation fühlt und habe nach <strong>de</strong>nwinzigsten Kleinigkeiten gefragt (Henneberg 2009: 23).Im Juni 2004 erfolgt eine mit Oskar Pastior und <strong>de</strong>m SchriftstellerErnest Wichner 5 unternommene Recherchereise in die Ukraine, um dieStätten <strong>de</strong>s Grauens zu suchen:Wir blieben zehn Tage dort und suchten die Orte <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Lager auf.Manches Backsteingebäu<strong>de</strong> war noch intakt da, <strong>de</strong>r Basar war heute noch <strong>de</strong>rBasar, doch von <strong>de</strong>n Baracken war nichts mehr zu sehen (Müller: 2006: 32).Den Titel hat Oskar Pastior geprägt (vgl. Gnauck 2010: 23 undDavid 2009a: 103). Nach<strong>de</strong>m vier Hefte von handschriftlichen Notizengefüllt und die ersten Entwürfe <strong>de</strong>r 64 Kapitel ausgearbeitet waren (vgl.Schnetz 2009: 61; Müller 2009d: 55), tritt am 4. Oktober 2006 <strong>de</strong>runerwartete Tod <strong>de</strong>s Dichterfreun<strong>de</strong>s ein.Herta Müller unterstreicht, wie genau sich Pastior an kleinsteEreignisse, an Namen, Schicksale und an die täglichen Schikanen erinnerte(vgl. Schnetz 2009: 61). Sie ist davon überzeugt, „dass es eine Aufgabe sei,das Buch fertigzustellen“ (David 2009b: 34), „weil Pastior die letzten Jahreseines Lebens so viel Zeit in die Sache investiert hatte“ (David 2009a: 103).Der Roman wird also auch eine Art Vermächtnis an <strong>de</strong>n bekanntenDichter, ein „Ge<strong>de</strong>nkbuch für <strong>de</strong>n Freund“ (Schulte 2009: IV):Ich habe bei <strong>de</strong>r Arbeit immer in diesen Tod hineingeschrieben (David 2009a:103).Es wur<strong>de</strong> meine Trauerarbeit (Müller: 2009d: 55).5 Wie Herta Müller (2006: 32) berichtet, wur<strong>de</strong>n auch Ernest Wichners Großeltern undVater in die sowjetischen Arbeitslager <strong>de</strong>portiert.35


Wie Herta Müller selbst sagt, hat sie Fragmente aus <strong>de</strong>mGeschriebenen genommen und „über das Buch verteilt“ (Gnauck 2010: 23),wobei „ein beeindrucken<strong>de</strong>s Textmonument“ (Huckebrink 2009: 16)entstan<strong>de</strong>n ist, das sie <strong>de</strong>n Verschleppten, speziell <strong>de</strong>m Schicksal <strong>de</strong>sDichters Oskar Pastior, gewidmet hat:Die Beschreibung <strong>de</strong>r Schichten <strong>de</strong>s San<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r Grube, die die Häftlingeschaufeln, o<strong>de</strong>r das kurze Kapitel über <strong>de</strong>n „Hungerengel“, das sei fastunverän<strong>de</strong>rt geblieben. […] Doch das meiste musste Herta Müller allein schreiben.Das Kapitel, wo Pastior einen Zehn-Rubel-Schein fin<strong>de</strong>t, „ich wusste von OskarPastior nur einen Satz darüber. Ich musste die ganze Situation erfin<strong>de</strong>n“. Auchüber die geistesgestörte Planton-Kati, eine wichtige Figur, wusste die Autorin nureinen Satz. Gleiches galt für die Heimkehr <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n nach Rumänien. DieNamen weiterer Figuren (Halmen, Zakel und an<strong>de</strong>re) entnahm Müller einerGe<strong>de</strong>nktafel für Deportierte in einer Kirche in Hermannstadt (Gnauck 2010: 23).Im Nachwort <strong>zur</strong> Atemschaukel gesteht die Schriftstellerin, dass siesich erst nach einem Jahr seit Pastiors Tod entschließen konnte, „alleineinen Roman zu schreiben“ (A, 300):Doch ohne Oskar Pastiors Details aus <strong>de</strong>m Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt(A, 300).Er hatte ein unglaubliches Gedächtnis in Bezug auf die Arbeit, die er dortverrichten musste, und die Materialien, mit <strong>de</strong>nen er dort arbeitete. Manchmal hater mir auch etwas aufgezeichnet, das Lagergelän<strong>de</strong> zum Beispiel o<strong>de</strong>r dieKleidung, welche die Internierten trugen (David 2009a: 102).Wie die meisten betroffenen Dorfbewohner <strong>de</strong>s Banats hat HertaMüllers Mutter nicht vieles über die Deportation erzählt. Trotz<strong>de</strong>m ist dieBeschreibung <strong>de</strong>s ukrainischen Arbeitslagers auch mit <strong>de</strong>r Verschleppung<strong>de</strong>r eigenen Mutter verbun<strong>de</strong>n:In Pastiors Lager sind nicht so viele Leute gestorben, <strong>de</strong>nn dort gab es Kohle, dortkonnte geheizt wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>m meiner Mutter gab es das nicht, dort sind vieleerfroren, über 400 Menschen. In Pastiors Lager sind dreißig gestorben. Trotz<strong>de</strong>mwollte ich die Situation so darstellen, wie sie wirklich war, wie sie letztendlich fürje<strong>de</strong>s Lager galt (Bartels 2009: 25).In <strong>de</strong>r Erzählung Immer <strong>de</strong>rselbe Schnee und immer <strong>de</strong>rselbe Onkelberichtet die Verfasserin über das Erlebnis mit ihrer Mutter, die sich ähnlichwie Tru<strong>de</strong> Pelikan im Roman in einem Erdloch „im Nachbargarten, hinter36


<strong>de</strong>r Scheune“ versteckt hat und tagelang mit Essen versorgt wur<strong>de</strong> (Müller2011: 100). Als Schnee gefallen ist, konnte man im Garten die Fußstapfensehen:Man konnte in <strong>de</strong>n Gärten die Fußstapfen lesen. Der Schnee <strong>de</strong>nunzierte. Nichtnur meine Mutter, viele mussten freiwillig aus <strong>de</strong>m Versteck, freiwilliggezwungen vom Schnee. Und das be<strong>de</strong>utete dann fünf Jahre Arbeitslager (Müller2011: 100).Ähnlich erkennt Trudi Pelikan:Wegen <strong>de</strong>m Schneeverrat bin ich hier […] (A, 18).Obwohl diese „große Autorin <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts“ (Radisch 2009:43) in Atemschaukel ihrem Lieblingsthema, <strong>de</strong>m Totalitarismus in <strong>de</strong>rNachkriegszeit, treu bleibt, nimmt das Buch, welches Karl-Markus Gaussals „ein europäisches Ereignis“ (Gauss: 2009, 12) 6 betrachtet, <strong>de</strong>swegeneine Son<strong>de</strong>rstellung unter ihren Texten ein, weil es sich nicht mit <strong>de</strong>nUnterdrückungsmechanismen im Rumänien <strong>de</strong>r Ceauşescu-Diktatur,son<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>m sowjetischen Gulag 7 auseinan<strong>de</strong>rsetzt. In diesemZusammenhang gehört Herta Müller zu <strong>de</strong>n renommierten Autoren, welchedie Schrecken <strong>de</strong>s stalinistischen Straflagersystems festgehalten haben.Es gibt auffallen<strong>de</strong> Gemeinsamkeiten zwischen <strong>de</strong>r rumänien<strong>de</strong>utschenAutorin und <strong>de</strong>m russischen Schriftsteller Alexan<strong>de</strong>r IssajewitschSolschenizyn (1918-2008). Wegen ihrer regimefeindlichen Haltung wur<strong>de</strong>nbei<strong>de</strong> Autoren vom Geheimdienst ihrer Län<strong>de</strong>r verfolgt, Solschenizyn hatsogar aufgrund seiner Verhaftung acht Jahre in Arbeitslagern <strong>de</strong>s Gulags6 Auch Ingmar Brantsch (2009: II) geht darauf ein.7 Der Begriff „Gulag“ bezeichnet die Hauptverwaltung <strong>de</strong>r Besserungsarbeitslager und stehtebenfalls für ein umfassen<strong>de</strong>s Repressionssystem in <strong>de</strong>r Sowjetunion, bestehend ausZwangsarbeitslagern, Straflagern, Gefängnissen und Verbannungsorten (vgl.:<strong>de</strong>.wikipedia.org/wiki/Gulag. [15. November 2012]). Die Gulags waren vor allem unter<strong>de</strong>m Diktator Josef Stalin (1878-1953) verbreitet. Die Gesamtzahl <strong>de</strong>r Häftlinge in <strong>de</strong>nsowjetischen Arbeitslagern beträgt zwischen <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 1920er und <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>r1950er Jahre 18 bis 20 Millionen. Vgl.: Galina M. Ivanova (2000): Labor CampSocialism. The Gulag in the Soviet Totalitarian Systems, New York/London: M. E.Sharpe, Amonk, 188. Der Nobelpreisträger Alexan<strong>de</strong>r Solschenizyn schätzt aber dieAnzahl <strong>de</strong>r Häftlinge, die in <strong>de</strong>n Lagern inhaftiert o<strong>de</strong>r gestorben sind, auf 40 bis 50Millionen ein (vgl. Solschenizyn, Alexan<strong>de</strong>r ( 3 2010): Der Archipel Gulag. Vom Verfasserautorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band, Frankfurt/Main: FischerTaschenbuch, 334).37


verbringen müssen. Seine Erfahrungen mit einem Son<strong>de</strong>rlager fürWissenschaftler beschreibt er in seinem Roman Der erste Kreis <strong>de</strong>r Hölle(1968), wobei <strong>de</strong>r Titel eine Anspielung auf Dantes (1265-1321) GöttlicheKomödie (verfasst im Zeitraum 1307-1320) ist. Nach seiner Entlassung1953 wur<strong>de</strong> Solschenizyn in eine kleine Ortschaft in <strong>de</strong>r Steppe Kasachstanverbannt. Im Jahr 1957 wur<strong>de</strong> er rehabilitiert und fünf Jahre später verfasster seine bekannte Erzählung Ein Tag aus <strong>de</strong>m Leben <strong>de</strong>s IwanDenissowitsch (1962). In diesem Text wird ein Tag aus <strong>de</strong>m Leben einesHäftlings in einem sowjetischen Straflager festgehalten. Ähnlich wie HertaMüller konzentriert sich <strong>de</strong>r Verfasser auf das Schicksal eines einzigenMenschen und schenkt seine Aufmerksamkeit <strong>de</strong>n scheinbar kleinen,alltäglichen Dingen, von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Protagonist abhängt: einem Kanten Brot,das er verstecken kann, einem kleinen Stückchen Metall, das sich zu einemMesser schleifen lässt, einem Paar warm gefütterte Stiefel, die man ihmstiehlt. Bei Herta Müller sind es die Holzschuhe, in <strong>de</strong>nen man mitzunehmend steifen Knien schlurfen muss (A, 49), „die grünen Handschuhevon <strong>de</strong>r Fini-Tante“ (A, 14) o<strong>de</strong>r die Watteanzüge, die nur warm halten,solange sie nicht nass wer<strong>de</strong>n (A, 51). Genau so wie im Falle von HertaMüllers Haupfigur, Leopold Auberg, besteht das Wichtigste in <strong>de</strong>r Existenzvon Denissowitsch im hungrigen Warten auf die tägliche Mahlzeit, meistnicht mehr als eine dünne wässrige Suppe. Im Jahr 1970 wird Alexan<strong>de</strong>rSolschenizyn <strong>de</strong>r Nobelpreis für Literatur verliehen. Herta Müller hat <strong>de</strong>nangesehenen Preis einige Monate nach <strong>de</strong>m Erscheinen <strong>de</strong>r Atemschaukelerhalten 8 .Solschenizyns Meisterwerk Der Archipel Gulag (1973-1975) istdas bekannteste Buch über das System <strong>de</strong>r Arbeitslager in <strong>de</strong>r Sowjetunion.Der Titel ist eine Anspielung auf Anton Pawlowitsch Tschechows (1860-1904) Buch Die Insel Sachalin (1893), das die Zwangsarbeit und dieVerbannung <strong>zur</strong> Zeit <strong>de</strong>s Zarismus festhält. Der Roman schil<strong>de</strong>rt dieLagerwelt und beschreibt das Schicksal <strong>de</strong>r Häftlinge von <strong>de</strong>r Einlieferungbis zum Tod durch Mangelernährung, Erschöpfung, Krankheiten o<strong>de</strong>rdurch sadistische Bewacher. Eine ganz beson<strong>de</strong>re Aufmerksamkeit schenktSolschenizyn <strong>de</strong>r psychischen Belastung <strong>de</strong>r Gulag-Bewohner, einemAspekt, <strong>de</strong>n wir auch in Herta Müllers Atemschaukel fin<strong>de</strong>n.8 Der Roman erscheint im August 2009 im Carl Hanser Verlag München, am 8. Oktober2009 wird die Verleihung <strong>de</strong>s Nobelpreises für Literatur an Herta Müller bekanntgegebenund am 10. Dezember 2009 fin<strong>de</strong>t die offizielle Verleihung <strong>de</strong>s Literaturnobelpreises inStockholm statt.38


Neben Alexan<strong>de</strong>r Solschenizyns Büchern zählen jene <strong>de</strong>sSchriftstellers Warlam Tichonowitsch Schalamow (1907-1982) zu <strong>de</strong>nüberzeugendsten literarischen Zeugnissen über <strong>de</strong>n Gulag. Er hat fast 18Jahre lang in Straflagern verbracht und wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Nor<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rSowjetunion verbannt. Seine Erfahrungen hält Schalamow im Zyklus <strong>de</strong>rErzählungen aus Kolyma 9 fest, die er im Zeitraum 1954-1970 verfasst hat.Der vom russischen Geheimdienst verhaftete und zu fünf Jahren inArbeitslagern verurteilte Schriftsteller Andrej Donatowitsch Sinjawskij(1925-1997) hat Briefe an seine Frau Maria geschmuggelt, die EineStimme im Chor. Aufzeichnungen aus <strong>de</strong>r Haft (1978) bil<strong>de</strong>n. Es sindAufzeichnungen über die erlebten Gräuel im Gulag.Herta Müller „beschwört“ in ihrem Roman Die Atemschaukel „dieWelt <strong>de</strong>r Lager herauf“ (Klüger 2009: 29). Der Protagonist, Leopold (Leo)Auberg, ist jedoch ein Betroffener, <strong>de</strong>r im Vergleich zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>renVerschleppten die Nachricht über die Deportation nicht mit Angst undVerzweiflung, son<strong>de</strong>rn eher als eine Art Erlösung betrachtet. DerSiebzehnjährige erlebt nämlich seine frühen homoerotischen Abenteuer imNeptunbad (A, 8) und im nächtlichen Erlenpark 10 in Hermannstadt, weilsein Sexualverhalten sowohl für <strong>de</strong>n Staat als auch für eine siebenbürgischsächsischeFamilie un<strong>de</strong>nkbar war:[…] fünfundzwanzig Jahre lang habe ich in Furcht gelebt, vor <strong>de</strong>m Staat und vor<strong>de</strong>r Familie (A, 10).Es war […] das Muster <strong>de</strong>s Entsetzens im Gesicht meiner Mutter (A, 8).In <strong>de</strong>r Verschleppung sieht Leo die einzige Möglichkeit, aus „<strong>de</strong>mFingerhut <strong>de</strong>r kleinen Stadt“ (A, 7) zu entfliehen. Deswegen erwartet er dieDeportation mit „verheimlichte[r] Ungeduld“ (A, 7) und sieht „in <strong>de</strong>rFrem<strong>de</strong> eine potentielle Heimat“ (Bologa 2010: 84), um seiner Lebensengezu entkommen, Neues zu erfahren und die Angst vor <strong>de</strong>r Offenlegung seinersexuellen Orientierung zu überwin<strong>de</strong>n:9 Die Kolyma ist ein Strom in Sibirien. Er mün<strong>de</strong>t in die Ostsibirische See, ein Randmeer<strong>de</strong>s Arktischen Ozeans. Vor allem an <strong>de</strong>n Oberlauf-Ufern <strong>de</strong>r Kolyma und in <strong>de</strong>n dortigenGebirgen befan<strong>de</strong>n sich bis 1987 mehrere Straflager, in <strong>de</strong>nen Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong> Häftlingein <strong>de</strong>r eisigen arktischen Kälte nach Gold schürfen mussten (vgl.<strong>de</strong>.wikipedia.org/wiki/Kolyma#Weblinks. [19. November 2012]).10 Vermutlich geht es um <strong>de</strong>n historischen botanischen Garten in Hermannstadt.39


40Damals, kurz vor <strong>de</strong>m Lager […] hätte es für je<strong>de</strong>s Ren<strong>de</strong>zvous Gefängnisgegeben. Min<strong>de</strong>stens fünf Jahre, wenn man mich erwischt hätte (A, 9).Die Konfrontation mit <strong>de</strong>m ukrainischen Gulag beweist aber, dassdie Erfahrungen im Arbeitslager mit einer Welt „jenseits <strong>de</strong>s Menschlichen“(Baureithel 2010: 17) verbun<strong>de</strong>n waren. Unter <strong>de</strong>n gegebenen Umstän<strong>de</strong>nhätte die Ent<strong>de</strong>ckung von Leos homosexuellen Neigungen <strong>zur</strong> To<strong>de</strong>sstrafegeführt (A, 9). Somit bringt die Verschleppung nicht die erwünschte Lösung<strong>de</strong>s Problems, im Gegenteil seine Verschärfung.Die Erinnerungen an die Orte <strong>de</strong>s Schreckens im Lager wer<strong>de</strong>n von<strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>s Protagonisten, <strong>de</strong>r in Graz lebt, aus <strong>de</strong>m zeitlichenAbstand von 60 Jahren festgehalten. Seine Geschichte setzt am 15. Januar1945, um „3 Uhr in <strong>de</strong>r Nacht“ (A, 14) ein, als Leo Auberg von <strong>de</strong>r„Patrouille“ (A, 14) abgeholt wird. Ein Grammophonkistchen dient ihm alsKoffer. Bei 15 Grad Minus wird er zusammen mit an<strong>de</strong>ren 500 Menschen indie Festhalle <strong>de</strong>r Sachsen, die zum Sammellager wur<strong>de</strong>, gefahren:Man hat uns nicht gesagt, wann und wie wir aus <strong>de</strong>r Halle zum Bahnhof müssen.[…] Ich weiß nicht mehr, wie wir zum Bahnhof kamen (A, 16).Die Fahrt in Viehwaggons ins ukrainische Arbeitslager Nowo-Gorlowka ist <strong>de</strong>r Beginn einer Reihe von Demütigungen, <strong>de</strong>nen dieDeportierten ausgesetzt wer<strong>de</strong>n: das Kloloch im Waggon o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r„gemeinschaftliche Klogang“ (A, 20), „diese Peinlichkeit, das Schamgefühl<strong>de</strong>r ganzen Welt“ (A, 20). Durch <strong>de</strong>n Transport, meint Karl-Markus Gauss,wür<strong>de</strong>n die Deportierten „schockhaft jener Dehumanisierung ausgesetzt, diein <strong>de</strong>n nächsten fünf Jahren schauerliche Folgen für sie haben wird“ (Gauss2009: 12).Diese „Odysse <strong>de</strong>r Rumänien<strong>de</strong>utschen nach 1945“ (Bilke 2009: 25)spiegelt nicht bloß die fünfjährige Erfahrung <strong>de</strong>r Hauptfigur in <strong>de</strong>r Ukraine,son<strong>de</strong>rn die extremen Situationen wi<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>nen die Lagerinsassen ausgesetztwaren: Unfreiheit, Gewalt, Schwerarbeit, Krankheiten, Kälte, Tod undHunger. In<strong>de</strong>m die Verfasserin <strong>de</strong>n Lageralltag festhalte, „entreißt [sie]diese Lei<strong>de</strong>nsgeschichte <strong>de</strong>m Vergessen, macht sie unauslöschlich“,schreibt Oliver von Hove (2009: 13).Eine Flucht aus <strong>de</strong>m Lager war nicht möglich. Die Flüchtlingewur<strong>de</strong>n entwe<strong>de</strong>r in ein Son<strong>de</strong>rlager o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Tod geschickt (A, 194-195).Die Zwangsarbeit in einem verfallenen Kokswerk für nur 800Gramm Brot am Tag und zwei Teller dünner Krautsuppe hinterlässt tiefe


Wun<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>n Häftlingen. Die Formel „1 Schaufelhub = 1 Gramm Brot“(A, 91) kommt leitmotivisch im Roman vor. Die Versklavungsmechanismenprägen <strong>de</strong>n Alltag im Gulag. Dazu gehört die quälen<strong>de</strong> Arbeit beim SandundKohletransport sowie im Schlackekeller. Hart ist das Tragen undHinlegen <strong>de</strong>r „Schlackoblocksteine“ (A, 153), „Mauerqua<strong>de</strong>r aus Schlacke,Zement und Kalkmilch“ (A, 153). Nach je<strong>de</strong>r Schlackoblock-Schicht warendie Augen und Lippen <strong>de</strong>r Arbeiter „vom Starrhalten viereckig wie dieSteine“ (A, 154). Die Kohle wird mit <strong>de</strong>n Schaufeln stun<strong>de</strong>nlang geschippt(A, 82-85). Mühsam ist auch das Schneeschaufeln beim eiskalten Wetter(A, 44, 74) o<strong>de</strong>r das Schaufeln <strong>de</strong>s „gelben San<strong>de</strong>s“ (A, 127).Eine ganz beson<strong>de</strong>re Aufmerksamkeit schenkt die Autorin <strong>de</strong>mLei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Frauen, die schwere Arbeit verrichten müssen, die ihre Kräfteübersteigen, wie im Falle <strong>de</strong>r „Kalkfrauen“ (A, 42). Diese Frauen ziehen<strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>wagen mit Kalkbrocken „erst <strong>de</strong>n abschüssigen Hang neben <strong>de</strong>mPfer<strong>de</strong>stall hinauf, dann hinunter an <strong>de</strong>n Baustellenrand, wo die Löschgrubeist“ (A, 42). Eine von <strong>de</strong>n „Kalkfrauen“, Trudi Pelikan, wur<strong>de</strong> „ganz hinteneingespannt, weil sie vorne schon zu schwach war“ (A, 42) und sie verliertdie Zehen, weil ein Kalkwagen über ihre Füße rollt (A, 42).Tragische Dimensionen erwirbt die Gestalt <strong>de</strong>r irrsinnigen KatharinaSei<strong>de</strong>l, <strong>de</strong>r Planton-Kati, die in <strong>de</strong>n fünf Jahren <strong>de</strong>r Verschleppung nichteinmal wahrnimmt, wo sie sich befin<strong>de</strong>t, und die zum unschuldigen Opfer<strong>de</strong>r Gewalt von Tur-Prikulitsch wird:Tur-Prikulitsch riss sie am Zopf hoch, wenn er losließ, setzte sie sich wie<strong>de</strong>r. Ertrat ihr ins Kreuz, bis sie gekrümmt liegenblieb, ihren Zopf in die Faust drückteund die Faust in <strong>de</strong>n Mund (A, 103).Das Schuften im Zement und in <strong>de</strong>n Minen ist mit intensivenSchmerzerfahrungen verbun<strong>de</strong>n und hat schwere gesundheitsschädigen<strong>de</strong>Konsequenzen für die Verhafteten. Verbreitet waren vor allem „Polyartritis,Myokarditis, Dermatitis, Hepatitis, Enzephalitis, Pelagra, Dystrophie mitSchlitzmaul, genannt Totenäffchengesicht […] Tetanus, Typhus, Ekzeme,Ischias, Tuberkulose […] Ruhr mit hellem Blut im Stuhlgang, Furunkel,Geschwüre, Muskelschwund, Dörrhaut mit Krätze, Zahnfleischschrumpfenmit Zahnausfall, Zahnfäulnis“ (A, 149-150). Der Staub bei <strong>de</strong>r Arbeit frisstsich in verschie<strong>de</strong>nen Farben in die Haut ein:Im Lager war man immer dreckig von je<strong>de</strong>r Arbeit. Doch kein Dreck war sozudringlich wie <strong>de</strong>r Zement. Zement ist unausweichlich wie <strong>de</strong>r Staub <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>,man sieht nicht, woher er kommt, <strong>de</strong>nn er ist schon da (A, 40).41


Die Kälte führt oft zum Erfrieren <strong>de</strong>r Zehen, wie bei Trudi Pelikanim ersten Winter im Lager (A, 147). Vom langen Stehen bei <strong>de</strong>r Arbeit o<strong>de</strong>rbeim Appell waren die Bäuche und Beine <strong>de</strong>r Verschleppten „aufgepumptmit <strong>de</strong>m dystrophischen Wasser“ (A, 26). Eine Plage sind auch die Wanzen,die in <strong>de</strong>r Nacht die Mundwinkel bevorzugen (A, 152) und die Läuse, die„sich vollsaufen und […] uns stun<strong>de</strong>nlang vom Kopf bis in die Schamhaarekriechen [konnten]“ (A, 26-27). Weil das Kämmen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Mitteldagegen erfolglos bleiben, lässt man sich lieber <strong>de</strong>n Kopf kahl scheren (A,234):Wir stellten die Füße <strong>de</strong>r Betten in Konservendosen, um <strong>de</strong>n Läusen <strong>de</strong>n Wegabzuschnei<strong>de</strong>n. Aber sie waren so hungrig wie wir und fan<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>re Wege. BeimAppell, beim Schlangestehen am Essensschalter, an <strong>de</strong>n langen Tischen in <strong>de</strong>rKantine, in <strong>de</strong>r Arbeit beim Auf- und Abla<strong>de</strong>n, beim Hocken in <strong>de</strong>r Rauchpause,auch beim Tangotanzen teilten wir uns die Läuse (A, 233-234).Nach je<strong>de</strong>r Schlackoblock-Schicht waren die „Augen und Lippenvom Starrhalten viereckig wie die Steine“ (A, 154). Die mangeln<strong>de</strong>Ernährung führt <strong>zur</strong> totalen Abmagerung <strong>de</strong>s Körpers, so dass „die Knochensperrig wie Eisen [wur<strong>de</strong>n]“ (A, 27). Die Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Hauptfigur waren „imLager gewachsen, viereckig, hart und flach wie zwei Bretter“ (A, 28). Erzählt zu <strong>de</strong>n „Hautundknochenleute[n]“ (A, 212), die einan<strong>de</strong>r so starkgleichen, dass sogar die geschlechtliche Differenzierung verschwin<strong>de</strong>t:Denn in <strong>de</strong>r Dreieinigkeit von Haut, Knochen und dystrophischem Wasser sindMänner und Frauen nicht zu unterschei<strong>de</strong>n und geschlechtlich stillgestellt. Mansagt weiter DER o<strong>de</strong>r DIE, wie man auch <strong>de</strong>r Kamm o<strong>de</strong>r die Baracke sagt. Undso wie diese sind auch Halbverhungerte nicht männlich o<strong>de</strong>r weiblich, son<strong>de</strong>rnobjektiv neutral wie Objekte – wahrscheinlich sächlich (A, 158).Solschenizyn und Schalamow haben bereits in ihren Büchern daraufhingewiesen, dass die Kälte ein Feind <strong>de</strong>r Häftlinge sein kann. VieleFormen <strong>de</strong>r Kälte wer<strong>de</strong>n auch von Herta Müller in ihrem Buchbeschrieben. Es gibt die Kälte <strong>de</strong>r Eisnägel im ersten Winterregen (A, 68,69), die Kälte während <strong>de</strong>s stun<strong>de</strong>nlangen Stehens beim Appell (A, 26), dieKälte, wenn die Fußlappen während <strong>de</strong>r Schwerarbeit in <strong>de</strong>n Holzschuhenfestfrieren (A, 49) und die Kälte, wenn die Klei<strong>de</strong>r entlaust wer<strong>de</strong>n und mannackt auf sie warten muss (A, 235). Bei nassem Wetter42


[…] waren die Pufoaikas [Watteanzüge] eine Plage. Die Watte saugte sich voll mitRegen und Schnee und blieb wochenlang nass. Man klapperte mit <strong>de</strong>n Zähnen, bisabends war man unterkühlt (A, 51).Immer wie<strong>de</strong>r dringt die Kälte bis ins tiefe Innere <strong>de</strong>s Körpers:Oft zerbiss <strong>de</strong>r Frost mir die Eingewei<strong>de</strong> (A, 27).Der Unterleib war ausgefroren, die Beine schoben sich totkalt in die Därme (A,74).Ganz abscheulich wirkt die Kältestarre <strong>de</strong>r Toten, wenn man ihnendie Klei<strong>de</strong>r abstreift (A, 122, 148), und jene <strong>de</strong>r Leichen, die mit <strong>de</strong>r Axtklein gehackt und in <strong>de</strong>n Schnee verschart wer<strong>de</strong>n (A, 150). Dadurch aber,dass die Häftlinge in <strong>de</strong>r Atemschaukel die Möglichkeit haben, mit <strong>de</strong>reinheimischen russischen Bevölkerung Kohle gegen Lebensmittel zutauschen (A, 58), waren ihre Überelebenschancen größer und sie konnten imVergleich zu <strong>de</strong>n Häftlingen in Sibirien die schlimmsten Auswirkungen <strong>de</strong>rKälte vermei<strong>de</strong>n.Wie bei Solschenizyn stellt das Arbeitslager ein Totenhaus dar:Der Tod wird groß und sehnsüchtig nach allen (A, 90).In Herta Müllers Roman haben 334 Menschen <strong>de</strong>n Tod gefun<strong>de</strong>n (A,254) 11 . Die ersten Opfer sterben schon während <strong>de</strong>s Transports. Es han<strong>de</strong>ltsich um eine Frau (A, 44) und um einen Mann, <strong>de</strong>r beim„gemeinschaftlichen Klogang“ (A, 20) verrückt wur<strong>de</strong> und bei <strong>de</strong>m „nur <strong>de</strong>rversaute Schnee“ (A, 22) geblieben war. Die Menschen im Gulag steheneigentlich <strong>de</strong>m Tod näher als <strong>de</strong>m Leben. Die ersten drei Toten im Lagerwaren „die taube Mitzi [Annamarie Berg] von zwei Waggons zerquetscht“,„Kati Mayer im Zementturm verschüttet“ und „Irma Pfeifer im Mörtelerstickt“ (A, 90). Irma Pfeifer lässt man qualvoll in <strong>de</strong>r Mörtelgrubeersticken, in die sie entwe<strong>de</strong>r mit Selbstmordabsicht o<strong>de</strong>r durch einen Unfallgestolpert war (A, 68). Der „Maschinist“ Peter Schiel stirbt am selbstgebrannten Steinkohleschnaps (A, 43, 90, 92) und Corina Marcu, die auf <strong>de</strong>rFahrt in die Ukraine von <strong>de</strong>n Wachsoldaten eingefangen und in einenViehwaggon als Ersatz für eine Tote gesteckt wur<strong>de</strong> (A, 44), erfriert (A,11 Vgl. auch Fetz (2009: 26).43


207). „Die To<strong>de</strong>sursache“, schreibt Herta Müller, „heißt bei je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rs,aber mit ihr dabei war immer <strong>de</strong>r Hunger“ (A, 90):Bei <strong>de</strong>n ersten drei von uns, die am Hunger gestorben sind, wusste ich genau, wersie sind und die Reihenfolge ihres To<strong>de</strong>s. Ich dachte ein paar Tage an je<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rdrei. Aber die Zahl Drei bleibt niemals die erste Zahl Drei. […] Denn es gab […]im März, im vierten Jahr schon dreihun<strong>de</strong>rtdreißig Tote (A, 89-90).Der Tod weist im Buch ein ganz bestimmtes Kennzeichen auf, an<strong>de</strong>m man das Schicksal <strong>de</strong>r Deportierten erkennt, nämlich <strong>de</strong>n „weißenHasen in <strong>de</strong>n Dellen <strong>de</strong>r Wangen” (A, 221), so wie das bei Heidrun Gast mitihrem „Totenäffchengesicht“ (A, 221) zum Ausdruck kommt.Weil die außergewöhnlichen Bedingungen <strong>de</strong>s Lagers nurmühevollen Kontakt unter <strong>de</strong>n „Internierte[n]“ (A, 28) ermöglichen, bautLeo Auberg eine ganz beson<strong>de</strong>re Beziehung zu <strong>de</strong>n Gegenstän<strong>de</strong>n auf.Ähnlich wie <strong>de</strong>r Protagonist in Rilkes Roman Die Aufzeichnungen <strong>de</strong>sMalte Laurids Brigge (1910) verwan<strong>de</strong>lt er sich selbst in ein Ding:[…] ich war auf <strong>de</strong>m Heimweg ins Lager nichts weiter als ein gewöhnlicherrussischer Gegenstand in <strong>de</strong>r Dämmerung (A, 79).Die Besessenheit durch die Gegenstän<strong>de</strong> erwirbt so eine Intensität,dass Leo ihnen menschliche Eigenschaften verleiht. Das gilt auch im Falle<strong>de</strong>s „schneeweiße[n] Taschentuch[s] aus feinstem Batist“ (A, 78):Das Taschentuch war <strong>de</strong>r einzige Mensch, <strong>de</strong>r sich im Lager um mich kümmerte.Ich bin mir sicher […] (A, 80).Was die Emotion <strong>de</strong>r Hauptgestalt auslöst, ist <strong>de</strong>r Umstand, dass dashandgestickte Taschentuch ein Geschenk von einer alten Russin war, dieauch einen verschleppten Sohn hatte. Leo benutzt das feine Taschentuch garnicht, son<strong>de</strong>rn bewahrt es in seinem Koffer „wie eine Art Reliquie von einerMutter und einem Sohn“ (A, 79). Es sei „ein Stück aus einer Welt, die ihmabhan<strong>de</strong>n gekommen ist“, erklärt Jochen Jung (2009: 26).Der Bezug zu <strong>de</strong>n Gegenstän<strong>de</strong>n ist unmittelbar mit <strong>de</strong>m Hungerverbun<strong>de</strong>n. Auch <strong>de</strong>r „wil<strong>de</strong> Hunger“ (A, 20) stellt nämlich „ein[en]Gegenstand“ (A, 144) dar:Und es gäbe die Heimsuchung <strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong> nicht, wenn es <strong>de</strong>n Hunger alsGegenstand nicht gegeben hätte (A, 34).44


Wie die übrigen Gegenstän<strong>de</strong> wird <strong>de</strong>r Hunger in diesem „Buchvom Hunger“ (Köhler 2009: 21) mit Verben assoziiert, die normalerweiseeine Person als Handlungsträger verlangen. Dadurch wer<strong>de</strong>n praktisch dieGegenstän<strong>de</strong> zu Protagonisten:Um 11 Uhr […] machten wir uns auf <strong>de</strong>n Weg, mein Hunger und ich (A, 138).Morgens […] eilte <strong>de</strong>r Hunger mit mir zum Frühstück […] (A, 112).[…] <strong>de</strong>r Hunger geht nicht weg und kommt wie<strong>de</strong>r (A, 151).Hatten die bei<strong>de</strong>n Sattgefressenen eine Ahnung, wie schwer sie meinen Hungerbetrogen (A, 181).Der Hunger ist allgegenwärtig: während <strong>de</strong>r Kälte, beim Eisregen<strong>de</strong>s Winters, während <strong>de</strong>s Appells (A, 111), im drecknassen Wattenanzugauf <strong>de</strong>n Kohlenhal<strong>de</strong>n, Baustellen o<strong>de</strong>r beim Zementabla<strong>de</strong>n (A, 39) undbeim Abfallhaufen hinter <strong>de</strong>r Küche (A, 88). Die „Macht“ (A, 229) <strong>de</strong>sHungers, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r umfassendste Teil <strong>de</strong>s Geschehens gewidmet ist, kannfür die „Knochenmännlein und Knochenweiblein“ (A, 159) so quälendsein, dass er sogar halluzinatorische Projektionen auslöst, wie in KnutHamsuns Roman Hunger (Hamsun 2 2012: 67):Je<strong>de</strong>r Gegenstand glich in Länge, Breite, Höhe und Farbe <strong>de</strong>m Ausmaß meinesHungers (A, 158).Gleichzeitig führt <strong>de</strong>r Hunger zu Traumsituationen:Ich esse einen kurzen Schlaf. Ein Traum wie <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re, es wird gegessen. […]Ich esse Hochzeitssuppe und Brot, gefüllte Paprika und Brot, Baumtorte. […]schlaf wie<strong>de</strong>r ein und esse Kohlrabisuppe und Brot, sauren Hasen und Brot,Erdbeereis im Silberbecher. Und dann Klausenburger Kraut und Brot, Rumtorte.Dann Kesselfleisch vom Schweinskopf mit Meerrettich und Brot. Zuletzt hätte ichnoch Rehkeule mit Brot und Aprikosenkompott gehabt, aber <strong>de</strong>r Lautsprecherplärrt mittenhinein, <strong>de</strong>nn es ist Tag. Der Schlaf bleibt dünn, je mehr ich esse, und<strong>de</strong>r Hunger wird nie mü<strong>de</strong> (A, 89).Die Hauptfigur verwan<strong>de</strong>lt ihre mitgebrachten Lieblingsbücher,„<strong>de</strong>n Faust in Leinen“ (A, 13) und „<strong>de</strong>n Zarathustra“ (A, 13) inZigarettenpapier, das er für Essbares eintauscht:45


46Die Sammlung Lyrik aus acht Jahrhun<strong>de</strong>rten habe ich in Form von Maismehl undSchweineschmalz gegessen und <strong>de</strong>n schmalen Weinheber in Hirse verwan<strong>de</strong>lt (A,117).Im Übrigen ist <strong>de</strong>r Lebensmitteltausch unter <strong>de</strong>n Deportierten sehrverbreitet und erweist sich letztendlich als „Rettungstausch“ (A, 249):Rüben, Kartoffeln, sogar Hirse, wenn sich ein Tauschgeschäft gelohnt hatte – zehnRübchen für eine Jacke, drei Maß Zucker o<strong>de</strong>r Salz für ein Paar Schafwollsocken(A, 30).So tauscht Bea Zakel Trudi Pelikans Mantel mit <strong>de</strong>nPelzmanschetten auf <strong>de</strong>m Basar „für fünf Maß Zucker und fünf Maß Salz“(A, 192). Allerdings erweist sich auch das „Brottauschen“ (A, 120), wieviele Aspekte, die mit <strong>de</strong>m Hunger in Verbindung stehen, als eine Illusion:Abends vor <strong>de</strong>r Krautsuppe wird Brot getauscht, <strong>de</strong>nn das Eigenbrot scheintimmer kleiner als das Brot <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren. Und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren geht es genauso (A,120).Das Brot betrügt dich wie <strong>de</strong>r Zement. So wie man zementkrank wird, kann manvom Brot tauschkrank wer<strong>de</strong>n (A, 121).Es gibt auch eine merkwürdige Form <strong>de</strong>s Tausches im Falle vonPeter Schiel, <strong>de</strong>ssen Wollpullover Bea Zakel auf <strong>de</strong>m Basar fürSteinkohleschnaps eingetauscht hat. Er fällt diesem Tausch zum Opfer. LeoAuberg wird von Bea Zakel und Tur Prikulitsch betrogen. Für seinen„weinroten Sei<strong>de</strong>nschal“ (A, 179) bekommt er „keinen Krümel Zucker o<strong>de</strong>rSalz“ (A, 181).Das „Ungeheuer“ Hunger (A, 34) dominiert so stark, dass es zum„Hungerengel“ 12 wird. Drei Kapitel, Vom Hungerengel (A, 86 und A, 144)und Einmal war mein Hungerengel Advokat (A, 223) sind <strong>de</strong>m„Hungerengel“ gewidmet. Was im Falle dieses Begriffs auffällt, ist seineDualität: Die negative Komponente „Hunger“ assoziiert man mit <strong>de</strong>r Plage<strong>de</strong>s Menschen, während die Komponente „Engel“ die Tatsache suggeriert,dass dieser <strong>de</strong>n Menschen beschützt:Der Hungerengel half mir [beim Kartoffelstehlen], er war ja ein notorischer Dieb.Doch nach<strong>de</strong>m er mit geholfen hatte, war er wie<strong>de</strong>r ein notorischer Peiniger undließ mich mit <strong>de</strong>m langen Heimweg allein (A, 158).12 Insgesamt wird <strong>de</strong>r Begriff 87-mal im Roman belegt (vgl. Bergmann 2011: 221).


Die positive Seite <strong>de</strong>s „Hungerengels“ ermahnt Leo davor, seinganzes Brot am Morgen aufzuessen o<strong>de</strong>r nicht sein ganzes Geld auf einmalauszugeben (A, 253). Trotz dieser beschützen<strong>de</strong>n Funktion überwiegt imRoman die quälen<strong>de</strong> Seite <strong>de</strong>s „Hungerengels“. Er versinnbildliche nichtnur eine „bedrücken<strong>de</strong>“, son<strong>de</strong>rn auch eine „erdrücken<strong>de</strong> Schwere“,bemerkt Bergmann (2011: 220). Das Hungern begleitet je<strong>de</strong>n Deportiertenund dominiert ihn. Somit verliere <strong>de</strong>r „Hungerengel“ immer mehr dieFunktion eines Engels und spiele immer mehr die Rolle eines Peinigers“,betont Elvine Bologa (2010: 90). „Der ‚Hungerengel’ ist eigentlich keinEngel, was er auf Grund <strong>de</strong>s Grundwortes ‚Engel’ sein sollte, son<strong>de</strong>rn er isteher Dämon als Engel“, schreibt Bologa (2010: 90).Für <strong>de</strong>n „Hungerengel“, <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>n „wiegt“ (A, 90), gewinnt somitdie Waage eine ganz beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung.Der Protagonist liest aus <strong>de</strong>n Gesichtern <strong>de</strong>r Verschleppten dieeinzelnen Etappen <strong>de</strong>s Verhungerns:Wenn man <strong>de</strong>n Hunger nicht mehr aushält, zieht es im Gaumen, als wäre einemeine frische Hasenhaut zum Trocknen hinters Gesicht gespannt. Die Wangenverdorren und be<strong>de</strong>cken sich mit blassem Flaum (A, 25).Vor <strong>de</strong>m Hungertod wächst ein Hase im Gesicht. Da <strong>de</strong>nkt man sich, dass bei <strong>de</strong>mdas Brot schon vergeu<strong>de</strong>t ist, dass sich bei <strong>de</strong>m das Nähren nicht mehr auszahlt,weil bald <strong>de</strong>r weiße Hase ausgewachsen ist (A, 121).Der „Hungerengel“ hat tausend Augen, aber nur einen Mund. Ervereinigt verschie<strong>de</strong>ne Hungerformen in sich und steckt in je<strong>de</strong>m Detail. Esgibt <strong>de</strong>n Hunger, nach<strong>de</strong>m man zu früh bei <strong>de</strong>r Suppenausgabe war, wenndas Dünne abgeschöpft wird (A, 63), und <strong>de</strong>n Hunger, wenn man zu spätgekommen ist, weil man auf das unten schwimmen<strong>de</strong> Dickere gehofft hat(A, 63). Dann gibt es <strong>de</strong>n Hunger nach <strong>de</strong>m ausgetauschten Brot, weildieses angeblich größer aussieht als sein eigenes (A, 121). Zu <strong>de</strong>n einzelnenFormen <strong>de</strong>s Hungers zählen <strong>de</strong>r Hunger am Abend, wenn man kein Brotvom Morgen aufgespart hat (A, 89), <strong>de</strong>r Hunger am Morgen, wenn man einStück Morgenbrot für <strong>de</strong>n Abend aufhebt (A, 111) und <strong>de</strong>r Hunger, <strong>de</strong>r einlanges Schlitzmaul macht (A, 121). „[…] <strong>de</strong>r Hungerengel ist doch selbstein Dieb“ (A, 224), <strong>de</strong>r die unter seiner Macht lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Verschlepptenbestiehlt und ihnen sogar Körper und Verstand nimmt.47


48Seit wir als Knochenmännlein und Knochenweiblein füreinan<strong>de</strong>r geschlechtsloswaren, paarte sich <strong>de</strong>r Hungerengel mit je<strong>de</strong>m, er betrog auch das Fleisch, das eruns bereits gestohlen hatte (A, 159).Alle Tage hat mir <strong>de</strong>r Hungerengel das Hirn gefressen (A, 112).Parallel mit <strong>de</strong>m Körper und <strong>de</strong>m Verstand stiehlt <strong>de</strong>r„Hungerengel“ <strong>de</strong>n Deportierten auch die persönliche Wür<strong>de</strong>:Betteln gelernt hatte ich in <strong>de</strong>n zwei vergangenen Jahren vom Hungerengel (A,214).Die Bedrückung durch das ständige Gefühl <strong>de</strong>s Hungers ist sointensiv, dass Leo das Gefühl hat, dass „das ganze Abendpanorama Hungerhatte“ (A, 32). Somit erwirbt <strong>de</strong>r Hunger in Herta Müllers Darstellung eineunvorstellbare Dimension:Er verlor je<strong>de</strong>s Maß, wuchs an einem Tag so viel, wie kein Gras in einem ganzenSommer und kein Schnee in einem ganzen Winter. Vielleicht so viel wie einhoher spitzer Baum in seinem ganzen Leben wächst (A, 158).Der Protagonist vergleicht sich in diesem Zusammenhang mit <strong>de</strong>rAmeisenkönigin, die dreißigmal größer als die Arbeiter ist:Ich glaube, das ist auch <strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>m Hungerengel und mir (A,176).Merkwürdig ist vor allem <strong>de</strong>r Umstand, dass das Hungergefühl nichtnur an Intensität und Größe gewinnt, son<strong>de</strong>rn dass es sich auch „vermehrt“(A, 158):Man war sich nicht mehr sicher, ob es einen Hungerengel für uns alle o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>rseinen eigenen hat (A, 84).Er [<strong>de</strong>r Hungerengel] besorgte je<strong>de</strong>m seine eigene, persönliche Qual, obwohl wiruns alle glichen (A, 158).Es gibt eine Stelle im Roman, in <strong>de</strong>r das Vorgehen von Heidrun Gastnicht klar zeigt, ob sie gegessen hat o<strong>de</strong>r nicht, wobei dadurch auf dastragische Ausmaß <strong>de</strong>s Hungerengels hinge<strong>de</strong>utet wird:Den leeren Teller schob ich <strong>zur</strong> Heidrun Gast, an ihre linke Hand, bis er an ihrenkleinen Finger stieß. Sie leckte ihren unbenützten Löffel ab und wischte ihn an <strong>de</strong>r


Jacke trocken, als hätte sie gegessen, nicht ich. Entwe<strong>de</strong>r wusste sie nicht mehr, obsie isst o<strong>de</strong>r zuschaut. O<strong>de</strong>r wollte sie so tun, als ob sie gegessen hätte. So o<strong>de</strong>r sosah man ihren Hungerengel ausgestreckt in ihrem Schlitzmaul liegen, außengnädigblass und innen dunkelblau. Es war nicht ausgeschlossen, dass er sogarwaagerecht stehen konnte (A, 225).Immer wie<strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>n Herta Müllers Hauptfiguren unter <strong>de</strong>m Druck<strong>de</strong>r Verfolgung: <strong>de</strong>r Securitate in <strong>de</strong>n Romanen Der Fuchs war damalsschon <strong>de</strong>r Jäger und Herztier o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Verhör in Heute wär ich mirlieber nicht begegnet. In ihrem Deportationsbuch ist <strong>de</strong>r Hungerengel „einnotorischer Peiniger“ (A, 137), <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Protagonisten „grausam“ (A, 214)plagt:Der Hungerengel <strong>de</strong>nkt richtig, fehlt nie, geht weg, kommt aber wie<strong>de</strong>r, hat seineRichtung und kennt seine Grenzen, weiß meine Herkunft und seine Wirkung, gehtoffenen Auges einseitig, gibt seine Existenz immer zu, ist ekelhaft persönlich, hateinen durchsichtigen Schlaf, ist Experte für Mel<strong>de</strong>kraut, Zucker und Salz, Läuseund Heimweh, hat Wasser im Bauch und in <strong>de</strong>n Beinen (A, 91).Am schlimmsten wirkt <strong>de</strong>r Hunger, <strong>de</strong>r Heimweh heißt:Den Wunsch nach Heimkehr wur<strong>de</strong> man nicht los […] (A, 163).Die Nostalgie nach <strong>de</strong>r vertrauten Heimat fin<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>n Lie<strong>de</strong>rn,die die Deportierten singen: Vor meinem Vaterhaus steht eine Lin<strong>de</strong> (1934)von Bruno Hardt-War<strong>de</strong>n (Musik von Robert Stolz) o<strong>de</strong>r La Paloma (1944)von Hans Albers. Allerdings wer<strong>de</strong>n die Verfasser <strong>de</strong>r Texte nicht genannt,<strong>de</strong>nn diese Lie<strong>de</strong>r sind praktisch zum „überlebenswichtigen Allgemeingut“(Lentz 2009: 43) gewor<strong>de</strong>n.In <strong>de</strong>r Darstellung <strong>de</strong>s Hungers knüpft Herta Müller an dieliterarische Mo<strong>de</strong>rne, im Beson<strong>de</strong>ren an Knut Hamsuns (1859-1952)bekannten Roman Hunger (1890) an:Wer jetzt ein bisschen Brot hätte! So ein köstliches kleines Roggenbrot, von <strong>de</strong>mman abbeißen konnte, während man durch die Straßen zog. Und ich […] stelltemir eben diese beson<strong>de</strong>re Sorte Roggenbrot vor, die zu haben so schön wäre. Ichhungerte bitterlich […] und weinte (Hamsun 2 2012: 71).Ich hungerte grausam […] (Hamsun 2 2012: 159).Das Motiv dieses Buches fin<strong>de</strong>t man übrigens auch in Franz Kafkas(1883-1924) Erzählung Der Hungerkünstler (1922) und in Samuel49


Becketts (1906-1989) Roman Molloy (1951), <strong>de</strong>ssen Hauptfigur sichKieselsteine in <strong>de</strong>n Mund steckt. Der Ich-Erzähler im Roman Hunger putzteinen Stein ab und steckt ihn in <strong>de</strong>n Mund, „um etwas zum Nuckeln zuhaben“ (Hamsun 2012: 104). In Herta Müllers Atemschaukel isst KarliHalmen, Leos „Lastautokompagnon“ (A, 43), Sand:Er [Karli Halmen] hob das Gesicht aus <strong>de</strong>m Sand, und er hatte in <strong>de</strong>n Sandgebissen. Er aß, und es knirschte in seinem Mund, und er schluckte. […] Vonseinen Wangen fielen die Sandkörner ab, als er kaute. Und ihr Abdruck war einSieb auf <strong>de</strong>n Wangen und auf <strong>de</strong>r Nase und auf <strong>de</strong>r Stirn. Und die Tränen aufbei<strong>de</strong>n Wangen eine hellbraune Schnur (A, 129-130).Beim norwegischen Nobelpreisträger nagt <strong>de</strong>r verhungerteProtagonist, Andreas Tangen, „wie ein Besessner“ (Hamsun 2 2012: 160)einen Knochen ab und kaut auf einem Holzspan (Hamsun 2 2012: 85).Ähnlich wie Leo Auberg, <strong>de</strong>r seine Zunge „einwärts“ zieht und seinenSpeichel isst (A, 31), schluckt Hamsuns Hauptgestalt „immer wie<strong>de</strong>r“Spucke (Hamsun 2 2012: 72), um sich damit „ein bisschen satt zu machen“(Hamsun 2 2012: 72). Auch die Gier, mit <strong>de</strong>r er sich ernährt – „Ich […]verschlang große Stücke, ohne sie zu zerren […] (Hamsun 2 2012: 133) –rückt ihn in die Nähe von Leo Auberg. Den entsetzlichen Höhepunkt vonHamsuns Roman bil<strong>de</strong>t die Szene, in welcher <strong>de</strong>r Ich-Erzähler, zuerst nurprobeweise und dann mit immer größerem Ernst, an seinen Fingern zukauen beginnt, bis Blut kommt, wobei für einen Moment <strong>de</strong>r Eindruckentsteht, als wollte er sich selbst auffressen (Hamsun 2 2012: 128).Alexandra Millner stellt fest, dass sowohl bei Knut Hamsun als auch beiHerta Müller „<strong>de</strong>n Protagonisten Hunger und Elend ins Metaphysische[erheben], doch ist Müllers Hungerengel ein gefallener Engel, <strong>de</strong>r dieMenschen zu Bestien macht“ (Millner 2009: III). So isst <strong>de</strong>r Advokat PaulGast seiner Frau Heidrun die tägliche Suppenration weg (A, 230), bis sieschließlich verhungert. Die hilflosen Opfer <strong>de</strong>s Lagers essen „wil<strong>de</strong>[n] Dill(A, 23, 192), getrocknetes Obst „aus <strong>de</strong>m letzten o<strong>de</strong>r vorletzten Sommer“von einem „ausgedorrten Obstbaum“ (A, 63), Schnee (A, 245-246),„kandierte Rüben“ (A, 236), Sonnenblumenkerne anstelle von Nüssen undMaisschrot anstelle von Mehl als Ersatz für eine Torte (A, 236), die „auflosen Fayencekacheln aus <strong>de</strong>m Sterbezimmer <strong>de</strong>r Krankenbaracke“ (A, 236)serviert wur<strong>de</strong>, sowie Kartoffelschalen aus <strong>de</strong>m Küchenabfall (A, 29):Offenen Hungers geht <strong>de</strong>r Engel mit mir zum Abfallhaufen hinter <strong>de</strong>r Kantine.[…] Meine Gier ist roh, meine Hän<strong>de</strong> sind wild. Es sind meine Hän<strong>de</strong>, Abfall fasst50


<strong>de</strong>r Engel nicht an. Ich schiebe die Kartoffelschalen in <strong>de</strong>n Mund und schließebei<strong>de</strong> Augen, so spüre ich sie besser, süß und glasig, die gefrorenenKartoffelschalen (A, 88).Der „Kartoffelmensch“ (A, 199) Leo ernährt sich mit„Kartoffelschalen vom Vortag zusammen mit <strong>de</strong>n frischgeschälten“ (A,192). Die Lagerinsassen stopfen ihre Kissen mit Unkraut (A, 23) undgenießen das „Mel<strong>de</strong>krautessen“ (A, 24). Den Kissenbezug trägt man beisich, falls es etwas aufzusammeln gibt (A, 193). Die irrsinnige Planton-Katiwühlt in einem Ameisenhügel, um Ameisen zu essen (A, 105). Sie isstsogar „allerlei Getier, Würmer und Raupen, Ma<strong>de</strong>n und Käfer, Schneckenund Spinnen. Und […] <strong>de</strong>n gefrorenen Kot <strong>de</strong>r Wachhun<strong>de</strong>“ (A, 105). In<strong>de</strong>r „Hautundknochenzeit“ (A, 96, 159, 249, 263), in <strong>de</strong>r das gesparte Brot<strong>de</strong>r Toten gegessen wird, um zu überleben (A, 122), dominert nur mehr dasTriebhafte. Der Mensch verwan<strong>de</strong>lt sich in ein Tier:Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von <strong>de</strong>r Suppe haben wollte. Abermein Hunger saß wie ein Hund vor <strong>de</strong>m Teller und fraß (A, 77).Und wie schnell hab ich dann mit hochgezogener Lippe alle gefrorenenKartoffelschalen gegessen (A, 88).Jedoch, als <strong>de</strong>r Akkor<strong>de</strong>onspieler Konrad Fonn <strong>de</strong>r irrsinnigenPlanton-Kati ein viereckiges Stückchen Holz anstatt Brot in die Handdrückt, nimmt ein an<strong>de</strong>rer Häftling, Karli Halmen, das Brettchen von <strong>de</strong>rBetroffenen und versenkt es in die Krautsuppe <strong>de</strong>s Akkor<strong>de</strong>onspielers (A,122), wobei die Planton-Kati ihr Brot <strong>zur</strong>ückbekommt. Extremer geht es imFalle von Karli Halmen zu, welcher das „gesparte Brot“ (A, 112) vonAlbert Gion stiehlt. Die an<strong>de</strong>ren Häftlinge schlagen ihn zusammen, um zubeweisen, dass es auch für sie noch unüberschreitbare moralische Grenzengibt:Karli Halmen lag zwei Tage in <strong>de</strong>r Krankenbaracke. Danach saß er mit eitrigenWun<strong>de</strong>n, zugeschwollenen Augen und blauen Lippen wie<strong>de</strong>r zwischen uns in <strong>de</strong>rKantine. Die Sache mit <strong>de</strong>m Brot hat sich erledigt, alle verhielten sich wie immer.Wir haben Karli Halmen <strong>de</strong>n Diebstahl nicht vorgehalten. Und er hat uns dieStrafe nie vorgeworfen. Er wusste, er hat sie verdient (A, 114).Zu einer grotesken Situation kommt es, wenn Leo im „abgesparte[n],unschätzbar wertvolle[n] Brot“ (A, 80) unter seinem Kissen sechsneugeborene Mäuse ent<strong>de</strong>ckt, die er in <strong>de</strong>r Latrine ertränkt.51


Zum „Hungerengel“ und <strong>de</strong>m „weißen Hasen“ (A, 231) kommt imLaufe <strong>de</strong>s Geschehens die „Herzschaufel“ (A, 82), bekannt als „Stalins-Herzschaufel“ hinzu, mit <strong>de</strong>r man Kohle schaufelt. Somit steht <strong>de</strong>rTerminus keineswegs als Metapher für das Herz, rückt aber ähnlich wie inPaul Celans berühmtem Gedicht Die To<strong>de</strong>sfuge (1948) in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund:Die Herzschaufel hat ein Schaufelblatt […] Es ist herzförmig und tief gewölbt […]Mit <strong>de</strong>r einen Hand packt man <strong>de</strong>n Hals und mit <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren das Querholz obenam Stiel. Aber ich wür<strong>de</strong> sagen, unten am Stiel. Denn bei mir ist die Herzschaufeloben, und <strong>de</strong>r Stiel ist die Nebensache, also seitlich o<strong>de</strong>r unten. […] Ich halteBalance, die Herzschaufel wird <strong>zur</strong> Schaukel in meiner Hand, wie dieAtemschaukel in <strong>de</strong>r Brust (A, 82).Auch die „Atemschaukel“ ist unmittelbar mit <strong>de</strong>m „Hungerengel“verbun<strong>de</strong>n:Der Hungerengel geht offenen Auges einseitig. Er taumelt enge Kreise undbalanciert auf <strong>de</strong>r Atemschaukel (A, 144).Der enge Bezug zwischen <strong>de</strong>m Hungerengel und <strong>de</strong>r Atemschaukelwirkt noch lange Zeit nach <strong>de</strong>r Entlassung aus <strong>de</strong>m Arbeitslager:Manchmal überfallen mich die Gegenstän<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Lager […] Weil sie im Ru<strong>de</strong>lkommen, bleiben sie nicht nur im Kopf. Ich habe Magendrücken, das in <strong>de</strong>nGaumen steigt. Die Atemschaukel überschlägt sich. Ich muss hecheln (A, 34).Die Atemschaukel versinnbildlicht das vom Hunger erzeugteSchwin<strong>de</strong>lgefühl:Ich bin kurz vor <strong>de</strong>m Zusammenbruch. Im süßen Gaumen schwillt mir dasZäpfchen. Und <strong>de</strong>r Hungerengel hängt sich ganz in meinen Mund hinein, an meinGaumensegel. Es ist seine Waage. […] Der Hungerengel stellt meine Wangen aufsein Kinn. Er lässt meinen Atem schaukeln (A, 87).Das Grundwort „Schaukel“ wird gewöhnlich mit einemKin<strong>de</strong>rspielzeug assoziiert, wobei „in die Be<strong>de</strong>utung Vorstellungen vonFreu<strong>de</strong> und Beschwingtheit, von Leichtigkeit und sogar Leichtsinn[fließen]“, erklärt Christian Bergmann (2011: 224). Bei Herta Müller gehtdurch das Lei<strong>de</strong>n die ursprüngliche Sinnbildlichkeit <strong>de</strong>s Begriffs verloren,sie wer<strong>de</strong>, unterstreicht Bergmann (2011: 225), pejorativ aufgela<strong>de</strong>n undbekomme „einen negativen Gefühlswert“ (Bergmann 2011: 225):52


Die Atemschaukel ist ein Delirium und was für eins. […] Mein Hirn zuckt miteiner Na<strong>de</strong>lspitze am Himmel fixiert, besitzt nur noch diesen festen Punkt. (A,87) 13Der Begriff „Atemschaukel“ beinhalte, erklärt Ruth Klüger (2009:29), das Gegenteil von Goethes Vers „Im Atemholen sind zweierleiGna<strong>de</strong>n“, <strong>de</strong>nn im Atemholen <strong>de</strong>r Lagerinsassen und Lagerüberleben<strong>de</strong>nwür<strong>de</strong>n die Angst und die Verzweiflung schaukeln.Ganz interessant ist die Tatsache, dass Leo die ganz beson<strong>de</strong>reSituation im Lager mit Wörtern assoziiert, die mit ihm machen, „was siewollen“ (A, 232):Sie sind ganz an<strong>de</strong>rs als ich und <strong>de</strong>nken an<strong>de</strong>rs, als sie sind (A, 232 ).Neben <strong>de</strong>m „Hungerengel“, <strong>de</strong>r „Atemschaukel“ und <strong>de</strong>r„Herzschaufel“ gibt es im Roman Wortschöpfungen wie„Tageslichtvergiftung“ (A, 164), die man sich beim Säubern <strong>de</strong>s Bassins imKokswerk zuziehen kann o<strong>de</strong>r „Hautundknochenzeit“ (A, 249, 263), welchedie Erfahrungen im Lager festhalten. Eine originelle Wortverbindung istauch „Hasoweh“. Der Begriff setzt sich aus <strong>de</strong>m weißen Hasen <strong>de</strong>rrussischen Landschaft und <strong>de</strong>m Heimweh zusammen. Er symbolisiert <strong>de</strong>nandauern<strong>de</strong>n Freiheitsdrang <strong>de</strong>r Häftlinge. Michael Lentz geht auf dieBe<strong>de</strong>utung dieser metaphorischen Ausdrücke für Leopold ein:Diese Metaphern […] haben sich so in seine Einbildungskraft gebrannt, dass siebereits wie<strong>de</strong>r Realität sind. Durch diese kreativen Konstruktionen ordnet er seineUmwelt und macht sie weniger bedrohlich. Wörter sind sein Ordnungssystem –das einzige, das ihm geblieben ist (Lentz 2009: 44).Die fünfjährige Erfahrung im Gulag be<strong>de</strong>utet für die Hauptgestalteinen irreversiblen Verlust, <strong>de</strong>r schwerste Folgen hinterlassen hat. Erversäumt seine Ausbildung und verliert zugleich seinen Platz in <strong>de</strong>r Familie,in welcher er durch einen Bru<strong>de</strong>r „ersetzt“ wur<strong>de</strong> (A, 211). Das Erlebnis <strong>de</strong>sLagers war für Leo „das große innere Fiasko“ (A, 283):Gegenstän<strong>de</strong>, die vielleicht nichts mit mir zu tun hatten, suchen mich. Sie wollenmich nachts <strong>de</strong>portieren, ins Lager heimholen, wollen sie mich. Weil sie im Ru<strong>de</strong>lkommen, bleiben sie nicht im Kopf. Ich habe ein Magendrücken, das in <strong>de</strong>nGaumen steigt. Die Atemschaukel überschlägt sich, ich muss hecheln. […] Und es13 Es gibt eine ähnliche Stelle bei Knut Hamsun: „Ich hatte […] mir <strong>de</strong>n Verstand aus <strong>de</strong>mHirn gehungert“ (Hamsun 2 2012: 106).53


gäbe die Heimsuchung <strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong> nicht, wenn es <strong>de</strong>n Hunger alsGegenstand nicht gegeben hätte (A, 34).Leo bleibt für immer ein Heimatloser:Es wird ein Heimweg kommen, <strong>de</strong>r Jahrzehnte dauert (A, 259).Sein Leben ist, im Grun<strong>de</strong> genommen, von einer doppeltenHeimatlosigkeit geprägt: Durch seine homoerotische Veranlagung fühlt ersich nämlich sowohl in seinem Geburtsland Rumänien bzw. in <strong>de</strong>r eigenenFamilie als auch als Deportierter in <strong>de</strong>r Ukraine entwurzelt:Vor, während und nach meiner Lagerzeit, fünfundzwanzig Jahre lang habe ich inFurcht gelebt, vor <strong>de</strong>m Staat und vor <strong>de</strong>r Familie. Vor <strong>de</strong>m doppelten Absturz,dass <strong>de</strong>r Staat mich als Verbrecher einsperrt und die Familie mich als Schan<strong>de</strong>ausschließt (A, 10).Die Hauptgestalt ist <strong>de</strong>sgleichen ein Beschädigter durch dieErfahrungen <strong>de</strong>s Lagers und für sich selbst „ein falscher Zeuge“ (A, 283).Das zeige, hebt Michael Lentz (2009: 43) hervor, „<strong>de</strong>n alles über<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>nHereinbruch <strong>de</strong>r Vergangenheit in die Gegenwart, wie ihn dieser Romanintensiv und plausibel vor Augen führt“. Das Ticken <strong>de</strong>r Uhr imWohnzimmer <strong>de</strong>r Eltern wird <strong>zur</strong> „Atemschaukel“ (A, 265) und in seinerBrust <strong>zur</strong> „Herzschaufel“ (A, 265). Die Kisten, die er ein Jahr lang in einerFabrik zusammengesetzt hat, wer<strong>de</strong>n zu „kleine[n] Särge[n] aus frischemFichtenholz“ (A, 284).Unter <strong>de</strong>m Decknamen „das Klavier“ (A, 284) setzt Leo Auberg, <strong>de</strong>rzwar die Buchhalterin Emma heiratet, seine Liebesabenteuer im Neptunbadfort. Diese Stelle geht auf <strong>de</strong>n Anfang <strong>de</strong>s Romans <strong>zur</strong>ück und bil<strong>de</strong>t somitdie Rahmenerzählung <strong>de</strong>s Buches.Herta Müllers Meisterwerk geht über das individuelle Schicksal <strong>de</strong>sProtagonisten bzw. <strong>de</strong>s Dichterfreun<strong>de</strong>s Oskar Pastior 14 hinaus und rücktdas Schicksal <strong>de</strong>r rumänien<strong>de</strong>utschen Deportierten in <strong>de</strong>n Mittelpunkt:Im Zentrum <strong>de</strong>s Romans liegt das Schicksal eines einzigen Menschen. DiesesSchicksal in reine Dichtung zu verwan<strong>de</strong>ln, muss ein ästhetisches Wagnis gewesensein, das heute nicht nur jene rechtfertigen wer<strong>de</strong>n, die Pastior kannten, son<strong>de</strong>rndas bei <strong>de</strong>r Lektüre <strong>de</strong>s Romans auch diejenigen überzeugen wird, die über die14 Das Schicksal von Leo Auberg weist manche Gemeinsamkeiten mit <strong>de</strong>m Leben OskarPastiors auf.54


Ungeheuerlichkeit unserer mör<strong>de</strong>rischen Vergangenheit nicht hinwegkommenkönnen und auch niemals hinwegkommen wer<strong>de</strong>n (Naumann 2009: 43).Keine <strong>de</strong>r Figuren wird <strong>zur</strong> „I<strong>de</strong>ntifikationsfläche“ (Pilz 2009: 36),sie „bleiben sprachliche Evokationen einer existentiellen Überlebensangst“(Pilz 2009: 36). Stefana Sabin meint in diesem Zusammenhang:Mit „Atemschaukel“ ist ihr [Herta Müller] ein politischer Roman vonbemerkenswerter psychologischer Subtilität gelungen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Nullpunkt <strong>de</strong>rExistenz nachvollziehbar macht (Sabin 2009: 39).Herta Müller gelinge „die Gratwan<strong>de</strong>rung zwischen leuchten<strong>de</strong>rPoesie und nüchterner Beschreibung <strong>de</strong>s Schreckens“, erklärt Eva Pfister(2009: 29). „Durch hohe Sprachkunst, wer<strong>de</strong> das Grausame ausgedrückt“schreibt Alexandra Miller (2009: III).LiteraturBartels, Gerrit (2009): „Eine Sprache für das Unsagbare. Herta Müller überihren Roman ‚Atemschaukel’, <strong>de</strong>n Drang zum Schreiben – undLiteraturpreise“. In: Der Tagesspiegel, 9. Oktober 2009, 25.Baureithel, Ulrike (2010): „Jenseits <strong>de</strong>s Menschlichen. Aus zweiter Hand.Überlegungen zu Herta Müllers ‚Atemschaukel’ und <strong>de</strong>r Zeugenschaftin <strong>de</strong>r Lagerliteratur“. In: Der Freitag, 31. März 2010, 17.Bergmann, Christian (2011): „Das Unsagbare sagen. Metapher, Symbol undAllegorie in Herta Müllers Roman ‚Atemschaukel’“. In:Muttersprache. Vierteljahresschrift für <strong>de</strong>utsche Sprache,September 2011, 220-226.Bilke, Jörg Bernhard (2009): „Wenn <strong>de</strong>r Hunger beißt. Mit <strong>de</strong>m Lorbeer <strong>de</strong>sNobelpreises: Herta Müllers Odyssee <strong>de</strong>r Rumänien<strong>de</strong>utschen nach1945“. In: Junge Freiheit, 16. Oktober 2009, 25.Bologa, Elvine (2010): „Sprache und Heimatlosigkeit in Herta MüllersAtemschaukel“. In: Hans-Gert Roloff [u. a.] (Hrsg.): Jahrbuch fürInternationale Germanistik, 2/2010, 81-92.Brantsch, Ingmar (2009): „Eine literarische Wie<strong>de</strong>rgutmachung auf hohemeuropäischen Niveau. Herta Müllers Deportationsroman‚Atemschaukel’ für <strong>de</strong>n diesjährigen Deutschen Buchpreis nominiert“.In: Karpatenrundschau, 8. Oktober 2009, II und Karpatenrundschau,15. Oktober 2009, II.55


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Beate Petra KoryTemeswarHerta Müllers Sprachpantomime AtemschaukelEin Annäherungsversuch an die Zentralmetapher<strong>de</strong>s RomansAbstract: This paper tries to analyze closely those passages in Herta Müller’s novel on<strong>de</strong>portation Atemschaukel, in which the enigmatic title metaphor occurs.Thus, it is possible to show not only the meanings inten<strong>de</strong>d by the author but also thedifferent significations the rea<strong>de</strong>r can associate with it.Keywords: title metaphor, pantomime, „Wortkostüm“, hid<strong>de</strong>n significations.Die Rätselhaftigkeit <strong>de</strong>r Titelmetapher von Herta Müllers Deportationsromanhat viele Rezensenten und Literaturkritiker zum Nach<strong>de</strong>nken überdie von <strong>de</strong>r Schriftstellerin darin verborgenen Be<strong>de</strong>utungen veranlasst.Stellvertretend für alle Leser, welche die Ein<strong>de</strong>utigkeit bevorzugen, stelltThomas David Müller in einem Interview die Frage, was man sich unter <strong>de</strong>rTitel geben<strong>de</strong>n „Atemschaukel“ vorstellen dürfe. Die Antwort <strong>de</strong>rSchriftstellerin lautet:Das sage ich nicht. Dieses Wort stammt von Pastior, es hat aber nichts mit <strong>de</strong>mLager zu tun. Ich habe es im Text so verankert, dass es selber hergeben muss, wases zu sagen hat (David 2009: 103).Obwohl Müller die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Titelmetapher nicht preisgibt,sind ihrer Antwort trotz<strong>de</strong>m drei wichtige Informationen zu entnehmen,nämlich dass das Wort „Atemschaukel“ von Oskar Pastior geprägt wor<strong>de</strong>nist, dass es ursprünglich nichts mit <strong>de</strong>m Lager zu tun gehabt hat und dasssich seine Be<strong>de</strong>utung aus <strong>de</strong>m Text selbst erschließt.Trotz ihrer kategorischen Weigerung, im oben erwähnten Interviewauf die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Romantitels einzugehen, legt Müller am Schlussihres Essays Gelber Mais und keine Zeit die enge Beziehung <strong>de</strong>s neugeschaffenen Wortes zum Tod von Oskar Pastior offen:Das Buch wird <strong>de</strong>n Titel „Atemschaukel“ haben. Es ist ein Wort hinter <strong>de</strong>m Todvon Oskar Pastior. Auch dieses Wort ist eine Pantomime, in <strong>de</strong>r am meisten dasschaukelt, worüber Oskar Pastior und ich nie gesprochen haben: <strong>de</strong>r Unterschiedzwischen Tod und Verlust. Es balanciert in <strong>de</strong>r „Atemschaukel“, was ich aus <strong>de</strong>m59


Verschwin<strong>de</strong>n von Oskar Pastior lernen mußte: Mit <strong>de</strong>m läßt sich nicht re<strong>de</strong>n.Aber mit <strong>de</strong>m Verlust muß man es tun (GM: 26).Obige Aussage lässt jenen Schock spürbar wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>rplötzliche Tod Pastiors für Müller verursachte. Die Unmöglichkeit, sich mit<strong>de</strong>ssen Tod zu konfrontieren, erzeugt die Notwendigkeit, sich wenigstensmit <strong>de</strong>m Verlust auseinan<strong>de</strong>rzusetzen. Diese Auseinan<strong>de</strong>rsetzung schaffteMüller durch die Nie<strong>de</strong>rschrift <strong>de</strong>s Romans, <strong>de</strong>r ursprünglich als eingemeinsames Projekt geplant war.Dabei weist sie das Wort „Atemschaukel“ als Pantomime, als„Wortkostüm“ (GM: 26) aus. Um diese Aussage zu verstehen, muss <strong>de</strong>rLeser ein paar Seiten im Essay <strong>zur</strong>ückblättern, wo Müller dieschriftstellerische Tätigkeit als „doppelte Pantomime“ <strong>de</strong>finiert. So ist dieseeinmal die Pantomime <strong>de</strong>r realen Gegenstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lebens, die in <strong>de</strong>n sprachlichenBlick gezwungen wer<strong>de</strong>n muss. Und zweitens kommt nach <strong>de</strong>m sprachlichenBlick noch <strong>de</strong>r sprachliche Trick. Es ist die zweite Pantomime, wie das Satzgefüge<strong>de</strong>m gefun<strong>de</strong>nen Wort sein Gesetz beibringt (GM: 21).Als Beispiel führt sie die Doppelpantomime an, in welcher sichPastior und sie gemeinsam mit <strong>de</strong>m Zement als Arbeitsmaterial im Lagerauseinan<strong>de</strong>rgesetzt haben. Nach <strong>de</strong>m Tod von Pastior verwan<strong>de</strong>lte sich aber<strong>de</strong>r Zement als „das graue Pulver <strong>de</strong>r Baustellen“ (GM: 21) in <strong>de</strong>n „Staub<strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>“ und Müller erfand „Bil<strong>de</strong>r mit diesem Staub <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>nen<strong>de</strong>r Tod haust, ohne ihn zu erwähnen“ (GM: 22). So wur<strong>de</strong> die Trauer <strong>de</strong>rSchriftstellerin um <strong>de</strong>n Verlust von Pastior zum Bestandteil <strong>de</strong>r Baustelle imText.Ähnlich verhält es sich auch mit <strong>de</strong>m von Pastior geprägten Wort„Atemschaukel“. Da <strong>de</strong>r Tod – so Müller – kein Wortkostüm habe und erohne Pantomime arbeite (GM: 26), sucht die Schriftstellerin nach einempassen<strong>de</strong>n Wort, welches diesen Tod mitbeinhalten und dadurch auch <strong>de</strong>nLesern übermitteln könnte und fin<strong>de</strong>t es in <strong>de</strong>r „Atemschaukel“.In einem Interview mit Nicole Henneberg bekennt Müller, dass beimSchreiben immer <strong>de</strong>r Tod von Oskar Pastior präsent gewesen sei und dasssie diesen Tod mitgeschrieben habe (Henneberg 2009: 23). An<strong>de</strong>rnortsspricht sie von <strong>de</strong>m „besessene[n], traurige[n] Schreiben“, das ihre„Trauerarbeit“ wur<strong>de</strong> (Müller 2009: 55). Daher sieht die Rezensentin EvaPfister in <strong>de</strong>r „Atemschaukel“ Müllers „Vermächtnis an <strong>de</strong>n besessenenWortspieler Pastior“ (Pfister 2009b: 17) und Hartmut Steinecke <strong>de</strong>utet die60


Titelwahl sowohl als „ein Ge<strong>de</strong>nken an <strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>s Freun<strong>de</strong>s“ als auchals „eine Geste <strong>de</strong>r Dankbarkeit“ (Steinecke 2011: 29).Doch im Wortkostüm <strong>de</strong>r „Atemschaukel“ versteckt sich noch viel mehr als<strong>de</strong>r Tod von Oskar Pastior.So bringt Hannelore Baier <strong>de</strong>n Titel <strong>de</strong>s Romans sogar mit <strong>de</strong>rRezeptionshaltung <strong>de</strong>s Lesers in Zusammenhang, wenn sie schreibt:„Atemschaukel“ ist atemberaubend. Man muss <strong>de</strong>n Atem immer wie<strong>de</strong>r anhaltenbei <strong>de</strong>n schaurig-schönen Bil<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>nen Herta Müller eine triste O<strong>de</strong> an <strong>de</strong>nHungerengel verfasst hat (Baier 2009: 7).Steinecke aber vermutet in <strong>de</strong>m fragilen Gleichgewicht <strong>de</strong>rAtemschaukel zwischen ausatmen und einatmen eine Anspielung <strong>de</strong>rSchriftstellerin auf ein zentrales sprachliches Darstellungsprinzip ihresRomans, nämlichdie Balance zwischen <strong>de</strong>n Extremen <strong>de</strong>r redundanten Detailwie<strong>de</strong>rholungeinerseits, [so wie] <strong>de</strong>r gerafften, aphoristischen Sätze und <strong>de</strong>r Metaphernan<strong>de</strong>rerseits (Steinecke 2011: 29).Im Folgen<strong>de</strong>n versucht die vorliegen<strong>de</strong> Arbeit durch die eingehen<strong>de</strong>Analyse jener Textstellen, in welchen <strong>de</strong>r Neologismus vorkommt, diesenim Text verborgenen Be<strong>de</strong>utungen <strong>de</strong>r „Atemschaukel“ nachzugehen.Insgesamt gibt es im Roman sechs Stellen, an welchen das Wort auftaucht.Das erste Mal wird die „Atemschaukel“ im Kapitel Mel<strong>de</strong>kraut erwähnt.Mit diesem Kapitel setzt die Beschreibung <strong>de</strong>r Lagererfahrungen durch <strong>de</strong>nfiktiven Ich-Erzähler Leopold Auberg ein, <strong>de</strong>r sich aus einem Rückblickvon 60 Jahren an die im Lager verbrachten fünf Jahre erinnert. Immerwie<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n Passagen in <strong>de</strong>n Text eingeschaltet, die auf <strong>de</strong>n gealtertenIch-Erzähler verweisen, <strong>de</strong>r auch noch nach so vielen Jahren von seinenErinnerungen heimgesucht wird. Das physische Unwohlsein, das <strong>de</strong>rnächtliche Überfall <strong>de</strong>r Lagergegenstän<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n Ich-Erzähler auslöst, wirdsowohl durch das Magendrücken als auch durch das Sich-Überschlagen <strong>de</strong>rAtemschaukel angezeigt:Manchmal überfallen mich die Gegenstän<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Lager nicht nacheinan<strong>de</strong>r,son<strong>de</strong>rn im Ru<strong>de</strong>l. [...] Weil sie im Ru<strong>de</strong>l kommen, bleiben sie nicht nur im Kopf.Ich hab ein Magendrücken, das in <strong>de</strong>n Gaumen steigt. Die Atemschaukelüberschlägt sich, ich muss hecheln (As: 34, Hervorhebung P. K.).61


Dieses Sich-Überschlagen <strong>de</strong>r Atemschaukel, das einem Aus-<strong>de</strong>m-Gleichgewicht-Geraten <strong>de</strong>s Körpers gleichkommt, äußert sich in einemHecheln, wie es Tiere zum Zweck <strong>de</strong>r Thermoregulation tun. So kann <strong>de</strong>rLeser die Atemschaukel als ein Körperorgan verstehen, <strong>de</strong>m die Rollezukommt, das physische Gleichgewicht zu bewahren. Die traumatischeErinnerung jedoch überwältigt <strong>de</strong>n Ich-Erzähler <strong>de</strong>rmaßen, dass es zu einerÜberwältigung <strong>de</strong>s Individuums und daher <strong>zur</strong> Störung <strong>de</strong>s Gleichgewichtskommt.Die nächsten drei Textstellen, in welchen das Wort vorkommt,beziehen sich unmittelbar auf das Lagerleben.So beschreibt die zweite Textstelle <strong>de</strong>n Arbeitsvorgang <strong>de</strong>s Kohle Auf- undAbla<strong>de</strong>ns mit <strong>de</strong>r so genannten Herzschaufel:Ich halte die Balance, die Herzschaufel wird <strong>zur</strong> Schaukel in meiner Hand, wie dieAtemschaukel in <strong>de</strong>r Brust (As: 82, Hervorhebung P. K.).Bei <strong>de</strong>m Wort „Herzschaufel“ han<strong>de</strong>lt es sich nicht um eineMetapher, son<strong>de</strong>rn um einen „Fachname[n] für ein entsprechend geformtesSchaufelblatt“ (Apel 2011: 32). Im obigen Zitat gibt sich die Atemschaukelals ein Organ <strong>de</strong>r Balance zu erkennen, wobei aber das Gleichgewicht vomSubjekt geregelt wird. Diese Deutung ist auch bei Michael Markelvorzufin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r in Analogie zum „äußere[n] Gleichgewicht“, das mit <strong>de</strong>rHerzschaufel erzielt wird, die Atemschaukel mit <strong>de</strong>m innerenGleichgewicht in Zusammenhang bringt. 1Die Lokalisierung <strong>de</strong>r Atemschaukel in <strong>de</strong>r Brust lässt eineVerbindung dieser sowohl mit <strong>de</strong>m Herz als auch mit <strong>de</strong>r Lunge zu. Dertaoistischen Auffassung gemäß besteht <strong>de</strong>r Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>rAtmung und <strong>de</strong>m Herzen darin, dass die Atmung vom Herzen geleitet wird(siehe Chevalier/Gheerbrant 1995b: 159).Die dritte Textstelle setzt die drei „Zentralmetaphern“ <strong>de</strong>s Romans,<strong>de</strong>n Hungerengel, die Herzschaufel und die Atemschaukel (Steinecke 2011:29) miteinan<strong>de</strong>r in Beziehung:Ich bin kurz vor <strong>de</strong>m Zusammenbruch, im süßen Gaumen schwillt mir dasZäpfchen. Und <strong>de</strong>r Hungerengel hängt sich ganz in meinen Mund hinein, an mein1 Markel, Michael (2009): „Es gibt Wörter, die mich zum Ziel haben. Zu Herta MüllersRoman ‚Atemschaukel’“. In: Siebenbürgische Zeitung, 8. September 2009,http://www.siebenbuerger.<strong>de</strong>/zeitung/artikel/kultur/9225-es-gibt-woerter-die-michzum.html[12. 11. 2012].62


Gaumensegel. Es ist seine Waage. Er setzt meine Augen auf, und die Herzschaufelwird schwindlig, die Kohle verschwimmt. Der Hungerengel stellt meine Wangenauf sein Kinn. Er lässt meinen Atem schaukeln. Die Atemschaukel ist ein Deliriumund was für eins (As: 87, Hervorhebungen P. K.).Dieser Abschnitt versucht, die unsägliche Qual <strong>de</strong>s Hungernswährend <strong>de</strong>r erschöpfen<strong>de</strong>n physischen Arbeit zu beschreiben. DerHungerengel bewirkt ähnlich wie die traumatische Erinnerung an das Lagerein Aus-<strong>de</strong>m-Gleichgewicht-Geraten <strong>de</strong>r Atemschaukel. Das Delirium <strong>de</strong>rAtemschaukel erklärt sich durch die vom Instinkt geleitete Notwendigkeit<strong>de</strong>s Überlebens bei extrem abgemagerten Körper. So wird auch imAnschluss an diese Passage, welche „die Hungerhölle nah am Delirium“(Schnetz 2009) festhält, <strong>de</strong>r Kampf <strong>de</strong>s Ich-Erzählers mit <strong>de</strong>m Hungerengeldargestellt (As: 87).Im Kapitel Vom Lagerglück wird das Sterben vom Ich-Erzählereuphemistisch als „das allerletzte Glückhaben“ bezeichnet. Er stimmt auch<strong>de</strong>r Bezeichnung „Eintropfenzuvielglück“ (As: 247) einer Mitinhaftierten zuund begrün<strong>de</strong>t seine Zustimmung folgen<strong>de</strong>rmaßen:Weil man <strong>de</strong>n Toten [...] die Erleichterung ansah, dass im Kopf das starre Nest,im Atem die schwindlige Schaukel, in <strong>de</strong>r Brust die taktversessene Pumpe, imBauch <strong>de</strong>r leere Wartesaal endlich Ruhe geben (As: 247, Hervorhebung P. K.).Die Qual <strong>de</strong>s Lagerlebens lässt <strong>de</strong>n Tod als ein Glück erscheinen.Dies ist auch die erste Textstelle, welche die Metapher <strong>de</strong>r Atemschaukelmit <strong>de</strong>m Tod in Zusammenhang bringt. Desgleichen wird hier auch zumersten Mal die aus zwei Substantiven zusammengesetzte Neuschöpfung inihre Bestandteile, Atem und Schaukel, zerlegt. Eines <strong>de</strong>r wichtigstenAttribute <strong>de</strong>r Atmung ist ihr „binärer Rhythmus“. „Das Ausatmen und dasEinatmen symbolisieren das Erschaffen und die Reabsorption <strong>de</strong>sUniversums“ (siehe Chevalier/Gheerbrant 1995b: 159). Die Verbindungzwischen <strong>de</strong>m Atmen und <strong>de</strong>r Schaukel besteht gera<strong>de</strong> in diesem binärenRhythmus, <strong>de</strong>r auch in <strong>de</strong>r Bewegung <strong>de</strong>r Schaukel gegeben ist. So heißt esim Symbolwörterbuch:Der Rhythmus <strong>de</strong>s Schaukelns ist jener <strong>de</strong>r Zeit, <strong>de</strong>s Tageszyklus, <strong>de</strong>sJahreszeitenzyklus, aber auch jener <strong>de</strong>r Atmung (Chevalier/Gheerbrant 1995a:202, Übersetzung durch P. K.).Auf einer höheren Ebene kann <strong>de</strong>r Rhythmus <strong>de</strong>s Schaukelns mitjenem <strong>de</strong>s Lebens und <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r Evolution und Involution, <strong>de</strong>r63


Aus<strong>de</strong>hnung und Reintegration (siehe Chevalier/Gheerbrant 1995a: 202) inZusammenhang gebracht wer<strong>de</strong>n.Paradoxerweise steht also die Atemschaukel in diesem Satz über <strong>de</strong>nTod als Metapher für <strong>de</strong>n Rhythmus <strong>de</strong>s Ein- und Ausatmens, für das Lebenschlechthin.Die drei zuvor besprochenen Textstellen machen <strong>de</strong>utlich, dass Müller dasvon Oskar Pastior geprägte Wort, das ursprünglich nichts mit <strong>de</strong>m Lager zutun hatte, auch in die Lagererfahrungen ihres fiktiven Ich-Erzählers einbaut.Bemerkenswerterweise bezieht die Mehrheit <strong>de</strong>r Rezensionen <strong>zur</strong>„Atemschaukel“ die Metapher ausschließlich auf das Lagerleben. Sobehauptet Eva Pfister die „Atemschaukel“ bezeichne die Herzbeschwer<strong>de</strong>n,die sich wegen <strong>de</strong>r Strapaze in Kälte und glühen<strong>de</strong>r Sonne einstellten(Pfister 2009a: 29). Wolf Peter Schnetz bezieht <strong>de</strong>n Titel auf „<strong>de</strong>n sich<strong>de</strong>hnen<strong>de</strong>n Schwebezustand zwischen <strong>de</strong>n Schüben <strong>de</strong>r Eßgier“ (Schnetz2009), während Alexandra Millner ihn als Metapher „für das vom Hungererzeugte Schwin<strong>de</strong>lgefühl“ (Millner 2009: III) <strong>de</strong>utet.Auch Ruth Klüger bezieht die Metapher auf das Lagerleben, wennsie behauptet:Ihr [Herta Müllers] Wort „Atemschaukel“ beinhaltet das Gegenteil von GoethesVers „Im Atemholen sind zweierlei Gna<strong>de</strong>n“, <strong>de</strong>nn im Atemholen <strong>de</strong>rLagerinsassen und Lagerüberleben<strong>de</strong>n schaukeln die Angst und die Verzweiflung(Klüger 2009: 29).Die letzten bei<strong>de</strong>n Textstellen, in <strong>de</strong>nen die Titelmetapher auftaucht,fin<strong>de</strong>n sich gegen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Romans.Die fünfte Textstelle steht in engem Zusammenhang mit <strong>de</strong>r zuletztbesprochenen, jedoch wird nun die Metapher vollständig aus <strong>de</strong>m Kontext<strong>de</strong>s Lagers gelöst. 60 Jahre nach seiner Entlassung aus <strong>de</strong>m Lager beziehtnun <strong>de</strong>r gealterte Ich-Erzähler, <strong>de</strong>r sich im Lager verzweifelt gegen <strong>de</strong>n Todgewährt hat, das Sterben auch auf sich selbst:Mir aber geht gera<strong>de</strong> beim Essen das Eintropfenzuvielglück durch <strong>de</strong>n Kopf, dasses zu je<strong>de</strong>m, so wie wir hier sitzen, irgendwann kommt und dass man im Kopf dasNest, im Atem die Schaukel, in <strong>de</strong>r Brust die Pumpe, im Bauch <strong>de</strong>n Wartesaalhergeben muss (As: 248, Hervorhebung P. K.).Die letzte Passage, in welcher die Titelmetapher vorkommt, fin<strong>de</strong>tsich im Kapitel Der Nichtrührer, in welchem gezeigt wird, dass <strong>de</strong>r Ich-Erzähler sich infolge seiner im Kopf ständig gegenwärtigen64


Lagererfahrungen nicht mehr an das Leben zu Hause anpassen kann. Erstellt fortwährend Assoziationen <strong>zur</strong> Lagerwelt her, so auch im folgen<strong>de</strong>nAbschnitt:An <strong>de</strong>r Wand war das Ticken meine Atemschaukel, in meiner Brust war es meineHerzschaufel. Sie fehlte mir sehr (As: 265).Nicht zufällig wird das Ticken <strong>de</strong>r Uhr, <strong>de</strong>r Rhythmus vergehen<strong>de</strong>rZeit mit <strong>de</strong>r Atemschaukel, <strong>de</strong>m Rhythmus <strong>de</strong>s Atmens und jenem <strong>de</strong>sHerzens in Zusammenhang gebracht. Gleichzeitig wird durch das Ticken<strong>de</strong>r Uhr auch das unaufhaltsame Vergehen <strong>de</strong>r Zeit in Richtung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s<strong>de</strong>utlich.In <strong>de</strong>n sechs Textstellen, in welche Müller die Titelmetapherverankert hat, kommt <strong>de</strong>r Atemschaukel eine durchwegs positiveKonnotation zu. Sie erweist sich als ein Organ <strong>de</strong>s Gleichgewichts, das <strong>de</strong>nbinären Rhythmus von Ein- und Ausatmen regelt. Dadurch wir dieAtemschaukel zu einer Metapher <strong>de</strong>s Lebens und <strong>de</strong>s Überlebens im Lager. 2In diesem Sinne zählt Michael Lentz die Atemschaukel zu <strong>de</strong>n „kreativenKonstruktionen“, mit <strong>de</strong>ren Hilfe <strong>de</strong>r fiktive Ich-Erzähler Leopold Aubergseine Umwelt ordnet und sie <strong>de</strong>rart weniger bedrohlich macht (Lentz 2009).Gleichzeitig wird aber auch auf das fragile Gleichgewicht <strong>de</strong>smenschlichen Lebens hingewiesen, <strong>de</strong>nn die Atemschaukel kann durchgewaltsame Eingriffe aus <strong>de</strong>m Gleichgewicht gebracht wer<strong>de</strong>n. Als solcheerweisen sich die Zwangsverschleppung, durch welche das Leben <strong>de</strong>rDeportierten aus <strong>de</strong>n Fugen geraten ist, aber auch <strong>de</strong>r Tod, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Lebenschließlich ein En<strong>de</strong> setzt.Dadurch dass Müller die von Pastior geschaffene Lebensmetaphernach <strong>de</strong>m Tod <strong>de</strong>s anerkannten Sprachkünstlers zum Titel ihres Romanswählt, verbirgt sich hinter <strong>de</strong>m Wortkostüm <strong>de</strong>r Atemschaukel auch dieErinnerung an <strong>de</strong>n Verstorbenen, <strong>de</strong>ssen Erinnerungen wie<strong>de</strong>rum dazubeigetragen haben, dass die Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Deportierten im Ge<strong>de</strong>nken <strong>de</strong>rnachfolgen<strong>de</strong>n Generationen bewahrt bleiben.So kann die Atemschaukel mit Michael Lentz „als energetischesErinnerungszeichen“ (Lentz 2009) begriffen wer<strong>de</strong>n.2 Siehe auch Kory (2013: 87).65


LiteraturApel, Friedmar (2011): „Wörter sind latent zu allem fähig.“ In:Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 41, 18. Februar 2011, 32.Baier, Hannelore (2009): „Triste O<strong>de</strong> an <strong>de</strong>n Hungerengel“, AllgemeineDeutsche Zeitung für Rumänien, 10. Oktober, 2009, 7.Chevalier, Jean/ Gheerbrant, Alain (1995a): Dicţionar <strong>de</strong> simboluri.Mituri, vise, obiceiuri, gesturi, forme, figuri, culori, numere, Bd. 2,Bucureşti: Artemis, 202.Chevalier, Jean/ Gheerbrant, Alain (1995b): Dicţionar <strong>de</strong> simboluri.Mituri, vise, obiceiuri, gesturi, forme, figuri, culori, numere, Bd. 3,Bucureşti: Artemis, 195.David, Thomas (2009): „Der Mensch ist bequem, gleichgültig, <strong>de</strong>nkfaul.“Interview. In: Profil, Nr. 38, 14. September 2009, 102-104.Henneberg, Nicole (2009): „Die Zumutung <strong>de</strong>s Lagers sollte in <strong>de</strong>r Sprachespürbar wer<strong>de</strong>n. Herta Müller über ihren Roman und die Arbeit mitOskar Pastior“. In: Frankfurter Rundschau, Nr. 193, 21. August2009, 23.Kory, Beate Petra (2013): Das Trauma als Mahnmal in Herta MüllersDeportationsroman Atemschaukel. In: Grazziella Predoiu/ Beate, PetraKory (Hrsg.): Streifzüge durch Literatur und Sprache. Festschriftfür Roxana Nubert, Timişoara: Mirton, 76-96.Klüger, Ruth (2009): „Der Hunger ist ein Ungeheuer“. In: Die Welt, Nr.189, 15. August 2009, 29.Lentz, Michael (2009): „Wo Sprache die letzte Nahrung ist“. In:Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. September 2009, Nr. 206.Markel, Michael (2009): „Es gibt Wörter, die mich zum Ziel haben. ZuHerta Müllers Roman ‚Atemschaukel’“. In: SiebenbürgischeZeitung, 8. September 2009, http://www.siebenbuerger.<strong>de</strong>/zeitung/artikel/kultur/9225-es-gibt-woerter-die-mich zum.html [12. 11. 2012].Millner, Alexandra (2009): „Der Hase im Gesicht“. In: Die Presse, 10.Oktober 2009, III.Müller, Herta (2009): Atemschaukel (As). Roman, München: Carl Hanser.Müller, Herta (2009): „Umfrage: „Woran arbeiten Sie gera<strong>de</strong>?“. HertaMüller: „Ich trauere“. In: Die Zeit, 30. April 2009, 55.Müller, Herta (2010): „Gelber Mais und keine Zeit“ (GM). In: Text +Kritik. Zeitschrift für Literatur hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, Heft186, Oskar Pastior, 4/2010, 15-26.66


Pfister, Eva (2009a): „Die Folter <strong>de</strong>s Hungerengels“. In: StuttgarterZeitung, Nr. 210, 11. September 2009, 29.Pfister, Eva (2009b): „Dämon <strong>de</strong>r Verrohung“. In: Die Wochenzeitung, Nr.42, 15. Oktober 2009, 17.Schnetz, Wolf Peter (2009): „Wolf Peter Schnetz über Hera Müller undihren neuen Roman ‚Atemschaukel’“. In: Literatur in Bayern, Jg. 25,Dezember 2009, o. S.Steinecke, Hartmut (2011): Herta Müller: Atemschaukel. Ein Roman vom„Nullpunkt <strong>de</strong>r Existenz“. In: Paul Michael Lützeler/ Erin Mc.Glothlin (Hrsg.), Gegenwartsliteratur. Ein germanistischesJahrbuch 10/2011. Schwerpunkt Herta Müller, Tübingen:Stauffenberg, 14-32.67


Laura CheieTemeswarZu einer literarischen Kippfigur:Carmen Francesca Bancius „Mutter unser“ 1Abstract: Ambiguous figures, known also as reversible figures, were initially used by thepsychology of perception in or<strong>de</strong>r to <strong>de</strong>scribe the so-called multistable perception. Thepainting (Salvador Dali), as well as the philosophy (Thomas S. Kuhn) spotted ambiguousfigures as paradigmatic, exemplary representations. Furthermore the literary criticism(Wolfgang Iser) explains the comical phenomenon, based on the tipping principle, thatcharacterizes the switching from a figure to another while observing an ambiguous figure.The present paper focuses also on the literary text as an ambiguous figure, however notregarding to the comical elements but rather to the phenomenon of intertextuality. Itanalyses the text „Our Mother” in the novel „The Sad Mother’s Song” by CarmenFrancesca Banciu, whose textual structure points to two different sorts of text: the prayerand the hymn.Keywords: ambiguous figure, intertextuality, prayer, hymn, mother-image.Kippfiguren, bekannt auch als Inversions- o<strong>de</strong>r Umschlagfiguren, sindmeistens zeichnerische Darstellungen, die je nach Blickwinkel undPerspektive abwechselnd als zwei unterschiedliche Figuren, ohne jeglichemorphologische Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Konturen, wahrgenommen wer<strong>de</strong>n können:das Bild einer Vase beispielsweise, das plötzlich als Bild zweier gegeneinan<strong>de</strong>rgerichteten Gesichtsprofile erscheint, <strong>de</strong>r Kopf eines Hasen, <strong>de</strong>rnach intensiver Betrachtung schlagartig als Entenkopf ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n kanno<strong>de</strong>r ein Nilpferd, in <strong>de</strong>m man auf einmal einen Totenkopf erkennen kann.Wichtig ist dabei das spontane „Kippen“ <strong>de</strong>r Wahrnehmung und somit <strong>de</strong>rwahrgenommenen Gestalt in eine an<strong>de</strong>re aufgrund einer impliziten Deutung.Als Stimulus für einen spontanen, sprunghaften Gestalt- bzw.Wahrnehmungswechsel diente zunächst die Kippfigur <strong>de</strong>r Wahrnehmungspsychologiefür die Beschreibung einer so genannten multistabilenWahrnehmung.1 Der vorliegen<strong>de</strong> Beitrag ist eine leicht abgeän<strong>de</strong>rte Fassung <strong>de</strong>s gleichnamigen Textes,veröffentlicht in: Grazziella Predoiu/Beate Petra Kory (Hrsg.) (2013): Streifzüge durchLiteratur und Sprache. Festschrift für Roxana Nubert, Temeswar: Mirton, 144-154.69


Wahrnehmung geht mit Deutung einher. Man sieht die eine o<strong>de</strong>r diean<strong>de</strong>re Figur im Bild, wie man sie eben <strong>de</strong>utet. Diesen Zusammenhanginterpretiert <strong>de</strong>r spanische Maler Salvador Dali an selbst gezeichnetenKippbil<strong>de</strong>rn unter <strong>de</strong>m Einfluss <strong>de</strong>r Psychoanalyse Sigmund Freuds.Ausgehend von Freuds Theorien <strong>zur</strong> Paranoia 2 entwickelt Dali in <strong>de</strong>n 30erJahren <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts seine „paranoisch-kritische“ Malmetho<strong>de</strong>,die er folgen<strong>de</strong>rmaßen erklärt:Die spontane Art irrationaler Erkenntnis, die auf einer kritischen undsystematischen Objektivierung von Fieberträumen und Interpretationen beruht.Durch <strong>de</strong>n rein paranoischen Prozeß war es möglich, ein zweifaches Bild zugewinnen, nämlich die Vorstellung <strong>de</strong>s Gegenstands, die ohne die geringstefigurative o<strong>de</strong>r anatomische Verän<strong>de</strong>rung gleichzeitig die Darstellung einesan<strong>de</strong>ren, völlig unterschiedlichen Gegenstands ist, wobei auch diese frei von je<strong>de</strong>rDeformation o<strong>de</strong>r Abnormität ist, die irgend einen Eingriff verraten könnte... Daszweifache Bild (als Beispiel könnte man das Bild eines Pfer<strong>de</strong>s anführen, daszugleich das Bild einer Frau ist) kann verlängert wer<strong>de</strong>n; im Verlauf <strong>de</strong>sparanoischen Prozesses genügt dann die Existenz einer an<strong>de</strong>renZwangsvorstellung, um ein drittes Bild (z. B. eines Löwen) entstehen zu lassen,und so weiter, bis eine Anzahl von Bil<strong>de</strong>rn zustan<strong>de</strong>kommt, die einzig durch <strong>de</strong>nGrad <strong>de</strong>r paranoischen Denkfähigkeit begrenzt ist (zit. nach František 1974: 32).Was hier als Zwang interpretiert wird, passiert aber auch imnichtpathologischen Alltag im Falle <strong>de</strong>r multistabilen Wahrnehmung,nämlich das schlagartige Erkennen <strong>de</strong>r Ambivalenz einer Figur. Was Daliallerdings mit seiner Metho<strong>de</strong> erreichen will, ist schließlich nicht das Sehenvon ambivalenten Bil<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn die kreative Herausfor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>rEinbildungskraft, kippfigurenartige Gebil<strong>de</strong> zu imaginieren und zuproduzieren. Wichtiger dabei als die Kippfigur selbst ist ihr Prinzip und<strong>de</strong>ssen Wirkung auf die malerische Fantasie. 3Dass sich die Kippfigur nicht nur zu einem Stimulus <strong>de</strong>r künstlerischenFantasie, son<strong>de</strong>rn auch zu einem Erklärungsmo<strong>de</strong>ll eignet, beweist ihreVerwendung bei <strong>de</strong>n Philosophen Ludwig Wittgenstein und Thomas S.2 Freud <strong>de</strong>finiert Paranoia als Deutungswahn, in <strong>de</strong>m die kreative, zugleich aber auchpathologische Leistung <strong>de</strong>s Kranken darin besteht, einzelne Wahnsymptome zu <strong>de</strong>uten unddiese in ein logisches Ganzes zu ordnen. Kennzeichnend für die <strong>de</strong>mentia paranoi<strong>de</strong>s istalso laut Freud, die Ten<strong>de</strong>nz <strong>zur</strong> „Systematisierung” <strong>de</strong>s Wahns durch <strong>de</strong>n Betroffenen(vgl. Freud 1994: 133-203).3 Eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielt bei Dali im kreativen Prozess <strong>de</strong>s Entwickelns vonkippbildartigen, d. h. ambi- und multivalenten Gemäl<strong>de</strong>n aus einer invarianten Matrixform<strong>de</strong>r bewusst instrumentalisierte Zustand <strong>de</strong>s Obsessiven (vgl. Cheie 2004: 29-34).70


Kuhn. Für Wittgenstein ermöglicht eine Kippfigur <strong>de</strong>m „Sehen<strong>de</strong>n“, d. h.jenem <strong>de</strong>r beispielsweise in einem ambivalent gezeichneten Hasen-Enten-Kopf sowohl <strong>de</strong>n Hasen als auch die Ente, also <strong>de</strong>n Gestalt- bzw.Aspektwechsel erkennen kann, ein Be<strong>de</strong>utungserleben. 4 Thomas S. Kuhnver<strong>de</strong>utlicht in seiner Wissenschaftstheorie <strong>de</strong>n Sprung von einemwissenschaftlichen Paradigma zu einem neuen paradigmatischen Entwurfaufgrund <strong>de</strong>s fundamentalen Prinzips <strong>de</strong>r Kippfigur, also <strong>de</strong>ren plötzlichen„gestalt-switch“. Eine grundlegen<strong>de</strong> „Wendung“ im wissenschaftlichenDiskurs sei somit erst durch die Fähigkeit gegeben, das bestehen<strong>de</strong>Paradigma schlagartig zum „Kippen“ zu bringen und die an<strong>de</strong>re Gestalt, dieneue paradigmatische Möglichkeit darin zu erblicken. 5Robert Gernhardt überträgt <strong>de</strong>n Begriff und das Prinzip <strong>de</strong>rKippfigur auf die Literatur im Jahr 1986 mit <strong>de</strong>m Erscheinen seinesErzählban<strong>de</strong>s Kippfigur. Erzählungen. Der Begriff bezieht sich in diesemFall auf rhetorische Figuren o<strong>de</strong>r auf Ereignisse und Stimmungen, die zum„Kippen“, also zum „Umschlagen“ <strong>de</strong>r Geschichte führen. Um mit LutzHagestedt zu argumentieren, ist es vor allem ein leiser Humor, <strong>de</strong>r dieseGeschichten vom Ernst in <strong>de</strong>n Unernst umschlagen lässt. 6 Dem GermanistenRobert Gernhardt dürfte <strong>de</strong>r Zusammenhang von Kippen und Komik wohlauch über die Theorie <strong>de</strong>s Komischen bei Wolfgang Iser bekannt gewesensein. Dieser <strong>de</strong>finierte 1976 das Komische als „Kipp-Phänomen.“ DasKomische schließt in seiner Auffassung zwei Positionen zusammen, die sichwechselseitig aufheben o<strong>de</strong>r negieren. Je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Positionen bringt diean<strong>de</strong>re dadurch zum Kippen, also zum Zusammenbruch. Dieses unerwarteteKollabieren bei<strong>de</strong>r Positionen überrascht und überfor<strong>de</strong>rt, meint WolfgangIser, <strong>de</strong>n Rezipienten, <strong>de</strong>r sich nicht mehr in <strong>de</strong>r Lage sieht, vernünftig mit<strong>de</strong>r Situation fertig zu wer<strong>de</strong>n und in Lachen ausbricht. Dieses Lachenselbst, erklärt Iser, sei als eine Fortsetzung <strong>de</strong>r Kippstruktur <strong>de</strong>s Komischenin <strong>de</strong>r Haltung <strong>de</strong>s Rezipienten zu betrachten, <strong>de</strong>nn das Lachen sei eine ArtKrisenantwort <strong>de</strong>s Körpers, Ausdruck eines Kippens kognitiver un<strong>de</strong>motionaler Fähigkeiten in Ohnmacht (Iser 1976: 399-401).4 Vgl. Andrea Ana Reichenberger: Wie wir Kippfiguren sehen können: http://wab.uib.no/ojs/agora-alws/article/view/872/442 [01.07.2012].5 Vgl. Gesine Doernberg: Paradigmabegriff und Postmo<strong>de</strong>rne. In: http://www.gesinedoernberg.com/paradig ma.htm [01.07.2012].6 Lutz Hagestedt: Reich <strong>de</strong>r Sinne. Welt <strong>de</strong>r Wörter. Robert Gernhardt: Kippfigur.Erzählungen. In: http://www.netzwerk-literaturkritik.<strong>de</strong>/wiki/in<strong>de</strong>x.php/Reich_<strong>de</strong>r_Sinne,_Welt_<strong>de</strong>r_Wörter._Robert_Gernhardt:_Kippfigur._Erzählungen [01.07.2012].71


Zusammenfassend wäre festzustellen, dass die Verwendung <strong>de</strong>rBegriffe „Kippfigur“ bzw. „Kipp-Phänomen“ in <strong>de</strong>n erwähnten Theorienund Erklärungsmo<strong>de</strong>llen <strong>de</strong>r Kunst, Philosophie, Literatur undLiteraturwissenschaft verschie<strong>de</strong>ne Akzente in <strong>de</strong>r Begriffsbestimmungsetzt. Für Kunst und Philosophie besteht grundsätzlich kein konträresVerhältnis zwischen <strong>de</strong>n alternativen Bil<strong>de</strong>rn einer Kippfigur, dieBeziehung zwischen <strong>de</strong>n alternativen Möglichkeiten einer Figur ist neutralo<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>nfalls viel weniger be<strong>de</strong>utungsintensiv als jene bei einerliterarischen Kippfigur. Ein Hase o<strong>de</strong>r eine Ente, ein Pferd o<strong>de</strong>r eine Frausind alternative Deutungsmöglichkeiten, die keinen direkten Gegensatzzueinan<strong>de</strong>r bil<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Literatur und Literaturwissenschaft, mit Blick aufdas Komische und <strong>de</strong>n Humor, sehen die ambivalente Form und <strong>de</strong>rGestaltwechsel nicht ähnlich neutral aus. Die alternativenDeutungsmöglichkeiten o<strong>de</strong>r die zwei verschie<strong>de</strong>nen Positionen stehen ineiner von Kontrast markierten Beziehung. Sie „kippen“ sich gegenseitig,weil sie einen Gegensatz bil<strong>de</strong>n. Der Gegensatz zwischen <strong>de</strong>nverschie<strong>de</strong>nen Positionen ist vor allem für die von Ironie und Humormarkierten literarischen Textsorten konstitutiv. Wie aber die vorliegen<strong>de</strong>Arbeit zu beweisen bestrebt ist, gibt es auch literarische Texte, die von einerkippfigurenartigen Ambivalenz gekennzeichnet sind und dabei nicht aufeinem ausgeprägten Kontrast <strong>de</strong>r Deutungsmöglichkeiten basieren, wohlaber auf Intertextualität.Literarische Kippfiguren sind u. E. grundsätzlich intertextuell. Sieverweisen mehr o<strong>de</strong>r weniger explizit auf eine Vorlage, die sie in eineKontrafaktur ironischer o<strong>de</strong>r nicht ironischer Art „kippen“ lassen. In diesemSinne kann das Form- o<strong>de</strong>r Gattungszitat, also die Übernahme <strong>de</strong>r Struktureines Textes o<strong>de</strong>r einer Textgattung in einen an<strong>de</strong>ren Text, einer an<strong>de</strong>renTextgattung eine literarische Kippfigur konstruieren. Literarische Gattungenund Formen haben institutionalisierte Qualitäten, an <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Leserbeispielsweise ein Gedicht, ein Sonett, Erlebnislyrik usw. erkennen kann.Diese Eigenschaften gehen auch im Falle <strong>de</strong>r Variation o<strong>de</strong>r Modifizierungin einem an<strong>de</strong>ren Text nicht verloren. Der Leser o<strong>de</strong>r Rezipient erkenntimmer wie<strong>de</strong>r, aus seinem kulturellen und literarischen Wissen heraus, dieseQualitäten im so genannten Form- o<strong>de</strong>r Gattungszitat. DerartigeGattungszitate können <strong>de</strong>n gattungstypischen Elementen einen neuen,verän<strong>de</strong>rten Sinn zuweisen, wie z. B. in <strong>de</strong>r Parodie. Das verän<strong>de</strong>rt jedochnicht notwendig die Gattungssemantik (d. h. die kommunikativenEigenschaften <strong>de</strong>r Gattung), son<strong>de</strong>rn erweitert vielmehr <strong>de</strong>n poetischen72


Spielraum. 7 Diese Behauptungen sollen im Folgen<strong>de</strong>n an einem Text <strong>de</strong>s2007 erschienenen Romans Das Lied <strong>de</strong>r traurigen Mutter von CarmenFrancesca Banciu näher untersucht und veranschaulicht wer<strong>de</strong>n.Der Roman verarbeitet Erinnerungen und Erfahrungen <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>mrumänischen Banat stammen<strong>de</strong>n Autorin <strong>zur</strong> Zeit <strong>de</strong>r kommunistischenDiktatur. Dafür entwickelt Banciu einen eigenartigen lakonischen Prosastil,bei <strong>de</strong>m schon das Schriftbild, <strong>de</strong>r oft verwen<strong>de</strong>te Flattersatz, ein dauern<strong>de</strong>sSchwanken zwischen Prosa und Lyrik sichtbar macht. Der gesamte Textwird somit zu einer Zwitterform, doch diese ist bei Banciu quasi Programm.In einem Interview aus <strong>de</strong>m Jahr 2008 beantwortet die rumänischstämmigeSchriftstellerin, die inzwischen als freie Autorin in Berlin lebt, die Fragenach ihrer <strong>de</strong>utschen versus rumänischen Literatursprache mit folgen<strong>de</strong>mBekenntnis gegenüber <strong>de</strong>r Zeitschrift Observator cultural:Ich wur<strong>de</strong> anfangs, als ich <strong>de</strong>s Deutschen noch nicht mächtig genug war, um mit<strong>de</strong>r literarischen Sprache spielen, experimentieren, gestaltend umgehen zu können,gezwungen, die sprachlichen Regeln genau zu befolgen, um verstan<strong>de</strong>n zu wer<strong>de</strong>n.Und das be<strong>de</strong>utete, dass ich irgendwann meinen rumänischen, auf Anspielung undVerweis bedachten Schreibstil aufgeben musste. Ich meine damit eine Art, einThema anklingen zu lassen, es streifen und dann auf seine Resonanz zu warten,ohne es explizit zu En<strong>de</strong> zu führen. Dadurch entsteht so etwas wie eine Vibration,die mehrere Interpretationen zuläßt. Im Deutschen hat man mir, am Anfangzunächst, gesagt: Du mußt <strong>de</strong>inen Gedanken zu En<strong>de</strong> führen. Ich habe das getanund irgendwann festgestellt, dass es mich vielleicht mitverän<strong>de</strong>rt hat. Ich bingenauer gewor<strong>de</strong>n, konzentrierter, ich ließ meinem Leser weniger Freiheit, mitmeinem Text zu spielen, ihn zu interpretieren. Das war einerseits ein Gewinn,<strong>de</strong>nn ich habe dabei viel über die Arbeit mit <strong>de</strong>r Sprache gelernt. Gleichzeitig wares aber auch ein Verlust, <strong>de</strong>nn ich konnte nicht mehr so viele offene Türen lassen.Der nächste Schritt, <strong>de</strong>n ich versuchte, war, die Genauigkeit zu bewahren undzugleich Türen zu öffnen. Das beschäftigt mich auch heute noch: eine poetischeund erzählerische Sprache zu schaffen, Prosa zu schreiben, mit poetischemAusdruck. Es hört sich wi<strong>de</strong>rsprüchlich an aber so sehe ich eben die Dinge 8 .7 Vgl. zu Formzitat und Gattungssemantik: Jan An<strong>de</strong>rs (2005): „Auf Poesie ist dieSicherheit <strong>de</strong>r Throne gegrün<strong>de</strong>t”. Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik im 19.Jahrhun<strong>de</strong>rt, Frankfurt/Main: Campus, 275. Siehe auch: Andreas Böhn (2007):Formzitat. In: Metzler Literatur-Lexikon [MLL]. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterteAuflage. Hrsg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasben<strong>de</strong>r u. Burkhard Moennighoff, Stuttgartu. Weimar: Metzler, 248.8Iulia Dondorici (2008): „Consi<strong>de</strong>r că aparţin <strong>şi</strong> literaturii române, <strong>şi</strong> literaturiigermane”. Interviu cu Carmen Francesca Banciu. Observator cultural.http://www.observatorcultural.ro/Consi<strong>de</strong>r-ca-apartin-si-literaturii-romane-si-literaturiigermane.-Interviu-cu-Carmen-Francesca-Banciu*articleID_19763-articles_<strong>de</strong>tails.html[20.09.2010].73


Um diese formale und gattungsmäßige, erzählerisch-dichten<strong>de</strong>Zweigestaltigkeit literarisch umzusetzen, entwickelt Carmen FrancescaBanciu eine Lakonik, die <strong>de</strong>n Text quasi kippbildartig zwischen Erzählungund Dichtung schwanken lässt. Die Geschichte einer von Hassliebegeprägten, komplexen Tochter-Mutter-Beziehung ist <strong>de</strong>r narrative Inhalt <strong>de</strong>sRomans, <strong>de</strong>ssen Rhetorik durch leitmotivisch wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong> Sätze undSzenen, Variationen immer wie<strong>de</strong>r auftauchen<strong>de</strong>r Erinnerungen und dasstellenweise lyrisch anmuten<strong>de</strong> Schriftbild auf die im Titel suggerierteIntention eines Lie<strong>de</strong>s von <strong>de</strong>r traurigen Mutter hinweist 9 .Das Buch konzipiert Carmen Francesca Banciu ebenfalls als einvielschichtiges Bild einer Mutter, einer Mutter-Tochter-Beziehung und einerbereits historischen und zugleich traumatischen Epoche Rumäniens. Darinschil<strong>de</strong>rt die Protagonistin Maria-Maria, aufgewachsen in Rumänien <strong>zur</strong>Zeit <strong>de</strong>s kommunistischen Regimes, ihre Kindheit und Jugend in einerstrengen, linientreuen Familie, in welcher Liebe und Zuneigung von einemaufgezwungenen Pflichtbewusstsein <strong>de</strong>s „neuen Menschen“ gegenüber <strong>de</strong>mStaat, <strong>de</strong>r Partei und <strong>de</strong>r sozialistischen Gesellschaft ersetzt wur<strong>de</strong>n. Diezentrale Gestalt <strong>de</strong>r Erzählung ist die harte, dominante aber auch lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>,traurige, gequälte Mutter Maria-Marias. Ihre nun erwachsene undmittlerweile selber Mutter gewor<strong>de</strong>ne Tochter versucht diese Frau in ihrerdramatischen Wi<strong>de</strong>rsprüchlichkeit – <strong>de</strong>r äußeren Härte und innerenZerbrechlichkeit – von ihrer Kindheit bis zu ihrem Sterbebett zu begreifenund zu begleiten. Dabei wird eine Lebensgeschichte aufgerollt, in <strong>de</strong>r sichphysische und seelische Gewalt von Generation zu Generation fortpflanzenund in ein spartanisches, i<strong>de</strong>ologisiertes Erziehungs- und Selbsterziehungskonzeptmün<strong>de</strong>n, das die Mutter Maria-Marias schließlich zu einerparadoxen Autorität wer<strong>de</strong>n lässt. Sie ist die strenge Mutter, die ihrMädchen mit <strong>de</strong>m Riemen züchtigt, <strong>de</strong>ssen Puppen am ersten Schultagverbrennt, um ihm so <strong>de</strong>n Beginn einer neuen, ernsten undverantwortungsvollen Lebensphase zu ver<strong>de</strong>utlichen und ihm schließlichauch das Weinen verbietet: „Weil man mit sieben schon groß ist. Und <strong>zur</strong>Schule geht. Und es sich nicht schickt, zu weinen. Weil man von mir etwasan<strong>de</strong>res erwartete, sagt Maria-Maria“ (Banciu 2007: 16). Die allmächtige9 Zur Analyse <strong>de</strong>r lakonischen Gestaltung dieses Romans, wie auch seiner dichterischenSpielarten vgl. meinen Beitrag: Laura Cheie (2012): „Lakonische Dichtung als Roman:Carmen Francesca Banciu Das Lied <strong>de</strong>r traurigen Mutter“. In: Temeswarer Beiträge<strong>zur</strong> Germanistik, 9/2012, Temeswar: Mirton, 165-178.74


Autorität ihrer Mutter erfährt die Tochter schon in <strong>de</strong>r alltäglichenKommunikation, die keine ist:Mutter hat mich nie um etwas gebeten. Sie hatte mir befohlen. Befehle warenMutters Art zu kommunizieren.Manchmal befahl Mutter: Bring <strong>de</strong>n Riemen.Und ich brachte ihr <strong>de</strong>n Riemen.Und sie schlug auf mich ein.Sie schlug die Wut aus sich heraus (Banciu 2007: 20).In <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r kindlichen Maria-Maria erreicht die mütterlicheAllmacht gottähnliche Dimensionen: „Mutter entschied über Leben undTod. Manchmal, wenn sie wütend war, sagte sie: Ich habe dich geboren, undich bringe dich um. Mit meiner eigenen Hand“ (Banciu 2007: 39). Sie istebenfalls eine berufstätige Mutter, steht als Buchhalterin und als Präsi<strong>de</strong>ntin<strong>de</strong>r lokalen kommunistischen Frauenorganisation im Dienste <strong>de</strong>s Regimes,doch zugleich ist sie auch die klassische Ehefrau, die <strong>de</strong>n Haushalt alleinbewältigen und sich für Mann und Kind „opfern“ muss. Hinter <strong>de</strong>r hartenFassa<strong>de</strong> dieser dominanten Mutter erblickt Maria-Maria die an Eifersucht,mangeln<strong>de</strong>r Liebe, Ängsten und Überfor<strong>de</strong>rung lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> und langsam daranzerbrechen<strong>de</strong> Frau. Denn dieselbe unerbittliche und konsequente Strengelässt Maria-Marias Mutter auch für sich selbst gelten. Sie verleugnet ihrebürgerliche Herkunft, die <strong>de</strong>m neuen Regime verhasst war, und verschreibtsich eisern <strong>de</strong>r neuen I<strong>de</strong>ologie, <strong>de</strong>ren Verfechterin sie sogar inFamilienbeziehungen wird. Den abstrakten Erwartungen dieser I<strong>de</strong>ologie,die Glück mit Nützlichkeit und Liebe mit Pflicht ersetzt, versucht sie alsAktivistin, Mutter und Ehefrau bis <strong>zur</strong> völligen Selbstaufgabenachzukommen. Von <strong>de</strong>n Nonnen ebenfalls mit gewaltsamer Strengeerzogen, versucht sich Maria-Marias Mutter später in einer gottlosen undGott verweigern<strong>de</strong>n Welt neu ein<strong>zur</strong>ichten, in<strong>de</strong>m sie alte und neue Wertein ein von Schuld und Pflicht getragenes Lebenskonzept integriert.Selbstzüchtigung wird dabei zu einem unterschwelligen Lebensinhalt, <strong>de</strong>rvom ehemaligen Zögling <strong>de</strong>r Nonnen neu interpretiert wird:Mutter sagte mir nie, was sie dachte. Woran sie glaubte. Was sie empfand. Siehatte feste Regeln. Und sie zwang sich, sie zu befolgen. Weil sie mir ein Beispielsein wollte. Und weil sie glaubte, sie sei verantwortlich für die an<strong>de</strong>ren.Mutter glaubte, sie müsse für Fehler büßen. Für die Fehler ihrer Vorfahren. Siemüsse für sie Verantwortung übernehmen. Aus Nächstenliebe. Das hatte sie bei<strong>de</strong>n Nonnen gelernt.75


76Die Verantwortung für die an<strong>de</strong>ren hat ihr die Partei beigebracht. Und dieKonzentration auf die Zukunft (Banciu 2007: 48).Als uneheliches Kind in einer traditionellen Gesellschaft geboren,schämt sich die Mutter Maria-Marias für ihre eigene Mutter, zu <strong>de</strong>r sie einegestörte Beziehung entwickelt. Und auch die durch religiöse Geschichtenvorgeschriebene Beziehung <strong>zur</strong> Mutter Gottes misslingt, <strong>de</strong>nn die heiligeMaria erscheint <strong>de</strong>m einsamen Mädchen als willkürlich und bestechlich inihrer Gna<strong>de</strong> und einer bedingungslosen Liebe unfähig. Jahre später wird dieTochter, mit <strong>de</strong>m wohl nicht zufälligen Namen Maria-Maria, zunächstzeichnerisch das Bild <strong>de</strong>r verweigerten Mutter Gottes in <strong>de</strong>r Frau, die siegeboren hatte, suchen:Ich zeichnete Mutters Brüste in Kohle. Ich zeichnete sie in Bleistift. In Tusche. Ichmalte sie in Aquarell und in Ölfarben.Ich versuchte, Mutter zu ent<strong>de</strong>cken.Ich suchte Mutter, die Lebensgeben<strong>de</strong>.Mutter, die Lieben<strong>de</strong>.Mutter, die Nähren<strong>de</strong>.Mutter, die Quelle allen Lebens (Banciu 2007: 100).An<strong>de</strong>rs als ihre Mutter startet Maria-Maria immer wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>nVersuch, sich <strong>de</strong>r geliebt-gehassten Frau, die sie geboren hatte, gedanklichund emotional zu nähern. Mutter, die Lieben<strong>de</strong>, zeigt sich aber als eine eherfurchterregen<strong>de</strong> Machtperson:Vielleicht meinte Mutter mit Liebe eigentlich Aufpassen.Und mit Aufpassen meinte sie eigentlich Kontrollieren.Und mit Kontrollieren meinte sie Zwingen.Und mit Zwingen meinte sie Züchtigen.Und mit Züchtigen meinte sie Erziehen.Und mit Erziehen meinte sie das Beste für das Kind.Das Beste für das Kind ist Liebe (Banciu 2007: 181).Die Kontrollsucht <strong>de</strong>r Mutter wird allerdings von <strong>de</strong>r Tochter alseine verkehrte Form von Ohnmacht entlarvt, als eine Angst, <strong>de</strong>n Pflichtennicht gewachsen zu sein und vor <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Gesellschaft und ihresMannes nicht als Mutter und Ehefrau bestehen zu können. Das Leben <strong>de</strong>rMutter fußt auf einem Grundsatz, <strong>de</strong>r ihre permanente Daseinsangst quasiaphoristisch auf <strong>de</strong>n Punkt bringt: „Mutters Spruch war: Das Leben ist einedauern<strong>de</strong> Katastrophe. Man muss sie je<strong>de</strong>n Tag überleben“ (Banciu 2007:


75). Auf ihrem Sterbebett liegt sie schließlich wie „ein verfolgtes Tier“ undverlangt von <strong>de</strong>r Tochter, diese solle für sie beten: „Mutter lag im Bett. Siesagte, ich solle für sie beten. Mutter sagte beten, als wäre es dasselbe wieHän<strong>de</strong>waschen. Mir war nur Hän<strong>de</strong>waschen beigebracht wor<strong>de</strong>n“ (Banciu2007: 9).Die Bitte, die die Erzählerin bereits auf <strong>de</strong>r ersten Seite <strong>de</strong>s Romanserwähnt, durchzieht leitmotivisch das ganze Buch. Es ist einungewöhnlicher Wunsch <strong>de</strong>r ehemaligen kommunistischen Parteiaktivistinund auch für das Kind einer sozialistischen Vorzeigefamilie ist Beten keineSelbstverständlichkeit. Doch die Schwierigkeit, dieser Bitte nachzukommen,ist im Falle Maria-Marias eigentlich nicht auf i<strong>de</strong>ologische Grün<strong>de</strong><strong>zur</strong>ückzuführen, son<strong>de</strong>rn hängt vielmehr mit <strong>de</strong>r belasteten Beziehung zuihrer Mutter zusammen. Die Tochter erinnert sich <strong>de</strong>r letzten Bitte ihrerMutter in sehr unterschiedlichen Kontexten: am mütterlichen Sterbebett,nach<strong>de</strong>nkend über das, was die Mutter als Tugen<strong>de</strong>n bezeichnete, darunterjedoch nicht Liebe und Mitgefühl, im Zusammenhang mit <strong>de</strong>r immergeahnten und gefürchteten Untreue <strong>de</strong>s Ehemanns o<strong>de</strong>r in Verbindung mitMutters „schmutzigen“ Zunge, die eben diesem Ehemann „die Wahrheit“ins Gesicht schleu<strong>de</strong>rn konnte – und später, angesichts <strong>de</strong>s nahen,unvermeidbaren To<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Todkranken. Auf die wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>n Worte„Bete für mich“ klingt die mehr o<strong>de</strong>r weniger explizite Antwort Maria-Marias verschie<strong>de</strong>n: überrascht, ironisch-bitter, mitlei<strong>de</strong>nd, abwehrend,stumpf, bis schließlich das Gebet Mutter unser gelingt:Mutter unserDie du <strong>de</strong>n Himmel geboren hast,Die Sterne und die Er<strong>de</strong>.Mutter unser,Die Quelle <strong>de</strong>s Lebens, <strong>de</strong>r Liebe. Des Hasses und <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s.Die Quelle <strong>de</strong>s Tages und <strong>de</strong>r Nacht,Quelle <strong>de</strong>s Schmerzes und <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>,Quelle <strong>de</strong>s Lichts und <strong>de</strong>s Schattens,Quelle <strong>de</strong>r Wärme und <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>skälte,Nimm uns in <strong>de</strong>inen Schoß.Mutter unser,Mutter aller Mütter und Mutter <strong>de</strong>r Mütter,Mutter <strong>de</strong>r Geborenen und Ungeborenen,Mutter alles Lebendigen und Nichtlebendigen,Mutter aller Väter und Söhne,Und Söhne <strong>de</strong>r Söhne.77


78Mutter unser,Anfang von allem.En<strong>de</strong> und Anfang.In alle Ewigkeit gehasst,Geehrt und geliebt ist <strong>de</strong>in Name (Banciu 2007: 192).Der Text ist eines <strong>de</strong>r letzten Kapitel <strong>de</strong>s Romans und stellt einebeson<strong>de</strong>re „Station“ auf <strong>de</strong>m Erkenntnisweg Maria-Marias dar. Schon auf<strong>de</strong>n ersten Blick signalisiert <strong>de</strong>r Titel einen ungewöhnlichen Text, <strong>de</strong>r abinitio auf das wichtigste und bekannteste Gebet <strong>de</strong>s Christentums verweistund somit auch ein gattungszitieren<strong>de</strong>s Element enthält. Der Leser erwartetaufgrund <strong>de</strong>r zu Vater unser analogen Formulierung ein Gebet o<strong>de</strong>rzumin<strong>de</strong>st eine gebetähnliche Äußerung an eine heilige Mutter,beispielsweise <strong>de</strong>r Mutter Gottes, <strong>de</strong>r heiligen Maria. Dieser Erwartung wirdauch durch einige Textteile entgegengekommen, die bekannte Stellen <strong>de</strong>sVater unser variieren o<strong>de</strong>r in verschobener und erkennbar abgewan<strong>de</strong>lterForm neu integrieren. Das Mutter unser Maria-Marias verwan<strong>de</strong>lt <strong>de</strong>nBeginn <strong>de</strong>s „Vater unser, <strong>de</strong>r Du bist im Himmel“ in „Mutter unser, die du<strong>de</strong>n Himmel geboren hast“, wodurch <strong>de</strong>r erste Verweis auf eine heiligeMutter, sei es Maria o<strong>de</strong>r eine vorchristliche Allmutter, gegeben ist. Auchdie zweite Zeile <strong>de</strong>s „Herrengebets“: „Geheiligt wer<strong>de</strong> Dein Name“,zusammen mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Ewigkeit in <strong>de</strong>m später eingeführten Lobpreis<strong>de</strong>s Herrn: „Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit inEwigkeit“ ist am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Gebets Maria-Marias in abgewan<strong>de</strong>lter Formwie<strong>de</strong>rerkennbar: „In alle Ewigkeit gehasst, / Geehrt und geliebt ist <strong>de</strong>inName.“ Die eigentliche Bitte an die göttliche Macht, die im „Vater unser“<strong>de</strong>n Hauptteil <strong>de</strong>s Gebets ausmacht und eigentlich aus mehreren Bittenbesteht: die Brotbitte, jene um Vergebung für begangene Sün<strong>de</strong>n, die Bitte,nicht in Versuchung zu geraten und jene um Erlösung vom Bösen – wird inMutter unser auf eine einzige reduziert: „Nimm uns in <strong>de</strong>inen Schoß“. DieseBitte um Geborgenheit ist zwar in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s Textes angesetzt und kannsomit als Kernsatz dieses Textes angesehen wer<strong>de</strong>n. Das Bitten macht hierallerdings nicht <strong>de</strong>n Hauptteil <strong>de</strong>s Textes aus. Dominant wird statt<strong>de</strong>ssen <strong>de</strong>rGestus <strong>de</strong>s Preisens, was auf eine an<strong>de</strong>re literarische und religiöseTextgattung verweist, genauer auf die Hymne.Die Mutter wird als Gebärerin <strong>de</strong>s Weltalls, als Quelle von Lebenund Tod, Ursprung alles Lebendigen und Nichtlebendigen, <strong>de</strong>r stärksten undvitalsten Gefühle, wie Liebe und Hass, und schließlich als Anfang und En<strong>de</strong>von allem beschrieben und gepriesen. Das ist keine typische Beschreibung<strong>de</strong>r heiligen Maria, doch wird diese Mutter trotz<strong>de</strong>m mit <strong>de</strong>m Gott- bzw.


Christusattribut „Alpha und Omega“, <strong>de</strong>r Erste und <strong>de</strong>r Letzte als Symbolfür die allumfassen<strong>de</strong> Totalität bedacht. In seinem hymnischen Ausdruckkehrt dieser Text zu <strong>de</strong>n einleiten<strong>de</strong>n Motti <strong>de</strong>s Romans <strong>zur</strong>ück: einemgnostischen Text <strong>de</strong>r frühchristlichen Nag-Hammadi-Schriften aus <strong>de</strong>m 2./3.Jahrhun<strong>de</strong>rt:Denn ich bin die Erste und die Letzte,Ich bin die Verehrte und die Verachtete,Ich bin die Hure und die Heilige,Ich bin die Ehefrau und die Jungfrau.Ich bin die Mutter und die Tochter,Ich bin die Unfruchtbare, und zahlreich sind meine Söhne.Ich bin die Braut und <strong>de</strong>r Bräutigam, jene, die mein Gemahl erzeugte.Ich bin die Mutter meines Vaters und die Schwestermeines Mannes. Welcher mein Nachkomme ist.Ich bin das Schweigen, das unbegreiflich ist ...Ich bin das Sagen meines Namens.Ich bin die Verurteilung und <strong>de</strong>r Freispruch ...Ehrt mich! (Banciu 2007: 7).und zu <strong>de</strong>r Inschrift einer Isis-Säule:Ich bin alles, was gewesen ist, was ist und was sein wird,kein Sterblicher hat meinen Schleier gelüftet,die Frucht, die ich geboren, ist die Sonne (Banciu 2007: 7).In <strong>de</strong>r Nag-Hammadi-Schrift <strong>de</strong>finiert sich ein weibliches Wesenmithilfe <strong>de</strong>s christlichen Totalitätsprädikats: „ich bin die Erste und dieLetzte“ und veranschaulicht diese kontradiktorisch und synthetischkonstruierte Einheit aufgrund einer Reihe von Antithesen:Verehrte/Verachtete; Hure/Heilige; Ehefrau/Jungfrau. Zu diesen Antithesenkönnten, mit Blick auf die Erzählung <strong>de</strong>s Romans und die Beziehungen in<strong>de</strong>r Familie Maria-Marias, auch Mutter/Tochter, Mutter/Vater zu <strong>de</strong>nwi<strong>de</strong>rsprüchlichen Kombinationen gezählt wer<strong>de</strong>n. Durch stärkste Kontrasteund gewaltige Paradoxien inszeniert sich so eine archetypisch verstan<strong>de</strong>neAllmutter, die Anspruch auf Erkenntnis und Ehrung erhebt und dadurch einekomplexe, allumfassen<strong>de</strong> Autorität etabliert. 10 Im zweiten Motto, <strong>de</strong>r10 In manchen gnostischen Schriften trägt dieses kontradiktorische weibliche Wesen <strong>de</strong>nNamen Sophia (Weisheit) und ist sowohl göttliche Mutter, ein höherer Geist, ja sogarInbegriff <strong>de</strong>s Logos, wie auch, als Verführerin, eine gefallene Frau, eine „Hure“. In an<strong>de</strong>rengnostischen Texten wird dieses charakterlich ambivalente Wesen auch als ein androgynes79


Inschrift einer Isis-Säule, wird das weibliche Wesen <strong>zur</strong> geheimnisvollenAllgöttin, in <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>r ägyptischen Isis, Mutter <strong>de</strong>r allesbeherrschen<strong>de</strong>n Sonne, und Parallelfigur <strong>de</strong>r christlichen Maria, <strong>de</strong>r MutterJesu.Die Poesie dieser antiken Selbstoffenbarung mütterlicherHerrlichkeit und Autorität mit ihrer wi<strong>de</strong>rsprüchlichen Bildlichkeit und <strong>de</strong>mstringenten, feierlichen Duktus <strong>de</strong>s Sagens wird von Banciu in ihrer„Hymne“ an die Mutter mit <strong>de</strong>m wohl bekanntesten Gebet <strong>de</strong>s Christentumskombiniert. Der Text weist dadurch die schwanken<strong>de</strong> Ambivalenz einerKippfigur auf. Denn so wie man bei einer zeichnerischen Kippfigur durchdie abwechseln<strong>de</strong> Konzentration auf die Figur o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Grund das eineo<strong>de</strong>r das an<strong>de</strong>re Bild erblicken kann, so führt das Betonen <strong>de</strong>r einen o<strong>de</strong>ran<strong>de</strong>rer Textsequenzen in Mutter unser zu <strong>de</strong>r Textgattung „Gebet“ o<strong>de</strong>r zujener <strong>de</strong>r „Hymne“. Bancius Mutter unser könnte somit aufgrund <strong>de</strong>sgattungszitieren<strong>de</strong>n Elements im Titel, <strong>de</strong>s erkennbar abgewan<strong>de</strong>ltenAnfangs und En<strong>de</strong>s, wie auch <strong>de</strong>r Bitte in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s Textes als Gebetgelesen wer<strong>de</strong>n. Gleichzeitig lässt sich aber eine parallele Lektüre erkennenund zwar jene, die vom hier dominanten Gestus <strong>de</strong>r Lobpreisung, <strong>de</strong>r eherfür eine Hymne typisch ist, ausgeht. Sowohl im Falle <strong>de</strong>r ersten Lektüre wieauch im Falle <strong>de</strong>r zweiten basiert die literarische Rezeption <strong>de</strong>s TextesMutter unser auf einem intertextuellen Bezug entwe<strong>de</strong>r zum christlichenGebet Vater unser o<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>n Motti <strong>de</strong>s Romans, <strong>de</strong>r Nag-Hammadi-Schrift und <strong>de</strong>r Inschrift auf <strong>de</strong>r Isis-Säule. Im Unterschied <strong>zur</strong> bildlichenKippfigur, bei welcher die zwei o<strong>de</strong>r mehrere mögliche Bil<strong>de</strong>r nichtsimultan, son<strong>de</strong>rn lediglich nacheinan<strong>de</strong>r wahrgenommen wer<strong>de</strong>n, kannman bei <strong>de</strong>r abstrakteren literarischen Kippfigur zwei parallele Lektürentextlich miteinan<strong>de</strong>r in Bezug setzen und so die zwei „Textfiguren“gleichzeitig als einen „Zwittertext“ erkennen.Die Zweigestaltigkeit solcher Texte, wie Bancius Mutter unser, wirdnicht nur intertextuell, son<strong>de</strong>rn auch gattungsmäßig durch gattungszitieren<strong>de</strong>Elemente, die typische Qualitäten von literarischen Gattungenkommunizieren, bestimmt. In <strong>de</strong>m besprochenen Fall sind es jene <strong>de</strong>sGebets, in welchem die Bitte <strong>de</strong>finitorisch, und <strong>de</strong>r Hymne, in welcher dieAnbetung <strong>de</strong>s Gottes o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Göttin um seiner o<strong>de</strong>r ihrer selbst willenkonstitutiv ist. Es han<strong>de</strong>lt sich außer<strong>de</strong>m um ambivalente Gattungen, diesowohl zu religiösen, christlichen und antiken Praktiken, wie auch <strong>zur</strong>und somit die fundamentalen Prinzipien in sich vereinigen<strong>de</strong>s Wesen beschrieben (vgl.Culianu 1995: S. 97-117).80


Literatur gehören. Sie sind (religiöse) Gebrauchs- und (literarische)Kunstformen zugleich. Als Textgattung also bewegen sich Gebet undHymne zwischen einem pragmatischen und einem poetischen Typus, wobeiletztlich Kontext und Rezeptionssituation über die Zuordnung entschei<strong>de</strong>n. 11Die Ambivalenz <strong>de</strong>r Gattung kann in bei<strong>de</strong>n Fällen gut dokumentiertwer<strong>de</strong>n, doch jene <strong>de</strong>s Gebets ist meistens durch ironische o<strong>de</strong>r humorvolleKontrafakturen sehr auffällig gewor<strong>de</strong>n. 12 Bancius Mutter unser profitiertebenfalls von <strong>de</strong>r Gattungsambivalenz <strong>de</strong>s Gebets und von jener <strong>de</strong>r Hymne.Die komplexe Zwiespältigkeit <strong>de</strong>s Gebets von Maria-Mariaentspricht ihren Gefühlen für die Mutter, genauer <strong>de</strong>r Hassliebe, die sie aus<strong>de</strong>r Kindheit bis in die reiferen Jahre hinein quält. Kippfigurenartig gestaltetsich die Tochter-Mutter-Beziehung, die dauernd zwischen Angst und Liebe,Wut und Mitleid, Enttäuschung und Bewun<strong>de</strong>rung schwankt. Die Mutterselbst ist für die Tochter eine Art Kippbild <strong>de</strong>r Autorität, die beimgenaueren Hinsehen in eine tiefliegen<strong>de</strong> Fragilität wechselt. Und auch das„Gebet“ Maria-Marias spiegelt kontrapunktisch die konstitutive Ambivalenz<strong>de</strong>s vergöttlichten Porträts <strong>de</strong>r Mutter wi<strong>de</strong>r: „Die Quelle <strong>de</strong>s Lebens, <strong>de</strong>rLiebe. Des Hasses und <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s. / Die Quelle <strong>de</strong>s Tages und <strong>de</strong>r Nacht, /Quelle <strong>de</strong>s Schmerzes und <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> usw.“In diesem Zusammenhang bewährt sich die Kippfigur als möglichesErklärungsmo<strong>de</strong>ll für die Struktur und die Rezeption eines Textes, sowie fürjene <strong>de</strong>s Porträts <strong>de</strong>r Hauptgestalt und <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Tochter-Mutter-Beziehung.11Siehe diesbezüglich Wolfgang Wiesmüllers zusammenfassen<strong>de</strong>n Diskurs (2006):Zwischen Poesie und Gebrauchsliteratur. Gebetslyrik nach 1945: http://www.literaturreligion.net/diskurs/d2wiesmueller.pdf[15.07.2012].12 Ich möchte an dieser Stelle lediglich auf das kurze Gedicht Gebet von Robert Gernhardthinweisen, das zu Beginn <strong>de</strong>r neunziger Jahre <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts für viel Spaß aberauch für eine beträchtliche Irritation gesorgt hat: „Lieber Gott, nimm es hin,/ daß ich wasBesondres bin./ Und gib ruhig einmal zu,/ daß ich klüger bin als du./ Preise künftig meinenNamen,/ <strong>de</strong>nn so setzt es etwas. Amen.“ Laut <strong>de</strong>m Dichter sollte das Gedicht eigentlichnicht auf Gott, son<strong>de</strong>rn auf eine bestimmte Gottesvorstellung reagieren (vgl. RobertGernhardt: Gesammelte Gedichte 1954-2006, Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2008,1022-1024). Allerdings wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r literarische Gebrauch <strong>de</strong>r Gebetsform von einem Teil<strong>de</strong>s Publikums als Missbrauch und das Gedicht Gernhardts als Gotteslästerung ge<strong>de</strong>utet.81


LiteraturAn<strong>de</strong>rs, Jan (2005): „Auf Poesie ist die Sicherheit <strong>de</strong>r Thronegegrün<strong>de</strong>t“. Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik im 19.Jahrhun<strong>de</strong>rt, Frankfurt/Main: Campus.Banciu, Carmen Francesca (2007): Das Lied <strong>de</strong>r traurigen Mutter, Berlin:Rotbuch.Böhn, Andreas (2007): Formzitat. In: Dieter Burdorf, Christoph Fasben<strong>de</strong>ru. Burkhard Moennighoff (Hrsg.): Metzler Literatur-Lexikon[MLL]. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart/Weimar: Metzler, 248.Cheie, Laura (2004): Die Poetik <strong>de</strong>s Obsessiven bei Georg Trakl undGeorge Bacovia, Salzburg/ Wien: Otto Müller.Cheie, Laura (2012): „Lakonische Dichtung als Roman: Carmen FrancescaBanciu Das Lied <strong>de</strong>r traurigen Mutter“. In: Temeswarer Beiträge<strong>zur</strong> Germanistik, 9/2012, Temeswar: Mirton, 165-178.Culianu, Ioan Petru (1995): Gnozele dualiste ale Occi<strong>de</strong>ntului, Bucureşti:Nemira.Freud, Sigmund ( 6 1994): Psychoanalytische Bemerkungen über einenautobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementiaparanoi<strong>de</strong>s). In: Sigmund Freud: Zwang, Paranoia und Perversion,Studienausgabe, Bd.VII, Frankfurt/Main: S. Fischer, 133-203.Gernhardt, Robert (1986): Kippfigur. Erzählungen, Zürich: Haffmans.Gernhardt, Robert (2008): Gesammelte Gedichte 1954-2006,Frankfurt/Main: Fischer.Iser, Wolfgang (1976): Das Komische: ein Kipp-Phänomen. In: WolfgangPreisendanz/ Rainer Warning (Hrsg.): Das Komische, Poetik undHermeneutik, Bd. 7, München: Fink, 398-402.Šmejkal, František (1974): Die surrealistische Zeichnung, ins Deutscheübersetzt von M. Vaničková, Hanau: Dausien.InternetquellenDondorici, Iulia (2008): „Consi<strong>de</strong>r că aparţin <strong>şi</strong> literaturii române, <strong>şi</strong>literaturii germane”. Interviu cu Carmen Francesca Banciu.Observator cultural. http:// www.observatorcultural.ro/Consi<strong>de</strong>r-ca-apartin-si-literaturii-romane-si-literaturii-germane.-Interviu-cu-Carmen-Francesca-Banciu*articleID_19763-articles_<strong>de</strong>tails.html[20.09.2010].82


Hagestedt, Lutz: Reich <strong>de</strong>r Sinne. Welt <strong>de</strong>r Wörter. Robert Gernhardt:Kippfigur. Erzählungen. In: http://www.netzwerk-literaturkritik.<strong>de</strong>/wiki/in<strong>de</strong>x.php/Reich_<strong>de</strong>r_Sinne,_Welt_<strong>de</strong>r_Wörter._Robert_Gernhardt:_Kippfigur._Erzählungen [01.07.2012].Reichenberger, Andrea Ana: Wie wir Kippfiguren sehen können. In:http://wab.uib.no/ojs/ agora-alws/article/view/872/442 [01.07.2012].Wiesmüller, Wolfgang (2006): Zwischen Poesie und Gebrauchsliteratur.Gebetslyrik nach 1945: http://www.literatur-religion.net/diskurs/d2wiesmueller.pdf [15.07.2012].83


Hans BergelMünchenDie Wandlungen <strong>de</strong>s Dichters Manfred Winkler 1Abstract: This paper offers some clues in or<strong>de</strong>r to un<strong>de</strong>rstand the genesis and structure ofManfred Winkler’s poetry. The poet was born in Bukovina. The multilingualism specific tothat region explains the fact that Winkler worked as a translator both from German intoHebrew and from Hebrew into German, but also from and into Ukrainian, Yiddish, Russianand Romanian. He wrote his poetry both in German and in Hebrew.Keywords: history of Bukovina, Judaism, German mother tongue, multilingualism,translation, poetry[...] Zu Deinen Gedanken über die Paradoxa als Komponenten <strong>de</strong>r Religion, <strong>de</strong>rKunst: Das Paradox und <strong>de</strong>r Glaube gehören <strong>zur</strong> Grundlage meines Dichtens undmeines Lebens. Zeit und Ewigkeit, Dunkel und Licht, Zweifel und Glauben,Vergänglichkeit und Dauer, Natur und Kunst, Liebe und Tod, Tag und Nacht, dieGegensätze <strong>de</strong>r Jahreszeiten. Das alles beschäftigt mich in meinen Gedichten, ichgreife nach allem und lasse mich von <strong>de</strong>r Sprache zu ihrer Abwägung und <strong>de</strong>rschmerzhaften Auskostung ihrer Duplizität führen, die ja das Paradoxon an sichist: Warum Licht, wenn es nachher ohnehin dunkel wer<strong>de</strong>n soll? Warum Dunkel,wenn es nachher ohnehin hell wer<strong>de</strong>n soll? Und das En<strong>de</strong> ist nicht abzusehen. ZurMusik, die schon im sprachlichen Ausdruck mitklingt: Licht und Dunkel, Tag undNacht, Zeit und Ewigkeit - das klingt mir wie Akkor<strong>de</strong> und Rhythmen, dieseseltsam bildschaffen<strong>de</strong>n Wortklänge. Manchmal ziehen sie mich in die Tiefe, ichkämpfe mich mithilfe meiner Verszeilen wie<strong>de</strong>r nach oben, sogar himmelwärts -und falle ebenso oft wie<strong>de</strong>r auf die Er<strong>de</strong> als unsere letzte Instanz, wie immer wir esauch drehen und wen<strong>de</strong>n wollen. Die Paradoxa zeugen <strong>de</strong>n Urimpuls <strong>de</strong>s Lebens(Winkler/Bergel 2012: 79).Die Sätze schrieb mir Manfred Winkler am 16. März 1996 aus Jerusalem.Sie enthalten <strong>de</strong>n Schlüssel zum Verständnis für Entstehung und innerenAufbau <strong>de</strong>s Winkler-Gedichtes. Bei <strong>de</strong>r Vergegenwärtigung einer zweiJahre später nie<strong>de</strong>rgeschriebenen Äußerung wer<strong>de</strong>n Genesis und Strukturnoch klarer: Das Gedicht „bil<strong>de</strong>t sich in mir auf oft unbegreifliche Weise1 Manfred Winkler, geb. 20. 10. 1922 in Putila, Bukowina. Lebt seit 1959 in Israel. Lyriker,hebräisch und <strong>de</strong>utsch.. Auch Übersetzer. Mehrere Literaturpreise, darunter Preis <strong>de</strong>sIsraelischen Ministerpräsi<strong>de</strong>nten 1999. Siehe: Kürschners Deutscher Literaturkalen<strong>de</strong>r2012/2013, 1180.85


aus einem Bereich heraus, in <strong>de</strong>m sich Dunkelheiten, Sprache und Musiktreffen. Ich weiß, dass dies unzulänglich formuliert ist. Es geht umVorgänge wie außerhalb meiner selbst - o<strong>de</strong>r in einer Tiefe in mir, die sichmir entzieht; selbständige Sprach- und Bil<strong>de</strong>rexistenzen gleichsam jenseits<strong>de</strong>s Tageslichtes“ (Winkler/Bergel 2012: 107).Immer wie<strong>de</strong>r spricht Winkler im Zusammenhang mit <strong>de</strong>mSchreiben vom „schweren Kampf gegen meine angeborene Trägheit undPassivität, gegen diese merkwürdige Neigung zum Nichtstun. Ich treibedann wie eine körperlose Wolke“ (Winkler/ Bergel 2012: 130).Auch diese Anmerkung weitet <strong>de</strong>n Blick auf Manfred WinklersLyrik – das oft mit beunruhigen<strong>de</strong>m Selbstzweifel gemischte Warten aufjene Gestimmtheit, ohne die das Gedicht nicht entstehen kann, ThomasStearns Eliot berichtete davon: Der Dichter als das – passive – Instrument,<strong>de</strong>ssen Sensibilität ein unaufhebbares Verhältnis <strong>de</strong>r Abhängigkeit zeitigt,Dispositionen wie Indispositionen gleichviel welcher Beschaffenheitbestimmen es. So notiert Winkler zum Beispiel: „Die Erkrankungen undOperationen <strong>de</strong>r letzten Jahre haben [...] auch meine Rezeptionsfähigkeit,mein Gedächtnis, ja mein dichterisches Empfin<strong>de</strong>n beeinträchtigt und <strong>de</strong>nZustand einer gewissen Ermattung <strong>de</strong>r Gefühle und <strong>de</strong>r Gedanken invielerlei Hinsicht mit sich gebracht“ (Winkler/Bergel 2012: 169).Die unbewusst entstehen<strong>de</strong>n Assoziationen weit auseinan<strong>de</strong>rliegen<strong>de</strong>r Gedanken, Bil<strong>de</strong>r, musikalischer Stimmungen, oft nur inAn<strong>de</strong>utungen wahrgenommen, fügen sich – so Winkler – als Fragmente zuGestalt und Einheit <strong>de</strong>s lyrischen Gebil<strong>de</strong>s: Die „einzige und eigentlicheArbeit am Gedicht“ sei die Sichtbarmachung in <strong>de</strong>r Sprache, „<strong>de</strong>r ichvertrauen muss“. Nach <strong>de</strong>r Lektüre eines Vortragstextes <strong>zur</strong> Entstehungmeines Romans Die Wie<strong>de</strong>rkehr <strong>de</strong>r Wölfe (2006) schrieb er:Es ist eine Theorie <strong>de</strong>s Erzählens, was Du in <strong>de</strong>m Vortrag festgehalten hast. Michhat vor allem <strong>de</strong>r ausführliche Passus gefesselt, in <strong>de</strong>m Du von <strong>de</strong>r Führungsrolle<strong>de</strong>r Sprache sprichst - dass Du erst dann richtig ‚im Erzählen‘ bist, wenn dieSprache die Führung übernommen hat. Das wur<strong>de</strong> mir beim Schreiben vonGedichten längst bewusst. Nicht bewusst war mir, dass sich <strong>de</strong>r Erzähler in <strong>de</strong>rgleichen Lage befin<strong>de</strong>t: dass er sich als Privatperson mit eigenerWillensbekundung aus <strong>de</strong>m ‚Ereignis <strong>de</strong>s Erzählvorgangs’, lautet DeineFormulierung, ‚herausnehmen’ muss und sich erst so <strong>de</strong>r zwanglose Inhalts- undMelodiefluss <strong>de</strong>s Erzählens einstellt: Nicht D u hast die Inspiration und benützt dieSprache, son<strong>de</strong>rn die S p r a c h e suggeriert Dir durch ihre ‚Bewegung’ <strong>de</strong>nVerlauf <strong>de</strong>r Erzählung. Nennt man das <strong>de</strong>n ‚Geist <strong>de</strong>r Sprache’? Auch Deinnachdrücklicher Hinweis auf die Tatsache, dass die Sprache - je<strong>de</strong> Sprache - eine86


enorme Summe im Laufe langer Zeitläufe aufgenommener Informationen enthält:‚Sie ist klüger als wir’, steht bei Dir (Bergel 2012: 264).Weit über <strong>de</strong>n Gegenstand hinaus setzte sich Winkler mit Ursprungund Wesen <strong>de</strong>s „oft [...] seltsamen Phantasiegebil<strong>de</strong>s“ namens „Gedicht“ ineinem viel beachteten Vortrag über auseinan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n er 1986 an <strong>de</strong>rUniversität in Haifa hielt (Shoham/Witte 1987: 49-59). Darin spricht er vom„Ertasteten“, das zum Entstehungs- und Erscheinungsimpuls <strong>de</strong>s Gedichtesgehöre, vom „gewagten Abenteuer <strong>de</strong>s Geistes“, von „Gebieten imDunkeln“ und von „weitausholen<strong>de</strong>n Bil<strong>de</strong>rn, Gedanken und Gefühlen“,von „Hoffnungssplittern“ auch, „gela<strong>de</strong>n mit Aussichtslosigkeit“, vomZustand „zwischen Wachen und Träumen“, <strong>de</strong>r „<strong>de</strong>r Phantasie weitenRaum“ lasse, und von <strong>de</strong>r Distanz <strong>de</strong>s „Dichters <strong>zur</strong> Wirklichkeit und damitzum Menschen“, u. Ä. m. (Winkler/Bergel 2012: 61-70).Dies alles sind Be- und Umschreibungen, die mutatis mutandis alsMerkmale auch <strong>de</strong>s eigenen lyrischen Werkes gelten dürfen.Nach Manfred Winklers Teilnahme an <strong>de</strong>n Bremerhavener„Jeanette-Schocken-Literaturtagen“ im Mai 2004 zitierte die „Nordsee-Zeitung“ (8. Mai 2001) seine Diskussionsäußerung: „Ich führe eine doppelteExistenz - in Deutsch und in Hebräisch. Deutsch und Hebräisch treffen un<strong>de</strong>rgänzen sich in mir.“ Fast auf <strong>de</strong>n Tag genau zehn Jahre vorher hatte er miraus Jerusalem geschrieben: „Ich übersetze aus <strong>de</strong>m Deutschen insHebräische und umgekehrt [...] Während all dieser Zeit (seit <strong>de</strong>rNie<strong>de</strong>rlassung 1959 in Israel; d. Verf.) schrieb ich weiter auf Deutsch - mitUnterbrechungen in sehr ausgefüllten Zeitabschnitten. Meine Liebe <strong>zur</strong><strong>de</strong>utschen Sprache und Literatur litt nicht durch <strong>de</strong>n Wechsel insHebräische, ich glaube eher, dass sie bereichert wur<strong>de</strong>. Es ist eine Liebeähnlich <strong>de</strong>r zu zwei Frauen, man weiß nicht genau, welche stärker ist. Manweiß es nicht und sollte es auch nicht wissen“ (Winkler/Bergel 2012: 12).Und abermals zehn Jahre später die nach<strong>de</strong>nkliche Anmerkung: „Inletzter Zeit habe ich sehr viel geschrieben - und ausschließlich <strong>de</strong>utsch.Dazu drängte es mich; ich weiß nicht, soll ich mich darüber freuen?“(Winkler/Bergel 2012: 199)Die Muttersprache <strong>de</strong>s am 27. Oktober 1922 in <strong>de</strong>r Bukowina – imBuchenland – geborenen Manfred Winkler ist das Deutsche. Die seit1940/1944 <strong>zur</strong> Ukraine gehören<strong>de</strong> Provinz ist eine <strong>de</strong>r historisch bewegtenLandschaften Europas; sie liegt ungefähr auf <strong>de</strong>m Breitengrad Münchensund Wiens, rund 700 Kilometer östlich von diesem; Hauptstadt istCzernowitz. Im Altertum Teil <strong>de</strong>s römischen Dakien, gehörte sie vom 10.87


is zum 13. Jahrhun<strong>de</strong>rt zum Fürstentum Kiew, wur<strong>de</strong> im 14. Jahrhun<strong>de</strong>rtTeil <strong>de</strong>r Moldau; im 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>s osmanischen, im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt<strong>de</strong>s habsburgischen Reiches. 1919 Rumänien zugeschlagen, sind ihrenördlichen Landstriche heute Teil <strong>de</strong>r Ukraine. Zu ihren kulturellenCharakteristika zählte ehemals ihre ethnische Vielfalt – Ruthenen/Westukrainer, Polen, Rumänen, Deutsche, Ungarn, Huzulen, Ju<strong>de</strong>n bil<strong>de</strong>tennoch bis Mitte <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts ein vielnationales Mosaik vonstupen<strong>de</strong>m ethnografischem Reichtum. Die 1875 auf Betreiben Wiens inCzernowitz – ukrainisch Tschernowzy – gegrün<strong>de</strong>te Universität machte dasDeutsche zum Medium <strong>de</strong>s geistigen Gesprächs sämtlicher BukowinerNationalitäten, ebenso aber eignete <strong>de</strong>n meisten Bukowinern dieregionsspezifische Mehrsprachigkeit. Auf diese Weise kamen zu Winklers<strong>de</strong>utsch-hebräischen und hebräisch-<strong>de</strong>utschen Übersetzungen solche aus<strong>de</strong>m und in das Ukrainische, Jiddische, Russische, Rumänische hinzu.Beson<strong>de</strong>rs das intellektuelle Ju<strong>de</strong>ntum <strong>de</strong>r Bukowina – <strong>de</strong>sBuchenlan<strong>de</strong>s, wie viele von ihnen sagen – von Paul Celan (1920-1970),Alfred Margul-Sperber (1898-1967) und Moses Rosenkranz (1904-2003)bis Rose Auslän<strong>de</strong>r (1901-1988) und Alfred Gong (1920-1981), von AlfredKittner (1906-1991) und Imanuel Weissglas (1920-1370) bis Dorothea Sella(1922-2011), Robert Flinker (1906-1954), Else Kornis (1898-1978) u. v. a.entwickelte eine lyrische und epische Blüte, <strong>de</strong>r die Bukowina, dasBuchenland, in <strong>de</strong>r germanistischen Rezeption seit Jahrzehnten <strong>de</strong>n Rufeiner „Literaturlandschaft“ verdankt. Allein die von Alfred Margul-Sperberangelegte Anthologie <strong>de</strong>utschsprachiger Ju<strong>de</strong>ndichtung aus <strong>de</strong>rBukowina stellt rund vierzig ihrer Dichter vor 2 . „Ich wurzele seelisch indieser Landschaft und will mir die Wurzeln nicht abschnei<strong>de</strong>n lassen“,notierte <strong>de</strong>r siebenundsiebzigjährige, seit 1959 in Israel leben<strong>de</strong> und dort zuRuhm gekommene – unter an<strong>de</strong>rem 1999 mit <strong>de</strong>m Literaturpreis <strong>de</strong>sMinisterpräsi<strong>de</strong>nten Israels geehrte – Manfred Winkler in einem Schreiben(Winkler/Bergel 2012: 135).Schon im Aufsehen erregen<strong>de</strong>n Vortrag in Haifa hatte er dieseVerwurzelung als unauflöslich bezeichnet und im Blick auf Paul Celan als<strong>de</strong>m „Freund und Verwandten im Sinne von Gemeinsamkeit <strong>de</strong>r Landschaft,<strong>de</strong>r Vergangenheit und <strong>de</strong>s Schicksals“ gesprochen (wie oben). Rundan<strong>de</strong>rthalb Jahrzehnte später schrieb er mir in spöttisch-selbstbetrachten<strong>de</strong>mRückblick dazu: „[...] ich war einmal ein junger und bin jetzt ein alter2 Siehe: Die Buche, 2009.88


Huzule 3 , noch dazu ein Ju<strong>de</strong> [...]. Und Gott, an <strong>de</strong>n ich nicht glaube, wirdmich so und nicht an<strong>de</strong>rs annehmen müssen“ (Winkler/Bergel 2012: 280).Nicht allein von Winkler, von allen aus <strong>de</strong>r Bukowina stammen<strong>de</strong>nJu<strong>de</strong>n erhielten sich Bekenntnisse dieser Art <strong>zur</strong> Geburts-, <strong>zur</strong>Herkunftslandschaft. Aus ihrem Kreis lebt allein Winkler noch, was ihnbewog, sich als <strong>de</strong>n „letzten Mohikaner <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Buchenlandju<strong>de</strong>n“ zubezeichnen (Brief an Hans Bergel, vom 15. August 2012).Die Frage, ob er sich „darüber freuen“ solle, „in letzter Zeit [...]ausschließlich <strong>de</strong>utsch zu schreiben“, die sich Manfred Winkler 2004 stellte,verdient einige Hinweise.Bis 1983 hatte Winkler – nach drei <strong>de</strong>utschsprachigen Buchtiteln1956, 1957 und 1958 in Rumänien – ausnahmslos in hebräischer un<strong>de</strong>nglischer Sprache veröffentlicht. Unsere Wie<strong>de</strong>rbegegnung 1994, nachachtunddreißig Jahren äußerlich bedingter Unterbrechung <strong>de</strong>r Verbindung,nahm ich zum Anlass, ihm die Veröffentlichung eines Lyrikban<strong>de</strong>s inMünchen vorzuschlagen. Bis dahin unveröffentlichte o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschsprachigen Jerusalemer Lyris-Zeitschrift abgedruckte Gedichteerschienen so 1997 im Band Unruhe, für <strong>de</strong>n ich das Nachwort verfasste.Dann erschienen in kurzen Abstän<strong>de</strong>n die Bän<strong>de</strong> Im Schatten <strong>de</strong>sSkorpions (2006), Im Lichte <strong>de</strong>r langen Nacht (2008) und War es unserSchatten (2010, alle Aachen) mit insgesamt fünfhun<strong>de</strong>rt ausgewähltenGedichten. Die Anregung, <strong>de</strong>utsch zu schreiben, hatte – über die<strong>de</strong>utschsprachige Konversation bei <strong>de</strong>n Treffen <strong>de</strong>s „Lyris“-Kreises hinaus –dank unseres Briefwechsels einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Anstoß erhalten; auch fürzwei <strong>de</strong>r oben genannten Bän<strong>de</strong> steuerte ich das Nachwort bei 4 . Hierkeinesfalls zu vergessen: Zur Literaturlandschaft Bukowina gehören ebensorumänische, ukrainische und <strong>de</strong>utsche Autoren; von <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen seienhier Gregor von Rezzori (1914-1989), Georg von Drozdowski (1899-1987)und Elisabeth Axmann (*1926) genannt.Auf Manfred Winklers beziehungsreiche Frage, ob ihn <strong>de</strong>r Drang,<strong>de</strong>utsch zu schreiben, freuen solle, antwortete ich erst vier Jahre später:Ich habe über diese Briefsteile, die ein Ju<strong>de</strong> schrieb, oft nachgedacht, und ich gebemir sehr wohl Rechenschaft über die Dimension, die sie meinte [...] Über dieGeschichte, die zu ihr hinführte, über das Geschehen, das sich hinter ihr auftürmt,[...] Ich antwortete Dir auf die Feststellung und ihre Unsicherheit nicht. Aber ich3 Im Südosten <strong>de</strong>r Waldkarpaten bis in die Bukowina sie<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> slawische Volksgruppe.4 Zur <strong>de</strong>utschsprachigen Literatur <strong>de</strong>r Bukowina siehe auch: Wahl, Dorothea 2004.Außer<strong>de</strong>m: Bergel, Hans 2002.89


90hatte das sichere Gefühl, dass wir eines Tages auf die Briefstelle <strong>zur</strong>ückkommenwür<strong>de</strong>n. Der Tag kam, und ‚Im Lichte <strong>de</strong>r langen Nacht’ räumt Deinen Zweifel –‚ich weiß nicht, was ich davon halten soll’ – aus. Die <strong>de</strong>utsche Lyrik unserer Tagewäre ärmer ohne die Gedichte dieses Ban<strong>de</strong>s (Winkler/Bergel 2012: 257).Was macht die lyrische Handschrift dieses <strong>de</strong>utschschreiben<strong>de</strong>nJu<strong>de</strong>n aus, <strong>de</strong>r mit seiner Frau, Herma, im Städtchen Zur Hadássa in <strong>de</strong>nwestjudäischen Bergen unweit Jerusalems lebt? „Ich überlasse mich beije<strong>de</strong>m Gedicht <strong>de</strong>m Bild, zu <strong>de</strong>m es mich drängt, und <strong>de</strong>r Musik in <strong>de</strong>rSprachbewegung“, schrieb er mir neben <strong>de</strong>n vielen an<strong>de</strong>ren Äußerungen zuseiner Lyrik am 2. Juli 2009.„Leise Mon<strong>de</strong>sschritte im August/und das Rufen <strong>de</strong>r Eulen“ – mitdiesen zwei Zeilen beginnt das Gedicht „Gottes segnen<strong>de</strong> Hän<strong>de</strong>“ im BandUnruhe. „Die dunkelsilbern<strong>de</strong> Sonne/kämmt sich durch die Li<strong>de</strong>r/<strong>de</strong>rToten/<strong>de</strong>r Lieben<strong>de</strong>n“ (Hän<strong>de</strong>); „Die Schatten um mich haben Flügel undbrennen“ (Herbst 1993); „... in <strong>de</strong>r Nacht rauschen/durch die Büsche/diegroßen Tiere“ (Morgen); „Über die römischen Ruinen/vor <strong>de</strong>m Dom/breitetein erglühter Himmel/sein Gladiatorengwand“ (Aus <strong>de</strong>r Kölner rotenSonnenwun<strong>de</strong>); „[...] die Schatten fallen/wieRiesenspinnen durch das Licht“(Straßenbild mit Messias); „Über <strong>de</strong>n Wolken wölbt sich/<strong>de</strong>s Himmels toterSpiegel“ (Sanftsonne) u. a. m. Winklers bil<strong>de</strong>rschaffen<strong>de</strong> Einfälle sindunerschöpflich. Sie leuchten wie Zauberlichter in <strong>de</strong>n oft hintergründigenGedankenlabyrinthen seiner – reimlosen – Gedichte auf, <strong>de</strong>ren Fragen umHiob, um Kain und Abel, um Bachs Musik, um van Gogh, um ein Wüsten-Kaddisch, <strong>de</strong>n Kölner Dom o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Zions-Berg kreisen (alle in: „Unruhe“,1997). Das sinnenhaft erlebte Bild ist eines <strong>de</strong>r Merkmale WinklerischerLyrik. Dass es niemals konventionell präsentiert wird, aber auch niemals <strong>de</strong>rAnstrengung entwächst, „originell“ zu sein, macht seine Glaubwürdigkeitaus - die ästhetische Überzeugungskraft entspringt ebenso <strong>de</strong>m Schlüssigenwie <strong>de</strong>m Unerwarteten.Das Nach<strong>de</strong>nkliche aber in Winklers Gedichtkonzeption rückt imdarauffolgen<strong>de</strong>n Band von 2006 Im Schatten <strong>de</strong>s Skorpions weiter in <strong>de</strong>nVor<strong>de</strong>rgrund. „Wir gehen uns selber entgegen/über <strong>de</strong>n großen Weg/stehenan <strong>de</strong>r Grenze/die durch uns hindurch geht/halten uns an <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n“, heißthier <strong>de</strong>r Anfang eines titellosen Gedichtes. Im Gedicht „Deutsches Erlebnis“lautet die – auf <strong>de</strong>n See im Sauerland bezogene – Eingangsstrophe: „Sorpe-See vor mir/durch die Blätter <strong>de</strong>r Birken/spiegelt sich ein Ufer mit dunklemLaub“, danach eine Strophe als hintersinniger Kontrapunkt: „In mir istJerusalem/ein Bild von an<strong>de</strong>ren Ufern, in <strong>de</strong>r Ferne/ungehört-erhört –Musik,/verwobenes Glück eines Nachmittags mit Weh“, und die


„Malerphantasmagorie“ en<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>r sibyllinischen Strophe: „Mit <strong>de</strong>mSchatten kämpft immer noch/ein suchen<strong>de</strong>s Licht,/<strong>de</strong>r besiegte Engel ergibtsich nicht.“ Es sind diese oft bohrend-sucherischen Gedanken hinter <strong>de</strong>nGedanken, <strong>de</strong>ren unerwartete Aussage nach <strong>de</strong>r Aussage zu <strong>de</strong>n Merkmalen<strong>de</strong>r Lyrik Winklers gehört. Selbst das noch so leichthändig aufgezeichneteGedicht weist sie auf:Ich habe geschriebengemittagtund wie<strong>de</strong>r geschriebenjetzt bin ich mü<strong>de</strong> vom Schreibenund mirlege mich hin und <strong>de</strong>nke -ich könnte mich versteckenda sieht mich keiner mehrich könnte <strong>de</strong>n Wind hören<strong>de</strong>r nichts von mir willkönnte eine Muschel wer<strong>de</strong>nin <strong>de</strong>m großen Rad <strong>de</strong>r Weltohne was zu seinvielleicht eine kleine Schraubekönnte ja ... Alle Tore sind offenaußer einem durch das ich gera<strong>de</strong> willdurch das ich gera<strong>de</strong> willohne an Kafka zu <strong>de</strong>nken 5Mitten in <strong>de</strong>n freien Rhythmen dieses Ban<strong>de</strong>s steht einfünfstrophiges Reimgedicht, Der Krieg ist grausam, <strong>de</strong>ssen Ton <strong>de</strong>rUnmittelbarkeit und nüchternen Unerbittlichkeit umso betroffener macht,als sich dieser Dichter <strong>de</strong>r schweben<strong>de</strong>n Sprachausbuchtungen hier an <strong>de</strong>nReim bin<strong>de</strong>t:Töte nicht ich, so tötest du,Pardon wird nicht gegeben!Ich weiß, du liebst die dörfliche Ruh,du liebst wie ich das LebenDoch töte nicht ich, so tötest du,Pardon wird nicht gegeben!Deckt dich die kalte Er<strong>de</strong> zu,vielleicht bleib ich am Leben5 Die zitierten Verse sind <strong>de</strong>n Bän<strong>de</strong>n entnommen, die im Literaturverzeichnis angeführtsind.91


Ich weiß, es hat gar keinen Sinn,im Frie<strong>de</strong>n wären wir Brü<strong>de</strong>r.Ich zöge vielleicht zu <strong>de</strong>n Deinen hin,doch jetzt knall ich dich nie<strong>de</strong>r!Zum Denken habe ich keine Zeit,es sind nur alte Scherben.Das Heim ist so unendlich weit,leb ich, so musst du sterben!Ich töte nicht in wil<strong>de</strong>m Hass,doch schieß ich nicht daneben –<strong>de</strong>ckt dich die kalte Er<strong>de</strong> zu,vielleicht bleib ich am LebenFällt schon beim Vergleich <strong>de</strong>r Gedichte dieses Ban<strong>de</strong>s von 2006 mitjenen <strong>de</strong>s Unruhe-Ban<strong>de</strong>s von 1997 <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>l in <strong>de</strong>r gedanklichenOrientierung und in <strong>de</strong>r Tonlage auf, so erst recht mit <strong>de</strong>n Gedichten <strong>de</strong>sBan<strong>de</strong>s Im Lichte <strong>de</strong>r langen Nacht von 2008. Die Blickrichtung wirdkontinuierlich introvertierter. Die in ihrer Handschrift unverkennbarenWinkler-Bil<strong>de</strong>r sind zwar immer noch die Lichter in versponnensucherischen Gedichtphilosophien, doch drängen diese in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund.„Und er ein Empfangen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r/ sich entsagte,/ eine Weile noch/ blieb/ unddann sich erkannte –/ ein Anwesen<strong>de</strong>r, doch-schon-abwesend/ in diesembedingten/ Abschnitt <strong>de</strong>r Welt“, lautet in diesem Sinne die letzte Strophe <strong>de</strong>sGedichtes Das Geschenk. Nicht an<strong>de</strong>rs im Gedicht mit Schumann: „Du lässtdich tragen wie vom Schall <strong>de</strong>r Schmerzen/ <strong>de</strong>r einen seiner Schritteverloren hat/mit Flügeln eines unbekannten Reigens,/ <strong>de</strong>n Gräbern zu, dufühlst wie Schumann kaum/ <strong>de</strong>n Wahn, <strong>de</strong>r ihn ergriffen, besiegen wird,/ dufühlst sein Nachtwer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Lichtern <strong>de</strong>r Musik ...“. Und ebenso dieEingangszeilen <strong>de</strong>s Gedichtes In einem Satz: „Ich habe Musik gehört/undwar allein mit <strong>de</strong>n Zeugen <strong>de</strong>r Vergangenheit/ <strong>de</strong>r Wind lag in <strong>de</strong>m Baum/und sonst war niemand da/ Im Radio hörte ich/ Mussorgskys BorisGodunow/ Ich wusste nicht warum/ ich wähnte mich weit von mir/ als wäreich nicht ich/ <strong>de</strong>r Verse schreibt und noch schreiben wird.“ Wohl erhieltensich die Winkler-Bil<strong>de</strong>r von unübersehbarer Schönheit: „Ihr Lachenverbreitete sich/ wie ein Feuer durch die Büsche <strong>de</strong>r Nacht“ (Und dann hatsie gelacht), „Wie alte Raben/ krächzen die Kiefern im Wald“ (Wir sitzenda), „Der Wind stieg über die Mauern/ in langen Schärpen“ (Ein Bild), aberdie Wen<strong>de</strong> „fort von <strong>de</strong>n äußeren Erscheinungen <strong>de</strong>r Welt“ ist92


unübersehbar. Um mein Urteil gebeten, schrieb ich Winkler am 29.September 2008 unter an<strong>de</strong>rem:Entschei<strong>de</strong>nd im Unterschied zu bisherigen Gedichten erscheint mir jedoch dasleitmotivisch präsente Moment <strong>de</strong>r Selbstbeobachtung und -betrachtung. So lesensich diese Gedichte <strong>de</strong>nn auch wie Monologe eines Menschen, <strong>de</strong>r, gelegentlichvon Anflügen existenzialistischer Melancholie, wenn nicht gar Resignationheimgesucht, souverän außerhalb seiner selbst steht“ (Winkler/Bergel 2012: 255-257).Gehörte bereits die Wandlungsfähigkeit <strong>de</strong>s im Jahr 2008Sechsundachtzigjährigen in <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>s Außeror<strong>de</strong>ntlichen, so nochviel mehr ihre Fortsetzung in <strong>de</strong>r nächsten Phase: Die 2010 unter <strong>de</strong>m TitelWar es unser Schatten erschienenen Gedichte <strong>de</strong>s Achtundachtzigjährigenführen die Entwicklung weiter. Die bewusstere Konzentration auf dieSubstanz <strong>de</strong>r Absicht und <strong>de</strong>r Wille <strong>zur</strong> Zurücknahme je<strong>de</strong>s auch nuran<strong>de</strong>utungsweise ablenken<strong>de</strong>n Schlenkers führen Winkler zu einem Gedicht,das sich <strong>de</strong>m Leser knapper, schlanker und gleichsam griffiger darstellt alsdie Gedichte <strong>de</strong>r bisherigen Bän<strong>de</strong>. Die Verse wer<strong>de</strong>n transparent im Sinne<strong>de</strong>r Goetheschen For<strong>de</strong>rung „... nur ein Hauch sei <strong>de</strong>in Gedicht“, dasAusdrucksinstrumentarium wird durchwegs genau erwogen; „Gedichteschreiben/ bis zum letzten Atemzug/ und verweilen im Gedicht/ solange <strong>de</strong>rWald noch spricht/ und die Wolken eilen ...“ (Gedichte schreiben), könnteals Motto über <strong>de</strong>n 108 Gedichten dieses Ban<strong>de</strong>s stehen – eine lyrischeFormel, an <strong>de</strong>r kein Wort zu viel, keines zu wenig ist; diese Sprachhaltungbestimmt <strong>de</strong>n ganzen Band. Dabei glücken Winkler Kostbarkeiten wie dasseiner neunzigjährigen Frau gewidmete Und bin wach: „Sie isteingeschlafen in die Nacht/sie weiß von nichts/ ich liebe ihren Schlaf/ ineinem Liegestuhl/ stelle Ahnungsvolles vor mir auf/ Fragen <strong>de</strong>ren Antwortich nicht kenne [...] Ich halte ihre Hand und lasse/ meine Gefühle walten/seltsames Rückgehen <strong>de</strong>r Zeit [...] Ihr Gesicht ist wie die mondlose Nacht/über einem unversehrten Dornbusch/ aus <strong>de</strong>m Gott gesprochen hat einst/und Moses sein Antlitz barg/ vor <strong>de</strong>r großen Ahnung …“Es ist nicht allein die bruchlose Stetigkeit in <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>rlyrischen Ausdruckskultur eines selbst vom Alter auf keine Erstarrung in <strong>de</strong>rStereotype festlegbaren Hochbetagten, <strong>de</strong>r sich trotz <strong>de</strong>r neunLebensjahrzehnte als wandlungsfähig erweist, das Phänomen diesesDichters kennt eine zweite Koordinate: Manfred Winkler schmilzt in seine<strong>de</strong>utschen Gedichte, unbewusst, sein Hebräertum ein. Der Geist biblischerWeltweisheit wird im <strong>de</strong>utschen Text ebenso erkennbar wie <strong>de</strong>r jüdische93


Esprit in <strong>de</strong>ren Logik, alttestamentliches Daseinsgefühl ebenso wie die <strong>zur</strong>Philosophie verfeinerte und gefilterte Atmosphäre ostjüdischenChassidismus, verlagert durch ein <strong>de</strong>m Poetischen verhaftetes Temperamentnicht allein dort, wo es von Jehuda Halevi, Esther, Hiob, Kain und Abel,von <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn Jerusalems, Moses und <strong>de</strong>m Messias spricht. Umgekehrtführt die Gestaltung seiner Themen in <strong>de</strong>utscher Sprache eine Brechung <strong>de</strong>rgenuinen hebräisch-jüdischen Gedanken- und Gefühlslage herbei, <strong>de</strong>renErgebnis <strong>de</strong>n Ton <strong>de</strong>s gesamten Werks dieses Autors ausmacht: DasIneinan<strong>de</strong>rgreifen und die wechselseitige Durchdringung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>nGeistestraditionen zu einer neuen Einheit macht das Spezifische und dieFaszination <strong>de</strong>s Winkler-Gedichtes aus.Vollen<strong>de</strong>ten Ausdruck fin<strong>de</strong>t diese Symbiose in <strong>de</strong>n bestenGedichten <strong>de</strong>r letzten Etappe; sie sind noch unveröffentlicht und m. E. einMirakel: Ein Neunzigjähriger legt Zeugnis ab seiner immer noch nicht zumStillstand gekommenen Wandlungsfähigkeit. Die Position distanzierterSelbstbeobachtung erscheint in ihnen zum ästhetischen Axiom erhoben.„Mein Gesicht im Spiegel/ frem<strong>de</strong>t mich an/ aus nächster Nähe/ ich binnicht <strong>de</strong>r,/ <strong>de</strong>r mir entgegen blickt/ ich bin ein an<strong>de</strong>rer [...] Spuren vielgeweinter/ und ungeweinter Tränen/ <strong>de</strong>r nächtlichen Schluchten/ die sich ineinem Meer verstan<strong>de</strong>nen/ und unverstan<strong>de</strong>nen Leids verlieren ...“ (MeinGesicht) „Du bist schon außerhalb <strong>de</strong>r Zeit/ in einem Boot,/ man sprichtvom Tod irgendwo/ wo die Zelte <strong>de</strong>s Vergessens das Herz be<strong>de</strong>cken ...“(O<strong>de</strong>r zu tief im Innern).Mit <strong>de</strong>m Blick nach innen erwacht zugleich die Vergangenheit, Geistund Gestalten früher Lebensprägungen – die Eltern. „Es gibt Vergangenheitdie vergeht/ und Vergangenheit die gegenwärtiger/ ist als die Gegenwart“,lautet dazu ein Dreizeiler ohne Titel. Dann ist plötzlich das Bild <strong>de</strong>s Vatersda: „Mein Vater <strong>de</strong>r ein bekannter Rechtsanwalt war/ ist nicht alt gewor<strong>de</strong>n,er/ steht vor mir/ als wäre er nicht/ mein Vater <strong>de</strong>r ein bekannterRechtsanwalt war [...] Mein Vater <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Kasachischen Hungersteppe1942/ in <strong>de</strong>r sowjetischen Verbannung/ Selbstmord begangen hat/ und ich<strong>de</strong>r damals 20 Jahre alt war –/ fern in einer an<strong>de</strong>ren.“ (Aufgewacht undaufgedunkelt im Stun<strong>de</strong>nbuch) Das Bild <strong>de</strong>s Bru<strong>de</strong>rs: „... Es war in einemLager/in <strong>de</strong>r Steppe <strong>de</strong>r Ukraine/ und <strong>de</strong>r Krieg tobte/ und es war im Lagervon Workuta/ am Nordpol bei meinem Bru<strong>de</strong>r.“ (Ohne Titel.) Und das Bild<strong>de</strong>r Mutter: „Die Augen meiner Mutter/ hinter <strong>de</strong>r Brille/ schauen vonmeinem Schreibtisch/ auf mich und von mir weg [...] Die Augen meinerMutter/ sehen mich/ und doch weiß ich es nicht, <strong>de</strong>nn/ außer <strong>de</strong>r Musik undihr/ ist alles viel zu klar.“ (Ich schreibe Gedichte). Zur Erklärung: Mit94


Datum vom 27. August 1997 schrieb mir Winkler: „... Im unseligen JahreJuni 1940 bis Juni l941, das ‚Russenjahr‘ genannt, wur<strong>de</strong>n meine Eltern undmein Bru<strong>de</strong>r mit Ehefrau in <strong>de</strong>r Nacht <strong>de</strong>s 10. Juni im Rahmen einerriesigen Aktion <strong>de</strong>r Sowjets, die die ganze Nordbukowina erfasste,ausgehoben [...] Ich entkam dieser Aktion, [...] weil ich nicht da war“(Winkler/Bergel 2012: 95). Winkler sah we<strong>de</strong>r Mutter noch Vater je wie<strong>de</strong>r,<strong>de</strong>n Bru<strong>de</strong>r erst nach langen Jahren.Die Absicht dieser bisher letzten Gedichte liegt in einer äußerstenReduzierung auf <strong>de</strong>n Aussagekern – niemals freilich auf Kosten <strong>de</strong>sSprachmelos – und lässt sie fast durchgehend nahe <strong>de</strong>r Nüchternheitberichten<strong>de</strong>r Mitteilung vermuten. Der Eindruck täuscht. Denn wer sich <strong>de</strong>nfein abgestuften Vibrationen ihrer Aussage, <strong>de</strong>n nur scheinbaren Paradoxaund <strong>de</strong>n ange<strong>de</strong>uteten Metaphern überlässt, wird ein lyrischer Universum<strong>de</strong>r verinnerlichten Überhöhungen kennenlernen, das – im Zeichen <strong>de</strong>s obenGesagten – seinesgleichen in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gegenwartslyrik nicht hat. Sowie z. B. im Gedicht Pastorales mit Nachgedanken – einem Hymnus auf dieRückkehr zu <strong>de</strong>n Quellen einschließlich <strong>de</strong>r Schatten, die auf <strong>de</strong>nbeschrittenen Wegen lagen:Sich<strong>zur</strong>ückträumenins Land <strong>de</strong>r Flüsseund Wal<strong>de</strong>rdbeeren <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rliebehinter Büschen und zwischenErinnerungen an Waldlichtungenund Heubö<strong>de</strong>n als Versteck-für-kleine Spiele<strong>de</strong>n kleinen Kapellen <strong>de</strong>r Karpatenmit Christus- und Madonnenbil<strong>de</strong>rn, sich<strong>zur</strong>ückträumen als wärein <strong>de</strong>n Jahren 1939-1945nichts Unwi<strong>de</strong>rrufliches geschehenals wür<strong>de</strong> alles wie<strong>de</strong>r möglich sein,an<strong>de</strong>rs als es war, doch nicht ganz –Kuhglocken von nah und fernbegleitet von <strong>de</strong>r Hirtenflöteertönen noch wie vor vielen-tausend Jahrenauch blinken die Sterne wie ehNichts ist unwi<strong>de</strong>rruflich, alles kann noch geschehen wie ehan<strong>de</strong>rs als es war, doch nicht ganz ...95


LiteraturBergel, Hans (2012): Hinter <strong>de</strong>n Kulissen <strong>de</strong>s Schreibens. Zur Genesis <strong>de</strong>sRomans „Die Wie<strong>de</strong>rkehr <strong>de</strong>r Wölfe“. In: Ders.: Das Spiel und dasChaos. Essays, Berlin: Noack & Block, 45-51.Bergel, Hans (2002): Bukowiner Spuren. Von Dichtern und bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>nKünstlern, Aachen: Rimbaud.Die Buche. Eine Anthologie <strong>de</strong>utschsprachiger Ju<strong>de</strong>ndichtung aus <strong>de</strong>rBukowina. Zusammengestellt von Alfred Margul-Sperber. Aus <strong>de</strong>mNachlass herausgegeben von George Guţu, Peter Motzan und StefanSienerth, München: IKGS, 2009.Kürschners Deutscher Literaturkalen<strong>de</strong>r 2012/2013, 68. Jg., Bd. 2, 1180,Berlin: <strong>de</strong> Gruyter.Shoham, Chaim/ Witte, Bernd (Hrsg.) (1987): Akten <strong>de</strong>s InternationalenPaul Celan-Colloquiums Haifa 1986 [Jahrbuch für InternationaleGermanistik, Reihe A – Kongressberichte, Bd. 21], Bern: Lang, 49-59.Winkler, Manfred (1997): Unruhe. Gedichte. Mit einem Nachwort vonHans Bergel, München: Südost<strong>de</strong>utsches Kulturwerk.Winkler, Manfred (2006): Im Schatten <strong>de</strong>s Skorpions. Gedichte. Miteinem Nachwort von Hans Bergel, Aachen: Rimbaud.Winkler, Manfred (2008): Im Lichte <strong>de</strong>r langen Nacht, Aachen: Rimbaud.Winkler, Manfred (2010): Gedichte. Mit einem Nachwort von Hans Bergel,Aachen: Rimbaud.Winkler, Manfred/Hans Bergel (2012): „Wir setzen das Gespräch fort …“Briefwechsel eines Ju<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r Bukowina mit einem Deutschenaus Siebenbürgen, Brief 23, Berlin: Frank & Timme, 79.Wahl, Dorothea (2004): Deutschsprachige Dichter und Dichterinnen inIsrael, Frankfurt/ Main: Beerenverlag.96


Bianca Andrea BarbuTemeswarDie Sammlung <strong>de</strong>r Banater Märchen und Sagenim Kontext <strong>de</strong>r Europäischen Ethnologie und <strong>de</strong>sMultikulturalismusAbstract: The folklore of the Germans on the present territory of Romania has <strong>de</strong>velopedun<strong>de</strong>r very different circumstances and influences, which can also be seen in the activity ofthe collectors. This paper <strong>de</strong>als especially with the folktales from the Banat region and thehistory of their collection, from the perspectives of European Ethnology, InterculturalStudies and Cultural Memory.Although the science of Ethnology (“Volkskun<strong>de</strong>”) regarding German folklore in Europehas been misused during the Nazi Regime, many collectors have worked according toprinciples still recommen<strong>de</strong>d by mo<strong>de</strong>rn European Ethnology. When it comes to the Banatregion, the multicultural environment favoured the creation of original folktales,particularly in the mountain area. Following Jan and Aleida Assman’s theories of culturalmemory, the paper aims to illustrate how these folktales, han<strong>de</strong>d down by oral tradition,have formed the collective memory and thus contributed to the cultural i<strong>de</strong>ntity of thisregion’s inhabitants, most notably during the Ottoman wars, when the different ethnicgroups regar<strong>de</strong>d themselves as a community of Christians against the foreign inva<strong>de</strong>rs.Keywords: European Ethnology, Collective Memory and Cultural I<strong>de</strong>ntity, Interculturalliterature, Multiculturalism, Banat region, German minority in Romania, folktalesDas Volksgut <strong>de</strong>r Deutschen und an<strong>de</strong>ren Deutschsprachigen auf <strong>de</strong>mheutigen Gebiet Rumäniens entwickelte sich unter sehr unterschiedlichenBedingungen und Einflüssen, was sich auch auf die Sammeltätigkeitenauswirkte. Hier wird im Beson<strong>de</strong>ren auf die volkstümlichen Erzählungen<strong>de</strong>s Banats (<strong>de</strong>s Banater Berglands) eingegangen, wobei unterschiedlichePerspektiven und Forschungsansätze beleuchtet wer<strong>de</strong>n: Volkskun<strong>de</strong>/Europäische Ethnologie, interkulturelle Literaturwissenschaft, Gedächtnistheorie.11 Der vorliegen<strong>de</strong> Beitrag ist ein bearbeiteter Auszug meiner Magisterarbeit, die ich 2011unter <strong>de</strong>m Titel Die Begegnung mit <strong>de</strong>m Frem<strong>de</strong>n. Sagen und Märchen aus <strong>de</strong>mBanater Bergland in <strong>de</strong>r Türkenzeit an <strong>de</strong>r West-Universität Temeswar verteidigt habe.97


Aufgaben und Schwierigkeiten <strong>de</strong>r Europäischen EthnologieDie Volkskun<strong>de</strong> ist als „Viele-Namen-Fach“ bekannt. So wird dieseWissenschaft auch als Europäische Ethnologie, Kulturanthropologie,Empirische Kulturwissenschaft u. a. verstan<strong>de</strong>n, im Unterschied zuVölkerkun<strong>de</strong> (auf „exotischere” Völker bezogen). Aber obwohl „das durch<strong>de</strong>n Nationalsozialismus mißbrauchte Fach“ aus Fehlern gelernt habe und„einen beeindrucken<strong>de</strong>n Forschungshorizont“ zeige, ist es durch die Vielfalt<strong>de</strong>r Forschungsrichtungen immer noch problematisch, ein einheitlichesvolkskundliches Metho<strong>de</strong>nspektrum abzugrenzen: „Der Diversifikation <strong>de</strong>rGegenstän<strong>de</strong> und Wissenschaftsmo<strong>de</strong>lle entspricht <strong>de</strong>r Pluralismus <strong>de</strong>rMetho<strong>de</strong>n.“ 2Bernhard Wal<strong>de</strong>nfels versucht eine Definition <strong>de</strong>r Ethnologie imAllgemeinen: Diese biete sich „am ehesten als Wissenschaft vom Frem<strong>de</strong>n,genauer gesagt: <strong>de</strong>s kulturell Frem<strong>de</strong>n an“ (Wal<strong>de</strong>nfels 1999: 97). Aucherwähnt er in Anlehnung an <strong>de</strong>n französischen Ethnologen Marc Augé, dasses zwei Arten <strong>de</strong>r Ethnologie gebe: „eine »Auto-ethnologie«, die <strong>de</strong>nAn<strong>de</strong>ren bei uns, und eine »Allo-ethnologie«, die <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren bei <strong>de</strong>nAn<strong>de</strong>ren untersucht. Mit Husserl könnte man von einer Ethnologie <strong>de</strong>rHeimwelt und <strong>de</strong>r Fremdwelt sprechen“ (Wal<strong>de</strong>nfels 1999: 99).Das Institut für Volkskun<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Universität Rostock <strong>de</strong>finiert dieAufgaben <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong> folgen<strong>de</strong>rmaßen:98Aufgabe <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong> ist die Erforschung kultureller Traditionen und <strong>de</strong>renWandlungen bis in die Gegenwart. Bis <strong>zur</strong> ersten Hälfte <strong>de</strong>s 20. Jh. herrschte dielandschaftliche Sammlung und Erforschung kanonisierter Bereiche(Volkserzählungen, Bräuche, Volksglaube, Handwerk, Haus- und Hof,Arbeitsgerät etc.) vor. Mündlichkeit und Überlieferung waren wesentlicheAufnahmekriterien. Heute versteht sich das Fach als mo<strong>de</strong>rne, <strong>de</strong>n Alltagfokussieren<strong>de</strong> Kulturwissenschaft, die z.B. auch die Medien als populäre Erzähler,<strong>de</strong>n Tourismus o<strong>de</strong>r Fragen <strong>de</strong>r Migration thematisiert. Methodisch zentral ist dieFeldforschung (Ethnografie). 3Seit <strong>de</strong>n 1960er Jahren macht sich eine Neuorientierung <strong>de</strong>rVolkskun<strong>de</strong> bemerkbar, und zwar von <strong>de</strong>r „traditionsbelasteten2 Höfig, Willi: Rezension zu Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong>: Positionen, Quellen, Arbeitsweisen<strong>de</strong>r Europäischen Ethnologie/ Silke Göttsch und Albrecht Lehmann (Hrsg.),Berlin: Reimer, 2001. Abrufbar über das Bibliotheksservice-Zentrum Ba<strong>de</strong>n-Württemberg,URL: http://swbplus.bsz-bw.<strong>de</strong>/bsz090808711rez.htm [30.06.2013].3 URL: http://www.volkskun<strong>de</strong>.uni-rostock.<strong>de</strong>/ [22.06.2013].!


Altertumswissenschaft <strong>zur</strong> kritischen Kulturanalyse und empirischenErforschung <strong>de</strong>s Alltagslebens” – die Volkskun<strong>de</strong> wer<strong>de</strong> zwar oft mit <strong>de</strong>rSozialwissenschaft verglichen, für sie seien jedoch „weichere Metho<strong>de</strong>n” zubevorzugen (Brednich 1994: 75). Das hat zu be<strong>de</strong>uten, dass die Volkskun<strong>de</strong>in Bezug auf ihre Forschungsobjekte teilnehmen<strong>de</strong>r und damit lebensnäherist bzw. sein sollte. Laut H. Bausinger erlaube das <strong>de</strong>m Forscher, „dasForschungsinteresse und das Interesse <strong>de</strong>r Erforschten so weit wie möglicheinan<strong>de</strong>r anzunähern” (zit. nach Brednich 1994: 75). QualitativeVorgehensweisen wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong> positiver betrachtet alsquantitative, da das Ziel <strong>de</strong>r Forschungstätigkeit ist, eine „humaneWissenschaft” zu begrün<strong>de</strong>n, bei welcher Forscher und Erforschterinteragieren (vgl. Brednich 1994: 75).Heute wird die möglichst authentische Aufzeichnung vonÜberlieferungen verlangt, dabei sollen auch Biografie <strong>de</strong>s Erzählers, <strong>de</strong>rKontext, die Performanz und Funktion <strong>de</strong>r Traditionen berücksichtigtwer<strong>de</strong>n. Man bemerkt eine „Hinwendung vom Objekt zum Subjekt, vomText <strong>zur</strong> Performanz“, da die Erzählforschung „ebenso das Erzählte wie dasErzählen“ selbst untersucht (Röhrich 1994: 428). Wenn man früher z. B. amAlter und Herkunftsort eines Märchens interessiert war, so ist nun dieProblematik <strong>de</strong>r Authentizität <strong>de</strong>r Märchen und Sagen aufschlussreicher.Folklore ließe sich nicht nur auf mündliche Überlieferung beschränken, esgäbe sowohl die „Literarisierung von Folklore“ als auch „die (Re)Oralisierung von Literatur“ (Röhrich 1994: 424). So können verschie<strong>de</strong>neGeschichten und Themen z. B. aus Exempeln, Schul- und Volksbüchern,Kalen<strong>de</strong>rgeschichten, Tageszeitungen übernommen und dann als Sagen undSchwänke vermündlicht wer<strong>de</strong>n – man spricht dann von Folklore als„gesunkenem Kulturgut“. Wenn ein literarischer Text aber in dieMündlichkeit übernommen wird, macht er einen „Folklorisierungsprozess“durch, er wird <strong>de</strong>m kollektiven Geschmack angepasst. Röhrich spricht dahervon <strong>de</strong>r „Produktionstheorie“ als Entstehung von Folklore im Volk selbst,und von <strong>de</strong>r „Reproduktionstheorie“. Während in <strong>de</strong>r Literatur nur <strong>de</strong>reinmalige, fixierte dichterische Text zählt, ist für die mündlicheÜberlieferung die Variabilität kennzeichnend. Röhrich leitet daher einigeFragestellungen ab:Wo liegen die Vermittlungsstellen zwischen schriftlicher und oraler Kultur? Wassind die Grün<strong>de</strong> für die Traditionsfestigkeit über die Jahrhun<strong>de</strong>rte hinweg? Aberauch: Welcher Selektionsprozeß wird wird jeweils in Gang gesetzt? Wieassimiliert mündliche Überlieferung literarische Stoffe entsprechend <strong>de</strong>m99


verän<strong>de</strong>rten sozialen Milieu <strong>de</strong>r Träger? Wie stabil, wie verläßlich ist diemündliche Tradition? (Röhrich 1994: 425)Es leuchtet aber ein, dass die Menschen nicht alle literarischenErzählstoffe, mit <strong>de</strong>nen sie in Kontakt kamen, auch gleich mündlichnacherzählten. Bewahrt wur<strong>de</strong> nur das, was gefiel, und wenn es dann imDialekt wie<strong>de</strong>rgegeben wur<strong>de</strong>, stellte es sowieso eine mündliche kreativeLeistung dar. Für die Volkskun<strong>de</strong> sind von Interesse die mehr o<strong>de</strong>r wenigerbewussten Kriterien, nach welchen einige Themen übernommen wer<strong>de</strong>nund an<strong>de</strong>re nicht. Es stellt sich also die Frage nach <strong>de</strong>n Quellen <strong>de</strong>rGewährsleute, also „nach <strong>de</strong>m Wechselverhältnis mündlicher,halbliterarischer und schriftlicher Tradition“ (Röhrich 1994: 426).Von „Assimilation“ zu „Transkulturation“Annemie Schenk beschreibt in ihrem Beitrag <strong>zur</strong> volkskundlichenFachrichtung <strong>de</strong>r interethnischen Forschung, dass Volkskun<strong>de</strong> auch Fehlermachen kann, und bezieht sich dabei v.a. auf die Perio<strong>de</strong> vor und während<strong>de</strong>s Nationalsozialismus (Schenk 1994: 335-352). Dabei geht sie mit <strong>de</strong>nMitteln <strong>de</strong>r Hermeneutik an das Thema heran.In Mittel- und Südosteuropa gestaltete sich die Lage schwieriger alsin an<strong>de</strong>ren Teilen <strong>de</strong>s Kontinents. In einigen Staaten Westeuropas wur<strong>de</strong>eine „relative nationale Einheit“ durch „kulturelle Angleichungsprozesse“zustan<strong>de</strong> gebracht (Schenk 1994: 335). In Südosteuropa konnten Staats- undSprachgrenzen nicht <strong>zur</strong> Deckung gebracht wer<strong>de</strong>n. Auch die <strong>de</strong>utscheMin<strong>de</strong>rheit in Rumänien sah sich nach <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg als ethnischeMin<strong>de</strong>rheit in einem neu gegrün<strong>de</strong>ten Nationalstaat, wo sie bis dahin anübernationale Herrschaftsstrukturen gewohnt war. Der neue Status <strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen Gruppen zwang sie, sich zu organisieren, ihre Rechtewahrzunehmen – so wur<strong>de</strong>n die Kontakte zwischen Banater Schwaben undSiebenbürger Sachsen vertieft, aber auch die zu Deutschland. Man begannsich jedoch wegen <strong>de</strong>r als überlegen gepriesenen <strong>de</strong>utschen Kultur in einerfrem<strong>de</strong>n Umwelt zu fühlen. Die Hinwendung zu Deutschland wür<strong>de</strong> sich fürdie <strong>de</strong>utschsprachigen Ethnien in ihren Län<strong>de</strong>rn als nachteilig erweisen,<strong>de</strong>nn sie wur<strong>de</strong>n in die Isolation geführt.In Deutschland machte sich das Erwachen <strong>de</strong>s historischenBewusstseins bemerkbar, in <strong>de</strong>n Sammlungen von Volksüberlieferungenbezog man auch die Deutschen in an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn mit ein. Diese hattenteilweise mehr traditionelles Volksgut erhalten, da sie nicht so von <strong>de</strong>r100


Industrialisierung geprägt wor<strong>de</strong>n waren. Die Volkskun<strong>de</strong> in Deutschlandsah diese ethnischen Gruppen als Min<strong>de</strong>rheiten an, die <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Nationzuzuordnen waren. Eigentlich waren es ethnische Gruppen, „die in ihrerjeweils spezifischen Situation eine eigene I<strong>de</strong>ntität ausgebil<strong>de</strong>t hatten“(Schenk 1994: 337).Bei <strong>de</strong>n Min<strong>de</strong>rheiten merkte man auch <strong>de</strong>n Einfluss <strong>de</strong>rNachbarvölker in <strong>de</strong>n Überlieferungen von Märchen, Bräuchen, Lie<strong>de</strong>rn.Adolf Hauffen vermerkte 1895, dass Volkskun<strong>de</strong> die Nationalität erhaltenmüsse, aber auch dass die Volkskultur <strong>de</strong>s „Gastlan<strong>de</strong>s“ berücksichtigtwer<strong>de</strong>n sollte. Alexan<strong>de</strong>r von Helfert sprach von „volksnachbarlicherWechselseitigkeit“, die in „Wechselbeziehungen in Sitten und Gebräuchen,Sagen und Lied von Volk zu Volk“ zum Ausdruck kam, „beson<strong>de</strong>rs wo dieunmittelbare Nachbarschaft ein sehr begreifliches Bin<strong>de</strong>glied abgibt“ (zit.nach Schenk 1994: 338). Annemie Schenk kritisiert dagegen dievolkskundliche Sprachinselforschung <strong>zur</strong> Zeit <strong>de</strong>s Nationalsozialismus.Damals betrieb man die Erforschung <strong>de</strong>utscher Min<strong>de</strong>rheitengruppen mitnationalistischer Ten<strong>de</strong>nz – die Sprachinseln wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Isolationdargestellt, getrennt vom eigenen Volk, aber auch isoliert von <strong>de</strong>r„fremdvölkischen Umwelt“ (durch ihre Überlegenheit als Deutsche). Manvertrat die I<strong>de</strong>e, dass das mitgebrachte Kulturgut unverän<strong>de</strong>rt weiterüberliefert wor<strong>de</strong>n war. Beziehungen zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Völkern wur<strong>de</strong>nnegativ bewertet. Dabei waren diese Gebiete immer Zonen <strong>de</strong>s Kontaktsund <strong>de</strong>s kulturellen Austausches auf vielen Ebenen:Im Zusammenleben mit an<strong>de</strong>ren Völkerschaften in ihren neuen Siedlungsräumenhatten die Nachkommen <strong>de</strong>r einstmals Ausgewan<strong>de</strong>rten eine eigene I<strong>de</strong>ntitätentwickelt, wie sie sich nur im Spannungsfeld von Landschaften mit ethnischgemischter Bevölkerung entfalten konnte (Schenk 1994: 340-341).Bei <strong>de</strong>r interethnischen Forschung müsste zuerst das Konzept <strong>de</strong>r„ethnischen I<strong>de</strong>ntität“ <strong>de</strong>finiert wer<strong>de</strong>n. Die Frage nach <strong>de</strong>m „Wesen einerEthnie“ ließe sich jedoch natürlich nicht leicht beantworten (Schenk 1994:342). Ausschlaggebend sei, in welcher Weise sich die Mitglie<strong>de</strong>r einerGruppe mit dieser i<strong>de</strong>ntifizieren, dann die Selbstabgrenzung von an<strong>de</strong>renGruppen und das Bewusstsein einer ethnisch-kulturellen I<strong>de</strong>ntität. Eineethnische Gruppe stelle aber kein erstarrtes System dar, son<strong>de</strong>rn setze„dynamische Kräfte“ ein, um sich an die Rahmenbedingungen <strong>de</strong>rGesamtgesellschaft anzupassen (Schenk 1994: 342). Soziale Interaktionenzwischen und innerhalb ethnischer Gruppen hängen mit <strong>de</strong>rGesellschaftsstruktur zusammen, die sich aber in einem ständigen Wan<strong>de</strong>l101


efin<strong>de</strong>t. Die Forscher müssten diese Gruppen daher in ihrer Typik für einebestimmte historische Situation erkennen.Interethnische Forschung hat das Ziel, das „Interaktionssystemzwischen verschie<strong>de</strong>nen ethnischen Einheiten“ aufzuklären (Schenk 1994:344). Die spezifische Beschaffenheit einer ethnischen Individualität wir<strong>de</strong>rst durch <strong>de</strong>n Vergleich mit <strong>de</strong>n fremdkulturellen Phänomenen erkennbar,die sie umgeben. Aber laut Annemie Schenk müsse sich ein Forscherbewusst sein, „daß die vergleichen<strong>de</strong> Metho<strong>de</strong> als ein kulturwissenschaftlichesInterpretationsverfahren anzusehen ist“, also nicht objektiverklären, son<strong>de</strong>rn nur <strong>de</strong>n Rahmen angeben kann (Schenk 1994: 344).Im nächsten Teil ihrer Arbeit macht die Autorin darauf aufmerksam,dass Anpassung nicht mit Assimilation gleichzusetzen ist, son<strong>de</strong>rn eherdurch <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r „Akkulturation“ beschrieben wer<strong>de</strong>n kann. DieFähigkeit <strong>zur</strong> Akkulturation sichere die Existenz <strong>de</strong>r ethnischen Gruppe.Dabei hätten die Niveau-Unterschie<strong>de</strong>, auf <strong>de</strong>nen sich die Gruppenbegegnen, einen großen Einfluss auf ihr Zusammenleben. Daher sollte manzuerst Daten über die soziale und wirtschaftliche Lage <strong>de</strong>r Vertreterverschie<strong>de</strong>ner Ethnien erheben, um <strong>de</strong>n Bezugsrahmen festzulegen, in <strong>de</strong>nman die Kulturgüter stellt. Erst dann könnten diese vergleichendinterpretiert wer<strong>de</strong>n, um interethnische Beziehungen zu analysieren (vgl.Schenk 1994: 344-345). Der interethnische Ansatz könne zu vielenAufschlüssen führen, was die Erforschung <strong>de</strong>r Lebenswirklichkeitethnischer Gruppen betrifft. Der Forscher müsse die Wege aufspüren, auf<strong>de</strong>nen sich die Wechselbeziehungen vollzogen haben, und die kulturellePrägung einer Gruppe unter ihren vielseitigen Aspekten zu untersuchen, umso einen Beitrag zu einem wissenschaftlichen Verständnis eigener undfrem<strong>de</strong>r Kultur zu leisten (vgl. Schenk 1994: 351).Man erkennt, dass bei A. Schenk wie bei B. Wal<strong>de</strong>nfels dieSelbstkonstitution einer Gruppe durch Frem<strong>de</strong>rfahrung stattfin<strong>de</strong>t. Sieunterstreicht auch <strong>de</strong>n „ständigen Wan<strong>de</strong>l“, <strong>de</strong>m eine Ethnie unterworfen istund betrachtet es als „Aufgabe <strong>de</strong>s Forschers“, diese Ethnie lediglich „inihrer Typik für eine bestimmte historische Situation zu erkennen“ (Schenk1994: 343). An<strong>de</strong>rerseits wer<strong>de</strong>n bei Schenk Konzepte wie Ethnie undKultur nur unscharf voneinan<strong>de</strong>r getrennt, teilweise auch gleichgesetzt: „Soist ethnisches Selbstverständnis auch stets kulturelles Selbstverständnis“(Schenk 1994: 343). Nun stellt sich die Frage, inwieweit die Begriffe„interethnische Forschung“ und „interkulturelle Forschung“ im Bereich <strong>de</strong>rEthnologie ersetzbar sind, so wie „Ethnologie“ selbst mit„Kulturanthropologie“ ersetzbar ist. Rund um <strong>de</strong>n Kulturbegriff gibt es102


ekanntlich zahlreiche Diskussionen. In seinem Artikel „Transkulturalität.Zur verän<strong>de</strong>rten Verfaßtheit heutiger Kulturen“ betrachtet Wolfgang WelschBegriffe wie „Interkulturalität“ und „Multikulturalität“ von ihren I<strong>de</strong>en herlobenswert, aber eher unpassend, da sie sich immer noch an <strong>de</strong>m statischenKulturkonzept orientieren wür<strong>de</strong>n. Deshalb schlägt er <strong>de</strong>n Terminus„Transkulturalität“ vor, um <strong>de</strong>n grenzüberschreiten<strong>de</strong>n „Austauschprozess“zwischen „diversen Lebensformen“ besser auszudrücken (Welsch 1995: 42).In <strong>de</strong>r Wissenschaft haben sich aber weiterhin die zwei ersterenBezeichnungen eher durchgesetzt, wenn auch in unterschiedlichenKontexten. In <strong>de</strong>r neuesten Auflage <strong>de</strong>s Metzler Lexikons <strong>de</strong>r Literatur- undKulturtheorie (2008) erscheinen die Begriffe „Interkulturalität“ und„Multikulturalismus.“ 4 Welschs „Transkulturalität“ wird beim Stichwort„Transkulturation“ erwähnt, das ebenfalls <strong>de</strong>n Austausch zweier Kulturenbezeichnet und v.a. in seiner Opposition zu „Akkulturation“ erklärt wird.Dieser Terminus, <strong>de</strong>r von A. Schenk als fortschrittlich gegenüber„Assimilation“ gepriesen wird, wird heute also negativ konnotiert. Er seiethnozentrisch und kolonialistisch geprägt und sollte durch <strong>de</strong>n Begriff„Transkulturation“ ersetzt wer<strong>de</strong>n. In Anlehnung an A. Schenk könnte mansagen, dass Akkulturation zwar positiver ist als Assimilation, aber nur in<strong>de</strong>m Sinne, dass sie sozusagen eine „freiwillige Assimilation“ darstellt, wasauf das gleiche negative Ergebnis hinausgeht. Aber auch Transkulturationwird von <strong>de</strong>n herrschen<strong>de</strong>n sozialen Strukturen mitbestimmt.Theorie <strong>de</strong>s kulturellen GedächtnissesInteressanter ist die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Selbst<strong>de</strong>finition, die von <strong>de</strong>n meistenerwähnten Wissenschaftlern angesprochen wird. In diesem Sinne sind dieArbeiten von Jan und Aleida Assmann wichtig, da sie sich mit <strong>de</strong>rGedächtnistheorie und <strong>de</strong>r Konstitution <strong>de</strong>r kollektiven I<strong>de</strong>ntitätbeschäftigen. 5 Sie gelten als Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Theorie zum kulturellenGedächtnis (seit En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 1980er Jahre). Sie vertreten die These, dass mitMündlichkeit und Schriftlichkeit zwei verschie<strong>de</strong>ne Organisationsformen<strong>de</strong>s kulturellen Gedächtnisses einhergehen: Es geht um das„Funktionsgedächtnis“ und das „Speichergedächtnis“ – wenn es auchschriftliche Medien gibt, die das „Funktionsgedächtnis“ übernehmen, wird4 „Multikulturalität“ wird v. a. im Kontext von Staaten o<strong>de</strong>r Regionen genannt, in <strong>de</strong>nenMenschen verschie<strong>de</strong>ner Nationalitäten neben- und miteinan<strong>de</strong>r leben.5Vgl. Metzler Lexikon <strong>de</strong>r Literatur- und Kulturtheorie (hrsg. von A. Nünning),Stichwörter „Assmann“, „Mündlichkeit“, „Gedächtnis, kulturelles“, „I<strong>de</strong>ntität, kollektive“.103


im „Speichergedächtnis“ etwas an<strong>de</strong>res bewahrt. Wichtig ist in diesemSinne <strong>de</strong>r Zusammenhang von kultureller Erinnerung, kollektiverI<strong>de</strong>ntitätsbildung und politischer Machtausübung.Das kulturelle Gedächtnis bezeichnet104<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>r Gesellschaft und je<strong>de</strong>r Epoche eigentümlichen Bestand anWie<strong>de</strong>rgebrauchs-Texten, -Bil<strong>de</strong>rn und –Riten (...), in <strong>de</strong>ren ‚Pflege’ sie ihrSelbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise(aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihrBewußtsein von Einheit und Eigenart stützt (Jan Assmann zit. nach Nünning 2008:239).Er weist eine zeitliche, räumliche, und soziale Dimension sowie„eine produktive, generative und konstruktive Rolle als Medium kollektiverI<strong>de</strong>ntitätsbildung“ (Nünning 2008: 239). Bei <strong>de</strong>m kulturellen Gedächtnis istdie Gruppenbezogenheit interessant, da kulturelles Gedächtnis „nie <strong>de</strong>nWissensvorrat aller Mitglie<strong>de</strong>r einer Gesellschaft konserviert, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>neiner bestimmten Gruppe o<strong>de</strong>r Schicht, die durch die kulturelleÜberlieferung ihre I<strong>de</strong>ntität festigt“. Unter „Rekonstruktivität“ versteht man,„dass die Gesellschaft von ihrer jeweils gegenwärtigen Situation aus ihreGeschichte(n) unter wechseln<strong>de</strong>n Bezugsrahmen neu konstruiert“ (Nünning2008: 239).Die Wechselwirkung zwischen kulturellem Gedächtnis undkollektiver I<strong>de</strong>ntität wird folgen<strong>de</strong>rweise erklärt:Die kollektive I<strong>de</strong>ntität bedarf <strong>de</strong>r ständigen Binnenstärkung durch das kulturelleGedächtnis in Form von Ritualen, festen Einheitssymbolen und –mythen sowiedurch das stigmatisieren<strong>de</strong> Konstrukt einer kollektiven Alterität, um sich ihreÜberlegenheit zu bestätigen (Nünning 2008: 306).Für eine kulturelle I<strong>de</strong>ntität sei <strong>de</strong>mnach eine kulturelle Alterität nötig, wasoft zu einer binären Opposition führt (Gegenpol <strong>de</strong>s Unbewussten), zuHetero- und Autostereotypen, also konstruierten Fremd- und Selbstbil<strong>de</strong>rn(Nünning 2008: 15).Sammler von Volkserzählungen im BanatAnfänglich gab es für die Pflege und Erforschung <strong>de</strong>s Volksgutes im Banatnicht die guten Voraussetzungen wie in Siebenbürgen, wo sie schon Anfang<strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts gesammelt wur<strong>de</strong>n. Im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt, <strong>zur</strong> Zeit <strong>de</strong>rAnsiedlung, hatte die Aufklärung weniger <strong>de</strong>n Sinn für das Kulturerbe und


Überlieferungen <strong>de</strong>r Vergangenheit und eher für Reformen. Durch dieungefähr 500 Jahre spätere Besiedlung <strong>de</strong>s Banater Gebietes waren dieVolksmärchen, Sagen und Lie<strong>de</strong>r hier auch schöpferisch nicht soweiterentwickelt, dass sie großes Interesse geweckt hätten, auch wennErzählungen und Lie<strong>de</strong>r in die neue Heimat mitgebracht und teilweiseweitergegeben wur<strong>de</strong>n. Und trotz<strong>de</strong>m entwickelte sich hier in dieser Zeit,wenn auch unbemerkt, eine eigene Volksdichtung. Bo<strong>de</strong>nständigeAnekdoten, Ortssagen, Erzählungen, die an die Zeit <strong>de</strong>r Besiedlungerinnerten, mitgebrachte Märchen wur<strong>de</strong>n weitererzählt, Schwänke <strong>de</strong>nneuen Lebenssituationen angepasst, in <strong>de</strong>n Spinnstuben sang man die altenVolkslie<strong>de</strong>r, und die Kin<strong>de</strong>r lernten von <strong>de</strong>n Älteren die bekanntenKin<strong>de</strong>rreime. Eine sozial-kulturelle Geschlossenheit wie in Siebenbürgen,die <strong>zur</strong> Beachtung <strong>de</strong>s Volksguts angeregt hätte, gab es im Banat nicht. Dersiebenbürgisch-sächsische Intellektuelle stand <strong>de</strong>m Dorfbewohner näher,weil er die gleiche Mundart sprach. Im Banat war das Bürgertum sozial undstammesmäßig und auch <strong>de</strong>r Mundart nach von <strong>de</strong>r Landbevölkerunggetrennt. „Der Bauer war Milch- und Gemüselieferant, als Träger vonVolksüberlieferungen war er zuerst gar nicht interessant,“ so Johann Wolf(in Konschitzky/ Hausl 1979: 7).Die Wirkung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Romantiker führte auch in <strong>de</strong>nrumänischen Fürstentümern bei <strong>de</strong>r 1848er Generation zu einemwachsen<strong>de</strong>n Interesse für das nationale Volksgut und die Kultivierung <strong>de</strong>rSprache. In seinem Vorwort <strong>zur</strong> Volksprosa-Sammlung Banater Volksgutzitiert J. Wolf <strong>de</strong>n rumänischen Schriftsteller und Kulturtheoretiker LucianBlaga, dass die <strong>de</strong>utsche Kultur <strong>de</strong>r Romantik eine „katalytische“ Wirkungauf an<strong>de</strong>re Völker gehabt hätte, also nicht <strong>zur</strong> Nachahmung empfahl,son<strong>de</strong>rn <strong>zur</strong> Besinnung auf die Eigenart, auf <strong>de</strong>n „eigenen ethnischen Geist“<strong>de</strong>r jeweiligen Völker (in Konschitzky/ Hausl 1979: 6).Johann Wolf zählt mehrere Sammler unter <strong>de</strong>n SiebenbürgerSachsen auf, die die Rolle eines Katalysators übernahmen, in<strong>de</strong>m sie sowohlsächsische Volksdichtung sammelten, als auch <strong>zur</strong> Erforschung <strong>de</strong>rrumänischen beitrugen. Dabei wird unterstrichen, dass das Interesse fürVolkskun<strong>de</strong> sich in Siebenbürgen schneller einstellte als im Banat, da esauch verschie<strong>de</strong>ne Voraussetzungen dafür gab. So brachte Johann KarlSchuller schon 1840 die Sammlung Gedichte in siebenbürgischerMundart heraus, bei Josef Haltrichs Deutsche[n] Volksmärchen aus <strong>de</strong>mSachsenlan<strong>de</strong> in Siebenbürgen unterstützte Jacob Grimm selbst dieHerausgabe 1856. Im Jahr darauf erschienen Siebenbürgische Sagen,zusammengestellt von Friedrich Müller. Adolf Schullerus’105


Siebenbürgisches Märchenbuch aus 1930 erscheint also nach fast einemJahrhun<strong>de</strong>rt Forschungstätigkeit in <strong>de</strong>r siebenbürgisch-sächsischenVolkskun<strong>de</strong>.Im Banat begann man erst in <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rtsmit <strong>de</strong>r Sammlung <strong>de</strong>s Volksguts. Ausnahme machen die Walachische[n]Mährchen herausgegeben von Arthur und Albert Schott. Mit einerEinleitung über das Volk <strong>de</strong>r Walachen und einem Anhang <strong>zur</strong>Erklärung <strong>de</strong>r Mährchen – erschienen 1845 im J.G. Cotta VerlagStuttgart. Das Werk markiert als erste rumänische Märchensammlung <strong>de</strong>nBeginn <strong>de</strong>r Erzählforschung in Rumänien (vgl. Konschitzky/ Hausl 1979: 7u. Schott/ Schott 1971: 317). Eine solche Sammlung, herausgegeben vonzwei Brü<strong>de</strong>rn, erinnert an die Brü<strong>de</strong>r Grimm, Zeitgenossen <strong>de</strong>r Schotts.Der eigentliche Sammler war Arthur Schott, <strong>de</strong>r 1836 alsGutsverwalter ins Banat kam. Er wohnte in <strong>de</strong>r Bergstadt Orawitza undunternahm Reisen nach Oltenien, Muntenien, Siebenbürgen. Arthur Schotthatte persönliche Kontakte zu <strong>de</strong>n Schriftstellern Ludwig Uhland, GustavSchwab und Nikolaus Lenau, mit <strong>de</strong>nen er das Interesse an <strong>de</strong>rVolksdichtung teilte. Was spätere Volkskundler als „teilnehmen<strong>de</strong>Beobachtung“ bezeichnen, wur<strong>de</strong> von Schott im Umgang mit <strong>de</strong>nBewohnern <strong>de</strong>r umliegen<strong>de</strong>n Ortschaften praktiziert. Dank <strong>de</strong>s OrawitzaerApothekers Karl von Knoblauch wur<strong>de</strong> er auf die rumänischenVolksmärchen aufmerksam, die bei <strong>de</strong>n Zusammenkünften <strong>de</strong>s Volkeserzählt wur<strong>de</strong>n. Da diese Geschichten noch in keiner Aufzeichnungvorhan<strong>de</strong>n waren, wur<strong>de</strong> Arthur Schott selbst zum Märchensammler. DerApotheker von Knoblauch und <strong>de</strong>r rumänische Jurist Drăguescu waren seineÜbersetzer, bis er selbst die rumänische Sprache erlernte. Beim Sammelnhalfen ihm noch einige Personen, die in <strong>de</strong>r Umgebung heimisch waren:Fridolin Niunny aus Orawitza, Karl von Ma<strong>de</strong>rspach aus Saska, <strong>de</strong>r GrafFerdinand Bissingen-Nippenburg, <strong>de</strong>r Geistliche Mihalia Popowitsch, <strong>de</strong>rherrschaftliche Pandur Gheorghe Stoian, <strong>de</strong>r Bauer Mihaly Lazăr aus Jamu.a. (vgl. Gálfy 2000: 39). Man merkt, dass auch beim Sammeln <strong>de</strong>rVolkserzählungen „interkulturelle Zusammenarbeit“ geleistet wur<strong>de</strong>.1841 kehrte Schott nach Ba<strong>de</strong>n-Württemberg <strong>zur</strong>ück und bereitetemit seinem Bru<strong>de</strong>r Albert die Veröffentlichung <strong>de</strong>r Märchen vor. AlbertSchott (1809-1847) war Professor für Philologie an einem StuttgarterGymnasium und beschäftigte sich auch mit <strong>de</strong>r Sammlung von Sagen undLie<strong>de</strong>rn. Er war es, <strong>de</strong>r die Kommentare zu <strong>de</strong>n insgesamt 43 Geschichtenschrieb, wobei er in ihnen die mythologischen Anschauungen Jacob Grimms106


estätigt zu fin<strong>de</strong>n meinte – Anschauungen, die von <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnenVolkskun<strong>de</strong> als sehr spekulativ betrachtet wer<strong>de</strong>n. 6Seinen Anregungen folgend, ergänzte Arthur Schott die Sammlungauch mit Erklärungen betreffend Sprache, Sitten, Tracht, Aberglauben <strong>de</strong>rRumänen, was „<strong>de</strong>n ersten Versuch einer Darstellung <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong> diesesGebietes“ ausmacht, wie es R.W. Brednich und I. Taloş in ihrem Nachwort<strong>zur</strong> Neuausgabe <strong>de</strong>r Volkserzählungen erörtern (Schott 1971: 320). Sokonnten die Herausgeber <strong>de</strong>n Lesern, die im Bezug auf Südosteuropa unddas Banat fast gar keine Auskünfte besaßen, das Volk <strong>de</strong>r „Walachen“vorstellen. U.a. erkannte Schott, dass die rumänische Sprache <strong>zur</strong>romanischen Sprachfamilie gehörte, was für die Zeit keine alltäglicheEnt<strong>de</strong>ckung war. Er konzentrierte sich auch nicht exklusiv auf Märchen,son<strong>de</strong>rn sammelte ebenfalls Schwänke und Sagen und nannte die Quellenund Gewährspersonen für die Erzählungen.Auch wenn bei Arthur Schott das später gültige Gebot <strong>de</strong>r strengenAuthentizität keine Rolle spielte und er die gesammelten Stoffe in einerbearbeiteten Fassung veröffentlichte, scheint er in vielem eine „humaneWissenschaft“ betrieben zu haben, was in <strong>de</strong>r Europäischen Ethnologie jaerwünscht ist. Brednich und Taloş raten in ihrem Nachwort, die erklären<strong>de</strong>Einleitung nicht als „veraltet“ und zu subjektiv abzuwerten, <strong>de</strong>nn manmüsse Arthur Schott „bestätigen, dass er ein liebevoller undaufgeschlossener Beobachter gewesen ist, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Menschen im Banat ohneje<strong>de</strong> Überheblichkeit begegnete, ja ihnen sogar einige Sympathienentgegenbrachte“ (Schott 1971: 320). Rezensenten erkannten in vielenrumänischen Märchen Ähnlichkeiten zu <strong>de</strong>n europäischen Märchentypen,was <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r Schott entsprach, dass ihre Sammlung ein Beweisdafür sei, „wie weit das geistige Band greift, welches die europäischenVölker und vielleicht die Menschheit trotz Krieg und Haß unauflöslichverbin<strong>de</strong>t“ (zit. nach Konschitzky/ Hausl 1979: 7-8).Mit <strong>de</strong>r Überlieferung von Volksgut in rumänischer Sprache imRaum <strong>de</strong>s Banater Berglan<strong>de</strong>s befasste sich in <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit <strong>de</strong>rVolkslehrer Emilian Novacoviciu aus <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> Răcăjdia (Dincomoara Banatului. Folclor. – 1926) Der Orawitzaer Arzt Ion Ţeicu(1888-1951) sammelt und veröffentlicht Bala<strong>de</strong> populare din Ilidia-Caraş.Studii <strong>şi</strong> documente bănăţene <strong>de</strong> istorie, artă <strong>şi</strong> etnografie in Temeswar.Der Heimathistoriker Virgil Birou (1903-1968) publiziert die Bän<strong>de</strong> Crucile6 Vgl. R. W. Brednich und I. Taloş’ Nachwort in Schott 1971: 324.107


<strong>de</strong> piatră <strong>de</strong> pe valea Caraşului (1941) und Drumuri <strong>şi</strong> popasuribănăţene (1962).Johann Wolf würdigt die Anregungen <strong>de</strong>r Tageszeitung Neuer Weg,die nach <strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg Interesse für die Volkskultur zeigte und1972 zu einer Sammelaktion aufrief, wonach man <strong>de</strong>n Band BanaterVolksgut 1979 herausbringen konnte. Dieser Band entspricht <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnenAnfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Volksun<strong>de</strong> im Sinne <strong>de</strong>r Authentizität, da die meistengesammelten Texte in Mundart wie<strong>de</strong>rgegeben wer<strong>de</strong>n. Da viele <strong>de</strong>rSammler aber sozusagen „Laien“ waren, konnten sie <strong>de</strong>n wirklichen Wert<strong>de</strong>r ihnen erzählten Texte nicht nachvollziehen. Johann Wolf vermerkt, dasseinige Themen die Erzähler auch zum Fabulieren hätten anregen können, daes unter <strong>de</strong>n Texten auch solche gibt, die möglicherweise „übernommeneLesefrüchte“ sein könnten, also im Sinne von Lutz Röhrich re-oralisiertwur<strong>de</strong>n. Wolf meint jedoch auch, dass es Aufgabe <strong>de</strong>r Forscher sei, diesenPhänomenen nachzugehen. Die Sammler sollten nicht kritisiert wer<strong>de</strong>n,„wenn sie die Grenzen zwischen altüberliefertem Erzählgut und neuenFormen <strong>de</strong>s volkstümlichen Erzählens nicht immer scharf getrennt haben“(in: Konschitzky/ Hausl 1979: 11).Für das Banater Bergland im Beson<strong>de</strong>ren ist <strong>de</strong>r Name Alexan<strong>de</strong>rTietz unumgänglich. Er hat „mit seinem Werk allein einezusammenfassen<strong>de</strong> Darstellung <strong>de</strong>r Volksüberlieferung in einem begrenztenGebiet <strong>de</strong>s Banats gegeben“, wie Johann Wolf zu schätzen weiß. (in:Konschitzky/ Hausl 1979: 9).Alexan<strong>de</strong>r Tietz wur<strong>de</strong> am 9. Januar 1898 in Reschitza geboren undstarb ebenda am 10. Juni 1978. Er wuchs in einem multiethnisch geprägtenund kulturell aktiven Umfeld auf. Er wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>utsch erzogen, reifte aber wieviele an<strong>de</strong>re Banater <strong>de</strong>s gehobenen Bürgertums in einer Atmosphäre <strong>de</strong>rToleranz heran. Er eignete sich das Ungarische an, sprach aber nur schlechtRumänisch, was nach 1918 von Nachteil war. Um seineRumänischkenntnisse zu verbessern, machte ihn sein Schwager mit <strong>de</strong>rLehrerin Stela Şimic bekannt, die 1938 seine Frau wur<strong>de</strong>. (vgl. DrexlerDrozdik 1999: 12-13). Neben seinem Lehrerberuf arbeitete Tietz anverschie<strong>de</strong>nen Zeitungen mit (Reschitzaer Zeitung, Neuer Weg, NeueLiteratur) und grün<strong>de</strong>te eine „Wan<strong>de</strong>rvogel“-Gruppe, in welcher erJugendlichen seine eigene Freu<strong>de</strong> am Wan<strong>de</strong>rn, an <strong>de</strong>r Natur und anVolkslie<strong>de</strong>rn weitergeben konnte. 1941 wur<strong>de</strong> er Kulturrat <strong>de</strong>r Volksgruppein Reschitza und hoffte, die unpolitische Kulturarbeit, mit <strong>de</strong>r er beim„Wan<strong>de</strong>rvogel“ Erfolg gehabt hatte, erfolgreich fortzusetzen. Aber baldlegte er sein Amt nie<strong>de</strong>r, weil ihn die nationalsozialistische I<strong>de</strong>ologie108


abstieß. Laut seinen eigenen Angaben begann er sich für die Volksdichtungzu interessieren, als er bei Wan<strong>de</strong>rungen auf Waldarbeiter o<strong>de</strong>r Köhler traf,die Geschichten zum Besten gaben. Beson<strong>de</strong>rs viel und gezielt sammelteTietz Volksüberlieferungen in <strong>de</strong>n 40er Jahren, vor allem aus Franzdorf(Văliug) in <strong>de</strong>r Nähe von Reschitza, wo er mit seiner Frau einSommerhäuschen bewohnte (vgl. Drexler Drozdik 1999: 15-16).Insbeson<strong>de</strong>re aus volkskundlicher Sicht sind die Bemühungen Tietz’lobenswert, die Authentizität <strong>de</strong>r Märchen und <strong>de</strong>n natürlichen Erzählflusszu bewahren, obwohl er selbst später die Texte meist nicht in <strong>de</strong>r Mundartveröffentlichte, son<strong>de</strong>rn eine „eigene Literatursprache“ entwickelte, die anWilhelm Grimm erinnert (Liebhardt 2000: 27). Seine erste Sammlungerscheint 1956 mit <strong>de</strong>r Unterstützung <strong>de</strong>r Redaktion <strong>de</strong>s Neuen Wegs unter<strong>de</strong>m Titel Sagen und Märchen aus <strong>de</strong>n Banater Bergen. Im kurzenVorwort nimmt er allgemein Bezug zu seinen Gewährspersonen: Die Texte„wur<strong>de</strong>n nach mündlicher Überlieferung, nach <strong>de</strong>n Erzählungen alterMütterchen, Arbeiterfrauen, Waldarbeiter, Waldhüter, Kohlenbrenner,Bergleute, Werkarbeiter, rumänischer, kraschowänischer und <strong>de</strong>utschböhmischerBauern nie<strong>de</strong>rgeschrieben“ (Tietz 1956: 5).Somit macht er sowohl auf die Multikulturalität <strong>de</strong>s BanaterBerglan<strong>de</strong>s aufmerksam, als auch auf die Berufsgruppen, die im größtenTeil hier zu Wort kommen und bei <strong>de</strong>nen er „das hochgradig gesittete,menschenfreundliche, gemütvoll-heitere Wesen“ bewun<strong>de</strong>rt und respektiert.Er <strong>de</strong>utet <strong>de</strong>n Lesern an, dass man in einer solchen Sammlung nicht allesgenau wie<strong>de</strong>rgeben kann: „Man muss <strong>de</strong>n bald schalkhaft, bald versonnenlächeln<strong>de</strong>n, verspielten Gesichtsausdruck <strong>de</strong>r Erzählen<strong>de</strong>n gesehen haben!“(Tietz 1956: 6). Im Vorwort führt Tietz die Leser in die Atmosphäre <strong>de</strong>rGeschichten ein, im Anhang gibt er zu je<strong>de</strong>m Text genaue Angaben über dieGewährspersonen und Erklärungen zu <strong>de</strong>n auftreten<strong>de</strong>n Motiven, was <strong>de</strong>nAnfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Europäischen Ethnologie entspricht.In <strong>de</strong>n 50er Jahren sammelt Tietz oft biografische Erzählungen überdas Leben und die Arbeit <strong>de</strong>r Bergleute, Fabrikarbeiter und ihrer Familien,beson<strong>de</strong>rs aus Reschitza und Anina. Der Sammler verband sein eigenesInteresse mit <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen seiner Zeit, in <strong>de</strong>r die Arbeiterklasse imMittelpunkt stand (vgl. Drexler Drozdik 1999: 17). 1958 erscheint seinzweiter Band, Das Zauberbründl, und 1967 seine ausführlichsteVolksgutsammlung Wo in <strong>de</strong>n Tälern die Schlote rauchen. Das Vorwortenthält eine Studie über Geschichte, Landschaft, Sprache <strong>de</strong>s BanaterBerglands. Alexan<strong>de</strong>r Tietz’ letztes Buch, Märchen und Sagen aus <strong>de</strong>mBanater Bergland, erschien 1974 im Kriterion Verlag und enthält eine109


Auswahl aus <strong>de</strong>n früheren Bän<strong>de</strong>n. Nach eigenen Angaben war dasHauptforschungsgebiet <strong>de</strong>s Reschitzaer Sammlers die Arbeiterfolklore,<strong>de</strong>shalb beschränkte sich Tietz räumlich auch auf nur einen Teil <strong>de</strong>s BanaterBerglan<strong>de</strong>s, vor allem auf die Industrieorte Reschitza und Anina,Bergwerkssiedlungen wie Orawitza, Dognatschka, Saska, die Waldarbeitergemein<strong>de</strong>Franzdorf. Die Sagen han<strong>de</strong>ln von Geistern und an<strong>de</strong>renübernatürlichen Geschöpfen, aber auch Kämpfe mit <strong>de</strong>n Türken und dieNöte <strong>de</strong>r Ansiedlungszeit wer<strong>de</strong>n beschrieben, gemäß <strong>de</strong>m Spruch: „Dieersten fan<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Tod, die zweiten die Not und erst die dritten das Brot.“Entstehungshintergrund <strong>de</strong>r Märchen und Sagen <strong>de</strong>s BanaterBerglandsDie Sagen reiften während <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung <strong>de</strong>r Siedler mit <strong>de</strong>rneuen Umwelt <strong>de</strong>r Banater Landschaft, als sie die neue Heimat in ihrgeistiges Leben einzuschließen begannen. Die überlieferten toponymischenBezeichnungen, die in weit <strong>zur</strong>ückliegen<strong>de</strong>r Vergangenheit entstan<strong>de</strong>nwaren, hatten für die Nachkommen o<strong>de</strong>r Neusiedler ihre ursprünglicheBe<strong>de</strong>utung verloren. Die Sagen versuchen, ihnen einen neuen Sinngehalt zuvermitteln.Darauf bezieht sich auch Alexan<strong>de</strong>r Tietz im Nachwort zu seinemzuletzt veröffentlichten Band (Tietz 1974: 381). Er sieht die Entstehung <strong>de</strong>rSagen und Märchen vor allem als Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Natur. Tietzzitiert R.M. Rilke und meint, dass dieses Landschaftsgebiet im Gegensatz<strong>zur</strong> Ebene „tausend Namen“ hat. Auf <strong>de</strong>n Karten <strong>de</strong>s Banater Berglandssind viele topografische Bezeichnungen angegeben, die auch in <strong>de</strong>nvolkstümlichen Erzählungen erscheinen. Die Namen <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nenPhänomene wer<strong>de</strong>n ebenfalls gern Mittelpunkt von aitiologischen Sagen:nur wenige [<strong>de</strong>r Namen] sind <strong>de</strong>utsch, an<strong>de</strong>re sind rumänisch, aber dann gibt eseine Menge fremdartig klingen<strong>de</strong>r, seltsamer, dunkler Namen, <strong>de</strong>ren ursprünglicheBe<strong>de</strong>utung nicht nur <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschsprachigen, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n alteingesessenenrumänischen Einwohnern unbekannt ist: Pulsano, Sodol, Beu, Beuschnitza,Grunibun usw. „So heißt <strong>de</strong>r Ort eben, von Vätern, Urvätern her”, pflegt man von<strong>de</strong>n befragten Bauern und Hirten als Antwort zu erhalten. Ein Teil davon erweistsich <strong>de</strong>m Sprachkundigen als slawisch (Tietz 1974: 368).Seiner eigenen Naturphilosophie folgend, betrachtet Tietz je<strong>de</strong>n Ort, sei esQuelle, Felsen o<strong>de</strong>r Hang, als Persönlichkeit mit einem „eigenenunverwechselbaren Charakter“, und solche „ausdrucksvollen örtlichen110


Charaktere“ machen das Banater Bergland zu einer „Landschaft <strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong>n Winkel“ (Tietz 1974: 368-369).Die Siedlungen, in <strong>de</strong>nen die Träger <strong>de</strong>s Volksgutes leben, sindbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Industrieorte wie Reschitza (<strong>de</strong>ssen Be<strong>de</strong>utung nach <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong>1989 wie<strong>de</strong>r drastisch sank), ehemalige Arbeiterkolonien wie Anina o<strong>de</strong>rdie alten Bergwerksorte Orawitza, Tschiklowa, Saska, Dognatschka, in<strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Bergbau schon um 1870 eingestellt wur<strong>de</strong>, die aber noch „einenHauch altösterreichischer Bergstadtromantik“ bewahrt haben:Der einzigartige Hauptreiz <strong>de</strong>s Banater Berglands besteht in <strong>de</strong>r Verbindung einerentlegenen, weltverlorenen, einsamen, phantastisch-geheimnisvollen Natur mitaltösterreichischer bergstädtischer Zivilisation barocker und bie<strong>de</strong>rmeierlicherArtung, die <strong>de</strong>m Gebiet durch die Wiener Hofkammer nach <strong>de</strong>m Abzug <strong>de</strong>rTürken im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt aufgeprägt wor<strong>de</strong>n ist (Tietz 1974: 370).Diese Siedlungen bekamen erst nach <strong>de</strong>m Abzug <strong>de</strong>r Türken 1718die Rolle, die Arbeiter und Beamten für die Berg- und Hüttenindustrie zubeherbergen. Kupfer-, Silber- und Goldbergwerke wur<strong>de</strong>n in Orawitza 1718errichtet, in Dognatschka 1722, in Saska 1730. In Bokschan grün<strong>de</strong>te man1719 ein Eisenwerk, etwa fünfzig Jahre später eins in Reschitza. In <strong>de</strong>nWäl<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Semenikhänge legte man die Waldarbeiterdörfer Steierdorf(1773) und Franzdorf (1793) an. 1790 ent<strong>de</strong>ckte ein Waldarbeiter zufälligdie Aninaer Steinkohle.In über 200 Jahren entwickelte sich in diesem Montangebiet einmehr o<strong>de</strong>r weniger „proletarisches“ spezifisches Überlieferungsgut, welchesTietz als ein „kollektives überindividuelles Wesen“ betrachtet, das sich „ineinem beson<strong>de</strong>ren Lebensstil, in gemeinsamen Sitten (...) äußert und inScherzre<strong>de</strong>n, Sagen, Märchen sein eigenes dichterisches Volkstumsgutbesitzt“ (Tietz 1974: 374). Dabei übte die mündliche Art <strong>de</strong>r Überlieferungin allen Lebensbereichen eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle, <strong>de</strong>nn in dieser Perio<strong>de</strong>wur<strong>de</strong>n vom Arbeiter- und Bauernvolk Bücher kaum <strong>zur</strong> Hand genommen.Was die Sprache betrifft, behauptet Tietz, in diesem Banater Montangebietgäbe es keine „Mundart im strengen Sinn“, son<strong>de</strong>rn eher eine „städtischeUmgangssprache“, und zwar das in <strong>de</strong>r alten Monarchie übliche„österreichische Deutsch“, das beson<strong>de</strong>rs vom Militär und <strong>de</strong>n Beamtenausging (Tietz 1974: 376). Es sei aber keine einheitliche Sprache, und in <strong>de</strong>nDörfern höre man noch ab und zu einen böhmischen Akzent o<strong>de</strong>r einzipserisches Wort.Aus literarischem Gesichtspunkt ist <strong>de</strong>r Stil <strong>de</strong>r Erzählungen durchKürze, Sachlichkeit und einem gewissen Realismus gekennzeichnet: „Der111


Stil ist immer knapp, prall und bis an <strong>de</strong>n Rand mit Leben erfüllt“ (Tietz1974: 377). Tietz lobt auch die beson<strong>de</strong>re Bildhaftigkeit <strong>de</strong>s volkstümlichenErzählens und beschreibt die Erzähltechnik <strong>de</strong>r Gewährspersonen. Sokommen in <strong>de</strong>r Volkssprache selten attributive und Adverbialsätze vor, dieeinen vorher genannten Satz näher beschreiben. Hier wer<strong>de</strong>n eben dieseerklären<strong>de</strong>n Zusammenhänge zuerst angegeben:112Es heißt also nicht: „Das Hilfegeschrei wur<strong>de</strong> von einem Bauern gehört, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>rNähe seine Ochsen tränkte“, son<strong>de</strong>rn: Ein alter Mann trieb seine Ochsen an <strong>de</strong>nFluß. Der hörte das Hilfegeschrei. Statt <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s Bauern, <strong>de</strong>r dasHilfegeschrei hört, nachträglich zu erweitern, wird das Bild <strong>de</strong>s Bauern, samt <strong>de</strong>nwei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Ochsen, vorausgeschickt (Tietz 1974: 377).Durch diese Technik wird beim Zuhörer eine bestimmte Stimmunghervorgerufen und die Spannung erhöht, wobei die Erzähler selbst sich ihrerTaktik meist nicht bewusst sind.Die Orte und Gelegenheiten, an <strong>de</strong>nen Märchen und Sagen erzähltwur<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n von Tietz ebenfalls angeführt:Die Küche und das Wohnzimmer <strong>de</strong>s Kolonie- und Arbeiterhauses, wo nachFeierabend die Familienmitglie<strong>de</strong>r, Nachbarn und Freun<strong>de</strong> zusammenkommen;um einen guten Erzähler herum versammelten sich auch zwanzig Personen; eswur<strong>de</strong> beim Fe<strong>de</strong>rschleißen erzählt und bei <strong>de</strong>r Totenwacht; dann in <strong>de</strong>nArbeiterbaracken, am Lagerfeuer um die Hütte <strong>de</strong>r Holzschläger undKohlenbrenner im Wald; früher wur<strong>de</strong> auch im Werk die Wartezeit bei <strong>de</strong>nMartinöfen vor <strong>de</strong>m Anstich, die Ruhepause im Bergwerk mit Märchenerzählenausgefüllt; mehr, als man sich <strong>de</strong>nkt, wur<strong>de</strong> das Märchenerzählen beim Militär, in<strong>de</strong>r Kaserne gepflegt; so manches Märchen wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>rschaft aus <strong>de</strong>rWan<strong>de</strong>rerherberge heimgebracht (Tietz 1974: 377-378).Die Sagen haben meist die Landschaft zum Thema, da dieNaturerscheinungen die „mythenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Phantasie“ bewegen, es gibt aberauch viele historische Sagen. Allgemein wi<strong>de</strong>rspiegeln diese Lokalsagen dieVerbun<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Bewohner mit ihrer Umgebung. Die Leute erzählen aberauch gern über die Ansiedlung, über ihre Lebensweise, ihre Arbeit und <strong>de</strong>nFeierabend – auch wenn sie oft nichts Positives zu berichten haben, <strong>de</strong>nndas Leben im Montangebiet war immer mit Schwierigkeiten verknüpft: Notbei Kin<strong>de</strong>rreichtum, Arbeitslosigkeit, Unfälle und Grubenkatastrophen,Kin<strong>de</strong>rarbeit und Hoffnungslosigkeit. Tietz zeigt sich aber beeindrucktdurch <strong>de</strong>n „Heroismus, mit <strong>de</strong>m Not und Armut getragen wer<strong>de</strong>n. Niemalshaben sich die Arbeiter, die Arbeiterfrau durch Not und Elend sittlichunterkriegen lassen; niemals hat Armut die menschlichen Werte, <strong>de</strong>n


sittlichen Halt <strong>de</strong>r Arbeiterfamilie zu untergraben vermocht“ (Tietz 1974:381).Die Natursagen stellen die Wirklichkeit so dar, wie sie womöglichvon <strong>de</strong>n ersten Ansiedlern empfun<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n ist. Die frem<strong>de</strong>n Kolonistenfühlten sich in dieser neuen, wil<strong>de</strong>n Umgebung unheimlichen Mächtenausgeliefert, die sie zu erklären versuchten. Geschichtliche Sagen wur<strong>de</strong>n z.B. durch Burgruinen o<strong>de</strong>r tatsächliche Münzfun<strong>de</strong> inspiriert. Viele stammenaus <strong>de</strong>r Überlieferung <strong>de</strong>r alteingesessenen rumänischen o<strong>de</strong>rkraschowänischen Bauern und Hirten. Zur Zeit Tietz’ erzählten solcheHirten immer noch gern Geschichten, wenn Wan<strong>de</strong>rgruppen Interessezeigten. Auch diese Sagen gehören <strong>de</strong>m Umfeld <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschsprachigenBevölkerung an, und da die Ethnien viel voneinan<strong>de</strong>r übernommen haben,ist eine Differenzierung <strong>de</strong>r Ortssagen nach Nationalitäten kaum möglich.Ein Beispiel, wo diese Differenzierung versucht wer<strong>de</strong>n kann, ist dieSage <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>s Teufelssees – es gibt zwei Varianten, an <strong>de</strong>nenman die unterschiedlichen Lebensumstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Banater Völker erkennenkann. Alexan<strong>de</strong>r Tietz gibt als Gewährsperson dieser aitiologischenNatursage einen gewissen Ion Trifu aus <strong>de</strong>r Nera-Schlucht an, also einen<strong>de</strong>m Namen nach rumänischen Bauern, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Reschitzaer Sammler dieGeschichte im Jahre 1959 erzählte. Die Sage wird von Tietz auch mit <strong>de</strong>mrumänischen Namen <strong>de</strong>s Sees betitelt: Lacul Dracului (Tietz 1974: 265).Hier geht es um einen Hirten, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Teufel eine Wette eingeht. In <strong>de</strong>ran<strong>de</strong>ren Variante, Der Teufelssee, die von Julius Gálfy ebenfalls in <strong>de</strong>n50er Jahren im Gebiet Deutsch-Saskas gesammelt wur<strong>de</strong>, ist dieHauptperson ein Bergarbeiter, <strong>de</strong>r mit einer Wünschelrute nach einemSchatz sucht und so <strong>de</strong>m Teufel begegnet (Gálfy 2008: 33). Man bemerkt,dass in <strong>de</strong>n zwei Sagen die unterschiedlichen Lebenssituationen <strong>de</strong>rErzähler wi<strong>de</strong>rspiegelt wer<strong>de</strong>n: die eine han<strong>de</strong>lt von Erfahrungen <strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen Bergleute, die als Ansiedler in diese Umgebung kamen. Ion Trifuerzählt eine Sage über einen Hirten, <strong>de</strong>r einen Fisch braten muss, alsoElemente, die eher zu seinem Alltag gehören – die Rumänen waren früherzum Großteil Bauern gewesen und hatten erst später angefangen, in <strong>de</strong>nBergwerken zu arbeiten.Was das kulturelle Gedächtnis und die Selbst<strong>de</strong>finition betrifft, sosind die Sagen aufschlussreich, die Bezug <strong>zur</strong> Zeit <strong>de</strong>r Türkenkriege haben:Man bemerkt, dass sich die Banater Bevölkerung <strong>de</strong>n Angreifer zum„Frem<strong>de</strong>n als Gegenbild“ machte und damit ihre gemeinsame I<strong>de</strong>ntität als„Christenvolk“ stärkte.113


In <strong>de</strong>r Klassifikation <strong>de</strong>r vier „Modi <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>rlebens“ nachOrtfried Schäffter wird diese Fremdheit als Gegenbild folgen<strong>de</strong>rweisebeschrieben: „Das Frem<strong>de</strong> wird hier als Negation <strong>de</strong>r Eigenheit im Sinnevon gegenseitiger Unvereinbarkeit begriffen“ – es wird grundsätzlichabgelehnt, weil man um die „Integrität <strong>de</strong>s Eigenen“ besorgt ist (Hofmann2006: 22). Dabei kann das Frem<strong>de</strong> als bedrohlich, aber an<strong>de</strong>rerseitsfaszinierend empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. In Anlehnung an Freud wird dieseFaszination aber als das „möglicherweise abgespaltene Eigene“ verdrängt(Hofmann 2006: 23). Das Frem<strong>de</strong> wür<strong>de</strong> meist als Gegenbild betrachtet,wenn man sich in einer Krisensituation befin<strong>de</strong>t – als Rettung wird dann oftein Eigenbild konstruiert, „das in dieser Form vielleicht nie bestan<strong>de</strong>n hat“,wie <strong>de</strong>r Bezug auf eine mehr o<strong>de</strong>r weniger „imaginäre Gemeinschaft“ <strong>de</strong>rNation, Religion u.Ä. (vgl. Hofmann 2006: 23).In vielen Sagen <strong>de</strong>s Banats taucht diese Erfahrung <strong>de</strong>r Angst in einerKrisensituation auf, die in Bezug auf die beschriebene geschichtlichePerio<strong>de</strong> gerechtfertigt ist. Dadurch, dass je<strong>de</strong>rzeit ein Angriff <strong>de</strong>r Osmanenmöglich ist, fühlen sich die Bewohner <strong>de</strong>s Banater Berglands in ihrerLebensweise und (relativen) Freiheit bedroht und leben in einem beinahepermanenten Zustand <strong>de</strong>r Angst und Spannung, wobei sie aber ihrenüblichen Arbeiten nachgehen müssen.In einer kleinen Märchen-Sage z. B., in <strong>de</strong>r die Türken sogar alsMenschenfresser dargestellt wer<strong>de</strong>n (Tietz 1974: 268) kommt ein sehrwichtiger Aspekt <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>lbarkeit kollektiver I<strong>de</strong>ntität zum Vorschein: ZuAnfang <strong>de</strong>r Erzählung wird von einem Türken erzählt, <strong>de</strong>r ein rumänischesMädchen entführt, im Vor<strong>de</strong>rgrund stehen also die verschie<strong>de</strong>nen Ethnien.Zum Schluss wer<strong>de</strong>n diese unwichtig, die Retter <strong>de</strong>s Mädchens sind„Christenmenschen“. Wenn sich die verschie<strong>de</strong>nen Ethnien <strong>de</strong>s BanaterBerglands also zu Anfang womöglich als gute Nachbarn, aber <strong>de</strong>nnochunterschiedlich in ihren Eigenheiten sahen, so för<strong>de</strong>rte das gemeinsameFeindbild <strong>de</strong>r Osmanen <strong>de</strong>n Gruppenzusammenhalt: Die „Unsrigen“,darunter könnte man die Christen verstehen, die in <strong>de</strong>rselben Gegendwohnen und dieselben Interessen haben, ihre Heimat zu schützen. DieGemeinsamkeiten treten in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund.So eine Krisenerfahrung wie die <strong>de</strong>s Krieges wird im Normalfallimmer mit Unsicherheit und Angst und <strong>de</strong>r Erschaffung eines Feindbil<strong>de</strong>sverbun<strong>de</strong>n. Hier lässt sich das Feindbild noch leichter herstellen, da dieGegner v. a. durch ihre Religion sehr fremdartig wirken. So wer<strong>de</strong>n dieReligion und die damit verbun<strong>de</strong>nen (realen o<strong>de</strong>r vermuteten) Praktikenzum Hauptkriterium <strong>de</strong>r Differenzierung. Gleichwohl wäre zu erwägen, dassoft in Kriegszeiten auch einheimische Räuberban<strong>de</strong>n Dörfer und Menschen114


angriffen, was in diesem Fall auch möglich gewesen sein kann. Trotz<strong>de</strong>mwird meist nur von <strong>de</strong>n Türken gesprochen, als wären die Begriffe„Angreifer“ und „Türken“ synonym. All diese Tatsachen können aber als„Maßnahmen“ <strong>de</strong>s Selbsterhaltungstriebs betrachtet wer<strong>de</strong>n. Da hier dieTürken die Angreifer sind, kann nicht von einem Bild <strong>de</strong>s „orientalischen“Menschen im Sinne von Eward Said gesprochen wer<strong>de</strong>n. Dennoch erkenntman in einigen Sagen die ange<strong>de</strong>utete Überlegenheit <strong>de</strong>s aufklärerischenDenkens und <strong>de</strong>s Christentums, die <strong>de</strong>n „barbarischen“ Türken nur physischunterlegen seien.SchlussbemerkungIm Allgemeinen sieht sich in vielen Banater Sagen die Erwartung erfüllt,dass eine Gruppe von Menschen in <strong>de</strong>r gemeinsamen Krisensituation <strong>de</strong>sKrieges ein Feindbild entwickelt und somit ihre eigene kollektive I<strong>de</strong>ntitätstärkt. Die Weitererzählung ist eine Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>s kulturellen Gedächtnisses,diese I<strong>de</strong>ntität zu sichern. Das Banat wäre ohne die Türkenkriege vielleichtnicht so selbstverständlich „multikulti“.Obwohl es viele Sammlungen von Volksgut gibt, geraten dieseallmählich in Vergessenheit, und eine systematische und theoretischeAuseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n Märchen bzw. Sagen erweist sich alsnotwendig.Die Volkserzählungen waren für die Bewohner dieser Gegend oftein Mittel, mit ihrem eigenen Dasein besser umzugehen, für die Leser vonheute sind sie eine Möglichkeit, ihr Selbstverständnis neu zu <strong>de</strong>finieren.LiteraturBrednich, Rolf Wilhelm ( 2 1994): Quellen und Metho<strong>de</strong>n. In: Rolf W.Brednich (Hrsg.): Grundriß <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong>. Einführung in dieForschungsfel<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Europäischen Ethnologie, Berlin: DietrichReimer, 73-95.Drexler Drozdik, Herta (1999): „Alexan<strong>de</strong>r Tietz und das literarischeVolksgut <strong>de</strong>r Banater Bergland<strong>de</strong>utschen, Zum 100. Geburtstag <strong>de</strong>sSammlers.“ In: Echo <strong>de</strong>r Vortragsreihe, X. Jg., 6 (114)/1999, 12-21.Gálfy, Julius (2000): „Lexikon <strong>de</strong>r Banater Bergland<strong>de</strong>utschenPersönlichkeiten: Arthur Schott“. In: Echo <strong>de</strong>r Vortragsreihe. XI.Jg., 3 (123)/ 2000, 39-41.115


Gálfy, Julius (2008): „Geschichten und Märchen aus <strong>de</strong>m Banater Bergland“.In: Echo <strong>de</strong>r Vortragsreihe, XIX. Jg., 2 (218)/ 2008, 33-45.Hofmann, Michael (2006): Interkulturelle Literaturwissenschaft. EineEinführung, München: Wilhelm Fink, 7-61.Höfig, Willi: Rezension zu Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong>: Positionen, Quellen,Arbeitsweisen <strong>de</strong>r Europäischen Ethnologie/ Silke Göttsch/Albrecht Lehmann (Hrsg.), Berlin: Reimer, 2001. Abrufbar über URL:http://swbplus. bsz-bw.<strong>de</strong>/bsz090808711rez.htm [30.06.2013].Konschitzky, Walther/ Hausl, Hugo (Hrsg.) (1979): Banater Volksgut.Erster Band. Märchen, Sagen und Schwänke. Mit einem Vorwortvon Johann Wolf, Bukarest: Kriterion.Liebhardt, Hans (2000): „Stimme <strong>de</strong>s Banater Berglands. Alexan<strong>de</strong>r Tietzund seine Landschaft.“ In: Echo <strong>de</strong>r Vortragsreihe, Son<strong>de</strong>rbeilageNr. 34, Juli 2000, 24-29.Nünning, Ansgar (Hrsg.) ( 4 2008): Metzler Lexikon <strong>de</strong>r Literatur- undKulturtheorie, Stuttgart/ Weimar: Metzler.Röhrich, Lutz ( 2 1994): Erzählforschung. In: Rolf W. Brednich (Hrsg.):Grundriß <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong>. Einführung in die Forschungsfel<strong>de</strong>r<strong>de</strong>r Europäischen Ethnologie, Berlin: Dietrich Reimer, 421-448.Schenk, Annemie ( 2 1994): Interethnische Forschung. In: Rolf W. Brednich(Hrsg.): Grundriß <strong>de</strong>r Volkskun<strong>de</strong>. Einführung in dieForschungsfel<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Europäischen Ethnologie, Berlin: DietrichReimer, 335-352.Schott, Arthur/ Schott, Albert (1971): Rumänische Volkserzählungen aus<strong>de</strong>m Banat. Märchen, Schwänke, Sagen. Neuausgabe besorgt vonRolf Wilh. Brednich und Ion Taloş, Bucureşti: Kriterion.Tietz, Alexan<strong>de</strong>r (1956): Sagen und Märchen aus <strong>de</strong>n Banater Bergen,Bukarest: Jugendverlag.Tietz, Alexan<strong>de</strong>r (1974): Märchen und Sagen aus <strong>de</strong>m Banater Bergland,Bukarest: Kriterion.Wal<strong>de</strong>nfels, Bernhard ( 2 1999): Topographie <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>n. Studien <strong>zur</strong>Phänomenologie <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>n, Berlin: Suhrkamp, 85-107.Welsch, Wolfgang (1995): Transkulturalität. Zur verän<strong>de</strong>rten Verfaßtheitheutiger Kulturen. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 45, 1 (1995),39-44.InternetquellenURL: http://www.volkskun<strong>de</strong>.uni-rostock.<strong>de</strong>/ [22.06.2013].116


Sigurd Paul ScheichlInnsbruckLiteraturzeitschriften, Kulturpolitik und Kanonbildung inÖsterreich, 1933 bis 1965Abstract: Since the late 19 th century, there have been more or less official ten<strong>de</strong>ncies toinstitute an Austrian literary canon as opposed to the general canon of literature written inGerman. These ten<strong>de</strong>ncies were enforced by the Dollfuß government in the thirties and inthe renewed republic after the end of the German annexation. Government-fun<strong>de</strong>d literaryreviews such as Monatsschrift für Kultur und Politik (1936-1938) or Wort in <strong>de</strong>r Zeit(1955-1965) supported this cultural policy, while in<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nt reviews like Die Fackel(1899-1936) and das silberboot (1935-1936, 1946-1953), though honouring the literarytradition, inclu<strong>de</strong>d the whole of German language literature. Some mechanisms of canonformation in general can be <strong>de</strong>rived from these observations.Keywords: Austrian literature, literary canon, cultural policy in 20 th -century AustriaIm Nachruf <strong>de</strong>s Theologen und Philosophen Laurenz Müllner auf RobertZimmermann, seinen Vorgänger als Präsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r Grillparzer-Gesellschaft,wird die umfassen<strong>de</strong> Auseinan<strong>de</strong>rsetzung <strong>de</strong>s Verstorbenen mit <strong>de</strong>rLiteratur Österreichs im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt gerühmt:Und so haben all die glänzen<strong>de</strong>n Sterne <strong>de</strong>s österreichischen Dichterhimmels,Grillparzer, Lenau, A. Grün, Fr. Halm, Stifter, Hamerling, Betty Paoli, Ebner-Eschenbach, Anzengruber, Ferdinand v. Saar, die bei<strong>de</strong>n Wickenburg, in <strong>de</strong>m von<strong>de</strong>r Astronomie <strong>zur</strong> Ästhetik übergegangenen Zimmermann ihren berufenstenSpectral-Analytiker gefun<strong>de</strong>n. (Mülllner 1898: 1)Die Nennung <strong>de</strong>r damals glänzen<strong>de</strong>n Sterne, von <strong>de</strong>nen seithermanche zu black holes gewor<strong>de</strong>n sind, ist zwar durch die literaturkritischenInteressen Zimmermanns bestimmt, doch machen sie offenbar auch inMüllners Augen <strong>de</strong>n wesentlichen Teil <strong>de</strong>s Kanons österreichischer Autorenin Österreich kurz vor 1900 aus; <strong>de</strong>r Verstorbene habe sich eben mit allenwesentlichen Autorinnen und Autoren beschäftigt. Gegen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Artikelsfin<strong>de</strong>n dann auch noch Bauernfeld und Raimund Erwähnung.Sealsfield, Kürnberger und Spitzer sind in diesem Kanon nichtenthalten, Autoren aus <strong>de</strong>n Kronlän<strong>de</strong>rn (wie Franzos o<strong>de</strong>r Rosegger)fehlen, Nestroy wird nicht erwähnt. Sie wären in dieser Skizze eines Kanonswahrscheinlich auch dann nicht enthalten gewesen, wenn Müllner nicht von<strong>de</strong>n Themen eines bestimmten – aber eben repräsentativen –117


Literaturkenners, son<strong>de</strong>rn von seinen eigenen Vorstellungen über die‚klassischen‘ Autoren Österreichs ausgegangen wäre. DerZimmermann’sche „österreichische Dichterhimmel“ dürfte alle Namenenthalten, aus <strong>de</strong>nen sich für das gemäßigt liberale WienerBildungsbürgertum um 1900 <strong>de</strong>r Kanon <strong>de</strong>r Literatur <strong>de</strong>utscher Sprache ausÖsterreich zusammengesetzt hat.Dass heute höchstens die Hälfte <strong>de</strong>r genannten Autorinnen undAutoren im österreichischen, und wenn: dann nur noch im österreichischen,Kanon sind 1 , führt uns <strong>zur</strong> Frage nach Kanonbildung und Kanonwan<strong>de</strong>l, zu<strong>de</strong>m Prozess <strong>de</strong>s Bewahrens und Ausschließens, <strong>de</strong>ssen Faktoren so schwerzu bestimmen sind. Simone Winko (2002: 21) hat angesichts <strong>de</strong>rUnüberschaubarkeit und Komplexität <strong>de</strong>r zum (stets wan<strong>de</strong>lbaren, nie ganzfesten) Kanon führen<strong>de</strong>n Vorgänge von einem „invisible hand“-Phänomengesprochen. Hier möchte ich Überlegungen zu zwei Fingern dieserunsichtbaren Hand anstellen, die, mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r erfolgreich, zumEntstehen eines Kanons beigetragen o<strong>de</strong>r beizutragen versucht haben; inerster Linie wird von <strong>de</strong>n Literaturzeitschriften, in zweiter Linie von <strong>de</strong>rKulturpolitik die Re<strong>de</strong> sein, die, nicht nur in Österreich, größtes Interesseam Kanon hat und die in Österreich sehr oft über die literarischenZeitschriften auf <strong>de</strong>n Kanon gewirkt o<strong>de</strong>r zu wirken versucht hat. HaroldBlooms eindrucksvolles Kanonbuch (Bloom 1995; dazu Scheichl 2008),eine groß angelegte Polemik gegen kultur- und universitätspolitischeTen<strong>de</strong>nzen in <strong>de</strong>n U. S. A., ist <strong>de</strong>r beste Beweis dafür, dass auch außerhalbÖsterreichs Kulturpolitik und Kanonbildung zusammenhängen. Durch <strong>de</strong>nzeitlichen Rahmen dieses Aufsatzes ergibt es sich von selbst, dass wir es mitKanonbildung in <strong>de</strong>r „bildungsbürgerlich geprägten Gesellschaft“ und nichtmit <strong>de</strong>n ganz an<strong>de</strong>ren Kanonisierungsmechanismen <strong>de</strong>r „Wissensgesellschaft“zu tun haben (Beilein, Stockinger, Winko 2012: 1).Für <strong>de</strong>n Beitrag <strong>de</strong>r Zeitschriften <strong>zur</strong> Formung <strong>de</strong>s Kanons bietet die‚Kanonisierung‘ Nestroys, eines Sterns, <strong>de</strong>r in Zimmermanns Milchstraßefehlt, ein gutes Beispiel. Sie hat in Zusammenhang mit <strong>de</strong>n Feiern zuseinem 50. To<strong>de</strong>stag eingesetzt, vor allem durch Karl Kraus, <strong>de</strong>nHerausgeber und (fast) Alleinautor einer Zeitschrift. Wenn Kraus’ Beitrag<strong>zur</strong> Nestroy-Renaissance vielleicht auch etwas zu relativieren ist (vgl.Men<strong>de</strong>l 1965) – immerhin gab es schon um 1890 eine zehnbändigeGesamtausgabe – , so steht doch die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Fackel – und mit ihr1 Vgl. zum Verschwin<strong>de</strong>n mancher Namen (auch von Anzengruber, Ebner-Eschenbachund Saar) aus <strong>de</strong>n an <strong>de</strong>r Bildung <strong>de</strong>s Kanons beteiligten und ihn zugleich spiegeln<strong>de</strong>nSchulliteraturgeschichten die Analysen von Schießl 2013.118


verbun<strong>de</strong>n die <strong>de</strong>r Vorlesungen ihres Herausgebers, <strong>de</strong>s ‚Theaters <strong>de</strong>rDichtung‘ (vgl. dazu die Erinnerungen von Hartl 1986) – für die heutigeGeltung von Nestroy außer Zweifel. Bis zu seinem Tod hat Kraus <strong>de</strong>nRuhm von <strong>de</strong>ssen Werk geför<strong>de</strong>rt; noch das letzte Heft <strong>de</strong>r Fackel enthält<strong>de</strong>n Abdruck <strong>de</strong>s Programms zu einer Vorlesung <strong>de</strong>s Zerrissenen.Umgekehrt hat Kraus sich redlich bemüht, Grillparzer aus <strong>de</strong>mKanon <strong>de</strong>r Literatur Österreichs – zu <strong>de</strong>m für ihn außer Nestroy nochRaimund und Stifter, mit Einschränkungen Kürnberger und Spitzer gehören– hinauszuwerfen o<strong>de</strong>r ihn doch an <strong>de</strong>ssen Rand zu drängen. 2 Das ist in <strong>de</strong>rGrillparzer-Rezeption, zumal nach 1945, nicht ohne Folgen geblieben (vgl.Scheichl 1980). Im Zusammenhang mit solchen Ausgrenzungen aus <strong>de</strong>mKanon kann auch daran erinnert wer<strong>de</strong>n, dass <strong>de</strong>r so genannte Brecht-Boykott <strong>de</strong>r fünfziger Jahre in Österreich ohne Friedrich Torbergs Positionals Herausgeber <strong>de</strong>r Zeitschrift Forum nicht recht vorstellbar wäre.Die Literaturzeitschrift mit ihrem Anspruch auf Aktualität wie mitihrem regelmäßigen Erscheinen vermag wahrscheinlich in <strong>de</strong>r Tat sehr viel<strong>zur</strong> kanonischen Geltung o<strong>de</strong>r Nicht-Geltung von Autorinnen und Autorenbeizutragen, nicht nur durch die Aufnahme o<strong>de</strong>r Nicht-Aufnahme vonZeitgenossen, son<strong>de</strong>rn auch durch die Möglichkeit, immer wie<strong>de</strong>r aufbestimmte Gestalten <strong>de</strong>r älteren Literatur <strong>zur</strong>ückzukommen, auf die sicheine Zeitschrift berufen o<strong>de</strong>r nicht berufen, die sie wie<strong>de</strong>r beleben o<strong>de</strong>rvergessen lassen kann. Dieser Aspekt <strong>de</strong>r Bezugnahme von Literaturund/o<strong>de</strong>rallgemeinen Kulturzeitschriften auf ältere Literatur wird insgesamtvielleicht zu wenig beachtet; man <strong>de</strong>nkt bei ihnen zu oft nur an ihrenBeitrag <strong>zur</strong> För<strong>de</strong>rung und Vermittlung jeweils aktueller Literatur.Dieses Verhältnis von Zeitschriften <strong>zur</strong> Tradition interessiert michhier beson<strong>de</strong>rs. Mein Kanon-Begriff meint dabei <strong>de</strong>n Bestand als ‚klassisch‘gelten<strong>de</strong>r Werke und hat folglich mit Traditionsbildung zu tun.Selbstverständlich kann man auch in Hinblick auf sich durchsetzen<strong>de</strong>aktuelle Literatur von ‚Kanon‘ sprechen; ich halte es aber mit Bloom (1995:487): „Canonical prophecy needs to be tested about two generations after awriter dies.“ und mit Schlaffer (2003: 133): „Die Kanonisierung vonLiteratur beginnt gewöhnlich dreißig o<strong>de</strong>r fünfzig Jahre nach ihremErscheinen.“ 3 Als ‚Literatur-Kanon‘ betrachte ich vor allem, was „<strong>de</strong>n2 Zum Gesamtkomplex <strong>de</strong>s Umgangs von Kraus mit <strong>de</strong>r literarischen Tradition siehe Kraft(1974); speziell zu Kraus und Grillparzer Scheichl (1992); zu Kraus und Stifter Scheichl(1995).3 Ganz an<strong>de</strong>rs, auf neu erscheinen<strong>de</strong> Literatur bezogen, ist <strong>de</strong>r Kanonbegriff in <strong>de</strong>n meistenBeiträgen zu Beilein et al. (Hrsg.) (2012).119


literarischen Bestand [bewahrt], <strong>de</strong>r überdauert hat, aufgehoben fortlebt undvorbildlich, d. h. klassisch ist“ (Kochan 1990: 4).Dass dieser an <strong>de</strong>r Vergangenheit orientierte Kanon an<strong>de</strong>rs entsteht– durch an<strong>de</strong>re Instanzen gesteuert wird – und dass seine Entstehung dahermit an<strong>de</strong>ren Metho<strong>de</strong>n, auch aufgrund an<strong>de</strong>rer Quellen untersucht wer<strong>de</strong>nmuss als die Entstehung eines sich jeweils aktuell konstituieren<strong>de</strong>n,selbstverständlich instabilen Kanons neuer Bücher, ist evi<strong>de</strong>nt.Beispielsweise dürften bei <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>s heute in Österreich gültigenKanons <strong>de</strong>r im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt entstan<strong>de</strong>nen Literatur aus Österreich – trotz<strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s Reclam-Verlags – das <strong>de</strong>utsche Verlagswesen und die<strong>de</strong>utsche Kritik eine wesentlich geringere Rolle spielen als bei <strong>de</strong>rDurchsetzung neuerer Autorinnen und Autoren. Der Rückgriff auf ältereLiteratur in Literaturzeitschriften ist eine solche Quelle, spiegelt er doch <strong>de</strong>nKanon – Bezugnahmen auf Blumauer o<strong>de</strong>r Friedrich Halm wären heute inösterreichischen Literaturzeitschriften un<strong>de</strong>nkbar – , an<strong>de</strong>rerseits beeinflusster auch <strong>de</strong>n Status älterer Werke im Kanon.Diese Möglichkeiten von Zeitschriften sind <strong>de</strong>r österreichischenKulturpolitik nicht verborgen geblieben, die im Zuge <strong>de</strong>r politischenDistanzierung schon <strong>de</strong>s ‚Stän<strong>de</strong>staats’ und erst recht <strong>de</strong>r Zweiten Republikvon Deutschland und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Kultur einschließlich <strong>de</strong>r weimarischgeprägten Literatur großes Interesse an <strong>de</strong>r Etablierung eines eigenenösterreichischen Kanons für das 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt hatte. Sie führte damitAnsätze fort, die es schon im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt gab, als man für dieSchullektüre eine stärkere Berücksichtigung Grillparzers, eine geringereBeachtung Schillers empfahl (Zelewitz 1987). Recht erfolgreich waren diekulturpolitischen Instanzen (aber nicht nur sie) bei <strong>de</strong>r Marginalisierungliberaler und linker Autoren im Kanon (Scheichl 1997). Dieser Einfluss <strong>de</strong>rKulturpolitik wird zum Teil über die Zeitschriften fassbar, von <strong>de</strong>nenmanche sich großzügiger staatlicher För<strong>de</strong>rung erfreuten. 4Ich wer<strong>de</strong> nun versuchen, am Beispiel einiger österreichischerZeitschriften <strong>de</strong>r dreißiger Jahre 5 und <strong>de</strong>r Nachkriegszeit zu zeigen, wie sie4 Über eine kulturpolitische Maßnahme noch <strong>de</strong>s 21. Jahrhun<strong>de</strong>rts <strong>zur</strong> Etablierung <strong>de</strong>sKanons <strong>de</strong>r aktuellen Literatur aus Österreich als eines nationalen Kanons vgl. Moser2012. Trotz einer verwirren<strong>de</strong>n und überkomplexen Begrifflichkeit bietet <strong>de</strong>r Aufsatz eineninteressanten Einblick in die aktuellen Bemühungen <strong>de</strong>r staatlichen KulturpolitikÖsterreichs, Einfluss auf die Kanonbildung zu nehmen, die um einiges klüger sind als diein meinem Beitrag beschriebenen.5 Vgl. <strong>de</strong>n Überblick über die einschlägigen Zeitschriften bei Scheichl 1990a. Der Versucheiner systematischen EDV-gestützten bibliografischen Erschließung <strong>de</strong>r einschlägigen120


auch in Hinblick auf die Vergangenheit an <strong>de</strong>r Kanonbildung gearbeitethaben.Mein erstes Beispiel ist Die Fackel, <strong>de</strong>ren literaturpolitischeIntentionen sich relativ leicht beschreiben lassen, da <strong>de</strong>r Kanon von KarlKraus sehr klein ist. Die älteren Autoren, von <strong>de</strong>nen in seiner Zeitschriftaffirmativ die Re<strong>de</strong> ist, und zwar relativ oft, und die er zum Teil in dieProgramme seiner Vorlesungen (zu diesen Wagenknecht 1985)aufgenommen hat, sind einige Lyriker <strong>de</strong>s Barock und <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts,Claudius, Jean Paul, Goethe, Shakespeare (in <strong>de</strong>r Schlegel-Tieck-Übertragung), mit Einschränkungen Raimund, Nestroy, gelegentlich Stifter,Kürnberger, Daniel Spitzer. Gera<strong>de</strong> Goethe wird in <strong>de</strong>r beginnen<strong>de</strong>n Hitler-Ära für Kraus sehr wichtig: Dritte Walpurgisnacht, seine als Fackel-Heftkonzipierte, vollständig erst 1952 veröffentlichte Anprangerung <strong>de</strong>rEreignisse im Deutschen Reich lebt <strong>zur</strong> Gänze vom Kontrast zwischenDeutschlands größtem Dichter und seinem abscheulichsten Politiker. Krausunterschei<strong>de</strong>t sich durch diese entschie<strong>de</strong>ne Berufung auf Goethe von sonstim Österreich <strong>de</strong>r dreißiger Jahre schon recht <strong>de</strong>utlichen Ten<strong>de</strong>nzen, <strong>de</strong>nLiteratur-Kanon auf österreichische Autoren einzuengen. In seinenVorlesungen <strong>de</strong>r Jahre 1933 bis 1936 brachte er neben Offenbach un<strong>de</strong>inigen wenigen Zeitgenossen Shakespeare, Nestroy – zum Teil mit bishernicht gelesenen Stücken –, Goethe, Raimund – <strong>de</strong>n Verschwen<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n erals einziges Raimund-Stück <strong>zur</strong> Gänze gelesen hat, hat er erst am 31. Mai1934 in das Programm <strong>de</strong>s ‚Theaters <strong>de</strong>r Dichtung‘ aufgenommen –,Claudius, Goeckingk, die Brü<strong>de</strong>r Grimm und (ganz vereinzelt) Bürger undSchiller zu Gehör, also nur zwei Autoren aus Österreich.An<strong>de</strong>rs als die Vorlesungsprogramme weisen die <strong>de</strong>utlichösterreichischen Akzente <strong>de</strong>r letzten Nummern <strong>de</strong>r Fackel selbst einegewisse Parallele zu <strong>de</strong>n kulturpolitischen Intentionen <strong>de</strong>r Dollfuß-Schuschnigg-Ära auf, mit vielen Erinnerungen an das Wiener Theater <strong>de</strong>s19. Jahrhun<strong>de</strong>rts und einer ausdrücklichen Bejahung „österreichischerKulturwerte“ (Die Fackel Nr. 912-15. 1935: 7). Der Glossentitel„Heimatschutz für österreichische Klassiker!“ (Die Fackel Nr. 909-11.1935: 41) mag zwar mit <strong>de</strong>r Anspielung auf <strong>de</strong>n aktuellen politischenösterreichischen Zeitschriften in einem von mir geleiteten, vom Fonds <strong>zur</strong> För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>rwissenschaftlichen Forschung finanzierten Projekt an <strong>de</strong>r Universität Innsbruck (EDV-Programm von Peter Langmann, Graz; ProjektmitarbeiterIn: Elfrie<strong>de</strong> Pö<strong>de</strong>r, Helmut Luger)ist schließlich an <strong>de</strong>r Fülle <strong>de</strong>s Materials gescheitert; das Projekt hätte mit mehrMitarbeitern langfristig institutionalisiert wer<strong>de</strong>n müssen; vgl. Pö<strong>de</strong>r 2001. DieÜberlegungen zu Zeitschriften <strong>de</strong>r 30er Jahre beruhen auf Ergebnissen dieses Projekts,beziehen aber neuere Forschung zum Kanon ein.121


Begriff ironisch sein, doch die Wendung „österreichische Klassiker“ istwohl affirmativ gebraucht. Dass Kraus unter diese auch Daniel Spitzereingeordnet wissen will (Die Fackel Nr. 912-15. 1935: 4-5), entspricht zwar<strong>de</strong>m Kanon <strong>de</strong>s Stän<strong>de</strong>staats hinsichtlich <strong>de</strong>r geschätzten Person – einesLiberalen und eines Ju<strong>de</strong>n – ganz und gar nicht, wohl aber in <strong>de</strong>r Ten<strong>de</strong>nz<strong>de</strong>s Bekenntnisses <strong>zur</strong> österreichischen literarischen Tradition.Für <strong>de</strong>n Kanon-Wan<strong>de</strong>l seit <strong>de</strong>r Fackel, für <strong>de</strong>n zunehmen<strong>de</strong>nAusschluss nicht-österreichischer Autoren <strong>de</strong>utscher Sprache aus <strong>de</strong>m‚Literatur-Kanon‘ Österreichs ist anekdotisch bezeichnend, dass in <strong>de</strong>r 1986zusammengestellten Karl Kraus-Ausstellung <strong>de</strong>s Außenministeriums(Lunzer 1986) Dritte Walpurgisnacht nach Ansicht <strong>de</strong>s Ausstellungsmachersnicht mit einem Goethe-Bild illustriert wer<strong>de</strong>n sollte.Berührungspunkte mit <strong>de</strong>m ‚Literatur-Kanon‘ <strong>de</strong>r Fackel zeigen dieRückgriffe <strong>de</strong>r von Ernst Schönwiese herausgegebenen, vor allem für dieMo<strong>de</strong>rne offenen und in einer gewissen Distanz zum Stän<strong>de</strong>staat stehen<strong>de</strong>nZeitschrift das silberboot (dazu Weyrer 1984, die auf die Parallelen <strong>zur</strong>Fackel hinweist) auf weniger bekannte Werke <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur vor1900. Diese Zeitschrift hat, vor allem freilich in ihrer zweiten Phase nach1945, maßgebend <strong>zur</strong> Anerkennung Brochs und Musils beigetragen(während, das sei als Faktum <strong>de</strong>r Bildung eines aktuellen ‚Literatur-Kanons‘ mitgeteilt, Schönwiese 1947 mit <strong>de</strong>n Gedichten Paul CelansSchwierigkeiten hatte und diesen, immerhin, an Otto Basil und <strong>de</strong>n Planverwies; vgl. Guţu 1990: 191-193). Schönwieses Zeitschrift war bei allerOffenheit für die Mo<strong>de</strong>rne, beson<strong>de</strong>rs für mo<strong>de</strong>rne erzählen<strong>de</strong> Prosa, sehran Literatur <strong>de</strong>r Vergangenheit interessiert, ohne hier einen Kanondurchsetzen zu können o<strong>de</strong>r zu wollen. „Die ‚Meister‘ <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschenDichtung sollten aus <strong>de</strong>r Sicherheit ihres geschlossenen geistigen Horizontsheraus gültige Antworten für eine wi<strong>de</strong>rsprüchliche und vom Wertzerfallbedrohte Gegenwart geben“ (Weyrer 1984: 209).Das ist zwar auch eine konservative Vorstellung, doch ist sie nichti<strong>de</strong>ntisch mit <strong>de</strong>n kulturpolitischen Absichten <strong>de</strong>r damaligenösterreichischen Regierung. Die Motti <strong>de</strong>r fünf Hefte <strong>de</strong>s ersten Jahrgangs(1935/36) – <strong>de</strong>r zweite erschien erst 1946 – stammen von Jean Paul,Höl<strong>de</strong>rlin, Novalis, Her<strong>de</strong>r und Hamann; in <strong>de</strong>r Rubrik „Ältere <strong>de</strong>utscheDichtung“ (vgl. dazu Weyrer 1984: 207-08) fin<strong>de</strong>n sich 1935/36 UlrichBräker, Johann Gau<strong>de</strong>nz von Salis-Seewis, Platen, Otto Ludwig,Immermann, Herwegh, Hebbel, Stifter (als einziger Österreicher) undHöl<strong>de</strong>rlin. Schönwiese versucht hier eine Erweiterung und Bereicherung<strong>de</strong>s traditionellen ‚Literatur-Kanons‘ durch Autoren, die ihm zu Unrechtunbeachtet geblieben zu sein schienen. Von politischer Indienststellung122


dieser Werke für Stän<strong>de</strong>staat o<strong>de</strong>r Österreich-I<strong>de</strong>e kann keine Re<strong>de</strong> sein, jaes ist im Gegenteil für die Zeit auffällig, dass <strong>de</strong>r spezifisch österreichische‚Literatur-Kanon‘ hier fast völlig fehlt und <strong>de</strong>utsche sowie schweizerischeAutoren dominieren – während sonst, auch in seiner zweiten Phase, <strong>de</strong>rSchwerpunkt <strong>de</strong>s silberboots sehr wohl auf österreichischen Autorinnenund Autoren lag (Weyrer 1984: 164), wiewohl „ohne i<strong>de</strong>ologische o<strong>de</strong>rkulturpolitische Diskussion <strong>de</strong>s ‚Österreichischen‘“ (Weyrer 1984: 188).Nach <strong>de</strong>m Krieg blieb Stifter, <strong>de</strong>r auch relativ häufig erwähnt wird(vgl. das Register in Weyrer 1984: 294), <strong>de</strong>r einzige ‚klassische‘österreichische Autor, von <strong>de</strong>m ein Text in die Zeitschrift Eingang fand;Grillparzer und Nestroy kommen – und das erst nach 1945 – nur inRezensionen vor (Weyrer 1984: 167) und wer<strong>de</strong>n selten erwähnt,Grillparzer etwa, unter Einschluss <strong>de</strong>r ersten Jahre <strong>de</strong>r Zweiten Republik,seltener als Kleist und Höl<strong>de</strong>rlin, gleich oft wie Gottfried Keller (vgl. dasRegister in Weyrer 1984: 275, 277, 280). Und Goethe bleibt nach HermannBroch die wichtigste „Bezugsfigur“ <strong>de</strong>r Zeitschrift; kein österreichischer‚Klassiker‘ ist für das silberboot annähernd so wichtig. Die oft genanntenRilke und Hofmannsthal sind für Schönwiese ja fast noch Zeitgenossen.Ganz an<strong>de</strong>rs sah <strong>de</strong>r mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r offiziöse ‚Literatur-Kanon‘<strong>de</strong>r dreißiger Jahre in Österreich aus; er umfasste nicht das ‚Erbe‘ <strong>de</strong>rgesamten Literatur <strong>de</strong>utscher Sprache, son<strong>de</strong>rn nur ein spezifischösterreichisches literarisches ‚Erbe‘. Die von Schuschnigg persönlichangeregte, von <strong>de</strong>m Theologen und Soziologen Johannes Messnerherausgegebene Monatsschrift für Kultur und Politik 6 , die zwischen1936 und <strong>de</strong>m ‚Anschluss‘ erschien und <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ologie <strong>de</strong>s Stän<strong>de</strong>staatsnahestand, auch wenn sie <strong>de</strong>m Nationalsozialismus gegenüberkompromissloser war als die Regierung, veröffentlichte in je<strong>de</strong>m Heft einengrößeren literarischen Beitrag, nicht Texte von, son<strong>de</strong>rn Aufsätze überAutoren. Jene davon, die sich mit Literatur <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rtsbeschäftigen, behan<strong>de</strong>ln nur <strong>de</strong>n engsten Kanon <strong>de</strong>r österreichischen‚Klassiker‘: Grillparzer, Raimund, Nestroy – Kraus wur<strong>de</strong> von dieserZeitschrift sehr ernst genommen – und Stifter, ferner Stelzhamer 7 , diesenwohl vor allem wegen seiner regionalen Bindung. Für die liberalenTraditionen <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts (außer eben für Stelzhamer) hatte die an6 Was diese Zeitschrift betrifft, habe ich mich auf ein im Rahmen <strong>de</strong>s in Anm. 5 genanntenProjekts entstan<strong>de</strong>nes kurzes Manuskript von Elfrie<strong>de</strong> Pö<strong>de</strong>r stützen können.7 Über Stelzhamer fin<strong>de</strong>t sich auch ein Beitrag in <strong>de</strong>r eher <strong>de</strong>utschnationalen MonatsschriftBergland (Innsbruck), in einem Heft mit einem Oberösterreich-Schwerpunkt: Fridrich1934.123


sich weltoffene Monatsschrift keinen Raum: Sealsfield, Anzengruber undKürnberger beispielsweise fin<strong>de</strong>n nie Beachtung. Ebenso wenig wur<strong>de</strong>n mitAusnahme Goethes nicht-österreichische Autoren ausführlicher behan<strong>de</strong>lt.Für die bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kunst ist eine ähnliche Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r Betonung <strong>de</strong>sÖsterreichischen nachweisbar, in<strong>de</strong>m in bebil<strong>de</strong>rten kunsthistorischenBeiträgen (übrigens nicht nur in <strong>de</strong>r Monatsschrift für Kultur undPolitik) das österreichische Barock auffällig unterstrichen wird (dazu Pö<strong>de</strong>r1995).Die Aufsätze über die ‚Klassiker‘ <strong>de</strong>r Literatur aus Österreich zeigen– mit Ausnahme <strong>de</strong>s sachlichen Nestroy-Aufsatzes von Benno Fleischmann(1936), <strong>de</strong>r aber immerhin, auch durch die reichen Illustrationen, <strong>de</strong>nösterreichischen Kanon stützt – großenteils eine explizite Instrumentalisierungdieses österreichischen Kanons im Sinne <strong>de</strong>r ‚Österreich-I<strong>de</strong>e‘ und<strong>de</strong>r stän<strong>de</strong>staatlichen I<strong>de</strong>ologie im engeren Sinn. Die zweite Funktion erfülltvor allem Grillparzer 8 , <strong>de</strong>ssen „politisches Bekenntnis in seinen Dramen“Werner Tschulik – in <strong>de</strong>r Zweiten Republik ‚lektürekanon‘-bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>rVerfasser <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n fünfziger Jahren an <strong>de</strong>n österreichischen Gymnasienverwen<strong>de</strong>ten Literaturgeschichte – zu <strong>de</strong>uten vorgibt:Auch heute noch wird die Beurteilung von Österreichs größtem Dichter imBewußtsein vieler Zeitgenossen von jenem Pathos getragen, mit welchem <strong>de</strong>rliberale Spießer von einst die vermeintlichen Opfer <strong>de</strong>r „Reaktion“ bejammerte,und so <strong>de</strong>s Dichters seelischer Kampf um Leben und Kunst zu einem Kampfgegen die Zensur veräußerlicht (Tschulik 1937: 581).Nach diesem Seitenhieb auf <strong>de</strong>n Liberalismus erkennt Tschulikpflichtgemäß in Grillparzers Dramen <strong>de</strong>n „Gedanken ständischer Bindung“(Tschulik 1937: 583).Stifter wird im gleichen Sinn zwei Mal in kurzen anonymen Artikeln (ineiner ständigen, also wohl vom Herausgeber betreuten Rubrik) ausführlichzitiert, gegen die Mo<strong>de</strong>rne (Landflucht <strong>de</strong>r Lehrer, in: Monatsschrift 1.1936: 358-359) und für ein patriarchalisches Verhältnis zwischenArbeitgebern und Arbeitnehmern (Für <strong>de</strong>n Sommer aus <strong>de</strong>m „Nachsommer“in: Monatsschrift 1. 1936: 358-359). Einige an<strong>de</strong>re <strong>de</strong>rartige Kurzartikelüber Stifter haben nicht so unmittelbar politische Funktion. 98 Ein weiterer Beitrag über Grillparzer von einem Musikwissenschaftler (Hernried 1937)ist hier zwar als Beleg für die Geltung <strong>de</strong>s Dichters anzuführen; mit <strong>de</strong>ssen politischerIndienststellung hat er jedoch nichts zu tun.9 anonym: Stifters Weltbild, in: Monatsschrift 2, 1937: 472-473; Aus Stifters Staatsi<strong>de</strong>e,ebenda: 760-761; Adalbert Stifter, <strong>de</strong>r Erzieher, in: Monatsschrift 3. 1938: 183.124


Stifter ließ sich nicht nur für <strong>de</strong>n Konservatismus, son<strong>de</strong>rn in einemauch für die ‚Österreich-I<strong>de</strong>e‘ verwerten. Wilhelm Bietak nützt in einemAufsatz „Adalbert Stifters politisches Weltbild“ die ablehnen<strong>de</strong> Haltung <strong>de</strong>sDichters gegenüber <strong>de</strong>r Revolution von 1848, um gegen westliche Einflüsseund damit gegen das für diese Einflüsse angeblich offenere Deutschland zupolemisieren; bei Bietak verbin<strong>de</strong>n sich so österreichischer Patriotismus undanti<strong>de</strong>mokratische Haltung:In dieser unheilvollen, nach <strong>de</strong>m europäischen Westen ausgerichtetenEntwicklung, namentlich <strong>de</strong>r Literatur, ist Deutschland Österreich vorangegangenund in ihr […] liegt eine <strong>de</strong>r Hauptwurzeln <strong>de</strong>r Revolution (Bietak 1937: 970).Als Plädoyer für <strong>de</strong>n österreichischen Wi<strong>de</strong>rstand gegen das DritteReich wirkt die folgen<strong>de</strong> Stelle aus <strong>de</strong>mselben Aufsatz:Und in einer Zeit, da er die übrigen <strong>de</strong>utschen Stämme von <strong>de</strong>n unheimlichenzerstörerischen Mächten einer westlerischen Scheinbildung überfrem<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>nsieht, wird Österreich ihm [Stifter] zum Staat <strong>de</strong>r neuen Bildung, Österreich, „dasgesün<strong>de</strong>ste kernhafteste und ehrenhafteste Land“ Europas, das Volk mit <strong>de</strong>m„schönsten Schatz von Gemüt und Herz unter allen <strong>de</strong>utschen Stämmen“,Österreich, das immer am stärksten im Unglück war, das <strong>de</strong>m westlichen Verfall<strong>de</strong>s Geistes und <strong>de</strong>r Sitten seine Tore nicht in <strong>de</strong>m Maße geöffnet hat wie dasübrige Deutschland, Österreich, das dies Deutschland schon einige Male vor <strong>de</strong>mpolitischen Untergang gerettet habe, wer<strong>de</strong> diesmal auch in geistigen Bereichen –so in <strong>de</strong>r Literatur – <strong>de</strong>r Retter Deutschlands wer<strong>de</strong>n (Bietak 1937: 974).Der Versuch <strong>de</strong>r Aktualisierung Stifters ist mit Hän<strong>de</strong>n zu greifen.Der kanonisierte Dichter wird als Autorität zitiert und zugleich wird erdurch diese Zitate wie<strong>de</strong>rum <strong>zur</strong> Autorität gemacht, die unbedingt in <strong>de</strong>nKanon gehört. Ihre Worte dienen, in Abwandlung eines weiteren Bietak-Zitats,[…] <strong>de</strong>m Kulturi<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Mitte, <strong>de</strong>m Bildungsi<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s ÖsterreichersAdalbert Stifter, <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>al einer auf <strong>de</strong>utschem Grund gewachsenen,universalen, abendländischen humanitas (Bietak 1937: 977).Was für Stifter recht ist, ist für Grillparzer billig. Tschulik (1937:581) sieht im Dramatiker nicht nur <strong>de</strong>n Vorläufer <strong>de</strong>r ständischen I<strong>de</strong>e,son<strong>de</strong>rn sehr wohl auch „das Vorbild eines treuen Österreichers“, in <strong>de</strong>ssenDichtungen sich neben <strong>de</strong>m ständischen Gedanken auch „die I<strong>de</strong>eÖsterreichs“ aufbaut (Tschulik 1937: 582).Dass ein angesehener Autor wie Otto Stoessl, von <strong>de</strong>r Zeitschrift zueinem Raimund-Aufsatz zum 100. To<strong>de</strong>stag eingela<strong>de</strong>n, für eine solche125


schlichte Deutung <strong>de</strong>s von ihm behan<strong>de</strong>lten Autors nicht zu haben war un<strong>de</strong>in stärker differenzieren<strong>de</strong>s Manuskript vorgelegt hat, ist zu erwarten.Doch auch hier wird – von <strong>de</strong>r Sache her ja ganz zu Recht – das Element<strong>de</strong>s spezifisch Österreichischen stark hervorgehoben, im Sinne <strong>de</strong>sstän<strong>de</strong>staatlichen Österreich-Bilds die Vielfältigkeit <strong>de</strong>s Deutschtums(Stoessl 1936: 717) und damit die österreichische Son<strong>de</strong>rart unterstrichen,ein Gedanke, <strong>de</strong>r sich übrigens ganz ohne politische Absicht schon beiMüllner (1898: 4) fin<strong>de</strong>t. Auch bei Stoessl ist, nachdrücklich am Schluss,die Re<strong>de</strong> von „österreichischem Sein und Wesen“, von einem„österreichischen Grundzug und Wesensinhalt“ in Raimunds Werk, vom„‚ewigen Österreich‘“ (Stoessl 1936: 725). So ordnet sich Stoessls Beitragebenfalls in diese sachlich ja durchaus begrün<strong>de</strong>te patriotische Deutungo<strong>de</strong>r Um<strong>de</strong>utung, ja Vereinnahmung <strong>de</strong>s Kanons ein, für die sich nochan<strong>de</strong>re Beispiele fin<strong>de</strong>n ließen, etwa eine im Zusammenhang eines Artikelsüber die Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> stehen<strong>de</strong> Äußerung Oskar Maurus Fontanasüber „ein inneres Österreich, ein Österreich <strong>de</strong>r Seele“ bei Stifter (Fontana1936: 1071), aber auch schon <strong>de</strong>r Titel dieses Aufsatzes: „Österreichsewiges Antlitz in <strong>de</strong>r Dichtung <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong>“. Der Beitrag überStelzhamer beginnt zumin<strong>de</strong>st in patriotischem Tonfall: „Das Land ob <strong>de</strong>rEnns […]“ (Zeh<strong>de</strong>n 1936: 818).Die literarischen Beiträge <strong>de</strong>r Monatsschrift für Kultur undPolitik ordnen sich somit ganz in die Zielsetzung ein, die Schuschnigg(1936: I) ihr in seinem Geleitwort zum ersten Heft mitgegeben hat:„Sammelpunkt <strong>de</strong>s geistigen Österreich“ zu sein und „ihre Kräfte in <strong>de</strong>nDienst <strong>de</strong>r Ziele zu stellen, die Österreich heißen.“ Die Zeitschrift ist dasMittel <strong>de</strong>r Schuschnigg’schen Kulturpolitik um <strong>de</strong>n Kanon zu beeinflussen.Nicht literarische Zeitschrift im engeren Sinn, aber eine Zeitschriftmit nicht wenigen literarischen Beiträgen war in <strong>de</strong>r Ära <strong>de</strong>s ‚Stän<strong>de</strong>staats‘<strong>de</strong>r Ruf <strong>de</strong>r Heimat (dazu Natter 1984; Natter 1988) 10 , an <strong>de</strong>m immerhin<strong>de</strong>r Brenner-Autor Ignaz Zangerle maßgeblich mitgearbeitet hat. DieseZeitschrift stand offiziell im Dienst stän<strong>de</strong>staatlicher Organisationen undhatte <strong>de</strong>n gera<strong>de</strong>zu amtlichen Auftrag, die I<strong>de</strong>ologie <strong>de</strong>r neuen Staatsformzu popularisieren.Dem Autorenverzeichnis (Natter 1984: 484-486) ist zu entnehmen,dass Texte von Feuchtersleben, Grillparzer, Lenau (!), Raimund, Stelzhamerund (drei Mal) Stifter erschienen sind, zumeist jeweils nur einer. DieserKanon unterschei<strong>de</strong>t sich kaum von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Monatsschrift für Kultur10 Natters ausgezeichnete Arbeiten setzen allerdings <strong>de</strong>n Akzent auf die politischen ‚Botschaften’<strong>de</strong>r Zeitschrift und müssten durch eine kulturpolitische Analyse ergänzt wer<strong>de</strong>n.126


und Politik; eigentlich fehlt nur Nestroy, vielleicht nicht ganz zufällig.Auch die Verwendung dieses Kanons gleicht <strong>de</strong>m in <strong>de</strong>r stärker anIntellektuelle appellieren<strong>de</strong>n Zeitschrift Messners: „Einzelne Beiträge im‚Ruf <strong>de</strong>r Heimat‘ aus <strong>de</strong>m Fundus konservativer bzw. in konservativerAbsicht verwendbarer Texte vor allem aus <strong>de</strong>m ‚großen Erbe‘österreichischer Literatur (z. B. Grillparzer, Raimund, Stifter,Hofmannsthal) stellen keine Gegenten<strong>de</strong>nz zum provinziell-‚antimo<strong>de</strong>rnen‘Charakter <strong>de</strong>r literarischen Beiträge <strong>de</strong>r Zeitschrift dar, in <strong>de</strong>rinnovatorische Literatur <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit völlig fehlt. Sie dienenoffensichtlich als Mosaiksteine zum Aufbau eines ‚Österreich‘-Bil<strong>de</strong>s undkönnen überdies teilweise <strong>de</strong>n Kategorien ‚volkstümlich‘ (Raimund) o<strong>de</strong>r‚provinziell‘ (Stifter) zugeordnet wer<strong>de</strong>n“ (Natter 1984: 471).Von <strong>de</strong>utschen Klassikern (im weitesten Sinn) ist im Ruf <strong>de</strong>rHeimat hingegen nichts erschienen. Sowohl darin als auch in <strong>de</strong>r Funktion<strong>de</strong>r Beiträge aus <strong>de</strong>m Werk <strong>de</strong>r be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n österreichischen Autoren isteine <strong>de</strong>utliche Parallele <strong>zur</strong> Monatsschrift für Kultur und Politik zusehen. Auch explizit wur<strong>de</strong> – durch Ignaz Zangerle – mit <strong>de</strong>rösterreichischen Literatur die ‚Österreich-I<strong>de</strong>e‘ begrün<strong>de</strong>t (Natter 1984:198-199).Der Versuch, die literarische Komponente <strong>de</strong>r Österreich-I<strong>de</strong>ologie<strong>de</strong>s Stän<strong>de</strong>staats nachzuweisen, hat auch für die Zweite RepublikBe<strong>de</strong>utung; <strong>de</strong>nn an eben jene I<strong>de</strong>ologie hat man, nicht zuletzt aufgrundpersönlicher Kontinuitäten (Scheichl 1997; Scheichl 1990b), nach 1945 bei<strong>de</strong>n Bemühungen um die Festigung <strong>de</strong>r kulturellen I<strong>de</strong>ntität Österreichsauch im kulturellen Bereich angeknüpft; die <strong>de</strong>utlich katholischbo<strong>de</strong>nständigeSchlagseite <strong>de</strong>r Stiasny-Bücherei <strong>de</strong>r fünfziger Jahreverweist auf diese Wurzeln <strong>de</strong>s Österreich-Gedankens <strong>zur</strong>ück. Daskatholisch-konservative Umfeld dieses Patriotismus hat dazu geführt, dassnicht nur Zusammenhänge mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen literarischen Traditionverdrängt wor<strong>de</strong>n sind – das silberboot mit seiner großen Liebe zu Goetheauch in <strong>de</strong>r zweiten Phase <strong>de</strong>r Zeitschrift bleibt da eine Ausnahme – ,son<strong>de</strong>rn dass auch die im weitesten Sinn ‚linke‘ österreichische Literatur(seit <strong>de</strong>m Josephinismus) sowie von Ju<strong>de</strong>n – im Stän<strong>de</strong>staat zwar nichtverfolgt, aber gewiss nicht geliebt – stammen<strong>de</strong> Werke aus <strong>de</strong>m Kanon <strong>de</strong>rösterreichischen Literatur ausgeschlossen blieben. Bezeichnend ist diestiefmütterliche Behandlung <strong>de</strong>r Emigranten Alfred Polgar und BertholdViertel – o<strong>de</strong>r gar eines Anton Kuh – in <strong>de</strong>r offiziösen LiteraturzeitschriftWort in <strong>de</strong>r Zeit (in <strong>de</strong>r aber immerhin Broch und Kramer zu ihrem Rechtgekommen sind). Noch die an Magris’ Hypothesen <strong>zur</strong>echt kritisierteKonzentration auf diesen konservativ geprägten Kanon, unter127


Ausklammerung <strong>de</strong>r durch die Anthologie von Rietra (1980) wie<strong>de</strong>r inErinnerung gerufenen, für eine spätere Epoche durch Karlheinz Rossbacher(1992) unterstrichenen liberalen Traditionen, kann als späte Nachwirkung<strong>de</strong>r stän<strong>de</strong>staatlichen Kulturpolitik verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.Die erwähnte offiziöse Zeitschrift Wort in <strong>de</strong>r Zeit (dazu Hackl1988) 11 von Rudolf Henz, einem Kulturfunktionär <strong>de</strong>r Dollfuß-Schuschnigg-Ära, herausgegeben, vom Unterrichtsministerium mit vielGeld geför<strong>de</strong>rt, aber auch unter seiner Kuratel stehend, ist in <strong>de</strong>n fünfzigerund sechziger Jahren sehr um die Rettung bestimmter Leichen für <strong>de</strong>nKanon bemüht, allerdings eher von Leichen aus <strong>de</strong>m 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt. Wo inihr vom 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt die Re<strong>de</strong> ist, fehlen die <strong>de</strong>zidiert liberalen undkritischen Autoren o<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n doch nur selten erwähnt. In dieserZeitschrift ist ferner die Abgrenzung von Deutschland wichtig; sie arbeitetin Hinblick auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart ähnlich wie dieMonatsschrift für Kultur und Politik und <strong>de</strong>r Ruf <strong>de</strong>r Heimat an einementschie<strong>de</strong>n österreichischen Kanon.An sich liegt <strong>de</strong>r Schwerpunkt von Wort in <strong>de</strong>r Zeit auf <strong>de</strong>m Werkleben<strong>de</strong>r Autorinnen und Autoren, was etwa die Liste <strong>de</strong>r ‚Autorenporträts‘(Hackl 1988: 398-400; zu Aufbau und Funktion dieser Textsorte in <strong>de</strong>rZeitschrift ebenda: 129-135) zeigt. Die meisten von ihnen geltenösterreichischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die noch lebten o<strong>de</strong>rnach 1920 gestorben waren. Die einzigen Ausnahmen sind Trakl, Weiningerund – Charles Sealsfield, <strong>de</strong>r diese Ehre aber <strong>de</strong>m Verfasser <strong>de</strong>s Artikels,<strong>de</strong>m Emigranten Ernst Waldinger, zu verdanken haben dürfte; bezeichnend(und richtig) <strong>de</strong>r Titel „Charles Sealsfield, ein Vergessener“ (1959; A1259); weitere Beiträge über Sealsfield sind in dieser Zeitschrift nichterschienen. Die österreichischen ‚Klassiker‘ können von <strong>de</strong>r Anlage her indieser Reihe von Texten nicht vorkommen.Auch Primärtexte von ihnen sind selten; es han<strong>de</strong>lt sich zumeist umlängere Zitate, um Kleintexte, die an mehreren Stellen in einem Heftaufscheinen. Solche Kleintexte wur<strong>de</strong>n übrigens nicht nur <strong>de</strong>m Werk vonÖsterreichern entnommen; ihre Auswahl ist ziemlich undurchschaubar. Dereinzige größere Text von einem kanonisierten österreichischen Autor ist <strong>de</strong>rWie<strong>de</strong>rabdruck von Grillparzers „Worin unterschei<strong>de</strong>n sich dieösterreichischen Dichter von <strong>de</strong>n übrigen?“ (1958; A 746). Die11 Ich stütze mich im Weiteren mehrfach auf <strong>de</strong>n aufschlussreichen Registerteil dieserUntersuchung. Veröffentlichungen in <strong>de</strong>r Zeitschrift wer<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Jahr und Hackls Siglegekennzeichnet.128


kulturpolitische Relevanz <strong>de</strong>r Entscheidung für gera<strong>de</strong> diesen Text brauchtnicht ausdrücklich erläutert zu wer<strong>de</strong>n.Bei <strong>de</strong>n Erwähnungen ergibt sich ein an<strong>de</strong>res Bild. Auffällig ist dieSeltenheit <strong>de</strong>r Erwähnung ‚reichs<strong>de</strong>utscher‘ und Schweizer Autoren:Her<strong>de</strong>r, Kleist, Gotthelf, Storm, Fontane fehlen ganz, Lessing kommteinmal in einer Rezension vor, Heine 1962 in einer offensichtlich eherzufällig aufgenommenen Besprechung <strong>de</strong>s Heine-Jahrbuchs (R 2239).Goethe wird insgesamt fünf Mal erwähnt, in einigen Rezensionen, anStellen, wo sich ein Bezug <strong>zur</strong> Literatur Österreichs ergibt, dortselbstverständlich wegen dieses Bezugs, etwa im Dramenauszug „Gesprächmit Goethe“ <strong>de</strong>s österreichischen Dichters Friedrich Schreyvogl (1957; DA655). Die Auflage <strong>de</strong>s die Zeitschrift för<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Ministeriums, vorwiegendBücher österreichischer Autorinnen und Autoren zu besprechen (Hackl1988: 162), trug <strong>zur</strong> geringen Zahl <strong>de</strong>r Erwähnungen nicht-österreichischerSchriftsteller wesentlich bei. Doch können uns hier die Ursachen ohnehingleichgültig sein; dieses Faktum belegt eben, dass die Zeitschrift alsInstrument <strong>de</strong>r Kulturpolitik in <strong>de</strong>m hier beschriebenen Sinn benützt wor<strong>de</strong>nist. Die Rolle, die das Unterrichtsministerium dabei gespielt hat, machtwie<strong>de</strong>r darauf aufmerksam, dass Kanon-Fragen auch Machtfragen sind –wobei man nicht außer acht lassen sollte, dass die Macht allein nichtentschei<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>nn die Bemühungen von Wort in <strong>de</strong>r Zeit sind schließlichim Großen und Ganzen gescheitert.Die Zahl <strong>de</strong>r Erwähnungen österreichischer Dichter <strong>de</strong>s 19.Jahrhun<strong>de</strong>rts, die <strong>de</strong>ren Platz im Kanon abschätzen lassen – dass für Wortin <strong>de</strong>r Zeit auch Hofmannsthal, Rilke und Kafka in die Funktion von‚Klassikern‘ ein<strong>zur</strong>ücken begannen, bleibe hier wegen <strong>de</strong>r besserenVergleichbarkeit ausgespart –, hängt unter an<strong>de</strong>rem von <strong>de</strong>r Zahl <strong>de</strong>rAnlässe für Besprechungen, also <strong>de</strong>r Neuausgaben dieser Autoren und <strong>de</strong>rNeuerscheinungen über sie, ab. Die kanonrelevanten Entscheidungen übersolche Veröffentlichungen wer<strong>de</strong>n außerhalb <strong>de</strong>r Zeitschrift getroffen.Die meisten ausführlicheren Beiträge über österreichische Literatur<strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts sind erst ab <strong>de</strong>n sechziger Jahren erschienen, 1961vielfach in <strong>de</strong>r kurzlebigen Rubrik „Österreichische Literatur inGrundrissen“ (dazu Hackl 1988: 53-53), die, vom Unterrichtsministeriumangeregt, <strong>de</strong>n ‚Lektüre-Kanon‘ <strong>de</strong>r Schulen in patriotischem Sinnbeeinflussen sollte. Die wenigen in dieser Serie erschienenen Aufsätzestellten aus <strong>de</strong>r österreichischen Literatur <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts Ebner-Eschenbach, Saar – neben jeweils einer Besprechung <strong>de</strong>r einzige Beitragüber die bei<strong>de</strong>n Autoren –, Stifter und Raimund vor (Aus <strong>de</strong>m 20.129


Jahrhun<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong> diese Ehre Wildgans, Paula v. Preradovic, Kraus undStefan Zweig zuteil).Über Grillparzer gibt es immerhin zwei Aufsätze, bei<strong>de</strong> vonausländischen Germanisten (1962; A 2252. 1963; A 2500), drei kürzereKommentare und eine große Zahl von Rezensionen. Ähnlich sieht es beiStifter aus, bei <strong>de</strong>m noch etwas häufiger behan<strong>de</strong>lten Nestroy und beiRaimund, <strong>de</strong>m ein schon erwähnter größerer Aufsatz gewidmet ist – von<strong>de</strong>m bereits in <strong>de</strong>r Monatsschrift für Kultur und Politik bewährten (undim Übrigen als Germanist angesehenen) Wilhelm Bietak (1961; A 1969).Über Lenau sind zwei Aufsätze erschienen 12 ; über Rosegger ebenfalls.Damit ist, abgesehen von ein paar Besprechungen, von WaldingersSealsfield-Porträt und einem Aufsatz über Feuchtersleben, dieösterreichische Literatur <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts für Wort in <strong>de</strong>r Zeitabgehakt.Nichts von o<strong>de</strong>r über Beck, Fel<strong>de</strong>r, Frankl, Franzos, Gilm, Grün,Halm, Kompert, Meissner, Betty Paoli, Adolf Pichler, Senn, Spitzer (vondiesem sind ein paar aphoristische Zitate aufgenommen wor<strong>de</strong>n),Stelzhamer, auch nichts von <strong>de</strong>n „bei<strong>de</strong>n Wickenburg“, die aber vermutlichnieman<strong>de</strong>m abgehen; so gut wie nichts zu Bauernfeld, David, Herzl,Kürnberger, Spei<strong>de</strong>l. Mit einem Wort: die hier nicht erwähnten Autorenbil<strong>de</strong>n das Inhaltsverzeichnis von Hans Heinz Hahnls VergessenenLiteraten (1984; vgl. auch Scheichl 1997). Sogar <strong>de</strong>n an sich keineswegsganz vergessenen, aber kulturkämpferischen Ludwig Anzengruber suchtman hier vergebens. (Dass aus <strong>de</strong>m 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt sogar <strong>de</strong>r Para<strong>de</strong>-Arbeiterdichter Petzold fehlt – und keinem Kulturpolitiker abgegangen zusein scheint –, passt in das hier gezeichnete Bild.)Nun war es auch im eigenen Selbstverständnis gewiss nicht dieHauptaufgabe von Wort in <strong>de</strong>r Zeit, die Traditionen <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rtszu bewahren, doch als einen gezielten Beitrag <strong>zur</strong> Kanonbildung muss mandie hier erwähnten Artikel und die sich daraus ergeben<strong>de</strong>Schwerpunktsetzung wohl doch ansehen. Das Anknüpfen <strong>de</strong>r Zeitschrift andie Österreich-I<strong>de</strong>e und die politischen Vorstellungen <strong>de</strong>s Stän<strong>de</strong>staats –auch durch Kontinuität <strong>de</strong>r Personen – sowie die Abgrenzung vonDeutschland (vgl. Scheichl 1990b), <strong>de</strong>ren Wichtigkeit für die ZweiteRepublik unbestritten ist, haben dazu geführt, dass es hier für die liberalenund erst recht die <strong>de</strong>utschnationalen Dichter <strong>de</strong>s alten Österreich nur ein12 Die Angabe A 2709 bei Hackl 1988 ist allerdings unrichtig.130


‚Die an<strong>de</strong>rn raus‘ gegeben hat. Eine gewisse Wien-Orientiertheit <strong>de</strong>rZeitschrift mag zu dieser Entwicklung beigetragen haben.Das Echo dieser Kanonbildung sind Formulierungen bei Magris, diedie liberale literarische Tradition einfach ausschließen, um das Bild <strong>de</strong>s‚habsburgischen Mythos‘ nicht zu trüben: Die politische Lyrik, Grün, Gilmund an<strong>de</strong>re hätten zwar „in <strong>de</strong>r österreichischen Literaturgeschichte ihreBe<strong>de</strong>utung“, seien „von <strong>de</strong>r Richtung <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit […] jedochweit entfernt“; sie unterschie<strong>de</strong>n sich nicht von <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Dichtern„und haben mit <strong>de</strong>m literarischen Mythos, <strong>de</strong>r hier untersucht wer<strong>de</strong>n soll,nichts zu tun“ (Magris 1966: 55-56).Die Einschränkung <strong>de</strong>s traditionellen ‚Literatur-Kanons‘ inÖsterreich auf einige auch als konservativ interpretierbare Autoren <strong>de</strong>s 19.Jahrhun<strong>de</strong>rts und das weitgehen<strong>de</strong> Ausschei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r nicht-österreichischenklassischen Autoren <strong>de</strong>utscher Sprache hängen weniger mit <strong>de</strong>r (in manchenFällen sehr wohl überzeugen<strong>de</strong>n) Qualität <strong>de</strong>r mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>mKanon hinausgeworfenen Autoren zusammen als mit <strong>de</strong>m Aufgehen <strong>de</strong>sLiberalismus in einem staatsfeindlichen und antisemitischenDeutschnationalismus und mit <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>reroberung <strong>de</strong>s intellektuellenDiskurses durch die Katholisch-Konservativen seit <strong>de</strong>m Beginn <strong>de</strong>s 20.Jahrhun<strong>de</strong>rts sowie mit <strong>de</strong>m für Österreich notwendigen Anwachsen einesösterreichischen Patriotismus insbeson<strong>de</strong>re nach 1945 (vgl. Zelewitz 1987zu <strong>de</strong>n Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen um <strong>de</strong>n Stellenwert Grillparzers und Schillersim Deutschunterricht schon um 1890) zusammen.Diese Ten<strong>de</strong>nzen sind nicht von Literaturzeitschriften ausgegangen,aber von ihnen aufgenommen wor<strong>de</strong>n. Als Multiplikatoren einerbestimmten Rezeptionsweise sind sie in ihrer Wirkung nicht zuunterschätzen; die Langlebigkeit eines antimo<strong>de</strong>rnen Kanons in Österreich(u. a. Müller 1990), die Langlebigkeit sozusagen <strong>de</strong>r Leichen im Kanon istgewiss auch <strong>de</strong>r Monatsschrift für Kultur und Politik, <strong>de</strong>m Ruf <strong>de</strong>rHeimat, <strong>de</strong>m (völkischen) Getreuen Eckart (1923-1944) und später Wortin <strong>de</strong>r Zeit zu danken. Speziell für die eingeengte Fragestellung diesesAufsatzes ist von Be<strong>de</strong>utung, dass eben diese Zeitschriften zu einem sehreinseitigen, auf Grillparzer und Stifter, Raimund und Nestroy reduziertenBild <strong>de</strong>r Literatur Österreichs im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt beigetragen und durch dieobendrein getroffene Auswahl bestimmter Züge an Grillparzer (<strong>de</strong>ssen ganzund gar nicht harmlose Epigramme kaum je erwähnt wer<strong>de</strong>n) das Bild einerbraven Dichtung geför<strong>de</strong>rt haben – mit <strong>de</strong>r die österreichischen Obrigkeitenbis heute ihre Freu<strong>de</strong> hätten.Auch Die Fackel und das silberboot – bei<strong>de</strong> ohne direkteBerührungspunkte mit offiziellen Stellen – haben <strong>de</strong>m Anknüpfen an die131


Tradition großes Gewicht beigemessen, die Tradition allerdings an<strong>de</strong>rsverstan<strong>de</strong>n. Insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Fackel ist es durch <strong>de</strong>n Einsatz für Nestroygelungen, einen Beitrag <strong>zur</strong> Erweiterung <strong>de</strong>s Kanons zu leisten, obwohldiese ‚Ent<strong>de</strong>ckung‘ um 1912 wahrscheinlich in <strong>de</strong>r Luft lag. Der ganzan<strong>de</strong>rs geartete Versuch <strong>de</strong>s silberboots, die klassische Tradition <strong>de</strong>utscherSprache in Österreich lebendig zu erhalten, ist dagegen folgenlos geblieben,einerseits weil ihn Schönwiese mit weniger Konsequenz betrieben hat alsKraus, an<strong>de</strong>rerseits wohl wegen <strong>de</strong>r kulturpolitischen Rahmenbedingungen,die spätestens seit 1945 einem ‚gesamt<strong>de</strong>utschen‘ Kanon in Österreich nichtmehr günstig gewesen sind.Als Beispiel für einen, wesentlich späteren, kulturpolitischenEingriff in die Kanonbildung in Österreich sei <strong>de</strong>r so genannte Austrokoffervon 2005 genannt, eine 21-bändige, 12 Kilogramm schwere Sammlung <strong>de</strong>r<strong>de</strong>m Herausgeber bzw. <strong>de</strong>n Herausgeberinnen und Herausgebern (und <strong>de</strong>mzuständigen Staatssekretariat?) als maßgeblich gelten<strong>de</strong>n Werkeösterreichischer Autorinnen und Autoren seit 1945; dieser Sammlung kannman immerhin Vorlieben für beson<strong>de</strong>rs konservative Werke nichtvorwerfen. Der „Austrokoffer“ (endgültig unter <strong>de</strong>m TitelLandvermessung erschienen) wird hier nur erwähnt, weil er belegt, dassdie Bemühungen <strong>de</strong>r österreichischen Kulturpolitik um die Etablierungeiner ‚österreichischen Nationalliteratur‘ – dieser Begriff kommt in <strong>de</strong>neinschlägigen Debatten übrigens nicht vor – anhalten (vgl. Moser 2012).Spannend sind die offensichtlich sehr unterschiedlichenBewertungen <strong>de</strong>r Tradition in verschie<strong>de</strong>nen Zeitschriften, etwa dieIndienstnahme Grillparzers für bestimmte politische Positionen auf <strong>de</strong>reinen Seite, die hier nicht näher ausgeführte Grillparzer-Kritik bei Kraus,das Bekenntnis zu Goethe bei diesem und im silberboot und <strong>de</strong>r durchSchweigen zum Ausdruck kommen<strong>de</strong> Abstand von <strong>de</strong>r Weimarer Traditionin <strong>de</strong>n <strong>de</strong>zidiert österreichisch orientierten Zeitschriften. Schon <strong>de</strong>r Einblickin solche Spannungen um <strong>de</strong>n Kanon macht für <strong>de</strong>n Literarhistoriker dasStudium <strong>de</strong>r literarischen Zeitschriften unabdinglich. Sie beweisen, dass,was Hugo von Hofmannsthal 1922 in seiner „Vorre<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Herausgebers“zum Deutschen Lesebuch geschrieben hat, nicht nur für die Literatur in<strong>de</strong>utscher Sprache insgesamt, son<strong>de</strong>rn auch speziell für die Literatur inÖsterreich gilt:Wir haben nicht wie die Franzosen einen Kanon; wie wir uns nie zu festenRegeln <strong>de</strong>r Beurteilung durchfin<strong>de</strong>n, so wird auch <strong>de</strong>r Rang <strong>de</strong>s Einzelnen beiuns immer ein schwanken<strong>de</strong>r sein, nicht von <strong>de</strong>n Leben<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn sogar von<strong>de</strong>n Toten (Hofmannsthal 1957: 666).132


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Johann HolznerInnsbruckEnt<strong>de</strong>ckungen und Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckungen. Literatur inÖsterreich 2010-2012 – Festvortrag gelegentlich <strong>de</strong>s20jährigen Jubiläums <strong>de</strong>r Österreich-Bibliothek Temeswar 1Abstract: The article reflects on recent <strong>de</strong>velopments in Austrian literature and Austrianliterary history. With the sentence by Czech writer and diplomate Jiří Gruša (1938-2011)„Wer seine Nachbarn nicht kennt, <strong>de</strong>m fällt es leicht, sie nicht zu mögen“ as a motto thearticle first discusses two new histories of Austrian literature: Wynfrid Kriegle<strong>de</strong>r’s Einekurze Geschichte <strong>de</strong>r Literatur in Österreich. Menschen – Bücher – Institutionen,published in Vienna in 2011 and Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650(Innsbruck-Vienna-Bozen 2012), by Klaus Zeyringer and Helmut Gollner. After a briefescursus on Cătălin Dorian Florescu’s novel Jacob beschließt zu lieben (Munich 2011),several books which have been largely discussed in Austria between 2010 and 2012 arebeing presented: Novels and tales by Alois Hotschnig, Sabine Gruber and RichardObermayr as well as the new edition of Franz Tumler’s writing.Keywords: Austrian literary history, Cătălin Dorian Florescu, Alois Hotschnig, SabineGruber, Richard Obermayr, Franz Tumler300 Jahre Österreich-Präsenz im Banat, 20 Jahre Österreich-Bibliothek inTimişoara: Das wären Anlässe genug, <strong>zur</strong>ückzublicken auf die Geschichteund die Geschichten, die sich rund um diese Schlüsseldaten ranken. Abereine <strong>de</strong>rart lebendige Einrichtung wie diese Österreich-Bibliothek inTimişoara ist längst schon auf <strong>de</strong>m Weg von einer Kultur, die in erster Liniedas Speichern und das Aufbewahren im Sinn hat, hin zu einer Kultur <strong>de</strong>rLiteraturvermittlung, die sich auch mit <strong>de</strong>n aktuellsten Strömungen, mit <strong>de</strong>nRepräsentantinnen und Repräsentanten <strong>de</strong>r Gegenwartsliteratur intensivauseinan<strong>de</strong>r setzt.Im Hinblick darauf möchte ich im Folgen<strong>de</strong>n einige Anmerkungen<strong>zur</strong> zeitgenössischen Literatur in Österreich zusammenstellen; vorausgestelltaber sei, als Motto, ein Satz <strong>de</strong>s tschechischen Schriftstellers undDiplomaten Jiří Gruša (1938-2011), ein Grund-Satz, <strong>de</strong>n Miguel Herz-Kestranek überliefert hat:Wer seine Nachbarn nicht kennt, <strong>de</strong>m fällt es leicht, sie nicht zu mögen.1 Der Vortrag wur<strong>de</strong> am 4. Mai 2012 gehalten.139


Ich beginne mit einem knappen Hinweis auf zwei neue Literaturgeschichten;die eine stammt von Wynfrid Kriegle<strong>de</strong>r: Eine kurzeGeschichte <strong>de</strong>r Literatur in Österreich. Menschen – Bücher –Institutionen (2011), die an<strong>de</strong>re von Klaus Zeyringer und Helmut Gollner:Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650 (2012). Denn bei<strong>de</strong> führenbis herauf in die Gegenwart und bei<strong>de</strong> dürften als Handbücher künftig inkeiner einschlägigen Bibliothek mehr fehlen.Zu <strong>de</strong>n vielen Vorzügen von Kriegle<strong>de</strong>rs Kurzer Geschichte <strong>de</strong>rLiteratur in Österreich (die immerhin 600 Seiten umfasst) gehört auchdieser, dass sie Kanon-Mechanismen auf<strong>de</strong>ckt und Wertungen nicht nurkommentiert und gelegentlich revidiert (unter gewissenhafter Einbeziehung<strong>de</strong>r Erträge <strong>de</strong>r einschlägigen Forschung), son<strong>de</strong>rn hin und wie<strong>de</strong>r auchgrundsätzlich erschüttert. So tauchen in Kriegle<strong>de</strong>rs Darstellung zahlreicheNamen und Titel auf, die man nicht unbedingt erwartet hätte; und dieseNamen und Titel wer<strong>de</strong>n auch keineswegs gleich wie<strong>de</strong>r in die bekanntenliteraturgeschichtlichen Rubriken eingesperrt, so dass sie hier gleichsam ineinem autonomen Raum verbleiben dürfen, je<strong>de</strong>nfalls wo immer das ihnenzusteht. – Damit aber kommt nicht nur <strong>de</strong>utschsprachiges Schrifttum,son<strong>de</strong>rn z. B. auch lateinisches und hebräisches zu Wort. Darüber hinauswer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r Epoche nach 1848, die verschie<strong>de</strong>nen nationalen Literaturen<strong>de</strong>r Monarchie (wenigstens stichwortartig) mit berücksichtigt. Wenn dannim letzten Abschnitt, über die Literatur <strong>de</strong>r Gegenwart, auch die Re<strong>de</strong> istvon Ra<strong>de</strong>k Knapp, Vladimir Vertlib, Dimitré Dinev o<strong>de</strong>r Julya Rabinowich,wer<strong>de</strong>n die Arbeiten <strong>de</strong>r Autoren und Autorinnen „mit Migrationshintergrund“keineswegs als Son<strong>de</strong>rfälle, schon gar nicht unter <strong>de</strong>m Titel„Migrationsliteratur“ erörtert, vielmehr vollkommen eingebun<strong>de</strong>n, so wiedie Werke <strong>de</strong>r vielen zugewan<strong>de</strong>rten Vorgänger seit <strong>de</strong>r frühen Neuzeit, sowie u. a. die slowenische Literatur in Österreich auch, als wäre dies immerschon das Selbstverständlichste von <strong>de</strong>r Welt gewesen. – Der Blick schweiftweit hinaus über die so genannte Höhenkammliteratur und wird oft auch aufGebiete gelenkt, die früher bestenfalls als Nischen <strong>de</strong>r Literaturgeschichtebetrachtet wor<strong>de</strong>n sind. Vorstadttheater, Feuilleton, Kaffeehausliteratur,Kin<strong>de</strong>r- und Jugendliteratur und vieles an<strong>de</strong>re mehr: Kriegle<strong>de</strong>r beleuchtetauch solche Faktoren <strong>de</strong>s Kulturbetriebs, ohne gleichzeitig Namenfriedhöfeanzulegen; und er sieht nicht nur das literarische Leben in <strong>de</strong>n Zentren,son<strong>de</strong>rn ebenso, was in <strong>de</strong>r Peripherie sich zugetragen hat und zuträgt.Klaus Zeyringer und Helmut Gollner betonen stärker als Kriegle<strong>de</strong>r,dass ihre Auswahl- und Deutungsprinzipien auf subjektiven Grund-140


positionen ruhen – was <strong>de</strong>nn auch schon <strong>de</strong>r Titel ihres Handbuchs EineLiteraturgeschichte: Österreich seit 1650 anzeigt. So behan<strong>de</strong>ln sie mitbeson<strong>de</strong>rer Sorgfalt Epochen und Genres <strong>de</strong>r österreichischen Literatur, diein Gesamtdarstellungen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschsprachigen Literatur wenn überhauptdann nur am Rand vorkommen (z. B. die Ära <strong>de</strong>s Liberalismus o<strong>de</strong>r das Alt-Wiener Volkstheater); <strong>de</strong>rselben Intention entsprechend wer<strong>de</strong>n Autorinnenund Autoren, die aus Österreich stammen, aber in Übersichtsdarstellungenihrer Epoche nur Nebenrollen spielen dürfen, hier hin und wie<strong>de</strong>r insRampenlicht geholt, wie Catharina Regina von Greiffenberg. – Wo esdarum geht, i<strong>de</strong>ologische versus ästhetische Indikatoren inKanonisierungsfragen aufzunehmen, wer<strong>de</strong>n letztere allerdings nicht selten<strong>zur</strong>ückgestellt. Haltungen zu Themen wie Sexualität, Religion, Diktatur,aber auch Rezeptionszeugnisse, die dokumentieren, dass ein Werk (auch)von <strong>de</strong>r „falschen Seite“ (z. B. in katholisch-konservativen o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>utschnationaleno<strong>de</strong>r gar in nationalsozialistischen Publikationen) vereinnahmtwor<strong>de</strong>n ist, wer<strong>de</strong>n zu Gradmessern, die weiter zu hinterfragen offenbarnicht mehr opportun wirkt (was Raimund und Stifter ebenso zu spürenbekommen wie Franz Nabl o<strong>de</strong>r Franz Tumler o<strong>de</strong>r auch Matthias Man<strong>de</strong>rund Peter Waterhouse, <strong>de</strong>ren Namen man überhaupt vergeblich sucht). Eswäre unrichtig zu sagen, dass <strong>de</strong>r stark dominieren<strong>de</strong> sozialgeschichtlicheAnsatz <strong>de</strong>n Vorsatz, die Kanonentscheidungen <strong>de</strong>r Vergangenheit zu prüfenund auch die hier getroffene Auswahl immer wie<strong>de</strong>r zu reflektieren, ganzdurchkreuzt; dass er die analytische Betrachtung aller relevanten Wertmaßstäbeför<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>, kann umgekehrt jedoch nicht behauptet wer<strong>de</strong>n.An<strong>de</strong>rerseits, die in literaturgeschichtlichen Abrissen beliebte Kreis-Darstellung, die sich, an<strong>de</strong>rs als <strong>de</strong>r Erzähler in Grillparzers Novelle Derarme Spielmann, darauf konzentriert, die Berühmten hervorzuheben undim Gegenzug die so genannten Obskuren auszugrenzen, diese dieKanonisierungs-Mechanismen permanent reproduzieren<strong>de</strong> Form <strong>de</strong>rDarstellung wird von Zeyringer und Gollner souverän ad acta gelegt: „Jung-Wien“ bekommt, um dies hier nur an einem Beispiel zu veranschaulichen,selbstverständlich <strong>de</strong>n Raum, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Kreis um Schnitzler undHofmannsthal gebührt; aber gleichzeitig wer<strong>de</strong>n auch Rosa Mayre<strong>de</strong>r undMaria Janitschek gewürdigt und viele an<strong>de</strong>re Autorinnen und Autoren, diein älteren (an <strong>de</strong>r Verknüpfung von Gesellschafts- und Literaturgeschichteweniger interessierten) Literaturgeschichten so gut wie nieBerücksichtigung gefun<strong>de</strong>n haben.*141


Um noch einmal das Stichwort „Migrationsliteratur“ aufzugreifen:Die betroffenen Autorinnen und Autoren vermei<strong>de</strong>n es bekanntlich, woimmer das nur geht. Sie wollen nämlich als Schriftsteller/innen ernstgenommen wer<strong>de</strong>n, nicht als Flüchtlinge o<strong>de</strong>r Zugvögel. Tatsächlich ist eshöchste Zeit, ihnen <strong>de</strong>nselben Status zuzuerkennen, <strong>de</strong>n Künstler/innen ausan<strong>de</strong>ren kulturellen Fel<strong>de</strong>rn längst genießen; niemand käme auf die I<strong>de</strong>e,Stars wie Edita Gruberová o<strong>de</strong>r Anna Netrebko als Sopranistinnen „mitMigrationshintergrund“ zu bezeichnen. Es wäre <strong>de</strong>mnach nur billig undgerecht, <strong>de</strong>rartige Bezeichnungen generell zu streichen… auch wenn siesich manchmal noch aufdrängen, z. B. im Fall <strong>de</strong>s Autors Cătălin DorianFlorescu, <strong>de</strong>r aus Timişoara stammt, aber schon lange in <strong>de</strong>r Schweiz lebt.Sein Roman Jacob beschließt zu lieben (2011) ist auch in Österreich vieldiskutiert wor<strong>de</strong>n und darf <strong>de</strong>shalb vielleicht doch auch hier in einemkleinen Exkurs Erwähnung fin<strong>de</strong>n:Es ist nämlich immer wie<strong>de</strong>r neu verlockend, die abenteuerlichen,spannungsreichen, unglaublichen und doch vom ersten bis zum letzten Satzfesseln<strong>de</strong>n Geschichten Florescus einfach nachzuerzählen.Nachzuerzählen in diesem Fall, was Jacob Obertin erzählt: Wie seinVater, Jakob, bei richtig trübem Wetter in Triebswetter eintrifft, in <strong>de</strong>mkleinen, in <strong>de</strong>r Nähe von Temeswar gelegenen, von Schwaben begrün<strong>de</strong>tenDorf, wie er dort (man schreibt das Jahr 1926) heiratet und sieben Monatespäter einen Sohn bekommt, <strong>de</strong>n er die längste Zeit kaum wahrnimmt undnur für einen Nichtsnutz hält, Jacob eben, und wie er schließlich alles, waser sich in vielen Jahren aufbaut, am En<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r verliert. Wie Jacob, <strong>de</strong>r mit<strong>de</strong>m c, sich immer wie<strong>de</strong>r neue Versionen über seine Geburt anhören muss,wie er von seinem Vater geschlagen und ge<strong>de</strong>mütigt wird und schließlich(mitten im Krieg, 1943) mit <strong>de</strong>m Großvater in die Stadt, nach Temeswarflüchtet. Wie Jacob sich verliebt, ausgerechnet in ein serbisches Mädchen,das bald darauf spurlos verschwin<strong>de</strong>t und umkommt, und wie er späterselber, von <strong>de</strong>n Russen, <strong>de</strong>portiert wird. Wie er dann aber doch nicht inSibirien zugrun<strong>de</strong> geht, son<strong>de</strong>rn nach einer waghalsigen Flucht, noch immerim Banat, ein neues Leben beginnen kann und Menschenknochen sammelt,türkische, römische, dakische Menschenknochen, und wie er endlich(inzwischen schreibt man das Jahr 1950) nach Temeswar und nachTriebswetter <strong>zur</strong>ückkehrt.In <strong>de</strong>n Haupthandlungsstrang, als wäre <strong>de</strong>r nicht ohnehin wild undbunt genug, sind unzählige weitere Geschichten, kleine Geschichten vonkleinen Leuten, von Verlierern zumeist, eingebun<strong>de</strong>n: Geschichten von142


Figuren, die in Jacobs Leben eine wichtige Rolle spielen, wie Elsa, die sogenannte Amerikanerin, Jacobs Mutter, o<strong>de</strong>r die Zigeunerin Ramina und ihrMann Gigi, ein Pope, ein beinloser Bettler und viele an<strong>de</strong>re mehr.Geschichten aber auch von Jacobs Vorfahren, die in <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>s18. Jahrhun<strong>de</strong>rts von Lothringen aus aufgebrochen und mit <strong>de</strong>nSchwabenzügen donauabwärts gefahren und am En<strong>de</strong> im Banat gelan<strong>de</strong>t,gestran<strong>de</strong>t sind. Geschichten, die Zeugnis geben von <strong>de</strong>r auch in Österreichheute wenig bekannten Geschichte dieser Region, je<strong>de</strong>nfalls wie sie gesehenwird aus <strong>de</strong>m ganz und gar nicht engen Blickwinkel von Figuren, die unterdieser Geschichte gelitten o<strong>de</strong>r auch sich gegen sie aufgelehnt haben –in<strong>de</strong>m sie sich, wo nötig, geduckt und einan<strong>de</strong>r mit Geschichten die Zeitvertrieben haben, auch in<strong>de</strong>m sie selbst Geschichten erfun<strong>de</strong>n und sich soaus diversen privaten Affären und politischen Verstrickungen wenigstenswie<strong>de</strong>r für eine Zeitlang gerettet haben.Eines verbin<strong>de</strong>t alle diese Geschichten: <strong>de</strong>r Hunger, „dieserlothringische, schwäbische, rumänische Hunger“. Ein Hunger, <strong>de</strong>n Brotallein allerdings nicht stillen kann. Es ist nämlich auch ein Hunger nachZugehörigkeit, nach Freundschaft, nach Liebe, nach Geborgenheit in einerWelt, in <strong>de</strong>r hauptsächlich Begriffe wie Verrat, Flucht, Deportation undDiktatur groß geschrieben wer<strong>de</strong>n.Diese Geschichten zeigen uns Figuren, die sich ihren Durst nachAutonomie nicht nehmen lassen, von nieman<strong>de</strong>m auf <strong>de</strong>r Welt. Sie zeigenFiguren, die unter <strong>de</strong>n schwierigsten Bedingungen Solidarität üben undhilfsbereit bleiben wie eh und je. Und sie beleuchten vor allem einenatemberauben<strong>de</strong>n Lebenslauf, in <strong>de</strong>m sich die wechselvolle, namentlich diegrausame Geschichte <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts spiegelt: das Leben Jacobs, dasLeben eines Menschen, <strong>de</strong>r trotz unzähliger Rückschläge eines Tagesbeschließt zu lieben.*Detailbesessenheit, wie sie Florescu auszeichnet, ist (unter an<strong>de</strong>renMerkmalen) auch ein Kennzeichen <strong>de</strong>r Geschichten von Alois Hotschnig,die seit mehr als 20 Jahren, angefangen von seiner ersten Erzählung Aus,die 1989 erschienen ist, bis hin zu <strong>de</strong>m Prosaband Im Sitzen läuft es sichbesser davon und zu seinen jüngsten Arbeiten in seltener Eintönigkeit von<strong>de</strong>r Literaturkritik gelobt wer<strong>de</strong>n, in Österreich ebenso wie etwa in <strong>de</strong>rSüd<strong>de</strong>utschen Zeitung, in <strong>de</strong>r Neuen Zürcher Zeitung und in <strong>de</strong>r Zeit.143


Hotschnigs Interesse an Krankheiten, namentlich an <strong>de</strong>nKrankheitssymptomen <strong>de</strong>s Gesellschaftskörpers (in seiner zweitenErzählung Eine Art Glück dreht sich alles um zentrale Begriffe wieAblehnung, Ekel, Hass), dieses Interesse, soziale Krankheiten von allen nur<strong>de</strong>nkbaren Seiten zu beleuchten und das Thema ‚Schuld‘ mit allen seinenpsychologischen, juristischen und theologischen Implikationenaufzuwerfen, verbin<strong>de</strong>t ihn mit einer Reihe von Schriftstellern, <strong>de</strong>nen gernattestiert wird, dass sie, weil sie an diesem Land lei<strong>de</strong>n, Österreich dafür dieQuittung erteilen.Schon Kafka hat sich bekanntlich (in <strong>de</strong>r Nacht vom 14. auf <strong>de</strong>n 15.Jänner 1913) notiert, „man könne nicht genug allein sein, wenn manschreibt“, es könne „nicht genug still um einen sein, wenn man schreibt, dieNacht ist noch zu wenig Nacht“. Die einsamen Schriftsteller, diekeineswegs unter <strong>de</strong>r Einsamkeit lei<strong>de</strong>n, sie vielmehr suchen, resolut undunablässig um Vielschichtigkeit bemüht, um die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>sMöglichkeitssinns, in einem Umfeld, in <strong>de</strong>m doch weithin I<strong>de</strong>ologen dasSagen haben, die nichts an<strong>de</strong>res als Entschie<strong>de</strong>nheit kennen auch in allenhöchstkomplexen Konstellationen: diese zumeist einsamen Schriftstellerund Schriftstellerinnen, von Joseph Roth und Robert Musil bis zu ThomasBernhard und Elfrie<strong>de</strong> Jelinek, die <strong>de</strong>r realen Welt ihre eigene, eine ganzan<strong>de</strong>re entgegenhalten, sehen sich immer wie<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Vorwurfkonfrontiert, „das selbstverliebte Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Österreicher“ (Thomas Kraft)als unverwechselbares Markenzeichen ihrer Kultur und somit als Kriterium<strong>de</strong>r Ab- und Ausgrenzung hochzuhalten. Über die Berechtigung diesesVerdikts ließe sich trefflich streiten; auf die Bücher Hotschnigs allerdingsträfe <strong>de</strong>r Vorwurf keinesfalls zu.Auch wenn Hotschnig in manchem, gelegentlich sogar stilistisch,augenzwinkernd selbstverständlich, an Thomas Bernhard anknüpft. „Ichhätte die Erbschaft nicht antreten dürfen, damit fing es an, dieses Haus hatschon an<strong>de</strong>re vor mir nicht glücklich gemacht, ich hätte nicht einziehendürfen und Landskron und Villach und Kärnten überhaupt mei<strong>de</strong>n müssenvon Anfang an.“ Hotschnigs Roman Ludwigs Zimmer beginnt mit einerSuada, die <strong>de</strong>n Sprecher, <strong>de</strong>n Ich-Erzähler, als einen Verwandten <strong>de</strong>sTheatermachers Bruscon erscheinen lässt. Aber die zentrale Frage, dieHotschnig thematisiert, ist nicht die Parallelsetzung zwischen Katholizismusund Nationalsozialismus, auch nicht das Weiterwuchern faschistoi<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>rneonazistischer Re<strong>de</strong>- o<strong>de</strong>r Verhaltensweisen, schon gar nicht einFinsternis-Programm wie jenes Bruscons, son<strong>de</strong>rn die Wahrnehmung <strong>de</strong>rVerhältnisse, das Sich-Stellen <strong>de</strong>n Verhältnissen gegenüber: „ich gehöre144


hierher“, so zieht <strong>de</strong>r Ich-Erzähler am En<strong>de</strong> Bilanz, „<strong>de</strong>nn auf meine Artbegegnete ich mir in Landskron wie nirgendwo sonst.“ Das Lei<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>mLei<strong>de</strong>n an Österreich wird in Hotschnigs Werk ausgeweitet zum Lei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>r Welt (vgl. Gösweiner 2003).Große Themen: Liebe, Abhängigkeit, Schuld, Tod. Aber auch Witzund Humor: Sie sind hin und wie<strong>de</strong>r versteckt, aber doch zu ent<strong>de</strong>cken in<strong>de</strong>n Querverweisen, die viele Geschichten Hotschnigs gleichsam durchunterirdische Kanäle miteinan<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>n. Sie kommen zum Vorschein inAnspielungen, die prominente Prätexte (von <strong>de</strong>r Bibel bis zum WerkThomas Bernhards) zitieren und aufheben. Und sie haben schließlich ihrenPlatz in <strong>de</strong>n Erzählstrategien <strong>de</strong>s Autors, <strong>de</strong>nn wie seine Figuren beobachteter auch seine Erzähler mit Argusaugen.Es scheint ja nicht selten, als gäbe es für letzteres zunächst einmalüberhaupt keinen Anlass. In <strong>de</strong>r Erzählung Dieselbe Stille, dasselbeGeschrei, die <strong>de</strong>n Prosaband Die Kin<strong>de</strong>r beruhigte das nicht eröffnet, trittbeispielsweise ein Erzähler auf, <strong>de</strong>r von allem Anfang an sachlich, gera<strong>de</strong>zunüchtern wirkt, <strong>de</strong>r umsichtig registriert, nicht vorschnell wertet – kurz, einMensch, <strong>de</strong>m man vertrauen kann. Ein Mensch, <strong>de</strong>r an einem See wohntund tagein tagaus seine Nachbarn beobachtet, einen Mann und eine Frau.Was er wahrnimmt, wäre kaum wert, festgehalten zu wer<strong>de</strong>n. Aberwie er wahrnimmt, was er sieht, wie er auf seine Wahrnehmungen reagiert,wie er sein Leben än<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>m gilt mehr und mehr das Hauptaugenmerk <strong>de</strong>sAutors. 2 Und die Leserin/ <strong>de</strong>r Leser, geführt von diesem Erzähler,verführbar? – sie/ er muss am En<strong>de</strong> auch Konsequenzen ziehen, sie/ er siehtsich genötigt, sich auf ein Abenteuer einzulassen, die eigenenWahrnehmungen, die vertraute Art zu <strong>de</strong>nken, zu empfin<strong>de</strong>n, zu re<strong>de</strong>n dochhin und wie<strong>de</strong>r selbstkritisch zu überprüfen, genauer als gewohnthinzuschauen und hinzuhören auf das, was auch im wirklichen Lebenwahrzunehmen wäre, aber gerne, weil nicht einfach zu erklären o<strong>de</strong>r zuertragen, an <strong>de</strong>n Rand geschoben, übersehen, überhört, verdrängt wird.Am Rand. Dieses Stichwort führt zu einem Roman weiter, <strong>de</strong>rebenfalls in jüngster Zeit viel diskutiert wor<strong>de</strong>n ist. Sabine Gruber:Stillbach o<strong>de</strong>r Die Sehnsucht (2011). Stillbach. Eine Ortschaft, eine2 Unter <strong>de</strong>m Titel Das Spiegelbild im aufrechten Gang eröffnete Hotschnig seine Poetik-Vorlesung an <strong>de</strong>r Universität Innsbruck im Sommersemester 2011; in dieser Vorlesungging es bezeichnen<strong>de</strong>rweise vor allem um Fragen <strong>de</strong>s Wahrnehmens und <strong>de</strong>s Erzählens, umErzählhaltungen, um Erzählperspektiven, „darum, wer aus einem Text heraus spricht undzu wem“, schließlich auch darüber, wem die in Texten beschriebene so genannteWirklichkeit und wem <strong>de</strong>r Text gehört.145


Herkunftslandschaft, die ihre Kin<strong>de</strong>r prägt wie selten eine. Ein kleiner Ort;Kirche, Friedhof, Volksschule, Gasthof, rundherum 50 Häuser, Wiesen,Wäl<strong>de</strong>r. Ein fiktiver Ort. Dass dieser Ort in Südtirol liegt, ist in<strong>de</strong>ssen kaumzu übersehen. – Der zentrale Schauplatz <strong>de</strong>s Romans ist Rom.Aber seine Hauptfiguren kommen aus Stillbach. Sie sind ausStillbach geflüchtet, um eine Welt kennenzulernen, die weniger rückständig,vielmehr so weit wie möglich offen sein sollte für Erfahrungen, vor <strong>de</strong>nendie Generation <strong>de</strong>r Eltern noch gewarnt hat. Es ist trotz<strong>de</strong>m nichtAbenteuerlust, was die Protagonisten umtreibt und je<strong>de</strong>nfalls aus Stillbachwegtreibt. Es ist eher die Sehnsucht, wenigstens einen Zipfel <strong>de</strong>s inTagträumen ersonnenen und ausgemalten Lebens zu erhaschen: das wahreLeben.Die Protagonisten… es sind vor allem Schriftstellerinnen. Claraschreibt ein Buch über berühmte Liebespaare, die sich in Venedigaufgehalten haben. Sie beschäftigt sich also mit Gaspara Stampa, mit Rilke,mit D’Annunzio, muss diese Arbeit allerdings <strong>zur</strong> Seite schieben, weil ihreFreundin Ines in Rom verstorben ist und nunmehr sie gebeten wird, sich um<strong>de</strong>ren Hinterlassenschaft zu kümmern. Ines wie<strong>de</strong>rum hat ebenfallsgeschrieben, einen Roman; nach <strong>de</strong>m Muster <strong>de</strong>r Romane einer Kollegin,die Sabine Gruber heißt und ähnlich wie Clara mit unverschlüsseltenDarstellungen von Beziehungen in <strong>de</strong>r Literatur keine Freu<strong>de</strong> hat.Der Rahmen: Clara folgt <strong>de</strong>n Spuren ihrer Freundin, um <strong>de</strong>renNachlass aufzunehmen. Sie kommt dabei jedoch nicht nur mit <strong>de</strong>nErinnerungen und Erlebnissen von Ines, son<strong>de</strong>rn auch mit einem ihrerFreun<strong>de</strong> stärker in Berührung als erwartet; so erhält sie, die alle Hoffnungenauf eine schönere Zukunft längst begraben hat, neue Perspektiven. In diesenRahmen eingebettet: <strong>de</strong>r Roman, <strong>de</strong>n Ines hinterlassen hat. In zweiHandlungssträngen wer<strong>de</strong>n zwei zunächst isolierte, später mehr und mehrverknüpfte Geschichten von Hausmädchen erzählt, die bei<strong>de</strong> in ihrer Jugendaus Stillbach ausgebrochen und nach Rom gegangen sind.Dienstmädchen-Geschichten. Sie wer<strong>de</strong>n einmal aus <strong>de</strong>r Außen-,dann wie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Innenperspektive vorgebracht, sind alles an<strong>de</strong>re alsaufregend und <strong>de</strong>nnoch spannend: zum einen, weil diese Geschichten (wiejene von Florescu und Hotschnig) mit einer Detailbesessenheitson<strong>de</strong>rgleichen erzählt wer<strong>de</strong>n; zum an<strong>de</strong>rn, weil sie konkret und engverzahnt sind mit <strong>de</strong>r politischen Geschichte, mit <strong>de</strong>r Geschichte Südtirols,mit <strong>de</strong>r Geschichte Italiens von <strong>de</strong>r Ära Mussolinis bis <strong>zur</strong> Gegenwart.Das Prinzip <strong>de</strong>r Detailbesessenheit bewirkt, dass alle i<strong>de</strong>ologischenSehweisen durchkreuzt und somit <strong>de</strong>savouiert wer<strong>de</strong>n. Mit <strong>de</strong>r Verzahnung146


privater und politischer Geschichten entwickelt sich <strong>de</strong>r Roman zu einemZeitroman, in <strong>de</strong>m nicht nur historische Figuren wie Erich Priebke, AldoMoro und Alexan<strong>de</strong>r Langer eine Rolle spielen, son<strong>de</strong>rn vor allem auchGedankenpositionen auf <strong>de</strong>n Prüfstand kommen, die einer kritischenBetrachtung nach wie vor bedürfen.Aber <strong>de</strong>r Roman ist keineswegs nur ein Zeitroman. Darstellungenvon Beziehungen, verschlüsselte Darstellungen nehmen einen breiten Raumein. Sie veranschaulichen, woran die Figuren lei<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r zu zerbrechendrohen, und sie führen vor Augen, wonach sich die Figuren sehnen, sofernsie es nicht ganz verlernt haben, die eigenen Bedürfnisse im Auge zubehalten; die dargestellten Empfindungen sind zeitunabhängig. Und nocheins ist nicht zu übersehen: allerorten leise Ironie, vor allem dort, woErzählstrategien getestet und gleichzeitig aus an<strong>de</strong>ren Positionen beleuchtetwer<strong>de</strong>n – wie<strong>de</strong>r ähnlich wie in <strong>de</strong>n Geschichten Hotschnigs.Viel gerühmt, aber wenig gelesen wird ein Buch, das es verdienenwür<strong>de</strong>, ein Bestseller zu wer<strong>de</strong>n: Richard Obermayrs Roman Das Fenster(2010).Er gehört nicht zu <strong>de</strong>n Autoren, die ständig aufmerksam machen aufsich selber: Obermayr, geboren 1970 in Ried im Innkreis, hat 1996 amIngeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teilgenommen, 1998 seinenersten Roman veröffentlicht, Der gefälschte Himmel, und danach nocheinige be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Auszeichnungen erhalten (Adalbert-Stifter-Stipendium,Hermann-Lenz-Stipendium, Robert-Musil-Stipendium), aber sich keineswegsbeeilt, <strong>de</strong>m ersten und damals von <strong>de</strong>r Kritik gleich hoch gelobtenRoman einen zweiten folgen zu lassen. Seit 2010 allerdings liegt dieser vor:Das Fenster.Wie<strong>de</strong>r ein Roman, <strong>de</strong>r keine nacherzählbare Geschichte präsentiert,wenngleich hin und wie<strong>de</strong>r kurze Szenen einer Familiengeschichteaufblitzen. „Ich blieb stehen und drehte mich noch einmal um und blickte<strong>zur</strong>ück auf unser Haus und sah <strong>de</strong>n Garten, <strong>de</strong>r einst ein Garten war und niemehr ein Garten sein wird, nur noch ein Paradies <strong>de</strong>r Müdigkeit, in <strong>de</strong>mmeine Mutter sich über Rosen beugt, in <strong>de</strong>m mein Vater im Schatten <strong>de</strong>rKastanie sitzt und die Zeitung liest.“ Wer nach einer solchen Eröffnung eineAbrechnung erwartet, eine polemische Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit einer Welt,die <strong>de</strong>n eigenen Untergang nach Kräften beför<strong>de</strong>rt hat, wird enttäuscht. DieFiguren, die das Ich im Rückblick konstituiert, bleiben nämlich ungreifbarund unangreifbar wie das erzählen<strong>de</strong> Ich selbst, das sich immer wie<strong>de</strong>r<strong>zur</strong>ückfallen lässt in ein an<strong>de</strong>res, ein früheres Leben, in eine Zeit, dieverloren ist, in eine Zeit aber auch, die nicht mehr <strong>zur</strong>ückgeholt wer<strong>de</strong>n147


kann in die Erinnerung – wie ein Leben, das niemand geführt hat, obwohlman es doch hätte wählen können: Konjunktiv-Konstruktionen, Potentialisund Irrealis <strong>de</strong>uten in vielen Passagen an, was <strong>de</strong>nkbar gewesen wäre undwas doch unrealisierbar gewesen ist.Was das Ich mehr fesselt als das erinnerte Leben, ist das nichtgelebte Leben, das in <strong>de</strong>r Familie nie in Erwägung gezogen wor<strong>de</strong>n, nieauch nur <strong>zur</strong> Sprache gekommen ist, weil es einer Ungeheuerlichkeitgleichkäme, über ein an<strong>de</strong>res, schöneres als das gewohnte Leben zusinnieren.So richten sich die Personen <strong>de</strong>r Handlung im falschen Leben ein;nur das Ich versucht, aus <strong>de</strong>r Geschichte, in die es geraten ist, wie<strong>de</strong>r herauszu kommen, die Grenzen <strong>de</strong>s Erlebten und <strong>de</strong>s Erinnerten zu verwischenund sich auch auf Geschichten einzulassen, die sich nie ereignet haben, sichaber gleichwohl doch hätten ereignen können.Die so genannten wahren und die so genannten erfun<strong>de</strong>nenGeschichten folgen dabei nicht hintereinan<strong>de</strong>r, son<strong>de</strong>rn vermischen sich: dieGeschichte einer nur kurz währen<strong>de</strong>n Liebe; die Geschichte <strong>de</strong>s Vaters, <strong>de</strong>rsein Leben verfehlt hat; die Geschichte <strong>de</strong>r Mutter, <strong>de</strong>r irgendwann einmaljemand einen Revolver in die Hand gedrückt hat – alle diese und vielean<strong>de</strong>re Geschichten tauchen auf und mischen sich mit weiteren Geschichten,die nicht weniger unerhörte Ereignisse und vor allem auch nicht beglaubigteBegebenheiten vermitteln.Zum Beispiel die Geschichte <strong>de</strong>r jungen Frau, die zu einemBegräbnis gekommen ist: wie sie das Gesicht <strong>de</strong>s Verstorbenen betrachtet…wie sie sich abwen<strong>de</strong>t vom Sarg, mit einem Gesichtsausdruck, als habe siesich soeben in <strong>de</strong>n Toten verliebt… wie sie, da sie sich unbeobachtet fühlt,<strong>de</strong>m Toten die Blume aus <strong>de</strong>r Hand nimmt, um sie in ihr Gesangbuch hineinzu legen…Es gibt, für das Ich steht das außer Frage, „noch eine zweiteWirklichkeit, in <strong>de</strong>r sich die langsamen Abenteuer unserer Gefühleabspielen, in einer Zeit nebenan.“ – Im Rückblick auf eine gelebte, auf eineverlorene Zeit, in <strong>de</strong>r das Leben alles an<strong>de</strong>re als langsam verronnen ist, in<strong>de</strong>r fast alles verpasst wor<strong>de</strong>n ist, öffnet Obermayrs neues und neuerlichfaszinieren<strong>de</strong>s Erinnerungsprojekt ein Fenster, das <strong>de</strong>n Blick frei gibt aufdie Macht <strong>de</strong>r Imagination: auf die Möglichkeiten <strong>de</strong>r Literatur.*148


Im Bün<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Rezensionen, die nach <strong>de</strong>r Veröffentlichung <strong>de</strong>r Suhrkamp-Ausgabe von Franz Tumlers Nachprüfung eines Abschieds (1964) 3erschienen sind, fin<strong>de</strong>t sich ein kleiner Essay, <strong>de</strong>r einerseits eine gründlicheBeschäftigung mit Tumlers Werk verrät und an<strong>de</strong>rerseits schon einevorläufige Einordnung dieses Werkes in <strong>de</strong>n Kontext seiner Zeit riskiert:Heinz Ohff, lange Jahre Feuilletonchef <strong>de</strong>s Berliner Tagesspiegels undPräsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sektion <strong>de</strong>s Internationalen Kunstkritikerverban<strong>de</strong>s„Association Internationale <strong>de</strong>s Critiques d’Art“, stellt in dieserBesprechung Tumler direkt neben Uwe Johnson und Günter Grass. Es gebekeinen Zweifel mehr, ergänzt Ohff, die große Nachprüfung, die eines Tageskommen und schließlich bestimmen wer<strong>de</strong>, was bleibt, was also aus <strong>de</strong>munüberschaubaren Belletristik-Angebot <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Verlagshäuser einmalin <strong>de</strong>n Kanon <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschsprachigen Literatur aufzunehmen wäre, dieseNachprüfung wer<strong>de</strong> sich auch mit Tumlers Werk befassen und ihm einenPlatz in <strong>de</strong>r Mittelloge zuweisen müssen. 4 Denn Tumler hat, so begrün<strong>de</strong>tOhff seine Darlegung, wohnhaft in einem Zwischenreich zwischen AdalbertStifter und Hans Magnus Enzensberger, im <strong>de</strong>utschen Sprachraum als einer<strong>de</strong>r ersten, wenn nicht als erster, einen literarischen Ausdruck entwickelt,<strong>de</strong>r sich mit <strong>de</strong>r dominanten Tonart <strong>de</strong>s technischen Zeitalters getroffen undunter <strong>de</strong>r schlichten Genrebezeichnung „Text“ rasch eingebürgert habe.Die Geschichten, die Tumler in seiner Nachprüfung erzählt, sindtatsächlich nicht nur Bausteine einer Erzählung, son<strong>de</strong>rn zugleichReflexionen über die Kunst <strong>de</strong>s Erzählens, besser gesagt: über dieStrategien <strong>de</strong>s Erzählens nach <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> aller großen Erzählungen. Dieneue Franz-Tumler-Studienausgabe, die seit 2012 im Haymon-Verlagerscheint 5 , um zu einer Relektüre seines Werkes einzula<strong>de</strong>n, ist <strong>de</strong>nn auch<strong>de</strong>shalb mit dieser Erzählung eröffnet wor<strong>de</strong>n.3 Tumler hat diese Ausgabe <strong>de</strong>m (in Augsburg geborenen) Schweizer Unternehmer undKunstsammler Kurt Bösch (1907-2000) gewidmet, <strong>de</strong>r auch als Mäzen internationalbekannt gewor<strong>de</strong>n ist (Kurt-Bösch-Stiftung). Die erste Ausgabe <strong>de</strong>r Nachprüfung istbereits 1961 in Zürich, in <strong>de</strong>r Kurt-Bösch-Presse erschienen.4 Vgl. Heinz Ohff: „Wird Franz Tumler immer ein Geheimtip bleiben?“ UndatierterZeitungsausschnitt; Sammlung Franz Tumler, Forschungsinstitut Brenner-Archiv. Die imDepot <strong>de</strong>s Brenner-Archivs aufbewahrten Manuskripte, Korrespon<strong>de</strong>nzen und Rezeptionszeugnissesind unter <strong>de</strong>r Adresse http://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/archiv/ verzeichnet.Der weitaus größte Teil <strong>de</strong>s Nachlasses Tumlers befin<strong>de</strong>t sich im Deutschen Literaturarchivin Marbach.5 Bisher erschienen: Nachprüfung eines Abschieds. Mit einem Nachwort von JohannHolzner [aus <strong>de</strong>m im Folgen<strong>de</strong>n auszugsweise zitiert wird], Innsbruck 2012;149


Ein einsamer Ich-Erzähler. Immer wie<strong>de</strong>r betont er, dass er alleinsei. Allzu lange, das immerhin weiß er inzwischen sehr genau, hat er nur aufsich selbst geachtet; „davon erzähle ich nicht gerne“. Dennoch hat er nichtson<strong>de</strong>rlich viel erreicht. Das Haus, in <strong>de</strong>m er wohnt, ist eine Ruine. Er lebtin einem Keller, sieht und hört nicht recht, was außerhalb seines Erdlochssich zuträgt, und baut mächtige Fassa<strong>de</strong>n, um dahinter möglichst ungestörtseinen krausen Vorstellungen nachhängen zu können.Er beginnt erst zu erzählen, als er sich dazu herausgefor<strong>de</strong>rt sieht:aufgefor<strong>de</strong>rt von einer Frau, die ihn liebt (so scheint es) und die ihn zwingt,schonungslos ab<strong>zur</strong>echnen mit sich selbst. Der Erzähler erinnert sich – un<strong>de</strong>r stellt gleichzeitig, in seiner Grube, „in <strong>de</strong>r pochen<strong>de</strong>n Er<strong>de</strong>“, dieGeschichten, die er (re-)konstruiert, in Frage; „wie war es droben wirklich?“Wie<strong>de</strong>rholt erklärt er, dass er nicht sagen will o<strong>de</strong>r nicht sagen kann, wie eswirklich war. Aber eines bekennt er gleichwohl unumwun<strong>de</strong>n: dass er inzentralen Stationen seines Lebens vollkommen versagt hat.Diese seine Schuld aufzu<strong>de</strong>cken, das Weggedrängte und dasVerschwiegene endlich ins Licht zu rücken – das ist das erste Ziel seinesSelbstverhörs. Das höchste aber, im Akt <strong>de</strong>r Nachprüfung das Allein-Seinaufzuheben und sein Leben zu än<strong>de</strong>rn.Die erste längere Geschichte, die Geschichte einer zufällig zustan<strong>de</strong>gekommenen Eisenbahn-Bekanntschaft, erzählt er noch, als müsste er dochvon allem Anfang an einige Mosaiksteine zusammensetzen, die seinSelbstbildnis vor <strong>de</strong>r drohen<strong>de</strong>n Beschädigung bewahren könnten. Es ist dieGeschichte seiner flüchtigen Begegnung mit einer aus Rumänienstammen<strong>de</strong>n Frau, die nach Absdorf reist, um ein letztes Mal Abschied zunehmen von einem Mann, <strong>de</strong>n sie früher einmal geliebt hat. Wi<strong>de</strong>rwillig,zunächst einmal, <strong>de</strong>nn das Gesicht <strong>de</strong>r Frau hat etwas „Maskenhaftes“,bietet <strong>de</strong>r Erzähler ihr <strong>de</strong>nnoch seine Hilfe an, als er bemerkt, dass siealleine nicht <strong>zur</strong>echtkommt. Wenig später verzichtet er bereits darauf,seinen Anschlusszug zu nehmen, er überlegt sogar, er könnte „bei <strong>de</strong>r Fraubleiben“ – was immer ihm bei diesem Gedanken durch <strong>de</strong>n Kopf gehenmag. Am En<strong>de</strong> allerdings kehrt er doch um und springt auf einen Lastzugauf, er bleibt allein; auch wenn er für sich konstatiert: „ich war allein. Abernun war ich es nicht.“ Ein Meister <strong>de</strong>r Selbsttäuschung.Ein <strong>de</strong>rartiger, halbwegs akzeptabler Ausstieg gelingt ihm in <strong>de</strong>rzweiten Geschichte nicht mehr. Diese Geschichte, sie liegt länger <strong>zur</strong>ück alsAufschreibung aus Trient. Mit einem Nachwort von Sieglin<strong>de</strong> Klettenhammer, Innsbruck2012; Der Schritt hinüber. Mit einem Nachwort von Barbara Hoiß, Innsbruck 2013.150


die erste, sie spielt gleich nach <strong>de</strong>m Krieg, berichtet von einer Reise an die„Grenze“, in <strong>de</strong>ren Verlauf <strong>de</strong>r Erzähler sich von seiner Geliebten, dieanfangs ihn begleitet, mehr und mehr entfernt. Während sie immer noch festdamit rechnet, eines Tages seine Frau zu wer<strong>de</strong>n, verletzt er sie durch seinRe<strong>de</strong>n und sein Verhalten beinahe pausenlos. Zur „Besinnung“ kommt <strong>de</strong>rErzähler erst, als es längst zu spät ist, im Akt <strong>de</strong>s Erzählens nämlich.Bezeichnend: Der Erzählfluss gerät ständig ins Stocken, er muss oft und oftneu angetrieben wer<strong>de</strong>n. Immer wie<strong>de</strong>r nimmt sich <strong>de</strong>r Erzähler vor,möglichst genau festzuhalten, was passiert ist, und endlich mit <strong>de</strong>r Wahrheitheraus<strong>zur</strong>ücken; um dann doch offen zuzugeben: was „wirklich geschehenist, kann ich nicht erzählen.“ Ein Meister <strong>de</strong>r Ablenkung.Selbsttäuschung und Ablenkung wer<strong>de</strong>n geför<strong>de</strong>rt durch dieTechnik, in dichter Folge Bild an Bild zu reihen. Tumler hat diese „Art <strong>de</strong>sSehens“ selbst auf seine Bekanntschaft mit <strong>de</strong>m Film, insbeson<strong>de</strong>re mit <strong>de</strong>mStummfilm, <strong>zur</strong>ückgeführt; in <strong>de</strong>n späten zwanziger Jahren, in <strong>de</strong>nen er dasBischöfliche Lehrerseminar in Linz besucht hat, habe er, so erzählt er inseinem autobiographischen Bericht Jahrgang 1912, beinahe täglich einKino aufgesucht – und Texte gelesen, die er in ähnlicher Weise als Schule<strong>de</strong>s Sehens verstan<strong>de</strong>n hätte: Broch, Musil, Brecht (vgl. Tumler 1967: 113-154; bes. 151-152). Sein Ich-Erzähler verwen<strong>de</strong>t diese Technik aber nichtzuletzt, um sich auf Distanz halten zu können zum Erzählten (und damit,auch das sollte nicht übersehen wer<strong>de</strong>n, vor <strong>de</strong>r Frau, die diese Nachprüfungveranlasst, doch einigermaßen sein Gesicht noch zu wahren).Ein äußerst heikles Unterfangen, diese Form, Erinnerungen zuvergegenwärtigen; und sie hat gleichermaßen eine private wie einepolitische Dimension.Die private Dimension ist nicht lange verborgen geblieben, obgleichin <strong>de</strong>r Erzählung we<strong>de</strong>r die Schauplätze noch die Figuren namentlichgenannt wer<strong>de</strong>n: Dass die Reise an die so genannte Grenze zunächst vonInnsbruck nach Nau<strong>de</strong>rs und wie<strong>de</strong>r <strong>zur</strong>ück in die Tiroler Lan<strong>de</strong>shauptstadtund schließlich noch nach Solbad Hall (heute: Hall in Tirol) führt, ist dank<strong>de</strong>r <strong>de</strong>taillierten Routenbeschreibung leicht zu eruieren. Die bei<strong>de</strong>nHauptfiguren wie<strong>de</strong>rum sind ebenfalls so gezeichnet, dass ihre realenVorbil<strong>de</strong>r ein<strong>de</strong>utig i<strong>de</strong>ntifiziert wer<strong>de</strong>n können: Franz Tumler und GertrudFussenegger. Die Autorin <strong>de</strong>r Mohrenlegen<strong>de</strong> hat diese Zusammenhängeauch offen bestätigt; während sie in ihrem Lebensbericht Ein Spiegelbildmit Feuersäule (1979) noch recht verbittert die Bilanz zieht, Tumler hätteschon immer Begegnungen unumwun<strong>de</strong>n dazu genutzt nachzusinnen, „wieer eine Geschichte daraus machen könnte“ (Fusseneger 1979, zit. n.151


Sachslehner 1998: 135f) 6 , hat sie viele Jahre später, in einer Re<strong>de</strong> ÜberFranz Tumler (2005), <strong>de</strong>n Abschied, die „endgültige Verfinsterung“, die mit„viel Kränkung“ verbun<strong>de</strong>n gewesen sei (Fusseneger 2010: 29),bemerkenswert nachsichtig beurteilt.Ganz an<strong>de</strong>rs, nämlich nicht selten scharf – und keineswegsunbegrün<strong>de</strong>t scharf – ist hingegen das Urteil <strong>de</strong>r Nachwelt über diepolitische Dimension <strong>de</strong>r von Tumler angewandten Strategien <strong>de</strong>s Umgangsmit Erinnerungen ausgefallen. Dass dieser Autor – <strong>de</strong>r 1938 <strong>de</strong>n„Anschluss“ unverhohlen begrüßt, zahlreiche Beiträge in Anthologien undZeitschriften <strong>de</strong>s Dritten Reichs veröffentlicht und darüber hinaus sich auchmit Büchern wie Der Soldateneid o<strong>de</strong>r Österreich ist ein Land <strong>de</strong>sDeutschen Reiches vor <strong>de</strong>r NS-Propaganda verbeugt hat – noch in <strong>de</strong>n1960er Jahren, in seiner Schrift über <strong>de</strong>n Jahrgang 1912 seine <strong>de</strong>utschvölkischeVergangenheit als „Protest gegen eine Art Erstickung“ (inÖsterreich) <strong>de</strong>utet und sogar als „Jahrgangsbedürfnis“ nach einer „Öffnungim Geistigen“ charakterisiert, ist ihm vielfach angekrei<strong>de</strong>t, von vielen nieverziehen wor<strong>de</strong>n. 7 Tumler spricht zwar wohl explizit von seiner„Blindheit“ und von seinem „Versagen“ unterm Hakenkreuz, aber auf je<strong>de</strong>weitere Konkretisierung, die in eine öffentlichen Selbstbezichtigung hättemün<strong>de</strong>n können, hat er, aus welchen Grün<strong>de</strong>n auch immer, doch verzichtet.Viel spricht allerdings dafür, dass er aus seiner Sicht <strong>de</strong>utlich genugseine Einträge in <strong>de</strong>n Verbund <strong>de</strong>s nationalsozialistischen Schrifttumsaufgelöst und (wenngleich nicht unmittelbar, so doch durch die neueSchreibweise, gera<strong>de</strong> dadurch ganz unmissverständlich) auch gebrandmarkthat.In allen Prosatexten, die <strong>de</strong>m Roman Der Schritt hinüber (1956)nachfolgen, in <strong>de</strong>r Nachprüfung explizit, achtet Tumler <strong>de</strong>shalb mit <strong>de</strong>r<strong>de</strong>nkbar größten Sorgfalt darauf, nur mehr unsichere Erzähler zu Wortkommen zu lassen. Erzähler, die sich anstrengen, die Wahrheitherauszufin<strong>de</strong>n, durch gna<strong>de</strong>nlose Nachprüfung und präzise Auf-6 Ähnlich äußert sich Fussenegger noch wenige Jahre vor ihrem Tod in einem Gespräch mitBarbara Hoiß (2003), <strong>de</strong>ssen Aufzeichnung im Brenner-Archiv aufbewahrt wird.7 Vgl. vor allem die gründlichen Analysen von Karl Müller (2004 [1985]) und KlausAmann (1987). Amann, <strong>de</strong>m die umfassendste Kritik von Tumlers Engagement für <strong>de</strong>nNationalsozialismus zu verdanken ist, weist allerdings auch nach, dass die ersten bei<strong>de</strong>nBuchveröffentlichungen Tumlers (Das Tal von Lausa und Duron und <strong>de</strong>r Roman DerAusführen<strong>de</strong>) durch die NS-Kulturpolitik „i<strong>de</strong>ologische Zuschreibungen“ (Amann 1987:15) erfahren haben, die aus <strong>de</strong>n Texten selbst nicht begründbar sind. – Vgl. ferner <strong>de</strong>n hierschon zitierten Beitrag von Johannes Sachslehner (1998).152


schreibung, dabei aber nie mehr daran <strong>de</strong>nken, ihren Standpunkt zuverabsolutieren.Der Prozess <strong>de</strong>s Schreibens gerät somit einerseits in dieNachbarschaft <strong>de</strong>r psychoanalytischen Methodik, an<strong>de</strong>rerseits in <strong>de</strong>nZusammenhang <strong>de</strong>r kritischen Vergangenheitsbewältigung. Nachprüfung,Aufschreibung: Das sind Schlüsselwörter in Tumlers Poetik, die <strong>de</strong>r Autorseit <strong>de</strong>n späten fünfziger Jahren neu entwickelt. – Von diesenSchlüsselwörtern wird er nie wie<strong>de</strong>r loskommen.Auch nicht von <strong>de</strong>r Reflexion über die Vergegenwärtigung vonErfahrungen im Bild. Denn in je<strong>de</strong>m Bild zeigt sich ja – nicht dieWirklichkeit, son<strong>de</strong>rn bloß eine Konstruktion von Wirklichkeit. In TumlersStudie „Figur und Erscheinung“, die schon 1957 im Merkur erschienen istund „Notizen aus Italien“ vermittelt, Notizen von einer Reise, die <strong>de</strong>n Ich-Erzähler von Pieve di Cadore, <strong>de</strong>m Geburtsort Tizians, nach Padua, Ferrara,Bologna, Lucca, Perugia und endlich auch nach Rom führt, steht <strong>de</strong>r Satz:„Die Unterbrechung macht erst das Bild“ (Tumler 1957: 50). Hinter <strong>de</strong>r auf<strong>de</strong>r Reise durch Italien wahrgenommenen Wirklichkeit öffnet sich im Akt<strong>de</strong>r literarischen Aufarbeitung, <strong>de</strong>r Unterbrechung, eine wenigeroberflächliche, eine tiefere Wirklichkeit, eine Figur, in <strong>de</strong>r das sonst, d. h.das im gewöhnlichen Leben Verborgene in Erscheinung tritt… undumgehend die gewohnten Erfahrungen attackiert. In <strong>de</strong>m Essay Wie entstehtProsa, seiner Nachschrift zu Volterra (bei<strong>de</strong> Texte gehören in das Umfeld<strong>de</strong>r Nachprüfung eines Abschieds), bezeichnet Tumler „die Hingabe an<strong>de</strong>n Gegenstand und die vollkommene Trennung von ihm“ als eineunumstößliche Voraussetzung für je<strong>de</strong>s künstlerische Schaffen (vgl. Tumler2011). 8 Mit dieser Positionierung nimmt er Anregungen auf, die er aus <strong>de</strong>rLektüre neuer Vorbil<strong>de</strong>r bezogen hat: Henry James, James Joyce undWilliam Faulkner sind hier zunächst zu nennen, weiters auch SamuelBecketts Molloy und ganz beson<strong>de</strong>rs Le Voyeur von Alain Robbe-Grillet.Diesem Roman, <strong>de</strong>ssen <strong>de</strong>utsche Übersetzung unter <strong>de</strong>m Titel DerAugenzeuge erschienen ist, widmet Tumler 1958 eine ausführlicheBesprechung, in <strong>de</strong>r er die Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>m Roman <strong>de</strong>rAltvor<strong>de</strong>ren und <strong>de</strong>m Nouveau Roman hervorhebt, sich von <strong>de</strong>m in diesenJahren im <strong>de</strong>utschsprachigen Raum noch durchaus gängigen Erwartungshorizont<strong>de</strong>s Publikums klar absetzt und schließlich eine Lanze bricht fürdie strikte Verknüpfung von Erzählen und Reflektieren:8 Zum Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>r Nachprüfung und Volterra vgl. u. a. schon die früheUntersuchung von Giuseppe Zanandrea (1972/1973).153


Der Roman althergebrachter Art greift nach <strong>de</strong>n Ereignissen und bringt sie in eineSphäre voraussetzungsvoller Zuhörerschaft, innerhalb <strong>de</strong>ren man sich etwasmitzuteilen und zu <strong>de</strong>uten wünscht; er setzt sie diesem Bedürfnis entsprechend zuGeschichten o<strong>de</strong>r Lebenszusammenhängen um. Der mo<strong>de</strong>rne Roman will nichtdiese Umsetzung <strong>de</strong>s Gegenstan<strong>de</strong>s, son<strong>de</strong>rn ihn selbst. Er will in die Sprachebringen, wie ein Ereignis wirklich geschieht, wie es in Zeit und Raumzustan<strong>de</strong>kommt. (Tumler 1958: 66) 9Es ist ganz bezeichnend, dass Tumler seinen Essay Wie entstehtProsa mit einer Klage eröffnet, die an Hofmannsthals Chandos-Brieferinnert. Auch <strong>de</strong>m Autor von Volterra, so scheint es, ist unversehens dieFähigkeit abhan<strong>de</strong>n gekommen, über das Thema, das er sich vorgenommenhat, zusammenhängend zu sprechen und zu schreiben; „kein Wort, keinSatz“ will sich mehr einstellen, während er sich seinen Toskana-Aufenthaltwie<strong>de</strong>r einmal vor Augen hält. Der Erzähler <strong>de</strong>r Nachprüfung kämpft mitähnlichen Problemen, unübersehbar – auch, um sich endgültig aus seinenalten Verstrickungen im Gelän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Blut- und Bo<strong>de</strong>n-Schrifttums zubefreien. In<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Konstruktionscharakter seiner Erinnerungsarbeit undseine hochgradige Unsicherheit unterstreicht („wie war es drobenwirklich?“), setzt er, an<strong>de</strong>rs als früher, ganz an<strong>de</strong>rs, auf Genauigkeit, aufakribische Wahrnehmung individueller wie kollektiver Ausgrabungsarbeitenund auf die unablässige scharfe Beobachtung einer je<strong>de</strong>n (sogar <strong>de</strong>reigenen) Stimme; in <strong>de</strong>r Überzeugung (o<strong>de</strong>r wenigstens: in <strong>de</strong>r Hoffnung),somit künftig allen i<strong>de</strong>ologischen Verlockungen und Fallen souveränentkommen zu können.Der eingangs zitierte Satz von Jiří Gruša aber könnte vor allen hiererörterten Büchern stehen; sie alle la<strong>de</strong>n dazu ein, genauer hinzuschauen aufPhänomene, die nur scheinbar keiner weiteren Nachprüfung mehr bedürfen.9 Die zentralen Sätze zu Robbe-Grillets Roman gelten genauso für die Nachprüfung wiefür Volterra: „Die Unkenntlichkeit <strong>de</strong>s Geschehens, die Unmöglichkeit, es in einerGeschichte festzuhalten, ist das Thema Robbe-Grillets. Es gibt bei ihm keine ein<strong>de</strong>utigenAuskünfte. Das Unverständliche <strong>de</strong>r Wirklichkeit läßt sich, seiner Anschauung nach,immer nur annähernd erfassen durch ein registrieren<strong>de</strong>s Herzählen aller Schritte undBlicke“ (Tumler 1958: 68).154


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Anna LindnerWien„Nur kein Kind!“ – Anmerkungen zu einer gesellschaftlichenUtopie in Robert Musils Der Mann ohne EigenschaftenAbstract: Robert Musil’s work is – almost – ‘childless’: Children are rarely characters, andvery few characters do have children. Starting with this observation and focussing onMusil’s opus magnum Der Mann ohne Eigenschaften, the article analyses the “virtualsymbol” of childlessness and the role of children within the society of ‘Seinesgleichen’ andMusil’s concept of ‘an<strong>de</strong>rer Zustand’. The analysis focusses on the novel’s two mainfemale characters, Clarisse and Agathe. It is argued that Musil conceives not onlymotherhood as an instrument of subjugation of women, but the child itself as an instrumentand the result of prevailing pseudoreality. It is shown that Clarisse who – by stating „Nurkein Kind!“ – at first speaks out explictly against motherhood, walks right into the trap ofpatriarchal society when she <strong>de</strong>velops the i<strong>de</strong>a of becoming ‘Gottes-Mutter’. On the otherhand Agathe’s childlessness turns out to be indispensable for her and her brother’s searchfor ‘an<strong>de</strong>rer Zustand’, as well as the siblings need to free themselves from their own statusas children of a parent <strong>de</strong>eply entrenched in the reality of ‘Seinesgleichen’.Keywords: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, child, childlessness, patriarchalsociety, women, motherhood.Mit <strong>de</strong>n Verwirrungen <strong>de</strong>s Zöglings Törleß hat Robert Musil einenklassischen Coming-of-Age-Roman geschrieben. Anhand <strong>de</strong>r ewigen Topoi<strong>de</strong>r sexuellen Initiation, <strong>de</strong>r existenziellen Ängste und <strong>de</strong>r Grenzerfahrungenbzw. -überschreitungen erzählt er Törleß’ Abschied von <strong>de</strong>r Kindheit. ImTörleß scheint Musil die Kindheit aber auch für sich verabschie<strong>de</strong>t zuhaben. Obwohl viele Themen, die Musil bis an sein Lebensen<strong>de</strong>beschäftigen sollten, in seinem Erstling angelegt sind – Kin<strong>de</strong>r kommen inseinem späteren Werk nicht mehr vor. Das ist vor allem vor <strong>de</strong>mHintergrund verwun<strong>de</strong>rlich, dass Musil immer wie<strong>de</strong>r Parallelen zwischen<strong>de</strong>r Weltwahrnehmung von Kin<strong>de</strong>rn und <strong>de</strong>m ‚an<strong>de</strong>ren Zustand‘ zieht (vgl.Musil 1978a: 902-903). Kin<strong>de</strong>rlos ist dabei nicht nur das Figurenensemblevon Musils Romanen und Erzählungen, auch die einzelnen Figuren sind es:Eltern sucht man unter ihnen, je<strong>de</strong>nfalls <strong>de</strong>n Hauptfiguren, vergeblich. 1 ImFolgen<strong>de</strong>n soll dieses Phänomen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rlosigkeit im Mann ohne1 Eine Ausnahme ist Claudine aus Die Vollendung <strong>de</strong>r Liebe. Auch Bona<strong>de</strong>a und Rachelaus <strong>de</strong>m Mann ohne Eigenschaften haben Kin<strong>de</strong>r – siehe dazu <strong>de</strong>n letzten Abschnittdieses Aufsatzes.157


Eigenschaften beleuchtet wer<strong>de</strong>n. Diese – allein wegen <strong>de</strong>r Fülle <strong>de</strong>r darinauftreten<strong>de</strong>n Figuren auch nur relative – Beschränkung erfor<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>rRahmen eines Aufsatzes, gleichzeitig scheint ein Vorhaben, das einegrundlegen<strong>de</strong> – so die These – Charakteristik <strong>de</strong>r Musilschen Figurenanalysieren will, gera<strong>de</strong> für das Hauptwerk angebracht.1. Clarisse o<strong>de</strong>r „vielleicht kann je<strong>de</strong> Mutter Gottesmutter wer<strong>de</strong>n…“Die radikalste und offensichtlichste Haltung zum Thema ‚Kin<strong>de</strong>rbekommen‘ nimmt in Musils Werk Clarisse ein. Im Gegensatz zu ihremEhemann Walter will sie kein Kind und „verweigert […]“ sich ihm <strong>de</strong>shalb„wochenlang“ (Musil 1978a: 49). In einem Nachlassfragment <strong>de</strong>s Mannesohne Eigenschaften bringt Clarisse <strong>de</strong>n moralischen Kampf, <strong>de</strong>n sie<strong>de</strong>swegen mit Walter führt, in einem knappen Ausspruch auf <strong>de</strong>n Punkt:„Nur kein Kind! Statt etwas zu leisten, bekommen die Menschen Kin<strong>de</strong>r!“(Musil 1978b: 1747) Dieses Eheproblem ist als Ergebnis o<strong>de</strong>r Ausdruck vonClarissens Begeisterung für die Philosophie Friedrich Nietzsches einerseitsund Walters schleichen<strong>de</strong> Verbürgerlichung an<strong>de</strong>rerseits interpretiertwor<strong>de</strong>n (vgl. u. a. Howald 1984: 236). Clarisse hat immer geglaubt – bzw.wie sie sagen wür<strong>de</strong>: gefühlt – Walter sei zu etwas Großem berufen und siekönnte seine Gefährtin dabei sein: „Sie hatte Walter seit ihrem fünfzehntenJahr für ein Genie gehalten, weil sie stets die Absicht gehabt hatte, nur einGenie zu heiraten“ (Musil 1978a: 53). Allerdings befin<strong>de</strong>t sich Walter, <strong>de</strong>rfür fast alle Künste Talent gezeigt hat, seit längerem in einer Schaffenskrise,entpuppt sich eigentlich sogar als eher mittelmäßig und nimmt – statt weiteran die Ermöglichung einer Erneuerung <strong>de</strong>r Kunst, zumal durch sich selbst,zu glauben – eine immer konservativere Haltung an. Statt ein genialischesBohemién-Leben zu führen, wird er Beamter, zieht sich mit Clarisse in einHaus am Stadtrand <strong>zur</strong>ück (vgl. Musil 1978a: 49-53) und möchte seinSuburbs-Glück mit einem Kind krönen (vgl. Musil 1978a: 608). Für dieNietzsche-Jüngerin Clarisse wäre dies ein Eingeständnis <strong>de</strong>s Scheiternsihres Mannes und damit im Grun<strong>de</strong> genommen auch ihrer selbst:[…] als sie sein Versagen merkte, wehrte sie sich wild gegen diese ersticken<strong>de</strong>,langsame Verän<strong>de</strong>rung in ihrer Lebensatmosphäre. Gera<strong>de</strong> da hätte nun Waltermenschliche Wärme gebraucht, und er drängte, wenn ihn seine Ohnmacht quälte,zu ihr wie ein Kind, das Milch und Schlaf sucht, aber Clarissens kleiner, nervöserLeib war nicht mütterlich (Musil 1978a:53, vgl. Schwartz 1997: 130).158


Clarisse verkörpert im Mann ohne Eigenschaften einenfehlgehen<strong>de</strong>n Versuch, <strong>de</strong>n schon erwähnten an<strong>de</strong>ren Zustand zu erreichen.Clarisse wird wahnsinnig – eine geistige Verfassung, die Parallelen zuman<strong>de</strong>ren Zustand aufweist, aber eben nicht das gleiche und bei Musil auchnicht positiv konnotiert ist. 2 Unter an<strong>de</strong>rem drückt sich Clarissens Wahndarin aus, dass sie die Philosophie Nietzsches (vgl. Musil 1983: 45, vgl.Klippenstein 2009: 121) und Ludwig Klages’ wörtlich nimmt (vgl. Mitterer2007: 82). Vor diesem Hintergrund muss ihre körperliche und verbaleVerweigerung – „Nur kein Kind!“ – als Symptom ihrer Krankheit gelesenwer<strong>de</strong>n. Doch im Zuge <strong>de</strong>r sich verschlimmern<strong>de</strong>n Wahnzustän<strong>de</strong> kommt eszu einer Verschiebung ihrer Bewertung <strong>de</strong>r Mutterrolle: Zwar will Clarissenoch immer kein Kind von Walter (vgl. Musil 1978a: 657), dafür entwickeltsie die Vorstellung, <strong>de</strong>n ‚Erlöser‘ gebären zu müssen und beschließt Ulrich,<strong>de</strong>n sie als geeigneten Vater dafür ansieht, zu verführen (vgl. Musil 1978a:660f.). Diese I<strong>de</strong>e, eine neue Gottesmutter wer<strong>de</strong>n zu müssen, nimmtClarisse im Laufe <strong>de</strong>r Romanhandlung immer mehr ein. Als sie allerdingszum ersten Mal darauf kommt, schwingt in ihren Überlegungen noch <strong>de</strong>rgleiche Vorbehalt mit, <strong>de</strong>n sie gegenüber einem Kind mit Walter geäußerthatte (vgl. dazu auch Mitterer 2007: 126):‚Vielleicht kann je<strong>de</strong> Mutter Gottesmutter wer<strong>de</strong>n,‘ dachte sie ‚wenn sie nichtgewähren läßt, nicht lügt noch wirkt, son<strong>de</strong>rn das, was zutiefst in ihr ist, als Kindaußer sich bringt! Vorausgesetzt, daß sie selbst nichts erreicht!‘ fügte sie traurighinzu. Denn <strong>de</strong>r Gedanke bereitete ihr keineswegs reine Annehmlichkeit, son<strong>de</strong>rnerfüllte sie mit <strong>de</strong>r zwischen Qual und Seligkeit geteilten Empfindung, für etwasgeopfert zu wer<strong>de</strong>n (Musil 1978a: 444).Be<strong>de</strong>utsam an diesen Gedanken ist <strong>de</strong>r kleine Unterschied <strong>zur</strong> schonzitierten Formulierung „Statt etwas zu leisten, bekommen die MenschenKin<strong>de</strong>r!“. War darin von <strong>de</strong>r Elternschaft überhaupt die Re<strong>de</strong>, geht es nunum die Mutter, d. h. die Frau: „Vorausgesetzt, daß sie selbst nichtserreicht!“ Damit wird <strong>de</strong>utlich, dass Clarisse – jenseits ihresnietzscheanischen Aktivismus und in einem hellen Moment – dieMutterschaft als spezifisch weibliches Problem erkennt, ein spezifischweibliches Problem nicht, weil Mutterschaft qua <strong>de</strong>finitionem nur Frauenbetreffen kann, son<strong>de</strong>rn weil Mutter zu wer<strong>de</strong>n als ihre postulierte2 Von einer „negativen Charakterisierung <strong>de</strong>r Wahnsinnsentwicklung Clarissens vor <strong>de</strong>rpositiven Folie <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Zustands […]“ schreibt Walter Fanta (Fanta 2003: 268, kursivi. O.).159


Bestimmung das einzige ist, was einer Frau <strong>de</strong> facto zu erreichen möglichist. Konsequenterweise kommt ihre Geisteskrankheit erst voll zumAusbruch (bzw. wird erst dann unleugbar), als sich Clarisse in das Schicksal<strong>de</strong>r Frau fügt – auch wenn diese Fügung durch die Überhöhung <strong>zur</strong> Gottes-Mutter verschleiert wird:Die unendliche Passivität <strong>de</strong>r weiblichen Rolle, die hier von Clarisse zum letztenMal betrauert wird, bevor sie sich ihrer endgültig hingibt, wird in diesem Bild von<strong>de</strong>r Tochter auf die (Gottes-)Mutter übertragen, die eigentlich <strong>de</strong>r einzigsymbolische Hort weiblicher Aktivität ist, weil die autonome Kraft, die in <strong>de</strong>rHervorbringung <strong>de</strong>s Lebens liegt, nie vollständig getilgt wer<strong>de</strong>n konnte. Damitspielt Clarisse unwissentlich <strong>de</strong>n patriarchalen Bestrebungen in die Hän<strong>de</strong>, die seitjeher darauf ausgerichtet sind, <strong>de</strong>r weiblichen Körper-Schrift auch noch diesenletzten Rest an Dynamik und Eigenständigkeit zu entziehen (Mitterer 2007: 126).Allerdings hatte Clarissens Verweigerung vor <strong>de</strong>m hellen Moment,in <strong>de</strong>m sie das Kin<strong>de</strong>rbekommen als spezifisch weibliches Problem erkennt,die längste Zeit aus <strong>de</strong>r Verinnerlichung einer patriarchalen, ja misogynenPerspektive resultiert. Einerseits waren ihre Ambitionen ja auf ihren MannWalter ausgerichtet. Ihm seinen Kin<strong>de</strong>rwunsch auszuschlagen war ihrBeitrag, ihn doch noch zu <strong>de</strong>m „großen Menschen“ wer<strong>de</strong>n zu lassen,<strong>de</strong>ssen „Gefährtin“ sie sein wollte (vgl. Musil 1978a: 53). An<strong>de</strong>rerseitsentspricht Clarissens Ablehnung <strong>de</strong>r Sexualität <strong>de</strong>r Ansicht <strong>de</strong>r von ihrverehrten Philosophen Nietzsche und Klages (im Mann ohneEigenschaften karikiert in <strong>de</strong>r Figur Meingast) sowie <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rerZeitgenossen, wie etwa Otto Weininger (vgl. Mitterer 2007: 121), die <strong>de</strong>nweiblichen Körper als sündhaft und die Versuchung <strong>de</strong>s Mannes durch dieFrau als Grund dafür betrachten, weshalb dieser von höherenBestimmungen abgehalten wer<strong>de</strong>. 3 Clarisse, die wegen ihres Äußerensowieso immer wie<strong>de</strong>r als androgyn, als knabenhaft geschil<strong>de</strong>rt wird (vgl.etwa Musil 1978a: 654, 660, Klippenstein 2009: 119-120), benimmt sichdaher auch so, wie es traditionellerweise Männern zukommt und freut sichje<strong>de</strong>smal, wenn dies jemand bemerkt (vgl. Mitterer 2007: 124). Statt sichgegen die patriarchale Gesellschaft aufzulehnen, versucht sie ihr alsoabsolut zu entsprechen, in<strong>de</strong>m sie das Frausein verweigert – um esschließlich doch auf <strong>de</strong>r manisch-messianischen Ebene <strong>de</strong>r Gottes-Mutteranzunehmen.3 Clarissens psychische Erkrankung resultiert aus <strong>de</strong>m sexuellen Missbrauch, <strong>de</strong>m sie alsjunges Mädchen durch ihren Vater ausgesetzt war (vgl. Musil 1978a: 294-295; Mitterer2007: 120-121).160


2. Agathe o<strong>de</strong>r das Kind als OrdnungshüterKurz nach<strong>de</strong>m das geschehen ist und Clarisse Ulrich gestan<strong>de</strong>n hat: „‚Ichmöchte das Kind von dir haben!‘“ (Musil 1978a: 657), tritt UlrichsSchwester Agathe erstmals im Roman auf. Auch Agathe hat keine Kin<strong>de</strong>r.Das liegt daran, dass „[…] sie das weibliche Brutbedürfnis mißachtet[], dassich das Nest vom Mann liefern läßt“ (Musil 1978a: 727). Dabei ist sieebenfalls verheiratet, sogar schon zum zweiten Mal. Nach<strong>de</strong>m sie sehr jungWitwe gewor<strong>de</strong>n war, ist sie die Ehe mit <strong>de</strong>m von ihr ungeliebten, aber vonihrem Vater geschätzten Gymnasialprofessor Gottlieb Hagauereingegangen, um nicht mehr mit <strong>de</strong>m Vater zusammen wohnen zu müssen(vgl. Zingel 1999: 72). „[…] gut, man tut es; man muß mit sich geschehenlassen, was dazu gehört; es ist we<strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>rs schön, noch übermäßigunangenehm!“ (Musil 1978a: 729), heißt es dazu lakonisch. 4Auch Agathe scheint sich also auf <strong>de</strong>n ersten Blick in diepatriarchale Gesellschaft gefügt zu haben. Allerdings zeichnet sich Agatheseit ihrer Jugend und noch mehr seit <strong>de</strong>m Tod ihres ersten Mannes durchgroße Gleichgültigkeit <strong>de</strong>r Wirklichkeit gegenüber aus (vgl. Zingel 1999:72). Dies zeigt sich darin, dass sie zwar äußerlich gegen gesellschaftlicheKonventionen nicht aufbegehrt, ihnen aber immer nur soweit entspricht, wieihr das weniger Mühe macht, als es ein unkonventionelles Verhalten täte.Schon gar nicht verinnerlicht Agathe die Rollen und Erwartungen, die von<strong>de</strong>r Gesellschaft an sie als Frau herangetragen wer<strong>de</strong>n. Über ihre Zeit ineiner klösterlichen Schule für Höhere Töchter wird berichtet: „Sie erinnertesich, wie viel lebhafter als sie selbst Freundinnen oft gegen die starreInternatszucht gemeutert und mit welchen Grundsätzen <strong>de</strong>r Empörung sieihre Verstöße gegen die Ordnung ausgestattet hatten“ (Musil 1978a: 727).Dieser Protest hat aber „[…] weit weniger subversives Potential als Agathesscheinbare Passivität, da er sich <strong>de</strong>n Strukturen anpasst, gegen die eraufbegehrt und so schlussendlich doch wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r folgsamen Mimesisen<strong>de</strong>t […]“ (Mitterer 2007: 143). Agathes rebellische Schulkolleginnenentwickeln sich nämlich zu „[…] gut gebettete[n] Frauen […], die ihreKin<strong>de</strong>r nicht viel an<strong>de</strong>rs erzogen, als es ihnen selbst wi<strong>de</strong>rfahren war“(Musil 1978a: 727). Erwachsen gewor<strong>de</strong>n nehmen diese Mädchen jenePosition ein, die ihnen von <strong>de</strong>r Gesellschaft vorgegeben wird und4 Wolf schreibt <strong>zur</strong> Ehe von Agathe und Hagauer, sie bleibe „bezeichnen<strong>de</strong>rweise nicht nurglück-, son<strong>de</strong>rn auch kin<strong>de</strong>rlos“ (Wolf 2011: 763). Auf das Bezeichnen<strong>de</strong> geht er allerdingsnicht ein.161


perpetuieren sie damit. Auch in dieser Reflexion verweist Musil alsoausdrücklich darauf, dass Kin<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Gesellschaft gleichermaßen dieFunktion eines Werkzeugs wie eines Vorwands dafür zukommt, diepatriarchale Ordnung aufrecht zu erhalten. Noch <strong>de</strong>utlicher wird das, wennAgathe auf die Bemerkung Ulrichs, es komme ihm <strong>de</strong>mütigend vor, mitjeman<strong>de</strong>m zusammen zu leben, <strong>de</strong>n man nicht liebe – wie es bei Agathe undihrem Ehemann Hagauer <strong>de</strong>r Fall ist – fragt: „‚Ist es schlimmer als wenneine Frau, die sich eher als drei Monate nach ihrer Scheidung wie<strong>de</strong>rverheiraten will, im Auftrag <strong>de</strong>s Staats vom Amtsarzt an <strong>de</strong>r Gebärmutteruntersucht wird, aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Erbrechts, ob sie schwanger sei?‘“ (Musil1978a: 685)Diese Frage Agathes zeigt zweierlei. Zum einen manifestiert sichdarin ein erster Unterschied zu Clarisse: Während sich bei dieser dieAblehnung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rwunschs in <strong>de</strong>n Wunsch, <strong>de</strong>n ‚Erlöser‘ zu gebärenverwan<strong>de</strong>lt, um – wie sie glaubt – auf diese Weise einen Beitrag <strong>zur</strong>Erschaffung einer an<strong>de</strong>ren Welt zu leisten, weiß Agathe, dass in einemZeitalter <strong>de</strong>s wissenschaftlichen Fortschritts und <strong>de</strong>r Bürokratisierung (mankönnte mit Michel Foucault auch sagen: einem Zeitalter <strong>de</strong>r Biopolitik) dieSelbstbestimmung <strong>de</strong>r Frau durch und in ihrer Rolle als Mutter noch weiterbeschnitten wird, als es davor <strong>de</strong>r Fall war.Im Unterschied zu Clarisse, die das ‚männliche Prinzip‘ über allesstellt, bleibt Agathe also kin<strong>de</strong>rlos, weil sie sich <strong>de</strong>r patriarchalen Ordnungganz entziehen will. Agathe bzw. Musil nun zu unterstellen, in <strong>de</strong>rKin<strong>de</strong>rlosigkeit ein sinnvolles Mittel <strong>de</strong>r Emanzipation <strong>de</strong>r Frau zu sehen,wür<strong>de</strong> allerdings am Wesentlichen vorbeigehen. Denn Agathe steht nichtnur <strong>de</strong>m gesellschaftlich verordneten Kin<strong>de</strong>rwunsch kritisch gegenüber, sie„[…] verabscheut[...] die weibliche Emanzipation gera<strong>de</strong>so […]“ (Musil1978a: 727). Dies erklärt sich daraus, dass sie die Anstrengungen <strong>de</strong>rFrauen, sich in einem von Grund auf patriarchalen System – einer, wie esheißt, „[…] Welt […], die nach <strong>de</strong>m Willen von Vätern und Lehrpersonenaufgebaut war“ (Musil 1978a: 727) – Anerkennung zu verschaffen, alsvergeblich erkennt (vgl. Mitterer 2007: 141-142). Die meisten Frauenakzeptieren am En<strong>de</strong>, wie ihre Schulkolleginnen, doch noch die klassischeRolle <strong>de</strong>r Mutter. Aber selbst wenn es gelingt, diese Rollenverteilungdahingehend zu überwin<strong>de</strong>n, dass Frauen bis dahin Männern vorbehaltenePositionen einnehmen, ist das doch nur eine Anpassung, ein Verharren imSystem, nicht <strong>de</strong>ssen Überwindung.Diese kritische Haltung <strong>de</strong>n zeitgenössischen Emanzipationsbestrebungengegenüber, führt <strong>zur</strong>ück zu <strong>de</strong>m zweiten Aspekt, <strong>de</strong>r in162


Agathes vorhin zitierter Bemerkung angesprochen wird: Der Staat verordnetdie gynäkologischen Untersuchungen <strong>zur</strong> Feststellung einerSchwangerschaft. Das zeigt, dass Kin<strong>de</strong>r nicht um ihrer selbst Willengeboren wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn um einen Zweck zu erfüllen, und zwar alsprivatrechtlicher Erbe <strong>de</strong>s legitimen Vaters 5 ebenso wie auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>sStaates. Dieser Staat, ‚Kakanien‘, muss aus seiner Verfasstheit und seinemSelbstverständnis als Erbmonarchie heraus, ein Interesse daran haben, dasssoziale Stellung und Vermögen nach unhinterfragten Gesetzen und invorgegebenen Bahnen weitergegeben wer<strong>de</strong>n, mit einem Wort: dass sichnichts än<strong>de</strong>rt.3. Familie zu zweien o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Zustand kennt keine ElternEine Welt, die sich nicht än<strong>de</strong>rt, ist genau das, was <strong>de</strong>r Protagonist <strong>de</strong>sMannes ohne Eigenschaften nicht hinnehmen will. Ulrich steht „[…] unter<strong>de</strong>m Eindruck […], daß nur Seinesgleichen geschieht, weil das Leben […]sich in die paar Dutzend Kuchenformen stürzt, aus <strong>de</strong>nen die Wirklichkeitbesteht […]“ (Musil 1978a: 591). Zu diesem ‚Seinesgleichen‘ kommt, dassin <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne das Ratioi<strong>de</strong> und das Nicht-Ratioi<strong>de</strong> als <strong>de</strong>n Menschenausmachen<strong>de</strong> Aspekte getrennt sind. Kulturgeschichtlich wur<strong>de</strong>n dieseBereiche bekanntlich <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Geschlechtern zugeordnet, das Ratioi<strong>de</strong><strong>de</strong>m Mann, das Nicht-Ratioi<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Frau, wobei sie <strong>de</strong>r gleichenHierarchisierung unterlegen sind, wie die Geschlechter. Das ‚Geschwister-Experiment‘ zwischen Agathe und ihrem Bru<strong>de</strong>r Ulrich stellt <strong>de</strong>n Versuchdar, diese Trennung zu überwin<strong>de</strong>n und dadurch die Utopie <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>renZustands zu verwirklichen.Die Konzeption von Agathe und Ulrich als Geschwister ist dabeibe<strong>de</strong>utend. Da Ulrich und Agathe Bru<strong>de</strong>r und Schwester sind, können siesich auf Augenhöhe begegnen, ohne von Anfang an in einem Über- undUnterordnungsverhältnis gefangen zu sein, wie es in <strong>de</strong>r patriarchalenGesellschaft die Beziehungen <strong>de</strong>r Geschlechter bestimmt. Gleichzeitigkennen sich die bei<strong>de</strong>n kaum, da sie nach <strong>de</strong>m Tod ihrer Mutter getrenntvon einan<strong>de</strong>r in Internaten aufgewachsen sind und sich, bevor sie sichinnerhalb <strong>de</strong>r Romanhandlung zum ersten Mal wie<strong>de</strong>r begegnen, seit fünfJahren nicht gesehen haben. Auf diese Weise kann Musil die Beziehung5 Zur Problematik <strong>de</strong>s Erbens als soziale Einrichtung, die entwe<strong>de</strong>r Vatermord o<strong>de</strong>r diereproduzieren<strong>de</strong> Unterordnung unter die väterliche Ordnung (im doppelten Sinn) verlangt,im Mann ohne Eigenschaften, vgl. Wolf (2011: 344-347).163


zwischen Ulrich und Agathe als Gemeinschaft entwerfen, die positivkonnotierte Aspekte <strong>de</strong>r Familie, wie Vertrautheit und Füreinan<strong>de</strong>rdasein,und das ebenfalls als positiv aufgefasste, erotische Moment einer Mann-Frau-Beziehung verbin<strong>de</strong>t: „Durch <strong>de</strong>n Kunstgriff, Ulrich und Agathelediglich die frühe Kindheit miteinan<strong>de</strong>r verbringen zu lassen, wird dieEntstehung eines ‚sterilisierten Geschwisterempfin<strong>de</strong>ns‘ verhin<strong>de</strong>rt, Erotikohne Fixierung auf <strong>de</strong>n sexuellen Akt ermöglicht“ (Zingel 1999: 101, darinzit. Musil 1978a: 897).Entschei<strong>de</strong>nd bei dieser Form von Gemeinschaft ist, dass nicht nurdie, durch ihre Rolle in <strong>de</strong>r Konstruktion und Aufrechterhaltung <strong>de</strong>rgesellschaftlichen Ordnung abgewertete, Sexualität ausgeblen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>nkann, 6 son<strong>de</strong>rn auch negative Aspekte <strong>de</strong>r Gemeinschaftsform ‚Familie‘ausgeschaltet sind (vgl. hierzu auch Pohl 2011: 356). Wie schon erwähnt,hat Agathe einen Mann geheiratet, <strong>de</strong>n sie nicht liebt, <strong>de</strong>ssen Werben aberihr Vater unterstützt hat. Der Vater ist also – nomen est omengewissermaßen – ein Repräsentat <strong>de</strong>r patriarchalen Gesellschaft, in <strong>de</strong>r dasKind nur einem Zweck dient. Als sich Ulrich und Agathe nun zum erstenMal wie<strong>de</strong>r treffen, ist es, weil <strong>de</strong>r Vater gestorben ist. Sein Tod eröffnet<strong>de</strong>n Geschwistern die Möglichkeit, sich – neben <strong>de</strong>r Geschlechterhierarchie– auch von <strong>de</strong>r Hierarchie <strong>de</strong>r Generationen und <strong>de</strong>r in ihr begrün<strong>de</strong>tenFunktionalisierung <strong>de</strong>r Individuen in <strong>de</strong>r Gesellschaft zu befreien. Agathevollzieht diesen Austritt aus <strong>de</strong>r gleichermaßen generationellpatriarchalischenwie geschlechtlich-patriarchalischen Ordnung symbolischals sie <strong>de</strong>m aufgebahrten Vater ihr „sei<strong>de</strong>nes, breites Strumpfband“ (Musil1978a: 707) in die Tasche schiebt:164Zum einen gibt die Tochter <strong>de</strong>m Vater nach <strong>de</strong>ssen Tod etwas mit und nichtumgekehrt. Zum an<strong>de</strong>ren erfolgt die symbolische Ablehnung <strong>de</strong>s väterlichen Erbesin einem nahezu obszönen Akt, welcher <strong>de</strong>r männlich konnotierten Seriosität <strong>de</strong>ssozial gut situierten und integrierten Vaters die Anerkennung verweigert, in<strong>de</strong>m erihn symbolisch <strong>zur</strong> ‚empfangen<strong>de</strong>n‘ Frau macht (Wolf 2011: 740-741).Schon davor haben die Geschwister auf Agathes Initiative un<strong>de</strong>ntgegen <strong>de</strong>m letzten Willen <strong>de</strong>s Vaters die echten Or<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>ssen Brustdurch Duplikate ersetzt (vgl. Musil 1978a: 694-695, 705-706), späterwer<strong>de</strong>n sie sein Testament fälschen (vgl. Musil 1978a: 792-802): „Das6 Dazu ist anzumerken, dass Sexualität in <strong>de</strong>r Beziehung zwischen Agathe und Ulrich sehrwohl eine Rolle spielt und, wie Nachlassentwürfe nahelegen, es sogar zum Inzest zwischen<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n kommt, wobei dieser negative Auswirkungen auf ihr Experiment <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>renZustands hat.


überkommene väterliche Erbe wird […] in einer radikalen Verweigerung soverfälscht, dass es nicht mehr wie<strong>de</strong>rzuerkennen ist“ (Wolf 2011: 741).Durch die Testamentsfälschung fällt Hagauer, als ihr Mann Agathesgesetzlicher Vormund, nichts vom Vermögen <strong>de</strong>s Vaters zu, was <strong>de</strong>r„qualvoll rechtliche [...] Verstan<strong>de</strong>smann“ (Musil 1978a: 726), wie <strong>de</strong>rVater einmal genannt wird, nicht gewollt hat und nicht wollen hätte können.Doch damit ist nur die materielle Seite angesprochen. In Or<strong>de</strong>nstausch undTestamentsfälschung liegt ein tiefergreifen<strong>de</strong>r Versuch, die väterlicheOrdnung außer Kraft zu setzen, als es eine Verweigerung <strong>de</strong>r Annahme <strong>de</strong>sErbes wäre. In<strong>de</strong>m sie es zwar annehmen, aber nach ihren Konditionenum<strong>de</strong>uten, verweigern die Geschwister nicht nur ihrem Vater dieAnerkennung, die ihm laut Gesetz und Gesellschaft zukäme, sie verweigernex post auch ihrem Vater, Gesetz und Gesellschaft anzuerkennen. Ulrichund Agathe schreiben so <strong>de</strong> facto ihre Biografie neu und heben damit dieProblematik, notwendigerweise jeman<strong>de</strong>s Kind und insofern schon immerim Funktionalismus <strong>de</strong>r patriarchalen Gesellschaft integriert zu sein, für sichauf – so, wie für sie, weil sie Geschwister sind, die geschlechtlichbegrün<strong>de</strong>te Hierarchie nicht gilt.Da Agathe beschlossen hat, sich von Hagauer zu trennen, verbin<strong>de</strong>tdie Geschwister nach <strong>de</strong>m Tod <strong>de</strong>s Vaters nun nichts mehr mit <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>sSeinesgleichen und sie können als „Familie zu zweien“ (Musil 1978a: 715)leben, die im weiteren zu einem Leben im an<strong>de</strong>ren Zustand wer<strong>de</strong>n soll.4. Der an<strong>de</strong>re Zustand o<strong>de</strong>r die Utopie frisst ihre Kin<strong>de</strong>rDen an<strong>de</strong>ren Zustand beschreibt Agathe einmal so: „Man besitzt nichts auf<strong>de</strong>r Welt, man hält an nichts mehr fest, man wird von nichts mehrfestgehalten“ (Musil 1978a: 763). Hierin ist ein wesentlicher Aspekt <strong>de</strong>san<strong>de</strong>ren Zustands angesprochen, <strong>de</strong>r gleichzeitig die größte Schwierigkeitbei <strong>de</strong>m Versuch in ihm zu leben darstellt: Im an<strong>de</strong>ren Zustand spielt Zeitbzw. Zeitwahrnehmung, wie sie das Leben normalerweise prägt, keineRolle, ja man ist darin <strong>de</strong>r Zeit enthoben. Die Versuche, diesen Zustand <strong>de</strong>rEinheit mit <strong>de</strong>r Welt, <strong>de</strong>s Wegfalls <strong>de</strong>r Zeitwahrnehmung adäquat zubeschreiben, haben Musil die letzten Jahre seines Lebens beschäftigt. Dassdas fast unmöglich ist, ist ein Grund, weshalb <strong>de</strong>r Mann ohneEigenschaften Fragment geblieben ist. In jenem Kapitel, in <strong>de</strong>m Agathesund Ulrichs Gemeinschaft als „Familie zu zweien“ bezeichnet wird (Musil1978a: 715-725), markiert Musil die Zeitenthobenheit je<strong>de</strong>nfalls durcheinen Wechsel vom epischen Präteritum ins Präsens (vgl. Zingel 1999: 96).165


Aber obwohl im an<strong>de</strong>ren Zustand die Zeit außer Kraft tritt, ist ernicht etwas, das man einmal für immer erreichen, das man festhaltenkönnte. Der an<strong>de</strong>re Zustand ist vielmehr – entgegen seiner Bezeichnung –ein Prozess, <strong>de</strong>r ständig wie<strong>de</strong>rholt wer<strong>de</strong>n muss (vgl. Mitterer 2007: 197).Als ‚Ausnahmezustand‘ haben ihn Ulrich und Agathe schon vor ihrerBegegnung erlebt, Agathe, zum Beispiel, mit ihrem ersten Mann; doch<strong>de</strong>ssen Tod kurz nach <strong>de</strong>r Hochzeit hat ihn je been<strong>de</strong>t. Die Geschwisterstellen sich nun die Aufgabe, dauerhaft im an<strong>de</strong>ren Zustand zu leben, eineAufgabe, an <strong>de</strong>r sie vermutlich scheitern – das legen Kapitel-Entwürfe ausMusils Nachlass nahe. Denn wie bei allem, das man festhalten will, stecktauch darin die Gefahr, dass es schal, dass es selbst zu Seinesgleichem wird.Eine <strong>de</strong>zidierte Absage an die Welt <strong>de</strong>s Seinesgleichen kommt inAgathes Bemerkung ebenfalls zum Ausdruck. Weil <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Zustand dieGrenzen zwischen Ich und An<strong>de</strong>rem, zwischen Ich und Welt verschwin<strong>de</strong>nlässt, gibt es in ihm auch nicht die herkömmlichen Einteilungen in „mein“und „<strong>de</strong>in“. Damit entzieht sich <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Zustand <strong>de</strong>r „[…]kapitalistischen Logik <strong>de</strong>s Festhaltens und Besitzens, die untergewöhnlichen Umstän<strong>de</strong>n die Wahrnehmung und vor allem dieGeschlechterbeziehung regelt […]“ (Mitterer 2007: 196). Das Kind, inseiner Funktion als Erbe von Besitz und Instrument, um an <strong>de</strong>ralthergebrachten Ordnung festzuhalten, gehört, wie gezeigt wur<strong>de</strong>, ebenfallszu dieser Logik. Deshalb kann das Kind im Zeichensystem <strong>de</strong>r Utopie <strong>de</strong>san<strong>de</strong>ren Zustands niemals vorkommen, auch nicht gleichnishaft o<strong>de</strong>rmetaphorisch. Das Kind wür<strong>de</strong> eine Zeit- und Zukunftsdimension dareinholen, die <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Zustand seinem Wesen nach nicht hat, und die ihn insSeinesgleichen kippen ließe. Aber gera<strong>de</strong> als Abwesen<strong>de</strong>s bezeichnet dasKind auch die Gefahr, die von dieser Zeit- und Zukunftlosigkeit ausgeht unddas Scheitern <strong>de</strong>r Utopie <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Zustands im Seinesgleichen, vielleichtin einem neuen Seinesgleichen, fast zwangsläufig impliziert. Als virtuellerSchnittpunkt zwischen an<strong>de</strong>rem Zustand und Seinesgleichen kann es damitauch als Symbol für die Unmöglichkeit gelten, die Utopie <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>renZustands von <strong>de</strong>r Familie zu zweien auf die Gesellschaft umzulegen.5. Rachel o<strong>de</strong>r die neue Kindheit. Statt eines Schlussworts eine Probeaufs ExempelZwei Frauen haben im Mann ohne Eigenschaften – abgesehen vonKlementine Fischel – Kin<strong>de</strong>r: Bona<strong>de</strong>a und das Dienstmädchen Rachel.Bona<strong>de</strong>a kann als eine Frau vom Schlage von Agathes Schulkameradinnen166


gelten, die sich in die vorgegebene Ordnung fügt, auch und gera<strong>de</strong>, wenn sieihr mit zahlreichen Affären zu entkommen versucht (vgl. Musil 1978a: 41-43). Ihre bei<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r sind insofern notwendige Ausstattung einer Figur,die die Scheinheiligkeit und immanente Wi<strong>de</strong>rsprüchlichkeit <strong>de</strong>rpatriarchalen Gesellschaft zu Beginn <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts reflektiert. Rachelund ihre Tochter stellen in diesem Sinne <strong>de</strong>n Gegenpart zu Bona<strong>de</strong>a undihren Söhnen dar: Rachel „war verflucht und <strong>zur</strong> Türe hinausgestoßenwor<strong>de</strong>n. […] Ein gewissenloser Bursche hatte sie verführt; sie wußte nichtmehr, wie […]“ (Musil 1978a: 164-165). Markieren Bona<strong>de</strong>as eheliche (undwohlgemerkt: männliche) Kin<strong>de</strong>r die höchsten Tugen<strong>de</strong>n und das höchsteGlück, die eine Frau haben kann, steht Rachels (weibliches) Kind für dieSchan<strong>de</strong> und das Unglück, das ein (uneheliches) Kind über die Frau bringt.Ironischerweise ist es allerdings ihre uneheliche Tochter, die bewirkt, dassRachel selbst noch einmal Kind wer<strong>de</strong>n kann. Von <strong>de</strong>r Familie verstoßen,kommt sie nach Wien in <strong>de</strong>n Haushalt Diotimas. Dort wird durch <strong>de</strong>nmoralischen Einfluss <strong>de</strong>r Hausherrin „bei Rachel […], einpsychosomatisches Wun<strong>de</strong>r vollbracht: Sie wird ‚gleichsam wie<strong>de</strong>r in dieZeit vor <strong>de</strong>r Geschlechtsreife <strong>zur</strong>ückversetzt‘“ (Schilt 1995: 74, darin Musil1978a: 500). Statt die Mutterrolle anzunehmen – Rachel sorgt für ihreTochter, doch lebt diese bei einer Pflegemutter –, verwan<strong>de</strong>lt sich Rachelselbst in ein Kind <strong>zur</strong>ück. Musil erwähnt dies, wie aus <strong>de</strong>m Zitat ersichtlich,explizit. Außer<strong>de</strong>m gestaltet er <strong>de</strong>n Erzählstrang rund um Rachel undSoliman als Abenteuergeschichte mit Märchenelementen, wodurch dasKindhafte <strong>de</strong>s Dienstmädchens wie auch seines ‚Spielgefährten‘, PaulArnheims afrikanischen Dieners, unterstrichen wird. 7 Rachels Rückverwandlunghält allerdings nicht lange an. Als sie herausfin<strong>de</strong>t, dassDiotima, welche sie für ihre Ehrhaftigkeit und seelische Größe bewun<strong>de</strong>rt,für Arnheim durchaus körperliche Gefühle hegt, wird aus Rachel wie<strong>de</strong>reine junge Frau und aus <strong>de</strong>m kindlichen Abenteuer mit Soliman eine kurzeAffäre (vgl. Musil 1978: 601-604). Die neuerliche Verwandlung Rachels7 Rachel und Soliman beginnen ihre Herrschaften, Diotima und Arnheim, auszuspionieren,ebenso die Sitzungen <strong>de</strong>r Parallelaktion (vgl. Musil 1978a: 336). Man <strong>de</strong>nke auch an die‚Mutprobe‘, die Rachel in Arnheims Hotelsuite führt, wo ihr Soliman <strong>de</strong>ssen Schätzezeigen will (vgl. Musil 1978a: 497-499) und an die Bemerkungen, die über Rachels Sichtauf Solimans Herkunft gemacht wer<strong>de</strong>n: „Dieser Mohrenknabe war die funkeln<strong>de</strong> Schließein <strong>de</strong>m Zaubergürtel, <strong>de</strong>n die Parallelaktion um Rachel gelegt hatte. Ein komischer Kleiner,<strong>de</strong>r hinter seinem Herrn aus <strong>de</strong>m Märchenland in die Straße gekommen war, wo Racheldiente, war er von ihr einfach als <strong>de</strong>r unmittelbar für sie bestimmte Teil <strong>de</strong>s Märchens inBesitz genommen wor<strong>de</strong>n“ (Musil 1978a: 220-221).167


ezeichnet Musil dabei als „[…] lang schon angebahnte Umwälzung einesErwachens aus einem unnatürlichen Seelenzustand in <strong>de</strong>n mißtrauischenFleischeszustand <strong>de</strong>r Welt“ (Musil 1978: 500). Vor <strong>de</strong>m Hintergrund, dassEllen Key als eines <strong>de</strong>r realen Vorbil<strong>de</strong>r für Diotima diente (Corino 2003:857-859), kann man diese Rückentwicklung Rachels und <strong>de</strong>ren Vergehenals Illustration einer Überlegung lesen, die Musil just <strong>zur</strong> Meinung <strong>de</strong>rschwedischen Reformpädagogin über das Kind anstellte:„[…] bezüglich <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s hat sie [Ellen Key] aber in einem Punkt recht: Hingabean <strong>de</strong>n Augenblick, Aufgehen im Spiel <strong>de</strong>r Kräfte. Dies kann <strong>de</strong>m Erwachsenenbenei<strong>de</strong>nswert vorkommen. Vorbildlich kann es ihm aber nicht sein, da man einecomplicirte Konstitution nicht auf eine einfachere <strong>zur</strong>ückschrauben kann“ (Musil1983: 169).Mit <strong>de</strong>r Figur <strong>de</strong>r Rachel nimmt Musil das Kind als virtuellesSymbol <strong>de</strong>s Seinesgleichen also aus zwei Richtungen in <strong>de</strong>n Blick.Einerseits ist sie eine ledige Mutter und verkörpert damit die Negativseite<strong>de</strong>r durch das Kind vollzogenen patriarchalen Ordnung <strong>de</strong>r Gesellschaft.An<strong>de</strong>rerseits wird sie im Verhältnis zu Diotima – vorübergehend – selbstKind. Daran veranschaulicht Musil, dass Erwachsene <strong>de</strong>n Seelenzustandund die Weltwahrnehmung von Kin<strong>de</strong>rn, welche er als durchausbenei<strong>de</strong>nswert anerkennt und, wie schon erwähnt, auch mit <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>renZustand vergleicht, nicht in einer einfachen Rückentwicklung erreichenkönnen. Gleichzeitig <strong>de</strong>nunziert er auch in diese Richtung zielen<strong>de</strong>pädagogische Bemühungen. Diese sind nämlich nicht nur bei Erwachsenenzum Scheitern verurteilt, vielmehr erscheint je<strong>de</strong> Pädagogik (man be<strong>de</strong>nkeauch die Etymologie <strong>de</strong>s Wortes) wesensmäßig und unabhängig von ihremkonkreten Inhalt als Instrument <strong>de</strong>r Aufrechterhaltung eineralthergebrachten Ordnung, insofern sie eine Hierarchie impliziert. Dies istumso <strong>de</strong>utlicher, als Rachel in Wirklichkeit gera<strong>de</strong> nicht Diotimas Kind,son<strong>de</strong>rn ihr Dienstmädchen ist.LiteraturCorino, Karl (2003): Robert Musil. Eine Biografie, Reinbek bei Hamburg:Rowohlt.Fanta, Walter (2003): Die Spur <strong>de</strong>r Clarisse in Musils Nachlass. In: Musil-Forum. Hrsg. v. Matthias Luserke-Jaqui u. Rosmarie Zeller, Berlin/New York: <strong>de</strong> Gruyter 2001/02 (Bd. 27), 242-286.168


Howald, Stefan (1984): Ästhetizismus und ästhetische I<strong>de</strong>ologiekritik.Untersuchungen zum Romanwerk Robert Musils, München: Fink(Musil-Studien 9).Klippenstein, Dalia (2009): Zur Entschleierung <strong>de</strong>s androgynenFrauenbilds in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften.In: Musil-Forum. Hrsg. v. Matthias Luserke-Jaqui u. Rosmarie Zeller,Berlin/ New York: <strong>de</strong> Gruyter 2007/08 (Bd. 30), 109-127.Mitterer, Nicola (2007): Liebe ohne Gegenspieler. Androgyne Motiveund mo<strong>de</strong>rne Geschlechteri<strong>de</strong>ntitäten in Robert MusilsRomanfragment ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘, Graz: GUV –Leykam.Musil, Robert (1978a): Der Mann ohne Eigenschaften I, Reinbek beiHamburg: Rowohlt.Musil, Robert (1978b): Der Mann ohne Eigenschaften II, Reinbek beiHamburg: Rowohlt.Musil, Robert (2001): Verwirrungen <strong>de</strong>s Zöglings Törleß. 49. Aufl.,Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.Musil, Robert (1983): Tagebücher. Hrsg. v. Adolf Frisé. Neudurchgesehene u. ergänzte Aufl., Hamburg: Rowohlt.Pohl, Peter C. (2011): Konstruktive Melancholie. Robert Musils Roman‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ und die Grenzen <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnenGeschlechterdiskurses, Köln/ Weimar/ Wien: Böhlau.Schilt, Jelka (1995): ‚Noch etwas tiefer lösen sich die Menschen inNichtigkeiten auf‘. Figuren in Robert Musils Roman Der Mannohne Eigenschaften, Bern/ Berlin [u. a.]: Lang (Musiliana 2).Schwartz, Agata (1997): Utopie, Utopismus und Dystopie in Der Mannohne Eigenschaften. Robert Musils utopisches Konzept ausgeschlechtsspezifischer Sicht, Frankfurt/Main/ Berlin [u. a.]: PeterLang (German Studies in Canada 9).Wolf, Norbert Christian (2011): Kakanien als Gesellschaftskonstruktion.Robert Musils Sozioanalyse <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts, Wien/ Köln/Weimar: Böhlau (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 20).Zingel, Astrid (1999): Ulrich und Agathe. Das Thema Geschwisterliebein Robert Musils Romanprojekt ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘,St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag (Beiträge <strong>zur</strong> Robert-Musil-Forschung und <strong>zur</strong> neueren österreichischen Literatur 12).169


Maria StângăTemeswarAußenseiterfiguren in Anna Mitgutschs RomanIn frem<strong>de</strong>n StädtenAbstract: Social exclusion is a phenomenon in permanent transformation andreconfiguration, which captured the attention of sociologists, psychologists and historiansin the German area, especially over the last <strong>de</strong>ca<strong>de</strong>s of the 20 th century. On the literaryplane, however, the outsi<strong>de</strong>r appears as a frequent character from the very earliest of times.Individuals have the ability to adapt to the external environment, as well as the possibilityto maintain their internal balance. As a social being, they change their behaviour in or<strong>de</strong>r toadapt to the environment and, implicitly, to the new experiences they are confronted with.There are however individuals who are not accepted within a group, an organization orsociety at large and they thus occupy a peripheral position. Such individuals are rejectedbecause they do not rise to expectations, i.e. the general norms, and are labelled as beingoutsi<strong>de</strong>rs. The un<strong>de</strong>rlying theme of Anna Mitgutsch’s novels is marginalization and theway in which it reflects upon the individual. Mitgutsch’s fourth novel, In frem<strong>de</strong>n Städten(1992), <strong>de</strong>als with a <strong>de</strong>ep feeling of otherness and loneliness. Lilian, the protagonist, splitsher life between two languages, two continents and two families. She is struggling with a<strong>de</strong>ep i<strong>de</strong>ntity crisis, which leads inevitably to her isolation. The triad country-languagei<strong>de</strong>ntityalso becomes a theme in the novel. In Lilian’s case, language gains a doublefunction, becoming an instrument of both isolation and integration. Lilian is thus caught inan i<strong>de</strong>ntity trap.Keywords: outsi<strong>de</strong>r, Austrian culture, American culture, social exclusion, isolation,alienation, loss of i<strong>de</strong>ntity, otherness, language crisis.Das Außenseitertum ist ein sehr aktuelles und äußerst komplexesPhänomen, das durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren entsteht undsowohl das als Außenseiter etikettierte Individuum als auch dieGesamtgesellschaft beeinflusst. Von seiner Geburt an kommt <strong>de</strong>r Mensch inInteraktion mit an<strong>de</strong>ren Gesellschaftsmitglie<strong>de</strong>rn, die bestimmteAnschauungen, Wertvorstellungen und Erwartungen haben. Der sozialeAustausch setzt voraus, dass das Individuum sein Verhalten und seineHandlungen an <strong>de</strong>m Verhalten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren orientiert. Es entwickelt sich<strong>de</strong>mzufolge ein Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen, das von <strong>de</strong>rEinhaltung allgemein festgelegter Regeln abhängt und sich sowohl auf dasIndividuum als auch auf die an<strong>de</strong>ren Gesellschaftsmitglie<strong>de</strong>r auswirkt.In <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten ist das Außenseitertum ein faszinieren<strong>de</strong>sThema für Soziologen, Psychologen, Sozialpsychologen und Historiker171


gewor<strong>de</strong>n. Die zahlreichen Studien, 1 welche sich mit stigmatisierten bzw.marginalisierten Menschen befassen, zeugen von <strong>de</strong>m wachsen<strong>de</strong>n Interesse<strong>de</strong>r Wissenschaftler für Ran<strong>de</strong>xistenzen und ihre Auswirkung auf dieGesamtgesellschaft. Während die Untersuchung <strong>de</strong>r Außenseiter alsSozialkategorie erst in <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts zu einembe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Forschungsgegenstand wird, ist das Außenseitertum schonimmer eines <strong>de</strong>r Lieblingsthemen <strong>de</strong>r Literatur gewesen.Von <strong>de</strong>r Problematik <strong>de</strong>s Außenseitertums ist auch dieösterreichische Schriftstellerin Anna Mitgutsch fasziniert wor<strong>de</strong>n.Zahlreiche Figuren, die in ihren Prosatexten vorkommen, weisen <strong>de</strong>utlicheAußenseiterzüge auf. In ihrem Debütroman Die Züchtigung (1985), <strong>de</strong>rsich mit <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Verhältnissen <strong>de</strong>r 1950er Jahreauseinan<strong>de</strong>rsetzt, wird Maries Außenseiterexistenz auf die patriarchalischgeprägten Verhältnisse, die im Dorfmilieu herrschen, <strong>zur</strong>ückgeführt.Brutalität, Gewalt und irrationale Autorität sind für die Mutter-Tochter-Beziehungen kennzeichnend. Je<strong>de</strong>r Versuch, sich an eigenen Vorstellungenund Erwartungen zu orientieren, wird gewalttätig unterdrückt.Ein weiterer gescheiterter Anpassungsversuch wird in MitgutschsDas an<strong>de</strong>re Gesicht (1986) dargestellt. Zwei Figuren mit <strong>de</strong>utlichenAußenseiterzügen treten in diesem Roman auf: Jana, die Protagonistin,welche aufgrund ihrer hohen Erwartungen und „rettungslose[n] Einsamkeit“(Jacobs 2009: 144) in die Außenseiterposition rückt und Sonja, ihreFreundin, und ihr Gegenbild zugleich.Eine Krankheit, <strong>de</strong>r Autismus, scheint die Hauptursache <strong>de</strong>sAußenseitertums Jakobs, eines an<strong>de</strong>ren Protagonisten, zu sein. Doch imLaufe <strong>de</strong>s Romans enthüllt sich die wahre Ursache seines Außenseitertums.1Vgl. dazu die Untersuchung <strong>de</strong>s amerikanischen Soziologen Howard S. Becker,Outsi<strong>de</strong>rs. Studies in the Sociology of Deviance (1963), ein Werk, das zu einemKlassiker <strong>de</strong>r Soziologie gewor<strong>de</strong>n ist; <strong>de</strong>n von René König und Fritz Sackherausgegebenen Band Kriminalsoziologie (1968), <strong>de</strong>r sich mit unterschiedlichenAspekten <strong>de</strong>s <strong>de</strong>vianten Verhaltens beschäftigt; Günter Wiswe<strong>de</strong>s Soziologieabweichen<strong>de</strong>n Verhaltens (1973) und die neueren Studien von Helge Peters, Devianz undsoziale Kontrolle. Eine Einführung in die Soziologie abweichen<strong>de</strong>n Verhaltens (1989)und Lothar Böhnisch, Abweichen<strong>de</strong>s Verhalten: eine pädagogisch-soziologischeEinführung (1999). Es gibt auch Historiker, die sich mit Ran<strong>de</strong>xistenzen undmarginalisierten Gruppen im <strong>de</strong>utschsprachigen Raum befassen. Erwähnenswert sind u. a.Bernd Roeck, Außenseiter, Randgruppen, Min<strong>de</strong>rheiten. Frem<strong>de</strong> in Deutschland <strong>de</strong>rfrühen Neuzeit (1993) und Frank Meier, Gaukler, Dirnen, Rattenfänger. Außenseiterim Mittelalter (2005).172


Der biologische Faktor ist nur ein Vorwand für die ausgrenzungsorientierteGesellschaft. Geschil<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>nfalls bei<strong>de</strong> gesellschaftlichenAkteure, sowohl die Ausgrenzen<strong>de</strong>n als auch die Ausgegrenzten. DieLegitimation <strong>de</strong>s „Diktats <strong>de</strong>r Normalität“ (Hackl 2009: 59) wird dadurch inFrage gestellt:Schließlich war es amtlich beglaubigt und abgestempelt. Ab jetzt war Jakoboffiziell behin<strong>de</strong>rt. Wegen Entwicklungsverzögerung und Autismus stand imAttest. Sie hatte alle Definitionen, mit <strong>de</strong>nen man Jakob beizukommen versuchte,<strong>de</strong>mütig angenommen, und glaubte nun voreilig, sie habe <strong>de</strong>n Schmerz bereitshinter sich [...]. Dann kam <strong>de</strong>r erste Sommer, <strong>de</strong>n Marta mit Jakob alleinverbrachte, weit weg von Felix, unerreichbar, von <strong>de</strong>r Welt abgeschnitten, auf <strong>de</strong>mBauernhof in <strong>de</strong>r Einschicht, <strong>de</strong>r Felix und Reinhard gehörte. Die Stille. Und dieGeborgenheit dieser Stille. Schmerzlich war nur, nach <strong>de</strong>n ersten Wochen dieTage zählen zu müssen. [...] Das Wort normal kam ihr kein einziges Mal in <strong>de</strong>nSinn. [...] Der Honigmond, sagte Jakob, heute ist Honignacht, und die Sternewaren die Waben. Schlaf jetzt, mein kleiner Poet, sagte Marta. Sie hatte alleErwartungen an sich und das Kind hinter sich gelassen, Jakob war genau das Kind,das sie wollte (Mitgutsch 1989: 111-112).Wenn in <strong>de</strong>n ersten drei Romanen die Ausgrenzung <strong>de</strong>r Individuenin erster Linie von <strong>de</strong>m Druck <strong>de</strong>r Gesellschaft bewirkt wird, erweitertMitgutsch in <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Romanen ihre Thematik durch eine:Art metaphysisches Element, das dazukommt [...] und das dann dieFragestellungen <strong>de</strong>r Neurowissenschaften und die Möglichkeit <strong>de</strong>r Wahlfreiheitund <strong>de</strong>r Determiniertheit durch Herkunft, Vergangenheit etc. noch um etwaserweitert, das eben dann wie<strong>de</strong>r etwas Irrationales hat, o<strong>de</strong>r genauer, etwas, dassich <strong>de</strong>r rationalen Logik entzieht und uns daher ängstigt (Bartsch/ Höfler 2009:18).Demzufolge zeugen die nächsten Romane In frem<strong>de</strong>n Städten(1992), Abschied von Jerusalem (1995), Haus <strong>de</strong>r Kindheit (2000),Familienfest (2003), Zwei Leben und ein Tag (2007) und Wenn duwie<strong>de</strong>r kommst (2010) tatsächlich von einer, wenn auch nur leichtverän<strong>de</strong>rten, Annäherung an die Außenseiterthematik, die sich als einZusammenspiel von sozialem Druck und einer inneren Veranlagung <strong>de</strong>sIndividuums <strong>zur</strong> Vereinsamung erweist. Die Autorin bleibt aber ihrerÜberzeugung treu, dass hauptsächlich die Gesellschaft für die Entstehung<strong>de</strong>s Außenseitertums verantwortlich sei, so dass bei Mitgutsch je<strong>de</strong>s Mal die„Verliererseite“ (Bartsch/ Höfler 2009: 23) diejenige ist, die in <strong>de</strong>nVor<strong>de</strong>rgrund tritt und zu Wort kommt. Die Macht und die Definitionshoheit173


liegen bei <strong>de</strong>r Gesellschaft, die je<strong>de</strong> Abweichung als Gefahr für <strong>de</strong>nhomogenen Zusammenhalt sieht und daher trachtet, sie zu eliminieren (vgl.Bartsch/ Höfler 2009: 23).Die vorliegen<strong>de</strong> Arbeit setzt sich zum Ziel, die Erscheinungsformen<strong>de</strong>s Außenseitertums in Mitgutschs Roman In frem<strong>de</strong>n Städten zuschil<strong>de</strong>rn, da die Figuren dieses Romans eine überspitzte Form vonAußenseitertum aufweisen und trotz ihrer Anpassungsversuche von keinerGruppe akzeptiert wer<strong>de</strong>n.Facetten <strong>de</strong>s Außenseitertums in Mitgutschs Roman In frem<strong>de</strong>n StädtenMitgutschs vierter Roman In frem<strong>de</strong>n Städten setzt in <strong>de</strong>m Transitraumeines europäischen Flughafens an. Während Lilian, die Protagonistin, aufihren Flug in die USA wartet, versucht sie „Glück zu empfin<strong>de</strong>n“ (IfS: 7),weil sie nach fünfzehn Jahren Europa endlich verlässt und in die USA, ihrHeimatland, <strong>zur</strong>ückkehrt. Ihr Leben in Europa ist „unbewohnbar gewor<strong>de</strong>n“(IfS: 8) und sie hofft, die längst verlorene Behaustheit auf <strong>de</strong>mnordamerikanischen Kontinent zu fin<strong>de</strong>n. In Europa hinterlässt sie abereinen Teil ihrer Familie, die sich aus ihrem Ehemann, Josef, und <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>nKin<strong>de</strong>rn, Claudine und Niki, zusammensetzt. Ihren Ehemann, Josef, hat siewährend eines Stipendium-Aufenthalts in Wien kennengelernt. Sie hat ihnin einem Zug angesprochen und seit<strong>de</strong>m sind sie zusammengeblieben.Fünfzehn Jahre lang versucht sie sich vergeblich, an die europäischeLebensweise anzupassen. Sie fühlt sich aber noch immer fremd undnach<strong>de</strong>m sie Alan anlässlich eines Konzertes kennenlernt, fasst sie <strong>de</strong>nEntschluss, ihre in Europa gegrün<strong>de</strong>te Familie zu verlassen und in die USA<strong>zur</strong>ückzukehren. Lilians Enttäuschungen beginnen schon am Flughafen, alssie feststellen muss, dass Alan sie nicht abholen wird. Ihre Beziehung zuAlan scheitert und sie fährt zu <strong>de</strong>m Ferienhaus ihrer Schwester. Dort trifftLilian ihren Vater, <strong>de</strong>n sie für ihr Scheitern als Lyrikerin und für ihrAußenseitertum beschuldigt. Ihr Vater, <strong>de</strong>r nun Werbetexte schreibt und aufseine Dichterkarriere verzichtet hat, scheint aber, seine Ruhe gefun<strong>de</strong>n zuhaben. Sie spricht mit Josef in <strong>de</strong>r Hoffnung, dass sie nach Europa<strong>zur</strong>ückkehren kann, aber dieser kündigt mit einer kalten Stimme an, dass sienicht vermisst wird. Lilian setzt das Haus, in <strong>de</strong>m sich auch ihr Vaterbefin<strong>de</strong>t, in Brand und läuft zum Strand. Es ist ein letzter Akt <strong>de</strong>r Befreiungvon je<strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>r Zugehörigkeit.174


1. Lilians Fremdsein1.1 Das europäische LebenDie in <strong>de</strong>n Vereinigten Staaten geborene Lilian begibt sich bereits zu ihrerStudienzeit nach Europa, um die Vergangenheit ihrer aus Europastammen<strong>de</strong>n Großmutter zu ergrün<strong>de</strong>n. Bessie, Lilians Großmutter, ist ausÖsterreich in die USA ausgewan<strong>de</strong>rt. Obwohl sie von ihrer Vergangenheitnur selten spricht, ist Europa in ihren Handlungen und Gedanken stetspräsent. Das Stipendium, das Lilian mit 22 Jahren erhält, bietet ihr dieMöglichkeit, „als Archäologin ihrer Herkunft“ (IfS: 71) zu fungieren.Schon während ihrer Kindheit entwirft Lilian ihr eigenesEuropabild, das von <strong>de</strong>n nostalgischen Gedanken ihrer Großmutter an einenie wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong> Jugend und an ein entschwun<strong>de</strong>nes Glück geprägt ist:Manchmal, wenn Bessie von diesem Land sprach, wur<strong>de</strong> sie weich und jung, dortlagen eine kurze Jugend und jene Erfahrungen, die sich nicht wie<strong>de</strong>rholen ließen,die erste heftige Liebe, die Hochzeit, das erste Kind und eine Freiheit, die es späterunter <strong>de</strong>m Druck, sich einzugewöhnen und zu Geld zu kommen, nicht mehr gab.Sie hatte nie <strong>de</strong>n Wunsch geäußert, <strong>zur</strong>ückzukehren, nicht einmal Sehnsucht nacheinem Besuch, wozu, das hätte Geld gekostet und sie ohnehin nur verstört, es warja nichts mehr so wie früher, sie hatte vielleicht Angst, sich die Erinnerungen zuzerstören (IfS: 70).Lilians erste Reise nach Europa ist grundsätzlich alsSelbstent<strong>de</strong>ckungsreise intendiert. Während einer Zugfahrt trifft sie aberJosef, einen <strong>zur</strong>ückgezogenen Österreicher, <strong>de</strong>n sie in einem Deutsch mitamerikanischem Akzent anspricht. Ihre Extravertiertheit, die spontanenReaktionen und ihre humorvolle Einstellung zum Leben faszinieren <strong>de</strong>nschüchternen Europäer und in kurzer Zeit folgt <strong>de</strong>r Heiratsantrag.Je<strong>de</strong> Beziehung ist aber eine Machtbeziehung. Am Anfang befin<strong>de</strong>tsich Lilian in einer überlegenen Position, die sie genießt, ohne zu ahnen,dass ihr bisheriges Leben durch die Auswan<strong>de</strong>rung ins Schwanken geratenwird. Infolge <strong>de</strong>r Auswan<strong>de</strong>rung än<strong>de</strong>rt sich aber ihr sozialer Statusgrundlegend. Die einst sorglose und exotische Reisen<strong>de</strong> wird nun zu einemMitglied <strong>de</strong>r Gesellschaft, das aufgrund <strong>de</strong>r Differenzen zwischen <strong>de</strong>reuropäischen und <strong>de</strong>r amerikanischen Kultur als eine Bedrohung von <strong>de</strong>nan<strong>de</strong>ren Gesellschaftsmitglie<strong>de</strong>rn betrachtet wird:Als sie <strong>zur</strong>ückkam, um zu bleiben, wur<strong>de</strong> alles an<strong>de</strong>rs, Wien hatte plötzlichStraßen mit grauen eintönigen Gebäu<strong>de</strong>n, Ämtern, in <strong>de</strong>ren Korridoren man sich175


176leicht verirrte, und gehässige Menschen, die sie nicht mehr ignorieren konnte. DieLeichtigkeit verschwand (IfS: 30).Lilian wird von Anfang an von Josefs Familie als Auslän<strong>de</strong>rinetikettiert, wobei dieser Status ein „unverzeihlicher Makel“ (IfS: 30) zu seinscheint. Je<strong>de</strong>r Annäherungsversuch hebt nur die Differenzen zwischen <strong>de</strong>ramerikanischen und <strong>de</strong>r europäischen Kultur hervor, weil Josefs Familiesich eine Integration durch Assimilation erwünscht.Josefs Familie geht davon aus, dass Lilian auf ihr bisheriges Lebenund somit auf ihre bisherige I<strong>de</strong>ntität verzichten wird, um sich <strong>de</strong>neuropäischen Lebensstil anzueignen. Sie sind zu keinen Kompromissenbereit und merken sich nicht einmal ihren Vornamen. Fünfzehn Jahre langwer<strong>de</strong>n sie die Protagonistin „Lilien“ nennen. Nicht einmal während <strong>de</strong>rHochzeit verheimlichen sie ihre grundsätzlich abweisen<strong>de</strong> Haltunggegenüber <strong>de</strong>r frem<strong>de</strong>n Lilian. Josef ist auch nicht bereit, Lilian mit ihreneigenen Lebensvorstellungen und Werten zu akzeptieren und for<strong>de</strong>rt sieständig auf, sich anzupassen. Die Gespräche, die sie während <strong>de</strong>r Hochzeitmit Josefs Verwandten führt, nimmt sie als Teile eines quälen<strong>de</strong>n Verhörswahr. Die Braut ist „<strong>de</strong>m Weinen nahe“ (IfS: 31) und lächelt vollerVerzweiflung. Der Ausgrenzungsprozess wird folglich schon während <strong>de</strong>rHochzeit in Gang gesetzt.Mit <strong>de</strong>r Zeit gewöhnt sich Josefs Familie an das neue vomnordamerikanischen Kontinent stammen<strong>de</strong> Mitglied. Dieanpassungswidrige Lilian wird jedoch als „son<strong>de</strong>rbar“ bezeichnet undweiterhin marginalisiert. Josefs Schwester scheint, Lilian nahezustehen,aber auch die Schwägerin ist an Lilians Wünschen und kulturellenGewohnheiten nicht interessiert. Als Josefs Schwester erfährt, dass dieProtagonistin eine endgültige Rückkehr in die USA plant, kommt sie aufBesuch und versucht, Lilian zu überre<strong>de</strong>n, ihre in Europa gegrün<strong>de</strong>teFamilie nicht zu verlassen. Die Argumente, die Josefs Schwester vorbringt,spiegeln die patriarchalische Mentalität <strong>de</strong>r Familie wi<strong>de</strong>r, in <strong>de</strong>r nochimmer die traditionellen geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungenvorherrschen. Die stereotypen Frauenrollen wer<strong>de</strong>n von Frau zu Frau, vonGeneration zu Generation weitergegeben. Gleichzeitig rücken anlässlichdieses Gesprächs die Distanz, das Misstrauen und die Abweisung, <strong>de</strong>nenLilian im Laufe <strong>de</strong>r Jahre ausgesetzt war, in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund:Im Juli, als Lilian bereits ihren Flug gebucht hatte, kam Josefs Schwester zuBesuch. Sie kam am Vormittag, um mit Lilian allein über diese Sache, wie sie dieTrennung nannte, zu re<strong>de</strong>n. [...] Es fiel ihr schwer, <strong>de</strong>n Anfang zu fin<strong>de</strong>n, aber sie


hatte sich vorbereitet und sich die Worte <strong>zur</strong>echtgelegt, und schließlich gab siesich einen Ruck: Man muß verzichten können, sagte sie, man muß an die Kin<strong>de</strong>r<strong>de</strong>nken, die können ja nichts dafür. [...]. Die Schwägerin hatte nicht ein einzigesMal ich gesagt o<strong>de</strong>r du, sie hatte nichts von sich und ihrem eigenen Lebenpreisgegeben, keine Frage gestellt [...] (IfS: 20).Der kommunikative Austausch zwischen Lilian und ihrereuropäischen Familie ist zweifelsohne mangelhaft. Diese oberflächlicheKommunikation und die Abweisung je<strong>de</strong>r Differenz prägen Lilians Existenzentschei<strong>de</strong>nd, so dass sie in eine Außenseiterposition rückt. Selbst Josef, <strong>de</strong>ram Anfang von Lilians An<strong>de</strong>rsartigkeit fasziniert war, weist eine <strong>de</strong>utlicheTen<strong>de</strong>nz <strong>zur</strong> Konformität auf und versucht, ihr die europäischen Werteaufzuzwingen:Plötzlich bestand er auf Pünktlichkeit, gebügelten Hem<strong>de</strong>n, sortierten Socken,Mahlzeiten, wenn er von <strong>de</strong>r Arbeit heimkam, und daß sie ihn nicht störte, wenn ersich Akten mit nach Hause nahm, um bis spät zu arbeiten. [...] Er war bemüht, ihrdas zu bieten, was er unter einem guten Leben verstand. Sie gingen wan<strong>de</strong>rn, siegingen manchmal ins Theater, ins Kino, er fuhr mit ihr an Seen, nach Italien. Aberkein noch so schöner Ausflug, kein noch so ereignisreicher Tag reichte an diesesGefühl grenzenloser Freiheit damals in Wien heran (IfS: 32).Josefs Einstellung zu seiner Ehefrau spiegelt das stereotypeVerhalten <strong>de</strong>r Mehrheitsbevölkerung gegenüber Frem<strong>de</strong>n wi<strong>de</strong>r. Dieserwirft Lilian eine anpassungswidrige Haltung vor, obwohl er nichtsunternimmt, um seine Frau und ihre Kultur zu verstehen. Josef bezeichnetLilian als „die archetypische Frem<strong>de</strong>“ (IfS: 33), als er sieht, dass sie die vonihm geplanten Reisen und Ausflüge nicht genießt. Zugleich macht er Lilianfür das Scheitern ihrer Ehe verantwortlich. Auch die Entscheidung, nachInnsbruck umzuziehen, zeigt Josefs mangeln<strong>de</strong>s Interesse an <strong>de</strong>n Gefühlenseiner Frau, die immer wie<strong>de</strong>r betont, dass sie <strong>de</strong>n Ozean liebe. Josefentschei<strong>de</strong>t sich aber für das Leben in einer Berglandschaft.Die Rücksichtslosigkeit ihres Ehemannes, sein egoistischesVerhalten sind Faktoren, die ihr Gefühl <strong>de</strong>r Einsamkeit <strong>zur</strong> Depressionsteigern. Allmählich entwirft sie eine „Zwischenwelt, die sie vor <strong>de</strong>mZugriff <strong>de</strong>r Umwelt schützte“ (IfS: 42). Die Entfernung von <strong>de</strong>runmittelbaren Realität ist ein Verweis auf Lilians Sehnsucht nachVertrautheit und Geborgenheit. Auch die immer häufigeren Reisen, die siein die USA unternimmt, lassen sich durch ihre Einsamkeit und Isolation inInnsbruck begrün<strong>de</strong>n. Am Anfang reist die ganze Familie in die USA, aberwährend <strong>de</strong>r Aufenthalte in <strong>de</strong>n Vereinigten Staaten erlebt die Familie eine177


Umkehrung <strong>de</strong>r Rollen, in<strong>de</strong>m nun Josef zum Frem<strong>de</strong>n wird. Da er mitdiesem Status unzufrie<strong>de</strong>n ist, begleitet er Lilian nur noch selten:178Siehst du die Berge? fragte sie auf ihrem Rückweg durch Vermont.Nein, sagte er, ich sehe keine Berge, ich sehe bloß ein paar Hügel.Und je<strong>de</strong>s Mal schlug seine vorsätzliche Abwehr irgendwann in Haß um, er fühltesich bedroht von ihrer gleichmütigen Sicherheit. [...] Er war ein Frem<strong>de</strong>r, steif undmißtrauisch, voll Abwehr und <strong>de</strong>r Furcht, man achte ihn nicht genug, einSpielver<strong>de</strong>rber, <strong>de</strong>r sich verbissen wehrte, sich zu amüsieren (IfS: 56-57).Das, was Josef als Anpassungswidrigkeit bezeichnet, ist im Grun<strong>de</strong>Lilians verzweifelter Kampf gegen die Auflösung ihrer I<strong>de</strong>ntität. Sie lebte„allein mit ihrem An<strong>de</strong>rssein und mußte es bewahren, um sich nicht selberabhan<strong>de</strong>n zu kommen“ (IfS: 21). Der Versuch, ihre in <strong>de</strong>n USA gebil<strong>de</strong>teI<strong>de</strong>ntität zu retten, ist aber aussichtslos.Infolge <strong>de</strong>r Auswan<strong>de</strong>rung wer<strong>de</strong>n ihr neue soziale Rollenzugeschrieben, die ihre bisherige soziale und persönliche I<strong>de</strong>ntität in Fragestellen. Lilian weigert sich, diese Rollen anzunehmen, und ihre Haltungführt zu einem Ungleichgewicht sowohl zwischen ihrer sozialen undpersönlichen I<strong>de</strong>ntität, als auch zwischen ihrem Selbst- und Fremdbild. Fürdie „archetypische Frem<strong>de</strong>“ (IfS: 33) stellt nun die mehrheitlicheBevölkerung das Frem<strong>de</strong> „das An<strong>de</strong>re“ dar, so dass sie die europäischenWerte ablehnt:Hölzern und schweigsam stand sie am Rand bei je<strong>de</strong>r Weihnachtsfeier, je<strong>de</strong>mFaschingsfest, was sollte sie dabei, es waren frem<strong>de</strong> Bräuche, die ihr dummerschienen, sie schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, bat um Entschuldigung, ich kenne dieses Liednicht, es tut mir leid. Nein, sie wollte nicht versuchen mitzusummen, sie wollte esnicht lernen. Ta<strong>de</strong>l und Mißmut trafen sie, sie schloß sich aus, das könne ihremKind nur scha<strong>de</strong>n. Sie fühlte sich ge<strong>de</strong>mütigt und ausgestoßen, niemand warneugierig auf ihre Bräuche (IfS: 47).Sowohl Josefs Familie als auch seine Bekannten zwingen <strong>de</strong>rProtagonistin die Rolle <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>n auf. Auf diesen Druck reagiert sie mitHöflichkeit und Distanz. Selbst die Gastfreundlichkeit <strong>de</strong>r Verwandten istnur ein Verweis auf die Tatsache, dass Lilian als Frem<strong>de</strong> wahrgenommenwird:[...] die Verwandten wollten ihr Gutes tun, da sie doch fremd war und jeman<strong>de</strong>nbrauchte, <strong>de</strong>r ihr die Schönheit <strong>de</strong>r Berge ent<strong>de</strong>cken half. [...] Es ärgerte sie, daßman ihr die Landschaft vorsetzte wie selbstgebackenen Kuchen und ihr keineWahl ließ, als höflich zu loben und sich zu bedanken (IfS: 86).


Nicht nur während <strong>de</strong>r Ausflüge in die umgeben<strong>de</strong>nBerglandschaften fühlt sie sich fremd, son<strong>de</strong>rn auch auf Familienfesten wirdsie nur als Gast betrachtet:Es war nieman<strong>de</strong>s Schuld, daß sie sich ihr nach fünfzehn Jahren immer noch wieeinem Gast zuwandten, aufmerksam und freundlich, und erleichtert in die Intimitätihres Dialekts <strong>zur</strong>ückfielen, wenn sie miteinan<strong>de</strong>r re<strong>de</strong>ten. Dann än<strong>de</strong>rte sich auchihr Tonfall, ihr Gesichtsausdruck. Ohne Lilian waren sie unter sich, manchmalvergaßen sie ihre Gegenwart, und Lilian beobachtete sie von außen, eineösterreichische Familie mit ihren beson<strong>de</strong>ren Gebräuchen und Geheimnissen,ihren Rivalitäten und Spannungen, ein bißchen erstickend und zugleich bergend(IfS :19).Lilians größter Wunsch, sich als dazugehörig zu fühlen, ist abertrotz ihrer zahlreichen Versuche nie in Erfüllung gegangen. Sie stellt inje<strong>de</strong>r Situation fest, dass sie außerhalb <strong>de</strong>r Gruppe steht und „[a]llesVorhan<strong>de</strong>ne zeigt ihr, daß sie nicht mitgemeint war, nicht vorgesehen, inkeinem Plan, je<strong>de</strong>nfalls nicht so, wie sie war“ (IfS: 26). Das Scheitern ihrerIntegration in Josefs Familie ist daher auf Lilians Migrantenstatus<strong>zur</strong>ückzuführen. Die einzigen Europäer, in <strong>de</strong>ren Nähe sie ein Gefühl <strong>de</strong>rVertrautheit erlangt, sind ihre eigenen Kin<strong>de</strong>r, aber auch von ihnenentfrem<strong>de</strong>t sie sich allmählich. Vor allem die Tochter Claudine weist eine<strong>de</strong>utliche Ten<strong>de</strong>nz <strong>zur</strong> Anpassung an die österreichische Gesellschaft auf,in<strong>de</strong>m sie sich mit großer Freu<strong>de</strong> an Schulfesten beteiligt und die Bräucheund Werte <strong>de</strong>r österreichischen Kultur enthusiastisch aufnimmt. DieserProzess ist für Lilian beson<strong>de</strong>rs schmerzhaft.Während ihrer Ehe mit Josef wird Lilian mit einer starrenRollenzuschreibung konfrontiert, die ihr aufgezwungen wird, obwohl sie nieals Familienmitglied angenommen wird. Im Laufe <strong>de</strong>s Romans enthüllensich allmählich die traditionellen Rollenbil<strong>de</strong>r und die patriarchalischeMacht, die für Josefs Familie kennzeichnend sind.Die Rolle <strong>de</strong>r Frau ist in Josefs Familie fest umrissen. Sowohl seineSchwester als auch die an<strong>de</strong>ren weiblichen Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Familie treten nuranlässlich <strong>de</strong>r Familienfeste in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund. Mit ihnen wer<strong>de</strong>nKonzepte wie Höflichkeit, Gastfreundschaft, Selbstaufgabe undAufopferung für die Familie in Verbindung gebracht. Die patriarchalischenVerhältnisse, die im Bewusstsein <strong>de</strong>r Frauen tief verankert sind, kommenauch in <strong>de</strong>m bereits erwähnten Gespräch zwischen Lilian und JosefsSchwester zum Vorschein:179


Man muß bei <strong>de</strong>m bleiben, was man einmal begonnen hat, und man muß auch dieMänner verstehen, die sind halt nun einmal so, wie sie sind, es gibt schlechtere als<strong>de</strong>n Josef. Man muß mit <strong>de</strong>m Leben zufrie<strong>de</strong>n sein und das Beste draus machen(IfS: 20).Lilian versucht am Anfang, sich an die neuen sozialen Werte undVerhaltenserwartungen anzupassen, aber <strong>de</strong>r große Wi<strong>de</strong>rspruch zwischenihren eigenen Vorstellungen und Erwartungen und jenen ihres Ehemannseinerseits und <strong>de</strong>r österreichischen Gesellschaft an<strong>de</strong>rerseits führtletztendlich zum Auftreten <strong>de</strong>pressiver Episo<strong>de</strong>n:Ich steh um sechs Uhr auf, die Kin<strong>de</strong>r gehen um halb acht <strong>zur</strong> Schule, Josef in dieKanzlei, <strong>de</strong>n Vormittag habe ich für mich, er vergeht mit Einkaufen, Kochen, ervergeht viel zu schnell. An drei Tagen unterrichte ich an <strong>de</strong>r VolksschuleEnglisch. [...] Die Nachmittage, ja, die sind manchmal lang. Die Kin<strong>de</strong>r sind zuHause, sie streiten, machen Hausaufgaben, ich muß da sein [...]. Manchmal gehenwir abends aus, Josef und ich, aber er bleibt lieber zu Hause. Er sagt, er siehttagsüber genug Leute, er will am Abend Ruhe haben (IfS: 40-41).Die Protagonistin, die in ihrer Jugend eine berühmte Lyrikerinwer<strong>de</strong>n wollte, stellt fest, dass ihre Rolle in <strong>de</strong>r Gesellschaft fastausschließlich auf die Erfüllung <strong>de</strong>r Mutterrolle beschränkt ist. Unbewusstlehnt sie aber diese traditionelle Frauenrolle ab. Dadurch verschärft sichauch ihr Gefühl <strong>de</strong>s Nicht-Zugehörigseins.Ein Hauptfaktor für das Scheitern ihrer Ehe ist auch diese strengeRollentrennung, die nicht überwun<strong>de</strong>n wird. Von Lilian wer<strong>de</strong>n nurGehorsam und Unterordnung erwartet. Während in Mitgutschs Roman DieZüchtigung die patriarchalischen Machtverhältnisse in <strong>de</strong>r Ehe mit„faschistoi<strong>de</strong>n Strukturen in <strong>de</strong>r Gesellschaft“ (Kunne 1989: 9) verbun<strong>de</strong>nwer<strong>de</strong>n und die Mütter nicht nur als Opfer, son<strong>de</strong>rn auch als Mitläuferinnendargestellt wer<strong>de</strong>n, die ihre Kin<strong>de</strong>r physisch und psychisch tief <strong>de</strong>mütigen,erweist sich Lilian als liebevolle, fürsorgliche Mutter. Sie lehnt jedoch dietraditionelle Mutterrolle ab:Es war nicht leicht, für Niki einen ruhigen Strand zu fin<strong>de</strong>n, an <strong>de</strong>m die Brandungmit ihren hohen stürzen<strong>de</strong>n Wellen und ihrem Tosen ihn nicht schreckte. Aber siefan<strong>de</strong>n schließlich eine stille Bucht [...]. Es war <strong>de</strong>r schönste Sommer seit ihrereigenen Kindheit gewesen. [...] Die Kin<strong>de</strong>r waren ausgelassen und spieltenzwischen <strong>de</strong>n Tischen Fangen, und niemand for<strong>de</strong>rte sie auf, sich or<strong>de</strong>ntlich zubenehmen. Sie fühlte sich sicher an diesem Ort, zugehörig und glücklich, so alswäre sie im besten aller Träume angekommen, zu Hause, am Meer, und das mit180


ihren Kin<strong>de</strong>rn. [...] Sie war so glücklich, daß sie nicht einmal an das Schreibendachte (IfS: 162).Schon in dieser Passage kommt einer <strong>de</strong>r größten Wünsche Lilianszum Vorschein. Die Protagonistin träumt davon, irgendwo anzukommen.Sie lebt aber in einem ständigen Weggehen, fliegt häufig aus Europa in dieUSA, weil sie sich überall als nicht dazugehörig fühlt. Josef scheint aberdiese Spannungen, <strong>de</strong>nen Lilian infolge ihrer Auswan<strong>de</strong>rung ausgesetztwor<strong>de</strong>n ist, nicht ernst zu nehmen. Seine Einstellung zu Lilians Kultur, zuihren Träumen und Wünschen ist eine Folge <strong>de</strong>s patriarchalischen Denkens,das seine ganze Familie prägt. Keines <strong>de</strong>r Familienmitglie<strong>de</strong>r fragt sie nachihrem bisherigen Leben o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n kulturellen Gewohnheiten und ihr Alltagist von <strong>de</strong>m Gefühl <strong>de</strong>s „Fehl-am-Platz-Sein[s]“ (IfS: 23) geprägt:[...] allmählich gewöhnten sich Lilian und seine Familie aneinan<strong>de</strong>r, doch einFamilienmitglied wur<strong>de</strong> sie nie. Die Quellen, aus <strong>de</strong>nen sie lebte, blieben ihnenunvorstellbar fremd, und keiner kannte ihre Normen und wußte, wie weit sieabwich, keiner konnte sagen, die Maske, die du trägst, paßt nicht zu dir. Sie sagtenlieber, ich mag sie nicht, sie ist von unseren Speisen nicht begeistert, sie geht nichtmit zu unseren Festen, sie ist so an<strong>de</strong>rs, so son<strong>de</strong>rbar (IfS: 31).Mit neununddreißig Jahren stellt Lilian fest:Ich halte dieses Leben, in <strong>de</strong>m ich eingesperrt bin, nicht mehr aus. Wer könnteüberprüfen, ob es das frem<strong>de</strong> Land war, die Stadt, die Sprache, ihre Ehe o<strong>de</strong>r bloßdas Durchschnittsleben einer verheirateten Frau (IfS: 13).Die Missachtung ihrer Gefühle und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>pressiven Zustän<strong>de</strong>, diebei Lilian immer häufiger vorkommen, sind für JosefSelbstverständlichkeiten, die sich in seiner Reaktion auf ihre angekündigteRückkehr in die USA wi<strong>de</strong>rspiegeln, <strong>de</strong>nn es ist „schwer für Josef zubegreifen, daß sie nicht mehr provozierte, daß es ihr Ernst war, sie wolltewirklich keinen Monat länger bleiben“ (IfS: 13).Josefs patriarchalisches Denken spiegelt sich auch in <strong>de</strong>r Sprachewi<strong>de</strong>r. Häufig kommen in seinem Diskurs die Verben „müssen“,„verbieten“ o<strong>de</strong>r „erlauben“ vor. Die völlige Missachtung seiner Ehefrauund ihre ständige Unterdrückung wer<strong>de</strong>n aber nur von <strong>de</strong>r Protagonistinselbst, die direkt davon betroffen ist, wahrgenommen. Zum einem lässt sichdies durch das <strong>zur</strong>ückgezogene Leben erklären, das Lilian in Innsbruckführt, und zum an<strong>de</strong>ren stimmt Josefs Verhalten mit <strong>de</strong>n Erwartungen undNormen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Gesellschaftsmitglie<strong>de</strong>r überein. Kathrin, eine <strong>de</strong>r181


wenigen Freundinnen Lilians, entwirft ein anschauliches Bild <strong>de</strong>r Stellung<strong>de</strong>r Frau. Sie schil<strong>de</strong>rt die Situation <strong>de</strong>r Frau in <strong>de</strong>r österreichischenGesellschaft aus <strong>de</strong>m doppelten Blickwinkel einer Migrantin, die in ihrHeimatland <strong>zur</strong>ückgekehrt ist:182[...] man re<strong>de</strong>t einfach nicht über Privates, fast alles ist privat, die Ehen, die sieführen, Gefühle, und vor allem das Geld, sie sagen man und haben Meinungen, dukannst erfahren, was sie für richtig halten und was sie verdammen, doch was siefühlen, wenn sie allein sind, das wirst du kaum erfahren [...] (IfS: 134).Lilian empfin<strong>de</strong>t das Verhalten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren und ihre Reaktionen alsfeindselig. Das Selbstwertgefühl <strong>de</strong>r Protagonistin gerät ins Schwanken,<strong>de</strong>nn sie hat „längst die Sicherheit verloren, was man sich noch, was mansich nicht mehr gefallen lassen durfte, wo die Grenzen lagen“ (IfS: 134).Die Angst vor Abweisung und Ausgrenzung führt dazu, dass sie sogar <strong>de</strong>nKontakt mit <strong>de</strong>n österreichischen Müttern mei<strong>de</strong>t, weil diese ihrsprachliches Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühl verstärken. Sie neigt dazu, ihreDeutschkenntnisse mit jenen an<strong>de</strong>rer Auslän<strong>de</strong>r zu vergleichen. So stellt sieenttäuscht fest, dass Marlene, eine an<strong>de</strong>re aus <strong>de</strong>n USA stammen<strong>de</strong> und inÖsterreich ansässige Frau, die <strong>de</strong>utsche Sprache besser als sie beherrscht.Lilians Ten<strong>de</strong>nz, sich von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Müttern abzugrenzen, kannzweifach ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n. Einerseits ist ihre Isolation eine Folge <strong>de</strong>sMin<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühls hinsichtlich ihrer Sprachkenntnisse undan<strong>de</strong>rerseits ist sie ein Verweis darauf, dass sie sich mit <strong>de</strong>r traditionellenMutterrolle nicht i<strong>de</strong>ntifizieren kann, bzw. will:Lilian setzte sich abseits von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Müttern auf eine leere Parkbank, dieGespräche mit ihnen strengten sie zu sehr an, es fehlten ihr die Wörter und dieSicherheit. Es fehlte ihr die Sicherheit. Deutsch war für sie die erwachseneSprache, in <strong>de</strong>r sie besser dachte als fühlte, es fiel ihr leichter, komplizierte I<strong>de</strong>enauszudrücken als einfache alltägliche Erfahrungen mit einem Kind (IfS: 45).Ein weiterer Aspekt rückt in diesem Zusammenhang in <strong>de</strong>nVor<strong>de</strong>rgrund. Die Protagonistin kann sich mit <strong>de</strong>r ihr zugeschriebenenMutterrolle, die nur in <strong>de</strong>r „verläßlichen Gegenwart ihres Körpers, <strong>de</strong>rkochte, wusch, berührte und nichts for<strong>de</strong>rte“ (IfS: 43) besteht, nichtabfin<strong>de</strong>n. Sie weist aber nicht die Mutterschaft als solche ab, son<strong>de</strong>rn dieMutterrolle, die ihr von <strong>de</strong>r Familie ohne Rücksicht auf ihre eigenenErwartungen und Vorstellungen zugeschrieben wird. Während man vonLilian Selbstaufopferung und emotionale Zuwendung erwartet, möchte sieihren Kin<strong>de</strong>rn ihre Erinnerungen und ihre Sprache schenken. Josefs und


Lilians unterschiedliche Erwartungen und Vorstellungen über dieMutterrolle tragen zu ihrer Distanzierung von <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn bei:[...] Sie wußte, die an<strong>de</strong>ren Frauen investierten sich selber ohne Vorbehalt, siebrauchten sich auf, bis nichts mehr übrig war, während sie sich heraushielt, <strong>zur</strong>Seite legte für die Zeit danach, sich sparte wie das Geld auf ihrem Konto für <strong>de</strong>nTag <strong>de</strong>r Flucht (IfS: 7-8).Josef verbietet ihr eine Infragestellung o<strong>de</strong>r Neu<strong>de</strong>finition <strong>de</strong>rMutterrolle in <strong>de</strong>r Hoffnung, dass sie sich die traditionelle Rolle aneignenwird. Es ist ersichtlich, dass die Protagonistin von Josef und seiner Familieausschließlich auf ihre Mutterrolle reduziert wird.Es lässt sich daher feststellen, dass Lilians <strong>zur</strong>ückgezogenes Lebennicht nur auf ihren Migrantenstatus <strong>zur</strong>ückzuführen ist, son<strong>de</strong>rn auch auf dieStellung <strong>de</strong>r Frau in <strong>de</strong>r österreichischen Gesellschaft, ein an<strong>de</strong>res Thema,mit <strong>de</strong>m sich Mitgutsch häufig auseinan<strong>de</strong>rsetzt.1.2 Lilians amerikanisches LebenErst infolge <strong>de</strong>r Auswan<strong>de</strong>rung nach Europa wird sich die Protagonistinihres Außenseitertums bewusst. Ihre Vereinsamung und die Ten<strong>de</strong>nz <strong>zur</strong>Isolation lassen sich aber schon auf ihre Kindheit <strong>zur</strong>ückführen. Lilianstammt aus einer nordamerikanischen Familie und hat bis zum Tod ihrerMutter ein ruhiges glückliches Leben geführt. Trotz <strong>de</strong>s glücklichenAnfangs ihres Lebens wird sie schon relativ früh mit <strong>de</strong>r schmerzhaftenErfahrung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s ihrer Mutter Muriel konfrontiert.Der Verlust ihrer Mutter wird von <strong>de</strong>m Verlust <strong>de</strong>s Vaters gefolgt,<strong>de</strong>r seit Muriels Tod nur körperlich in Lilians und Lisas Leben präsent ist.Lilian wird von ihrer Großmutter Bessie, einer tschechischen Migrantin,erzogen. Diese verdrängt ihre Gefühle gegenüber <strong>de</strong>r verlorenen Heimatund bemüht sich lebenslang, ihre Anpassung an die nordamerikanischeGesellschaft vorzutäuschen.Schon als Kind lei<strong>de</strong>t Lilian unter <strong>de</strong>r mangelhaftenKommunikation, die für ihre Familie kennzeichnend ist. Die Großmutter,die sogar ihren Vornamen amerikanisiert hat, und allen verbietet, sieElisabeth zu nennen, ist zu sehr mit <strong>de</strong>n alltäglichen Sorgen beschäftigt, ummit <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Enkelinnen kommunizieren zu können. Nach <strong>de</strong>m Tod ihrerTochter konzentriert sie sich hauptsächlich auf die Sicherung <strong>de</strong>sLebensunterhalts, weil ihr <strong>de</strong>pressiver Schwiegersohn die Kin<strong>de</strong>r183


vernachlässigt. Sowohl Bessie als auch Lilians Vater betrachten <strong>de</strong>nRückzug in die Arbeit als ein Gegenmittel. Bei<strong>de</strong> verdrängen Muriels Todund mei<strong>de</strong>n sogar die Interaktion mit Lilian und Lisa. Im Falle <strong>de</strong>rProtagonistin erscheint folglich das Gefühl <strong>de</strong>r Nicht-Dazugehörigkeitschon <strong>zur</strong> Zeit ihrer Kindheit:Bei ihren Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen gab es immer eine Zeit »davor« und eine Zeit»danach«, die Wen<strong>de</strong> war die Katastrophe, über die sie schwiegen, <strong>de</strong>r Tod <strong>de</strong>rMutter. Es schien bei<strong>de</strong>n zu schmerzlich, an<strong>de</strong>rs als in Anspielungen davon zusprechen, und <strong>de</strong>nnoch gab es kein Gespräch und kaum ein Tag verging, ohne daßvon neuem die Frage nach <strong>de</strong>r Schuld auftauchte. Du bist mein Fluch und nichtmein Schwiegersohn, <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sengel bist du, schrie Bessie, und <strong>de</strong>r Vater flohwortlos in sein Arbeitszimmer, während sie weiterzeterte [...] Das einzige Unglücksei, daß er statt ihrer Tochter am Leben geblieben sei und daß sie, Bessie, ihn alsVater ihrer Enkelinnen ständig ertragen müsse (IfS: 92-93).Sowohl Lilians persönliche Entfaltung als auch jene ihrer jüngerenSchwester, Lisa, sind von Bessies Verhältnis zu ihrem Schwiegersohnentschei<strong>de</strong>nd geprägt und daher ist ihre emotionale Entwicklung gehemmt.Darüber hinaus versucht Bessie, ihnen stereotype Vorstellungen über diesoziale Rolle <strong>de</strong>r Frau aufzuzwingen. Die Auffassungen <strong>de</strong>r Großmutterstimmen jedoch mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Enkelinnen nicht überein:Denn das war ihre erste Lektion von klein auf gewesen: Mach dich unsichtbar, gehauf Zehenspitzen, sei leise und for<strong>de</strong>re nichts, dann streicht dir <strong>de</strong>r, von <strong>de</strong>m du sogern bemerkt wer<strong>de</strong>n möchtest, vielleicht gedankenlos und freundlich über <strong>de</strong>nKopf. Später hatte sie noch dazugelernt, daß die wirkliche Gegenwart nie so schönwie die Träume und die Erinnerungen war (IfS: 97).Lilian isoliert sich allmählich von allen Familienmitglie<strong>de</strong>rn undbeginnt zu schreiben. Ihre Hinwendung zum Schreiben kann zweifachge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n. Einerseits stellt <strong>de</strong>r Schreibprozess eine Zuflucht dar undan<strong>de</strong>rerseits kann dies als verzweifelter Versuch interpretiert wer<strong>de</strong>n, dieAufmerksamkeit ihres Vaters auf sich zu lenken. Lilians Vater, <strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>mTod seiner Frau, ein erfolgreicher Lyriker war, vernachlässigt seine Töchterund zieht sich in sein Arbeitszimmer <strong>zur</strong>ück, obwohl er nicht mehrschreiben kann. Die Schuldgefühle <strong>de</strong>s Vaters, sein „verschwiegenesLei<strong>de</strong>n“ (IfS: 93) führen auch zu seinem Versagen als Schriftsteller. Seinselbstzerstörerisches Verhalten wird später von Lilian übernommen. DieVereinsamung <strong>de</strong>s Vaters und die autoritäre Großmutter prägen ihreKindheit entschei<strong>de</strong>nd, so dass sich Lilian einsam und ausgeschlossen fühlt:184


Ein einziges Mal dazugehören und es spüren, das hatte sie sich schon als Kindgewünscht, auf <strong>de</strong>m Spielplatz, unter <strong>de</strong>n irischen Einwan<strong>de</strong>rerkin<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>renVäter die landlords waren. Sie selber hatte nichts gehabt, womit sie hätteauftrumpfen können, je<strong>de</strong>nfalls nichts, was in <strong>de</strong>r Umgebung, in <strong>de</strong>r sie aufwuchs,zählte: Besitz, Ansehen <strong>de</strong>r Eltern, ein Auto und einen großen imposanten Vater[...] (IfS: 77-78).Völlig besitzlos ist jedoch die Protagonistin nicht, weil sie nochüber die Macht <strong>de</strong>r Sprache verfügt. Von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>rn wird sienicht akzeptiert, weil sie ihren Wertvorstellungen und Erwartungen nichtentspricht. Sie stellt nüchtern fest, dass sie sich von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>rnaus <strong>de</strong>r Umgebung abson<strong>de</strong>rt und versucht nicht, sich an ihre Erwartungenanzupassen. Sie zieht die Einsamkeit vor, so dass sie während <strong>de</strong>r Ferien aufeiner Feuerleiter über <strong>de</strong>m Küchenfester sitzt und „von ihrer Höhe aus diean<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r unten auf <strong>de</strong>r Straße“ (IfS: 79) beobachtet. Lilian liest o<strong>de</strong>rschreibt Gedichte, was ein <strong>de</strong>utliches Überlegenheitsgefühl in ihr erweckt.Solange sie sich <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren überlegen fühlen kann, genießt sie auch ihrAußenseitertum. Die Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle kommen erst nach ihrerAuswan<strong>de</strong>rung zum Vorschein, so dass die Protagonistin ihrAußenseitertum in Europa als lästig empfin<strong>de</strong>t.Lilian übernimmt schon von klein auf die ihr von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>renKin<strong>de</strong>rn zugeschriebene Außenseiterrolle und beginnt, ihreAußenseiteri<strong>de</strong>ntität zu konstruieren. Schon als Stu<strong>de</strong>ntin empfin<strong>de</strong>t sie dieLast <strong>de</strong>r Einsamkeit an <strong>de</strong>n Samstagaben<strong>de</strong>n „<strong>de</strong>r Ren<strong>de</strong>zvous“ (IfS: 79), an<strong>de</strong>nen sie die einzige war, die lernte, während die an<strong>de</strong>ren Mädchenausgingen. Paradoxerweise fühlt sie nach ihrer Auswan<strong>de</strong>rung dieSicherheit <strong>de</strong>s Dazugehörens am Passschalter für amerikanischeStaatsbürger, wo „man sie nicht, wie überall sonst, abweisen“ konnte (IfS:80). Es ist einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, wofür sie die österreichische Staatsbürgerschaftnicht annehmen will. Nur in diesen Durchgangsorten kann sievorübergehend die längst verlorene Sicherheit und Vertrautheitwie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n.Die Protagonistin ist auch von ihrer Schwester Lisa entfrem<strong>de</strong>t.Als Kind vermei<strong>de</strong>t sie <strong>de</strong>n Kontakt zu ihrer Schwester, weil sie sich insSchreiben <strong>zur</strong>ückziehen kann. Erst nach <strong>de</strong>m Begräbnis ihrer Großmutterdrücken die Schwestern ihre Gefühle aus und setzen sich mit ihrenErinnerungen auseinan<strong>de</strong>r. Es bestehen jedoch unüberbrückbareDifferenzen zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n. Diese sind grundsätzlich auf dasVerhaltensmuster <strong>zur</strong>ückzuführen, das sie übernommen haben.185


Während Lilian das selbstzerstörerische Verhalten ihres Vaters übernimmt,zeichnet sich Lisa durch <strong>de</strong>n Ehrgeiz aus, sich anzupassen. DieseÜbertragung <strong>de</strong>s Familienverhaltens auf eines <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r wird vonMitgutsch in ihren Romanen häufig thematisiert. Lilian, die sichvernachlässigt fühlt, kämpft ihr ganzes Leben lang um die Anerkennungihres Vaters:Stolz sollte er auf sie sein, <strong>de</strong>nn war es nicht seine Begabung, von ihm geerbt, mit<strong>de</strong>r sie ihn nun übertraf? Hartnäckig hatte er so getan, als bemerkte er ihreSchreibversuche nicht, hatte, was sie schrieb, immer nur überflogen und wortlosweggelegt. Dabei hatte Lilian nur für ihn geschrieben und für <strong>de</strong>n Tag, an <strong>de</strong>m ernicht mehr an<strong>de</strong>rs konnte, als sie anzuerkennen und zu bewun<strong>de</strong>rn (IfS: 91).Tief enttäuscht von <strong>de</strong>m Egoismus <strong>de</strong>s Vaters fasst Lilian <strong>de</strong>nEntschluss, sein Buch fertigzustellen und es zu veröffentlichen. Trotz ihrerVersuche wird das Buch von allen Verlegern, an die sich Lilian wen<strong>de</strong>t,abgewiesen und die Protagonistin ist mit <strong>de</strong>m ersten Scheitern ihrer kurzenDichterlaufbahn konfrontiert. Später wird sie die Abweisung <strong>de</strong>sManuskripts ihres Vaters als persönliches Scheitern empfin<strong>de</strong>n, ein weitererBeweis dafür, dass sie die Anerkennung <strong>de</strong>s Vaters anstrebt. AlleFluchtversuche, die Emigration, ihre Ehe mit einem österreichischenStaatsbürger sind darauf <strong>zur</strong>ückzuführen. Sechzehn Jahre lang wird sie <strong>de</strong>nKontakt mit ihrem Vater und mit ihrem eigenen Scheitern vermei<strong>de</strong>n:Von diesem letzten Treffen mit <strong>de</strong>m Vater an hatten sich ihre Entschlüsse undHandlungen überstürzt, sie hatte je<strong>de</strong> Gelegenheit, von Zuhause wegzukommen,begierig und dankbar ergriffen, zuerst das Auslandsstipendium nach Wien, dannEmigration und Ehe (IfS: 90).In ihren Romanen setzt sich Mitgutsch hauptsächlich mit <strong>de</strong>mVerlust <strong>de</strong>r Muttersprache infolge <strong>de</strong>r Auswan<strong>de</strong>rung auseinan<strong>de</strong>r. IhrerAnsicht nach führt die Erfahrung <strong>de</strong>r Auswan<strong>de</strong>rung zu einemGrenzzustand. Wer aber zwischen zwei Kulturen bzw. zwischen zweiSprachen steht, ist in <strong>de</strong>r Regel „zum Schweigen verurteilt“ (Mitgutsch1997: 17). Der Verlust <strong>de</strong>r Sprache gefähr<strong>de</strong>t aber <strong>de</strong>n Selbst- undWeltbezug. Mitgutschs Figuren betrachten daher die Sprache als Eigentum.Die Tria<strong>de</strong> Heimat-Sprache-I<strong>de</strong>ntität ist schon längst einliterarischer Topos gewor<strong>de</strong>n. Mitgutsch befasst sich mit einergrundsätzlichen Dimension dieses Phänomens und greift dabei auf MartinHei<strong>de</strong>ggers Bestimmung <strong>de</strong>r „Sprache als Heimat“ <strong>zur</strong>ück, ein Konzept, das186


Hei<strong>de</strong>gger 1960 geprägt hat, und in all ihren bisher veröffentlichtenRomanen seinen Nie<strong>de</strong>rschlag fin<strong>de</strong>t.Auf die Son<strong>de</strong>rstellung, welche die Sprache in ihrem Werkeinnimmt, verweist Mitgutsch stets in ihren Interviews. Ausgehend davon,dass die Auswan<strong>de</strong>rung eine Erfahrung ist, die alles bisher Bekannte undVertraute in Frage stellt und zu einem Verlust „<strong>de</strong>r Zentriertheit und <strong>de</strong>runerschütterlichen Gewißheit <strong>de</strong>r eigenen Zugehörigkeit und I<strong>de</strong>ntität“ 2führt, behauptet Mitgutsch, dass sich die Auswan<strong>de</strong>rung in zweifacherWeise hinsichtlich <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>s Individuums auswirken kann. Die ersteunvermeidbare Konsequenz <strong>de</strong>r Auswan<strong>de</strong>rung ist die Verarmung <strong>de</strong>rMuttersprache durch das Eindringen <strong>de</strong>r neuen Sprache <strong>de</strong>rAufnahmegesellschaft. Eine verschärfte Form ist in dieser Hinsicht <strong>de</strong>rSprachverlust und das Verstummen sowohl in <strong>de</strong>r neuen als auch in <strong>de</strong>ralten Sprache. Eine zweite Möglichkeit besteht in <strong>de</strong>r Aneignung <strong>de</strong>r neuenSprache und <strong>de</strong>r von ihr aufgezwungenen I<strong>de</strong>ntität. Die Autorin offenbart indiesem Zusammenhang ihre eigene Erfahrung mit <strong>de</strong>r Sprache:Nach je<strong>de</strong>m Aufenthalt in <strong>de</strong>n USA, bei je<strong>de</strong>r Rückkehr nach Österreich, fühle ichmich durch Umfeld und Sprache verän<strong>de</strong>rt, je<strong>de</strong>r Aufbruch kommt einer neuenEntwurzelung gleich, und am En<strong>de</strong> zieht je<strong>de</strong> Vertrautheit mit <strong>de</strong>r einen Welt eineEntfremdung von <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren nach sich, bis man in <strong>de</strong>r Mitte, am Punkt <strong>de</strong>rgrößtmöglichen Entfernung von bei<strong>de</strong>n Seiten, knapp vor <strong>de</strong>m Kippen in einemprekären Gleichgewicht anhält und we<strong>de</strong>r das eine noch das an<strong>de</strong>re aufgebenkann. 3Mitgutsch <strong>de</strong>finiert die Sprache als ein komplexes Zeichensystem,das „auch das im Diskurs Ausgesparte, das Implizierte, die Körpersprache“ 4umfasst. Aus <strong>de</strong>r zitierten Passage wird ersichtlich, dass die Annahmemehrerer I<strong>de</strong>ntitäten und Zugehörigkeiten als möglicher Ausweg betrachtetwird.Aus <strong>de</strong>r Gleichsetzung <strong>de</strong>r Sprache mit <strong>de</strong>m Bewusstsein ergibt sichdas Außenseitertum vieler Figuren Mitgutschs. Der Sprachverlust führt inLilians Fall zum Ich-Verlust. Lilian strebt von klein auf danach, Lyrikerinzu wer<strong>de</strong>n und ihre Großmutter ermutigt sie ständig. Die Sprache nimmtfolglich eine zentrale Stellung in ihrer Existenz ein. Durch dieAuswan<strong>de</strong>rung wird aber ihre Sprachkompetenz in Frage gestellt. Die2http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/archiv/136119_In-zwei-Sprachenunterleben.html [17.05.2011].3 Ebd. [17.05.2011].4 Ebd. [17.05.2011].187


Aneignung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache gehört am Anfang zu ihrem Versuch,sich an die Vergangenheit ihrer Großmutter anzunähern. Erst nach<strong>de</strong>m sie<strong>de</strong>n Migrantenstatus annimmt, wird ihr bewusst, dass sie in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschenSprache nie das Gefühl <strong>de</strong>r Vertrautheit fin<strong>de</strong>n wird. Allmählich beginnt sieaber die Vertrautheit, die sie in ihrer Muttersprache gefun<strong>de</strong>n hat, zuverlieren. Sie nimmt <strong>de</strong>n Sprachverlust als schmerzhaften Enteignungsprozesswahr. Der Sprachverlust, <strong>de</strong>r auch ihr Selbstwertgefühl min<strong>de</strong>rt,wird verschärft, in<strong>de</strong>m Josef ihr nicht erlaubt, die Kin<strong>de</strong>r zweisprachig zuerziehen:Unbändig war ihr Glück, wenn das Kind die Wörter nachsprach, voll Vertrauen indie Einheit von Namen und sichtbarer Welt, und ihr <strong>de</strong>n Riß schloß, <strong>de</strong>n diestumme Wirklichkeit von ihren willkürlichen Definitionen trennte (IfS: 46).Claudine hingegen strebt danach, sich an die „an<strong>de</strong>renununterscheidbar anzupassen“ (IfS: 53), so dass sie sich bald von <strong>de</strong>renglischen Sprache und somit von ihrer Mutter entfernt. Im Gegensatz zuClaudine nimmt Niki, das zweite Kind, die Vereinsamung und die Isolationseiner Mutter wahr und versucht, sich an sie gera<strong>de</strong> durch die Sprache zunähern:Doch zwischen ihr und Niki blieb eine sprachlose Nähe, eine stumme Trauer über<strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>s ersten Überflusses an Liebe, und manchmal fragte er sie: Wie hastdu mich genannt? Honeypie, sugarplum, sagte sie leise, und die Erinnerung tatweh, wie eine alte Narbe, wie erfrorene Glie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Wärme. Wie dieses Land esschafft, mich umzubringen, dachte sie, mir bei lebendigem Leib je<strong>de</strong>s Gefühlherauszuziehen, daß ich taub bin bis in die Finger und je<strong>de</strong> Berührung schmerzt[...] (IfS: 52-53).Die Sprache fungiert sowohl als Integrations- als auch alsAbgrenzungsinstrument. Lilians ganze Existenz wird folglich von <strong>de</strong>rMacht <strong>de</strong>r Sprache bestimmt. Der Einfluss einer an<strong>de</strong>ren Sprache auf dieMuttersprache ist äußerst stark und ver<strong>de</strong>rblich, „beeinträchtigt sie,unterminiert sie, kontaminiert sie ebenso sehr, wie sie befruchtet.“ 5 DerVerlust <strong>de</strong>r Muttersprache führt aber allmählich zum Verstummen <strong>de</strong>rProtagonistin. Zugleich verliert sie auch ihre „innere Sprache“ (IfS: 52) unddamit die Sicherheit:5 Ebd. [17.05.2011].188


Doch immer seltener kamen die richtigen Wörter spielerisch ganz von selber, dieSicherheit ging ihr verloren und damit die Lust an ihrer Sprache. Und wenn dieeigene Sprache nicht mehr lebendig ist, fragte sie sich bang, kann ich dann nochleben? Wer bin ich dann? Entsetzt bemerkte sie, wie ihre Sprache abzubröckelnbegann, versank wie überschwemmte Inseln, ohne daß ihr die an<strong>de</strong>re gehörte (IfS:53).2 Anpassungsmuster an<strong>de</strong>rer Figuren2.1 Lilians Vater – eine Existenz im Zeichen <strong>de</strong>r SchuldIm Mittelpunkt <strong>de</strong>s Romans In frem<strong>de</strong>n Städten steht zwar LiliansFremdsein, aber die Protagonistin ist nicht die einzige Außenseiterfigur, diein Mitgutschs Roman vorkommt.Lilians Vater wird auch in einer Außenseiterposition geschil<strong>de</strong>rt, indie er infolge <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s seiner Frau gerückt ist. Muriel, Lilians Mutter,stirbt bei einem Autounfall, <strong>de</strong>r die Existenz aller Familienmitglie<strong>de</strong>rendgültig prägen wird. Das Bild <strong>de</strong>s Vaters lässt sich hauptsächlich ausLilians Reflexionen und Erinnerungen rekonstruieren. Dieser kann dastraumatische Erlebnis <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s seiner Frau nicht überwin<strong>de</strong>n, so dass ersich von <strong>de</strong>r Außenwelt isoliert und sich allen familiären Verpflichtungenentzieht. Er scheitert letztendlich sowohl als Vater, als auch alsSchriftsteller, in<strong>de</strong>m er Manuskripte schreibt, die nie Bücher wer<strong>de</strong>n. AmEn<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Romans scheint er jedoch, seine innere Ruhe gefun<strong>de</strong>n zu haben.Er schreibt zwar erfolgreiche Werbetexte, aber er führt weiterhin ein<strong>zur</strong>ückgezogenes Leben.Da <strong>de</strong>r Vater ihr Spiegelbild ist, kann Lilian seine endgültigeAbkehr vom Schreiben nicht akzeptieren. Seine Resignation macht dieProtagonistin wütend, so dass sie plötzlich <strong>de</strong>n Entschluss fasst, ihren Vaterzu ermor<strong>de</strong>n.2.2 Marlene – die angepasste EmigrantinMitgutsch entwirft aber nicht nur ein Spiegelbild <strong>de</strong>r Protagonistin, son<strong>de</strong>rnführt noch eine Nebenfigur, Marlene, ein. Diese wird als Lilians Gegenbilddargestellt. Der gemeinsame Nenner <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n ist ihr Migrantenstatus. Dieaus Ohio stammen<strong>de</strong> Marlene trifft Lilian in einer Apotheke. Sie führenzahlreiche Gespräche, welche Lilian die Möglichkeit bieten, ihreEinstellung <strong>zur</strong> Gesellschaft zu ergrün<strong>de</strong>n. Im Gegensatz zu Lilian, die <strong>de</strong>rKritik <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren mit Hilfe <strong>de</strong>r Selbstironie und <strong>de</strong>r Selbstkritik zu189


entkommen versucht, verwan<strong>de</strong>lt Marlene die sprachlichen Fehler und diekulturellen Differenzen in einen Vorteil.Ihre Einstellungen gegenüber <strong>de</strong>r österreichischen Gesellschaftunterschei<strong>de</strong>n sich aber grundsätzlich. Während sich Lilian als „ein Nichts,ein Niemand“ (IfS: 65) wahrnimmt, scheint Marlene, sich völlig angepasstzu haben. Ihre geglückte Anpassung an die österreichische Gesellschaft istnicht auf die Übernahme <strong>de</strong>s kulturellen und sozialen Normensystems<strong>zur</strong>ückzuführen, son<strong>de</strong>rn auf die Annahme <strong>de</strong>r ihr zugeschriebenen Rolle<strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>n. Marlene gehört folglich zu jener Kategorie <strong>de</strong>r Auswan<strong>de</strong>rer,die ihre neuen sozialen Rollen annehmen. Im Laufe <strong>de</strong>s Romans stellt essich aber heraus, dass sie die Internalisierung <strong>de</strong>r Werte und Normen <strong>de</strong>rAufnahmegesellschaft nur vortäuscht und das rät sie auch Lilian:190Dann nütz doch <strong>de</strong>ine Narrenfreiheit aus! Sie [Marlene] sah sich herausfor<strong>de</strong>rndum und legte ihre Beine auf <strong>de</strong>n freien Stuhl. Ich fühle mich sehr frei hier, erklärtesie, viel freier als zu Hause in meiner Jugend (IfS: 63).Marlenes Verhaltensweise ist eine Folge <strong>de</strong>r Vergangenheitsverdrängung.Ihr starker Integrationswillen stellt letztlich <strong>de</strong>n verzweifeltenVersuch dar, sich von <strong>de</strong>m Dasein ihrer <strong>de</strong>pressiven Mutter völlig zudistanzieren. Darüber hinaus kommt Lilian zu <strong>de</strong>r Schlussfolgerung, dass esviele Gemeinsamkeiten zwischen Marlene und ihrer Großmutter, Bessie,gibt:Marlene lud gern ein, tischte zu Thanksgiving Truthähne auf, fand sogar inirgen<strong>de</strong>inem La<strong>de</strong>n sweet potatoes, die Gäste kamen wie zum Folkloreabend, [...]sagten nachher, sie sind schon großartig, die Amerikaner, so gastfreundlich undlocker, und keiner verließ ihr Haus ohne von Amerika zu schwärmen. Nur Lilianlernte allmählich eine verborgene Seite an Marlene kennen, die sie an ihreböhmische Großmutter erinnerte, die Härte ihres Pioniergeistes, dieUnnachgiebigkeit auch sich selbst gegenüber, die Weigerung Gefühle zuzulassen,die ihrem unbeugsamen Glauben am Erfolg und Glück im Weg stehen konnten.Wer ihren Optimismus in Frage stellte, war ihr Feind (IfS: 64).Trotz <strong>de</strong>r Gemeinsamkeiten unterschei<strong>de</strong>n sich die bei<strong>de</strong>nNebenfiguren grundsätzlich durch die Anpassungsart, die sie gewählt haben.Während Marlene in <strong>de</strong>r Aufnahmegesellschaft mit <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>nzufrie<strong>de</strong>n ist, strebt Bessie unentwegt nach einer totalen Assimilation:Ihr ganzes erwachsenes Leben hatte Bessie ihre Herkunft zu vertuschen versucht,ihre Sehnsucht verdrängt und doch nie leugnen können. Mit ihrem neuenamerikanischen Namen nicht einmal ihr Mann durfte sie mehr Elisabeth nennen,


und ihrem harten tschechischen Akzent war sie ein Leben lang bemüht gewesen,in Amerika Fuß zu fassen, manchmal mit einer Härte, als wollte sie sich selbstbestrafen, manchmal mit rühren<strong>de</strong>m Übereifer, <strong>de</strong>r ihren Enkelinnen peinlich war.Du solltest nie<strong>de</strong>rknien und <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n küssen, for<strong>de</strong>rte sie einmal eineNeueinwan<strong>de</strong>rin auf, die über Heimweh klagte (IfS: 69).Auch für Marlene ist die Auswan<strong>de</strong>rung eine Flucht vor ihrembisherigen Leben, aber im Gegensatz zu Lilian gelingt es ihr, sich von ihrenalten Wertvorstellungen loszulösen, um sich eine neue I<strong>de</strong>ntität zu schaffen.Während eines Gesprächs gesteht sie, dass die Auswan<strong>de</strong>rung eine radikaleErfahrung sei, infolge <strong>de</strong>ren sie sich grundsätzlich verän<strong>de</strong>rt hat, <strong>de</strong>nnfrüher war sie „so ernst, [...] wollte in allem immer perfekt sein“ (IfS: 64).Obwohl die Protagonistin Marlene für „ihre verwegene Lust am Leben“(IfS: 64) bewun<strong>de</strong>rt, betrachtet sie ihre Anpassung mit Skepsis und ist <strong>de</strong>rMeinung, dass sich Marlene ihrer Fremdheit nicht mehr bewusst sei:Das Schlimmste, dachte sie, müßte es sein, fremd zu sein und es selber nichteinmal mehr zu merken (IfS: 65).Mitgutsch entwirft Marlene als Lilians Gegenbild, um zusuggerieren, dass es keine geglückte Auswan<strong>de</strong>rung gibt. AlleAnpassungsversuche <strong>de</strong>r Auswan<strong>de</strong>rer, die das Etikett fremd tragen,scheitern bis zuletzt.2.3 Kathrins Fehl-am-Platz-SeinEine an<strong>de</strong>re Figur, die als Projektionsfläche für die Gedanken und Gefühle<strong>de</strong>r Protagonistin fungiert, ist Kathrin, eine Österreicherin, „die selbernirgends gehörte, weil sie zu lange fortgewesen war“ (IfS: 24). Lilian lerntsie auf einer Party in Innsbruck kennen und ent<strong>de</strong>ckt allmählich, dass sieaufgrund <strong>de</strong>s Migrantenstatus viele Gemeinsamkeiten aufweisen, darunterauch das Gefühl <strong>de</strong>s „Fehl-am-Platz-Sein[s]“ (IfS: 23). Kathrin ist ausÖsterreich ausgewan<strong>de</strong>rt und danach ins Heimatland <strong>zur</strong>ückgekehrt, so dasssie auch zwischen zwei Kulturen und zwei Sprachen steht. Lilian stelltschon während <strong>de</strong>r Party mit Begeisterung fest, dass Kathrin sich von <strong>de</strong>nan<strong>de</strong>ren österreichischen Gästen unterschei<strong>de</strong>t:Unmöglich, hatte Lilian ausgerufen, nicht einmal <strong>de</strong>in Gesicht paßt hierher, nichtsan dir, wie du dich anziehst, wie du dich bewegst, wie bist du das alleslosgewor<strong>de</strong>n? (IfS: 24).191


Während Lilians Aussagen von Kathrin als Komplimentwahrgenommen wer<strong>de</strong>n, ist die Protagonistin tief enttäuscht, als sie einTaxifahrer in New York fragt, ob sie aus Frankreich stamme. Kathrin ist dieeinzige, die Lilian versteht:192[...] und als Lilian sie anrief: Es ist so weit, ich gehe, rief Kathrin: Großartig, daßdu es geschafft hast. Sie hatte verstan<strong>de</strong>n, daß das Leben, das alle an<strong>de</strong>ren fürausreichend hielten, für Lilian ein langes Schrumpfen be<strong>de</strong>utete und sie ihre ganzeKraft brauchte, um sich dagegen zu wehren und an sich selber festzuhalten (IfS:25-26).Kathrin, die nun eine Frem<strong>de</strong> in ihrem eigenen Land ist, <strong>de</strong>finiertdie Rückkehr ins Heimatland als „eine neue Form <strong>de</strong>r Emigration“ (IfS:104). Im Gegensatz zu Lilian, die ihr Außenseitertum noch nicht völligakzeptiert hat und noch immer hofft, einen Ort <strong>de</strong>s Ankommens zu fin<strong>de</strong>n,wo sie sich von <strong>de</strong>m Gefühl <strong>de</strong>r Fremdheit befreien kann, hat Kathrin ihrenWer<strong>de</strong>gang <strong>zur</strong> Außenseiterin abgeschlossen (vgl. Kap. 2). Sie befin<strong>de</strong>tsich nicht mehr auf <strong>de</strong>r Suche nach Behaustheit, son<strong>de</strong>rn ist sich ihrerAußenseiterposition bewusst:[...] nur einmal hatte Kathrin sie in ihre Wohnung eingela<strong>de</strong>n, es schien, als hättesie nie fertig ausgepackt, son<strong>de</strong>rn sich mittendrin besonnen, daß dieser Ort dochnicht <strong>de</strong>r endgültige war. So lebte sie seit Jahren, in einer vorläufigen Absteige, in<strong>de</strong>r die Bil<strong>de</strong>r noch an die Wän<strong>de</strong> gelehnt stan<strong>de</strong>n, Polster als Sitzgelegenheitendienten und eine große Hutschachtel als Wohnzimmertisch. Man soll nichtauswan<strong>de</strong>rn und es sich dann auf einmal an<strong>de</strong>rs überlegen, hatte Kathrin einmalgesagt, als wolle sie damit <strong>de</strong>n Zustand ihrer Wohnung erklären (IfS: 104).Ihre Haltung ist jedoch nicht als resignativ zu betrachten, son<strong>de</strong>rnals das Ergebnis eines vollen<strong>de</strong>ten Erkenntnisprozesses. Lilian hingegenempfin<strong>de</strong>t noch das Bedürfnis, eine Legitimation ihres Gefühls <strong>de</strong>sFremdseins zu fin<strong>de</strong>n, was sich auch in ihren Versuchen, sich mit an<strong>de</strong>renAuswan<strong>de</strong>rern zu vergleichen bzw. zu i<strong>de</strong>ntifizieren, wi<strong>de</strong>rspiegelt.Kathrins Entscheidung, Österreich zu verlassen, wirkt sich auch auf dieProtagonistin aus, die ihren ersten Versuch unternimmt, „ein neuesselbstständiges Leben zu beginnen“ (IfS: 107), in<strong>de</strong>m sie in <strong>de</strong>nWeihnachtsferien in die USA fliegt und sich auf <strong>de</strong>r Suche nach einerWohnung und einem Arbeitsplatz begibt. Sie stellt aber fest, dass sie nochnicht vorbereitet sei, unabhängig zu leben. Ihr erster Versuch, sich an dieAnfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r amerikanischen Gesellschaft wie<strong>de</strong>r anzupassen,scheitert und sie kehrt schon im Januar „entmutigt und geschlagen“ (IfS:


79) nach Österreich <strong>zur</strong>ück. Obwohl die Protagonistin, ständig dazu neigt,sich mit Kathrin zu i<strong>de</strong>ntifizieren, bleiben ihr die Erkenntnisse, zu <strong>de</strong>nenKathrin schon gelangt ist, verschlossen. Sie glaubt noch immer, dass eineRückkehr ins Heimatland möglich sei. Darüber hinaus ist sie fest davonüberzeugt, dass Kathrin ihr Selbstwertgefühl einer totalen Bindungslosigkeitverdankt, die ihr gleichzeitig ein großes Maß an Freiheit undNonkonformismus gewährt:Sie hatte Kathrin immer im Verdacht, eines Tages ohne Abschied und ohne diegeringste Reue zu verschwin<strong>de</strong>n, frei wie sie war, unverheiratet, ohne Familie, miteiner Wohnung, die ihr nichts be<strong>de</strong>utete (IfS: 105).Die Protagonistin ist sich aber <strong>de</strong>r Kehrseite dieser absolutenFreiheit noch nicht bewusst. Erst als sie diese Form <strong>de</strong>r Freiheit erlebt, stelltsie fest, dass sie die Freiheit nicht erträgt. Eine weitere Figur, mit <strong>de</strong>r sichLilian i<strong>de</strong>ntifiziert, ist die Auswan<strong>de</strong>rin <strong>de</strong>utscher Abstammung, die sie aufeinem Flughafen sieht:Sie re<strong>de</strong>te englisch mit einem kehligen Akzent, <strong>de</strong>ssen Herkunft nicht erkennbarwar. Es war die Art, wie sie re<strong>de</strong>te, die Lilian faszinierte, mit verkrampftemGesicht und gestrafften Halsmuskeln, als hätte sie Schmerzen. Lilian konnte ihreAugen nicht von diesem beängstigend angespannten Gesicht abwen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>neinstudierten Bewegungen, mit <strong>de</strong>nen sie die Zigarette zum Mund führte, <strong>de</strong>nKopf <strong>zur</strong>ückwarf, [...], sie konnte sich auch nicht erklären, was sie an dieser Frauso sehr störte. Dann wandte sich die Frau ihrem Kind zu, [...], mit einem <strong>de</strong>utschenSatz, und plötzlich ergab das zuvor groteske Gesicht Sinn, es hatte seineRichtigkeit. [...] minutenlang verwan<strong>de</strong>lte sich ihr Gesicht, verjüngte sich in daseiner weichen, fast mädchenhaften Frau, die das Leben frühzeitig verhärtet hatte(IfS: 22-23).In dieser Passage tritt ein ausdrucksvolles Bild <strong>de</strong>s Auswan<strong>de</strong>rershervor, <strong>de</strong>r ständig als fremd etikettiert wird, weil die neue I<strong>de</strong>ntität, welchesich <strong>de</strong>r Auswan<strong>de</strong>rer aufbaut, künstlich wirkt. Diesem quälen<strong>de</strong>nAnpassungsprozess, <strong>de</strong>r durch das verzerrte Gesicht <strong>de</strong>r Frau suggeriertwird, kann aber kein Auswan<strong>de</strong>rer entkommen. Durch die vortrefflicheVerknüpfung <strong>de</strong>r Auswan<strong>de</strong>rungserfahrung mit <strong>de</strong>r Fremdheitsthematikgelingt es Mitgutsch, ein komplexes, facettenreiches Bild <strong>de</strong>s Außenseiterszu umreißen. Anlässlich ihrer Auszeichnung mit <strong>de</strong>m SolothurnerLiteraturpreis wird Mitgutschs Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit sozialen Fragen wiefolgt beschrieben:193


Warum zeichnen wir Anna Mitgutsch heute mit <strong>de</strong>m Solothurner Literaturpreis aus?Weil ihr erzählerisches Werk in thematisch ungeheuer vielfältiger Weiseexistenzielle Fragestellungen <strong>de</strong>s Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft,von Freiheit und Bindung, Zugehörigkeit und Eigenständigkeit in zwingen<strong>de</strong>rForm, mit lapidarer Sprachkraft und souveräner Kompositionskunst exemplarischgestaltet [...] (Probst 2004: 87).Zum Opfer <strong>de</strong>r Auswan<strong>de</strong>rung und <strong>de</strong>s sozialen Drucks fiel auchLilians Onkel, Harry, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m dritten Bankrott Selbstmord beging.Einer <strong>de</strong>r Hauptfaktoren, <strong>de</strong>r ihn zum Selbstmord trieb, ist die Tatsache,„daß er sein ganzes Leben lang Europäer blieb“ (IfS: 208), obwohl er in <strong>de</strong>nUSA schon als Kind gelebt hat. Harry lebt folglich zwischen zwei Kulturen,<strong>de</strong>r europäischen, die er nur „vom Hörensagen“ (IfS: 209) kannte, und <strong>de</strong>ramerikanischen, in <strong>de</strong>r er sich nie völlig integrieren konnte. DieseWurzellosigkeit und das Gefühl <strong>de</strong>s We<strong>de</strong>r-Noch-Seins, an <strong>de</strong>nen erzugrun<strong>de</strong> geht, treffen aber auch auf die Protagonistin zu. Obwohl Lisa dieganze Schuld <strong>de</strong>r Großmutter Bessie zuweist, ist ihre eigene Anpassung einBeweis dafür, dass das Außenseitertum die Folge eines Zusammenspielsvon sozialen und persönlichen Faktoren ist.Der ganze Roman kreist um Lilians Fremdheitsgefühl, welches dieHauptursache ihres Außenseitertums ist. Die weiteren Anpassungsmöglichkeiten,die die Gesellschaft <strong>de</strong>m Individuum anbietet, kommenanhand <strong>de</strong>r Nebenfiguren zum Vorschein und verweisen auf dieKomplexität <strong>de</strong>r sozialen Systeme. Das Außenseitertum erweist sich daherals eine Folgeerscheinung <strong>de</strong>s sozialen Drucks und <strong>de</strong>r Nichtübereinstimmungzwischen <strong>de</strong>n sozialen und <strong>de</strong>n persönlichen Erwartungen.LiteraturBartsch, Kurt/ Höfler, Günther A. (2009): „Je<strong>de</strong>r Roman braucht einean<strong>de</strong>re Sprache“. Gespräch mit Anna Mitgutsch am 10. September2008. In: Kurt Bartsch/ Günther A. Höfler (Hrsg.): Anna Mitgutsch,Graz/ Wien: Literaturverlag Droschl, 11-27.Becker, Howard S. (1963): Outsi<strong>de</strong>rs. Studies in the Sociology ofDeviance, New York/ London: The Free Press of Glencoe.Böhnisch, Lothar (1999): Abweichen<strong>de</strong>s Verhalten: eine pädagogischsoziologischeEinführung, Weinheim/ München: Juventa.Hackl, Wolfgang (2009): Frem<strong>de</strong> und Außenseiter in <strong>de</strong>n Romanen vonAnna Mitgutsch. In: Kurt Bartsch/ Günther A. Höfler (Hrsg.): AnnaMitgutsch, Graz/ Wien: Literaturverlag Droschl, 57-71.194


Hei<strong>de</strong>gger, Martin ( 2 2002): Sprache und Heimat. In: Ders.: Aus <strong>de</strong>rErfahrung <strong>de</strong>s Denkens, Bd. 13, Stuttgart: Klett-Cotta, 155-180.Jacobs, Jürgen (2009): Zutritt nur für Frauen. Der Roman „Das an<strong>de</strong>reGesicht“ von Waltraud Anna Mitgutsch. In: Kurt Bartsch/ Günther A.Höfler (Hrsg.): Anna Mitgutsch, Graz/ Wien: LiteraturverlagDroschl, 144-146.König, Rene/ Fritz Sack (Hrsg.) (1968): Kriminalsoziologie, Frankfurt/Main: Aka<strong>de</strong>mische Verlagsgesellschaft.Kunne, Andrea (1989): Gespräch mit Waltraud Anna Mitgutsch. In:Ferdinand van Ingen/ Gerd Labroisse/ Anthony van <strong>de</strong>r Lee/ HendrikMeijring (Hrsg.): Deutsche Bücher. Referatenorgan <strong>de</strong>utschsprachigerNeuerscheinungen, 19. Jahrgang, Heft 1, 1-19.Meier, Frank (2005): Gaukler, Dirnen, Rattenfänger. Außenseiter imMittelalter, Ostfil<strong>de</strong>rn: Jan Thorbecke.Mitgutsch, Waltraud Anna (1989): Ausgrenzung, Frankfurt/Main:Luchterhand Literaturverlag.Mitgutsch, Waltraud Anna (1992): In frem<strong>de</strong>n Städten (IfS), Hamburg/Zürich: Luchterhand Literaturverlag.Mitgutsch, Anna (1997): Versuch über das Fremdsein. In: Hans Barkowski/Maria Hinterlehner (Hrsg.): Kulturen in Bewegung, Bd. 1, Wien:Verband Wiener Volksbildung, 13-22.Peters, Helge (1989): Devianz und soziale Kontrolle. Eine Einführung indie Soziologie abweichen<strong>de</strong>n Verhaltens, Weinheim/ München:Juventa.Probst, Hans Ulrich (2001): Sprache ist Heimat, das Einzige, woran ichmich halten kann. In: Die Rampe. Hefte für Literatur. PorträtAnna Mitgutsch, Linz: Rudolf Trauner, 83-87.Roeck, Bernd (1993): Außenseiter, Randgruppen, Min<strong>de</strong>rheiten.Frem<strong>de</strong> in Deutschland <strong>de</strong>r frühen Neuzeit, Göttingen:Van<strong>de</strong>nhoeck & Ruprecht.Wiswe<strong>de</strong>, Günter (1973): Soziologie abweichen<strong>de</strong>n Verhaltens, Stuttgart/Berlin/ Köln/ Mainz: W. Kohlhammer.InternetquellenMitgutsch, Anna (2005): „In zwei Sprachen Leben“. Unter:http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/archiv/136119_In-zwei-Sprachen- leben.html [17.05.2011].195


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Filomena Viana GuardaLissabonI<strong>de</strong>ntität, Familie und Geschichteo<strong>de</strong>r das Scheitern <strong>de</strong>r sozialistischen UtopieAbstract: In the German literary landscape of the last <strong>de</strong>ca<strong>de</strong>, the re-emergence of thefamily novel, both biographical and fictional, should be related to the huge interest in„memory studies since the early 1990s. Brought into the microcosm of the family circle thedifficult German history seems to be more easily un<strong>de</strong>rstood and through the literarymediation easily transformed into cultural memory (A. Assmann).This article examines Eugen Ruge’s <strong>de</strong>but novel In Zeiten <strong>de</strong>s abnehmen<strong>de</strong>n Lichts(2011) as a good example of this literary trend. Attention will also turn to thetransformation of familial and collective history into memory and it will focus on the way itis done: without „nostalgie“ and full of subtle humor.Keywords: family novel, cultural memory, East German history, generational transmissionDie Zeit nach <strong>de</strong>m Kalten Krieg brachte in Europa sowohl auf sozialpolitischer,als auch auf kultureller Ebene wichtige Verän<strong>de</strong>rungen mit sich.Die Entstehung neuer Län<strong>de</strong>r, zum Beispiel, verän<strong>de</strong>rte die bis dahinbestehen<strong>de</strong>n Grenzen und machte die Bildung neuer nationaler I<strong>de</strong>ntitätennotwendig, die bekanntlich immer von <strong>de</strong>r Geschichte und <strong>de</strong>m Gedächtnisabhängen. Im Falle Deutschlands führte die Wie<strong>de</strong>rvereinigung dazu, dassbei<strong>de</strong> Staaten viele <strong>de</strong>r Sicherheiten verloren, die sie sich im Laufe von vierJahrzehnten erworben hatten, wobei schon Generationen herangewachsenwaren, die im Zeichen <strong>de</strong>r Teilung geboren waren und <strong>de</strong>ren Biographiensehr stark mit einem bestimmten politischen System verbun<strong>de</strong>n waren.Diese Generationen wur<strong>de</strong>n von einem Moment auf <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren aus <strong>de</strong>rspezifischen historischen und biographischen Atmosphäre gerissen, welcheihre jeweiligen I<strong>de</strong>ntitäten geformt hatte (siehe Lahusen 2010: 140). Das istauch ein Grund dafür, dass die Wie<strong>de</strong>rvereinigung seit <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong>zu einem <strong>de</strong>r zentralen Themen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Erinnerungskulturwur<strong>de</strong>, wie Michael Braun anmerkt (Braun 2010: 69). Hervorzuheben isthierbei allerdings, dass die Erinnerung an die ehemalige DDR sich noch in<strong>de</strong>r Phase <strong>de</strong>s kommunikativen Gedächtnisses befin<strong>de</strong>t, da diese drei o<strong>de</strong>rvier Generationen umfasst (vgl. Lahusen 2010: 141). Und das be<strong>de</strong>utet, dasses sich in <strong>de</strong>n Texten um einzelne und unterschiedliche Deutungen <strong>de</strong>rGeschichte han<strong>de</strong>lt, d. h. um individuelle Versionen <strong>de</strong>r Vergangenheit.197


In <strong>de</strong>n neunziger Jahren beschäftigte sich die Mehrheit <strong>de</strong>r FamilienundGenerationenromane vor allem mit <strong>de</strong>m Familiengedächtnis, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>rNationalsozialismus vergegenwärtigt wird. Die Familienromane diesesJahrhun<strong>de</strong>rts hingegen haben immer mehr eine spätere Vergangenheit zumThema, nämlich die <strong>de</strong>r ehemaligen DDR. Der Mauerfall liegt über einJahrzehnt <strong>zur</strong>ück und somit ist eine gewisse Distanz zu <strong>de</strong>n Ereignissengewährleistet, so dass die DDR zum Erinnerungsort und literarischenGedächtnisort wer<strong>de</strong>n kann, <strong>de</strong>nn eine Reflexion über die Art und Weise,wie mit diesem Aspekt <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Geschichte <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rtsumgegangen wer<strong>de</strong>n soll, ist vonnöten (siehe Braun 2010: 69) 1 .Tatsächlich schaut die <strong>de</strong>utsche Literatur <strong>de</strong>s letzten Jahrzehnts sehraufmerksam auf die bei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Staaten (von <strong>de</strong>n 1950er bis zu <strong>de</strong>n1980er Jahren), wobei vor allem von individuellen und privatenGeschichten ausgegangen wird. Hiermit reiht sie sich in eine prägen<strong>de</strong>literarische Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r letzten Jahre ein: nämlich die Wie<strong>de</strong>rkehr <strong>de</strong>sFamilienromans in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Nationalliteraturen <strong>de</strong>r westlichenWelt 2 .Im Oktober 2011 schreibt die bekannte Literaturkritikerin IrisRadisch in <strong>de</strong>r Zeit folgen<strong>de</strong>s: „Das einsame Ich, vor wenigen Jahrzehntennoch <strong>de</strong>r melancholische Alleinernährer <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Gegenwartsromans,ist seiner überlegenen Einsamkeit mü<strong>de</strong> gewor<strong>de</strong>n und sucht nach seinemverlorenen Schatten: seiner Herkunft.“ Um dies zu beweisen, stellt Radischdrei Sensationsromane dieses Literaturherbstes vor. Alle drei Werke sindDebüt- und autobiographisch grundierte Familienromane und wur<strong>de</strong>n von<strong>de</strong>utschen Intellektuellen jenseits <strong>de</strong>r 50 geschrieben. Bei <strong>de</strong>n jeweiligenAutoren han<strong>de</strong>lt es sich um <strong>de</strong>n 1948 geborenen Schauspieler JosefBierbichler, <strong>de</strong>n 1959 geborenen Filmemacher Oskar Roehler und <strong>de</strong>nTheater- und Hörfunkautor Eugen Ruge, <strong>de</strong>r 1954 auf die Welt kam (vgl.Radisch 2011) 3 .1 Uwe Tellkamps hoch gelobter Roman Der Turm von 2008 mit <strong>de</strong>m UntertitelGeschichte aus einem versunkenen Land, in <strong>de</strong>m sieben Jahre <strong>de</strong>r DDR-Geschichte (von1982 bis 1989) geschil<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, wird zweifelsohne dazu verhelfen, dass die künftigenGenerationen die „Erstarrung und Implosion <strong>de</strong>r DDR“ wie<strong>de</strong>r von Neuem erleben, wieJens Binsky in seiner Rezension <strong>de</strong>s Romans schreibt (zit. nach Braun 2010: 83).2 Siehe <strong>de</strong>n Artikel von Sigrid Löffler über <strong>de</strong>n aktuellen Boom <strong>de</strong>s Familienromans unddie Grün<strong>de</strong>, die diesen erklären (Löffler 2005: 17-26).3 Am darauffolgen<strong>de</strong>n Tag erscheint in <strong>de</strong>r Presse eine an<strong>de</strong>re Rezension über diese dreiRomane von Dirk Knipphals, in <strong>de</strong>r ebenfalls darauf hingewiesen wird, dass es sich beidiesen Werken um Familienromane mit autobiographischer Basis han<strong>de</strong>lt (Knipphals 2011:03).198


Im Folgen<strong>de</strong>n wird <strong>de</strong>r im September 2011 unter <strong>de</strong>m Titel InZeiten <strong>de</strong>s abnehmen<strong>de</strong>n Lichts erschienene Debütroman von Eugen RugeGegenstand <strong>de</strong>r Analyse sein. Der Roman wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Literaturkritikhoch gelobt, war gleichzeitig auch das meistverkaufte Werk <strong>de</strong>s Jahres 2011und wur<strong>de</strong> im selben Jahr mit zwei wichtigen Preisen ausgezeichnet: <strong>de</strong>m„Aspekte“-Literaturpreis für das beste <strong>de</strong>utschsprachige Debüt (eineAuszeichnung <strong>de</strong>s ZDF-Kulturmagazins) und <strong>de</strong>m Deutschen Buchpreis <strong>de</strong>sBörsenvereins <strong>de</strong>s Deutschen Buchhan<strong>de</strong>ls 4 .In diesem Roman erzählt Eugen Ruge die fiktionale Geschichte <strong>de</strong>sAufstiegs und Falls einer bekannten intellektuellen Familie <strong>de</strong>r DDR-Nomenklatur im Laufe von vier Generationen und einem halbenJahrhun<strong>de</strong>rt, wobei er hierfür viele biographische Daten <strong>de</strong>r Geschichteseiner eigenen Familie mit einflicht 5 . Anhand <strong>de</strong>r Deka<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r FamilieUmnitzer verfolgt <strong>de</strong>r Leser die Geschichte <strong>de</strong>s Kommunismus inDeutschland sowie die Geschichte <strong>de</strong>r Deka<strong>de</strong>nz eines Lan<strong>de</strong>s, nämlich <strong>de</strong>rDDR, und einer I<strong>de</strong>ologie. Die Gattung „Familienroman“ entpuppt sich indiesem Fall als das i<strong>de</strong>ale Format, um anhand <strong>de</strong>r Privat- und Intimsphäreeiner Familie die „kollektive große Geschichte“ zu zeichnen. Genau dasmeint <strong>de</strong>r Schweizer Literaturkritiker Peter von Matt, wenn er in einer sehrgut dokumentierten Studie über die Beliebtheit und das Interesse für dasParadigma ‚Familie’ in <strong>de</strong>r Literatur schreibt:Die Pflicht, vom Ganzen zu re<strong>de</strong>n, und die Unausweichlichkeit, dies nur über dasPrivate tun zu können, begrün<strong>de</strong>n zusammen die Symbolhaftigkeit je<strong>de</strong>r Familie in4 Dieser Preis, <strong>de</strong>r seit 2005 vergeben wird, wur<strong>de</strong> zum zweiten Mal für einen Roman überdie DDR verliehen: Drei Jahre vorher, 2008, bekam <strong>de</strong>r Autor Uwe Tellkamp dieAuszeichnung für seinen Roman Der Turm, in <strong>de</strong>m die Geschichte <strong>de</strong>r DDR aus <strong>de</strong>r Sichteiner Familie <strong>de</strong>r Mittelschicht in Dres<strong>de</strong>n erzählt wird.2009 war Eugen Ruge für einige Kapitel seines Manuskripts schon mit <strong>de</strong>m Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet wor<strong>de</strong>n. Am 5. Dezember 2011 zeigt <strong>de</strong>r Fernsehsen<strong>de</strong>r ARTE einFilmporträt (<strong>de</strong>s Filmemachers Arpad Bondy) über <strong>de</strong>n Schriftsteller mit <strong>de</strong>m Titel „EugenRuge. Eine Familiengeschichte wird zum Bestseller“.5 In einem Interview mit Anja Köhler und Daniel Möglich behauptet Ruge: „Natürlichbil<strong>de</strong>t die eigene Biographie und die <strong>de</strong>r Familie <strong>de</strong>n Hintergrund für das Schreiben einesAutors. Aber auch wenn ich bestimmte biographische Eckdaten meiner Großmutterverwen<strong>de</strong> – ich habe keine Ahnung, was meine Großmutter in Mexiko gesehen und gedachthat. Ich weiß nicht, wie sie sich bei <strong>de</strong>r Rückkehr in die DDR fühlte. Dieser Roman ist einekomplette Erfindung“ (Ruge 2009).199


200<strong>de</strong>r Literatur, <strong>de</strong>n allgemein gesellschaftlichen Repräsentationscharakter sowohl <strong>de</strong>rMitglie<strong>de</strong>r wie <strong>de</strong>s akuten Konflikts (zit. nach Löffler 2005: 25) 6 .Aleida Assmann, die bekannte Expertin für Gedächtnis-Forschung,verwies ebenfalls schon unzählige Male auf die soziale und historischeRepräsentativität <strong>de</strong>s Familienromans, wobei sie die Aktualität dieserGattung mit <strong>de</strong>r Tatsache erklärt, dass wir in einem „post-individuellenZeitalter“ leben, wo Familie und Generation eine große Rolle spielen:Menschen <strong>de</strong>finieren sich heute nicht mehr ausschließlich durch das, was sie vonallen an<strong>de</strong>ren Menschen unterschei<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong> auch durch das, was sie mitan<strong>de</strong>ren Menschen verbin<strong>de</strong>t. [...] was sie gemeinsam erfahren und erlitten haben.[...] Man versteht sich nicht mehr ausschließlich aus sich selbst heraus, son<strong>de</strong>rnzunehmend auch als Mitglied von Gruppen, <strong>de</strong>nen man sich nicht freiwilligangeschlossen hat, wie <strong>de</strong>r Familie und <strong>de</strong>r Generation (Assmann, 2006: 22).Ruges Roman In Zeiten <strong>de</strong>s abnehmen<strong>de</strong>n Lichts kann also gelesenwer<strong>de</strong>n als eine individuelle Möglichkeit, sich erzählend <strong>de</strong>r Vergangenheitzu nähern und sie damit zu bewältigen.Der Roman ist in 20 Kapitel aufgeteilt, wobei in je<strong>de</strong>m Kapitel einebestimmte Figur und die in einem bestimmten Jahr von ihr durchlebtenErfahrungen im Mittelpunkt stehen. Es soll schon hier erwähnt wer<strong>de</strong>n, dassdiese Daten wichtig für die Figuren sind, aber historisch betrachtet, sind sieunbe<strong>de</strong>utsam. Es gibt aber einen beson<strong>de</strong>ren Tag, nämlich <strong>de</strong>n 1. Oktober1989, <strong>de</strong>n Tag, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Geburtstag <strong>de</strong>s Familienpatriarchen (<strong>de</strong>sGenossen Wilhelm Poliweit) gefeiert wird. Diesem Tag sind sechs Kapitelgewidmet, wobei in je<strong>de</strong>m dieser sechs Kapitel <strong>de</strong>r Tag aus <strong>de</strong>r Sicht einesan<strong>de</strong>ren Familienmitglieds geschil<strong>de</strong>rt wird. Das Jahr 2001, das <strong>de</strong>rGegenwartsebene entspricht, wird auch fünf Mal dargestellt, jedoch immeraus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r Hauptfigur, nämlich Alexan<strong>de</strong>r Umnitzers. In <strong>de</strong>nKapiteln, die sich auf die Vergangenheit beziehen, wer<strong>de</strong>n Ereignisse aus<strong>de</strong>n Jahren zwischen 1952 und 1995 erzählt. Die erste Jahreszahl, 1952,zeigt das Jahr an, an <strong>de</strong>m die kommunistischen Großeltern <strong>de</strong>r Hauptfigur,Charlotte und Wilhelm Powileit, ihr mexikanisches Exil verlassen (in dassie die Partei geschickt hatte, ausgehend vom ersten Exil Moskau) und mit<strong>de</strong>m sehnlichen Wunsch, beim Aufbau eines neuen Lan<strong>de</strong>s mitzuhelfen, indie DDR <strong>zur</strong>ückkehren. Das letzte Jahr im Roman, das Jahr 1995, wird aus<strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>s jüngsten Familienmitglieds geschil<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>s Urenkels Markus,6 Diese Stelle bezieht sich auf das folgen<strong>de</strong> Werk: Peter von Matt (1999): VerkommeneSöhne, mißratene Töchter. Familien<strong>de</strong>saster in <strong>de</strong>r Literatur, München: dtv.


eines pubertieren<strong>de</strong>n Jugendlichen, <strong>de</strong>r nichts mehr mit <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>rDDR o<strong>de</strong>r seiner Familie zu tun haben will. Zusätzlich zu diesen Zeitebenenerscheint noch eine dritte Ebene, die aus einer Reihe von früherenErlebnissen besteht, und die dank <strong>de</strong>r Einführung unzähliger Rückblickeund Erinnerungen gelingt.Im Anfangskapitel <strong>de</strong>s Romans wird <strong>de</strong>m Leser sofort <strong>de</strong>r familiärekörperliche Verfall vorgeführt: Der Vater <strong>de</strong>r Hauptfigur, Kurt Umnitzer,einer <strong>de</strong>r produktivsten und angesehensten Historiker <strong>de</strong>r DDR (ZaL: 21), 7lei<strong>de</strong>t mit seinen inzwischen 78 Jahren an Demenz, muss Win<strong>de</strong>ln tragenund kann nur noch das Wort „ja“ artikulieren, was bei einemwortgewaltigen Historiker, <strong>de</strong>r sein Leben lang zwischen i<strong>de</strong>ologischerAnpassung und Wi<strong>de</strong>rstand hin- und hergerissen war, nicht einer gewissenIronie entbehrt. Sein einziger Sohn Alexan<strong>de</strong>r, ein 47-jähriger Theaterregisseur(ZaL: 105) hat gera<strong>de</strong> herausgefun<strong>de</strong>n, dass er an einerunoperierbaren Form von Krebs erkrankt ist. Während er sich um <strong>de</strong>n alleinim Familienhaus in Neuendorf leben<strong>de</strong>n Vater kümmert, geht er an <strong>de</strong>n überund über mit Büchern und Artikeln <strong>de</strong>s Vaters gefüllten Regalen entlangund kann nicht umhin zu erkennen, dass all diese Arbeit und all dasEngagement vergeblich waren, <strong>de</strong>nn „nun war alles, alles MAKULATUR“(ZaL: 21). Die Figur <strong>de</strong>s Alexan<strong>de</strong>r kann als Alter Ego <strong>de</strong>s Autors gesehenwer<strong>de</strong>n, da sie verschie<strong>de</strong>ne biographische Daten mit ihm gemeinsam hat,wie das Alter, das Verlassen <strong>de</strong>r DDR kurz vor <strong>de</strong>m Mauerfall, seineneigenen Beruf und <strong>de</strong>n Beruf <strong>de</strong>s Vaters, die Geburt in <strong>de</strong>r ehemaligenSowjetunion, wo <strong>de</strong>r Vater im Exil lebte, und die Tatsache, dass seineMutter Russin ist 8 . Alexan<strong>de</strong>r besitzt auch alle für eine Zeit, die sich <strong>de</strong>mEn<strong>de</strong> zuneigt, typischen Eigenschaften: Er hat sein Studium abgebrochen,seine Frau und seinen Sohn verlassen und sich <strong>de</strong>r Dissi<strong>de</strong>nten-Szene am7 Folgen<strong>de</strong> Ausgabe wird hier zitiert: Eugen Ruge (2011): In Zeiten <strong>de</strong>s abnehmen<strong>de</strong>nLichts. Roman einer Familie, 6. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Bei <strong>de</strong>nZitaten wird das Kürzel ZaL zusammen mit <strong>de</strong>r jeweiligen Seitenzahl genannt.8 Eugen Ruge wur<strong>de</strong> in Sosswa, im Nord-Ural geboren und wuchs in <strong>de</strong>r DDR auf. SeinVater ist Wolfgang Ruge, ein angesehener Historiker <strong>de</strong>r DDR, <strong>de</strong>r wegen seinerkommunistischen Überzeugungen in <strong>de</strong>r Sowjetunion im Exil lebte und 1941 während <strong>de</strong>rStalin-Ära in ein Arbeitslager in Sibirien geschickt wur<strong>de</strong>. 1958 kehrte er mit seinerrussischen Frau und <strong>de</strong>m gemeinsamen Sohn, Eugen Ruge, <strong>de</strong>r damals vier Jahre alt war,nach Berlin <strong>zur</strong>ück. In <strong>de</strong>r DDR studierte Eugen Ruge Mathematik. Er arbeitete amZentralinstitut für Physik <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> in Potsdam, bevor er sich <strong>de</strong>m Schreiben vonDokumentarfilmen für die DEFA, Theaterstücken und Hörspielen für <strong>de</strong>n Rundfunkwidmete. 1988 entschloss er sich <strong>zur</strong> Flucht nach West<strong>de</strong>utschland, wo er als Autor undÜbersetzer für Theater, Rundfunk und Film bekannt wur<strong>de</strong>.201


Prenzlauer Berg angeschlossen. D. h. er hat nicht länger das Profil einesFamilienweiterführers, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Kommunistischen Staat glaubte und fürihn kämpfte, <strong>de</strong>nn, wie er einst <strong>de</strong>m Vater auf die Frage über seineVerhaltensweisen antwortete: „Ich will nicht mein Leben lang lügenmüssen“ (ZaL: 299). Alexan<strong>de</strong>r wird Geld und Notizen aus <strong>de</strong>mSchreibtisch <strong>de</strong>s <strong>de</strong>menten Vaters stehlen und nach Mexiko reisen, zu <strong>de</strong>nOrten, an <strong>de</strong>nen seine Oma Charlotte ihr Exil verbrachte, um dort über seinLeben Bilanz zu ziehen.Der Großvater, Wilhelm Powileit, verdankt <strong>de</strong>r Partei seinen sozialenAufstieg vom einfachen Schlosser zum Parteifunktionär, <strong>de</strong>r Jahr für Jahreinen Or<strong>de</strong>n verliehen bekommt. Als Kommunist <strong>de</strong>r ersten Stun<strong>de</strong> undVerehrer Stalins kämpfte Wilhelm gegen die Nazis, weshalb er nun als Heldangesehen wird. Er glaubt standhaft an die Worte seines Lieblingslie<strong>de</strong>s, vorallem an <strong>de</strong>n Vers „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“ (ZaL: 208).Im Laufe <strong>de</strong>r Zeit lehnt er sich immer wie<strong>de</strong>r gegen die Familie auf, die erals „politisch unzuverlässig“ einstuft und die er sogar als „Defätistenfamilie“bezeichnet. Er ist jedoch fest davon überzeugt, dass die von <strong>de</strong>n„Tschows“, also Chrustschow und Gorbatschow (ZaL: 195), eingeführtenReformen Schuld an dieser Entwicklung sind. Am Tag seines neunzigstenGeburtstags empfängt er Familienmitglie<strong>de</strong>r und Parteiveteranen und wirdmit <strong>de</strong>m „Vaterländischen Verdienstor<strong>de</strong>n in Gold“ (ZaL: 330)ausgezeichnet. Der Autor erspart ihm <strong>de</strong>n Kummer, <strong>de</strong>m Kollaps seinerUtopie beizuwohnen, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>r Figur erlaubt, just am Tag ihresGeburtstages, <strong>de</strong>r ungefähr einen Monat vor <strong>de</strong>m Mauerfall gefeiert wird,das Zeitliche zu segnen.Seine Frau Charlotte, Institutsleiterin an einer Aka<strong>de</strong>mie (ZaL: 122),ist ebenfalls eine überzeugte Anhängerin <strong>de</strong>r Partei, obwohl ihre bei<strong>de</strong>nSöhne, die seit jungen Jahren im Exil in <strong>de</strong>r Sowjetunion gelebt haben,Opfer <strong>de</strong>r stalinistischen Säuberungen waren: Werner wird getötet und Kurtwird in ein Arbeitslager in Sibirien geschickt - ein schwarzer Fleck in ihremEnthusiasmus für <strong>de</strong>n Kommunismus, an <strong>de</strong>n sie lieber nicht <strong>de</strong>nkt. DasHaus, in <strong>de</strong>m sie wohnt, das vorher einem Nazi gehört hatte, und <strong>de</strong>r großeaufklappbare Tisch, auf <strong>de</strong>m das Geburtstag sbuffet angerichtet wird, besitzenhier einen unverkennbar symbolischen Wert, wobei sie sogar, wieSandra Kegel behauptet, als Parabeln für die DDR angesehen wer<strong>de</strong>nkönnen. Wilhelm verbringt viel Zeit damit, kleinere Reparaturarbeiten amHaus zu verrichten, die aber überhaupt nicht funktional sind: es gibt zumBeispiel Türen, die nicht mehr benutzt wer<strong>de</strong>n können, da sie zugemauertwur<strong>de</strong>n und so zu absur<strong>de</strong>n Umwegen zwingen (ZaL: 120), und Treppen,202


die keinen Ausgang haben. Im Falle <strong>de</strong>s Tisches ist Alexan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Einzige,<strong>de</strong>r weiß, wie er aufgeklappt wird. Da er nicht anwesend ist, weil er kurzzuvor in <strong>de</strong>n Westen geflohen ist, versucht Wilhelm <strong>de</strong>n Tischaufzuklappen. Er macht jedoch ein wichtiges Teil kaputt, das er dann miteinem Nagel fixiert (ZaL: 196, 389). Einige Zeit später, als das Fest schonin vollem Gange ist, lehnt sich einer <strong>de</strong>r Gäste an <strong>de</strong>n Tisch, <strong>de</strong>r dabeientzweibricht und das Buffet mit sich reißt, das sich über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>nverteilt. Einen Monat später bricht das Land selber zusammen (vgl.Knipphals 2011a: 27 und Kegel 2011: 31).Trotz <strong>de</strong>s gesamten politischen Kontexts <strong>de</strong>s Romanes wer<strong>de</strong>n dieprägendsten politischen Ereignisse, wie <strong>de</strong>r Bau <strong>de</strong>r Mauer o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rMauerfall, nicht im Text verarbeitet, son<strong>de</strong>rn es wird nur kurz daraufhingewiesen. Zum Beispiel bezieht sich Wilhelm einmal auf dieNotwendigkeit, dass die DDR <strong>de</strong>r Flucht von Leuten in <strong>de</strong>n Westen Einhaltgebietet, in<strong>de</strong>m er behauptet: „Dann muss man die Sektorengrenzen ebenabriegeln!“ (ZaL: 128). Im darauffolgen<strong>de</strong>n Kapitel steht dann die Mauerbereits. Auch auf die wachsen<strong>de</strong>n Zweifel hinsichtlich <strong>de</strong>r kommunistischenI<strong>de</strong>ologie und <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s wird immer wie<strong>de</strong>r durch dietäglichen Erfahrungen <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Figuren angespielt. Kurt Umnitzerzum Beispiel, <strong>de</strong>r auf zweifache Weise ein Opfer war, zuerst <strong>de</strong>rNaziherrschaft und dann <strong>de</strong>s Stalinismus, kehrt 1956 als Fünfunddreißigjährigermit seiner russischen Frau Irina und <strong>de</strong>m gemeinsamen SohnAlexan<strong>de</strong>r in die DDR <strong>zur</strong>ück (ZaL: 161). Kurt ist kein solcher Fanatikerwie sein Stiefvater, <strong>de</strong>nn er versteht sehr wohl die Lügen <strong>de</strong>s Systems, erzieht jedoch daraus keinerlei Konsequenzen (vergl. Pfister 2011: 27). ZumBeispiel: Ein Jahrzehnt nach seiner Rückkehr beginnt in <strong>de</strong>r DDR einePhase <strong>de</strong>r harten Linie. Kurt sieht sich dann gezwungen, sich für <strong>de</strong>nParteiausschluss eines Kollegen aus seiner Arbeitsgruppe im „Institut fürGeschichtswissenschaften“ auszusprechen, <strong>de</strong>nn dieser hatte in einemprivaten Brief an einen west<strong>de</strong>utschen Kollegen eine kritische Meinunggeäußert. Der Ausschluss aus <strong>de</strong>r Partei war, wie bekannt ist, eine sehr harteStrafmaßnahme, die seinem beruflichen Wer<strong>de</strong>gang sehr scha<strong>de</strong>te (ZaL:171; vgl. Hage 2011: 141). Bei dieser Gelegenheit erfährt <strong>de</strong>r Leser auch,dass Kurt wegen eines Briefes, <strong>de</strong>n er 1941 an seinen Bru<strong>de</strong>r Werner inMoskau geschickt hatte und <strong>de</strong>r weniger glückliche Ausdrücke über <strong>de</strong>nHitler-Stalin-Pakt enthielt, zu „zehn Jahren Lagerhaft und fünf JahrenVerbannung“ verurteilt wur<strong>de</strong> (ZaL: 185), während sein Bru<strong>de</strong>r wegen„antisowjetischer Propaganda und Bildung einer konspirativen Organisation“(ZaL: 182) sogar sterben musste. Um sich nun hinsichtlich <strong>de</strong>s203


Institutskollegen rechtfertigen und weiterhin das sozialistische Projekt <strong>de</strong>rDDR unterstützen zu können, versucht sich Kurt selbst davon zuüberzeugen, dass die Strafmaßnahme für seinen Kollegen eigentlich sogareinen Fortschritt darstellt, in <strong>de</strong>m Sinne „wenn man die Leute – anstatt siezu erschießen – aus <strong>de</strong>r Partei ausschloss“ (ZaL: 184). Obwohl er genauversteht, dass <strong>de</strong>r Sozialismus nicht perfekt ist, glaubt dieser Vertreter <strong>de</strong>rzweiten Generation noch fest daran, dass <strong>de</strong>r Kapitalismus eine weitausschlimmere Alternative ist.Mit Hilfe <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Paare, <strong>de</strong>r Großeltern Wilhelm und Charlotte und<strong>de</strong>r Eltern Kurt und Irina, wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Leser die zwei Gruppen <strong>de</strong>rGeneration vorgestellt, die die DDR aufgebaut haben, die politischenExilanten aus Moskau und Mexiko und die zwischen ihnen existieren<strong>de</strong>Rivalität: die aus Mexiko kommen<strong>de</strong>n Exilanten waren <strong>de</strong>r Meinung, dassdie Partei <strong>de</strong>n politischen Exilanten aus Moskau zuerst die Rückkehrgestattete, damit sie die wichtigsten Posten in Partei und Staat einnehmenkonnten (ZaL: 36; vgl. Löffler 2011: 14). Ruge schafft es also, in seinemRoman das Private und das Politische, die nationale und die internationalePerspektive gekonnt zu verbin<strong>de</strong>n. Mit Hilfe <strong>de</strong>r banalen Erfahrungen <strong>de</strong>rRomanfiguren lernt <strong>de</strong>r Leser die Charakteristiken dieser sozialistischenGesellschaft kennen, wie z. B. die enormen Schwierigkeiten, die es gab,bestimmte Produkte zu erstehen, die Intrigen und <strong>de</strong>n Verrat innerhalb <strong>de</strong>rPartei o<strong>de</strong>r die Art und Weise, wie die Partei alle Aspekte <strong>de</strong>s täglichenLebens kontrolliert, aber auch gewisse prägen<strong>de</strong> Ereignisse <strong>de</strong>rWeltgeschichte <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts, wie <strong>de</strong>n Bau <strong>de</strong>r Berliner Mauer, dieRestalinisierung, <strong>de</strong>n Schauprozess „Slansky“, die Perestroika o<strong>de</strong>r dieWie<strong>de</strong>rvereinigung (vgl. Ebert 2011: 23) 9 .Alexan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r Vertreter <strong>de</strong>r dritten Generation, schafft es nicht mehr,an die sozialistische Utopie zu glauben, wobei er nicht zu wissen scheint,welchen Weg er einschlagen soll. Der Roman en<strong>de</strong>t mit ihm in Mexiko, ineiner Hängematte liegend und <strong>de</strong>n Pazifischen Ozean betrachtend: „Einzigdas Knirschen <strong>de</strong>r Hanfseile wird noch zu hören sein. Und das gleichgültige,ferne Rauschen <strong>de</strong>s Meeres“ (ZaL: 426). Aber vor diesem offenen En<strong>de</strong> ist<strong>de</strong>r Leser noch Zeuge einer positiven Note: Die Wasserschildkröten, diefrüher auf brutalste Art und Weise am Strand, wo sie sich zum Laichen9 In Eugen Ruges Roman scheint <strong>de</strong>r Prozess gegen <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n Rudolf Slansky, einentschechischen kommunistischen Politiker, <strong>de</strong>r 1952 wegen vermeintlichen Verrats zumTo<strong>de</strong> verurteilt wur<strong>de</strong>, im Falle <strong>de</strong>s Staatssekretärs Dretzy durch, <strong>de</strong>r in Ungna<strong>de</strong> gefallenist, und <strong>de</strong>ssen Geschichte im zweiten Kapitel („1952”) aus <strong>de</strong>r Perspektive von Charlottegeschil<strong>de</strong>rt wird (ZaL: 41-52; vgl. Schnei<strong>de</strong>r 2009: 32).204


hinbegeben, getötet und hinterher zu Suppen verarbeitet wur<strong>de</strong>n, wie esCharlotte entsetzt beobachtet hatte (ZaL: 34), sind nun eine unterNaturschutz stehen<strong>de</strong> Spezies, <strong>de</strong>nen sogar ein Museum gewidmet ist. FürAlexan<strong>de</strong>r be<strong>de</strong>utet dies, „dass sich die Menschheit allmählich bessert“(ZaL: 416).Was seinen Sohn Markus angeht, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Vertreter <strong>de</strong>r viertenGeneration ist, zeigt dieser keinerlei Interesse an I<strong>de</strong>ologien o<strong>de</strong>r Religionenund seine Verbindung zum Vater ist nicht <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> wert. Dieser erkennt ihngar nicht, als sie sich auf <strong>de</strong>r Beerdigung <strong>de</strong>r Großmutter Irina treffen, die<strong>de</strong>r erhöhte Alkoholkonsum letztendlich getötet hat. Für Markus ist dieDDR nicht mehr als ein Topos <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Geschichte.Der Leser seinerseits versteht nun, dass <strong>de</strong>r Ausdruck „abnehmen<strong>de</strong>s Licht“im Romantitel sich auf das progressive Verblassen <strong>de</strong>s Glaubens an diekommunistische Utopie <strong>de</strong>r vier Generationen dieser privilegierten Familiebezieht.Es ist bemerkenswert, dass Eugen Ruge in diesem Roman dieEntscheidungen und Verhaltensweisen seiner Figuren niemals bewertet, erbeschränkt sich darauf, die Erfahrungen, die sie im Laufe ihres Lebensmachen, zu schil<strong>de</strong>rn, so dass sie selbst ihre Fehler und Lügen offenbaren(vgl. Steinert 2011: 6). Er erinnert zwar an das Alltagsleben in <strong>de</strong>r DDR,macht dies aber auf eine nicht-„ostalgische”, nicht tragische, aber reflexiveund ernste Art und Weise, ohne jedoch auf Humor zu verzichten. DieEntscheidung für eine distanzierte auktoriale Erzählweise ermöglicht es, dieHauptfigur in eine Generationenabfolge einzufügen, obwohl <strong>de</strong>r Text selber„multiperspektivisch erzählt“ wird, wie schon angemerkt wur<strong>de</strong> (vgl.Knipphals 2011b: 3).Nach<strong>de</strong>m mehr als 20 Jahre nach <strong>de</strong>m Zerfall <strong>de</strong>s DDR-Regimesvergangen sind, ist das Thema <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r DDR-Vergangenheit in Mo<strong>de</strong>. Im Herbst 2011 zum Beispiel, wur<strong>de</strong>n außer RugesRoman noch verschie<strong>de</strong>ne an<strong>de</strong>re Romane von in <strong>de</strong>r DDR geborenenAutoren herausgegeben, in <strong>de</strong>nen das Land als Hintergrund erscheint unddie Gegenwart <strong>de</strong>r Romanfiguren nicht von <strong>de</strong>r DDR-Vergangenheitgetrennt wer<strong>de</strong>n kann 10 . Mit Hilfe <strong>de</strong>r literarischen Medialisierung undinsbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Gattung „Familienroman“ reflektieren die Autoren überdie Geschichte <strong>de</strong>r DDR und präsentieren ihren Lesern ihre eigene Versiondieser nahen Vergangenheit. Das ist zweifelsohne ein wichtiger Beitrag <strong>zur</strong>10 Siehe zu dieser Frage die folgen<strong>de</strong>n Rezensionen: Hage (2011: 140-144), Löffler (2011:14) und Kämmerlings (2011: 48).205


Entwicklung eines besseren Geschichtsbewusstseins in <strong>de</strong>r Gesellschaft und<strong>zur</strong> Bildung <strong>de</strong>s kulturellen Gedächtnisses, in einer Zeit, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Bau vonGe<strong>de</strong>nkstätten und Museen sehr stark unterstützt wird 11 . Eugen RugesRoman In Zeiten <strong>de</strong>s abnehmen<strong>de</strong>n Lichts, <strong>de</strong>r hier analysiert wur<strong>de</strong>,nutzt die Freiheit, die die Literatur besitzt, historische Themen zu behan<strong>de</strong>lnaufs Beste, wobei er laut Iris Radisch <strong>zur</strong> Festigung eines„Erinnerungsraumes jenseits von Schuld und Sühne“ beiträgt (Radisch2011).LiteraturAssmann, Aleida (2006): Generationsi<strong>de</strong>ntitäten und Vorurteilsstrukturenin <strong>de</strong>r neuen <strong>de</strong>utschen Erinnerungsliteratur, Wien:Picus.Braun, Michael (2010): Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskulturin Literatur und Film, Sankt Augustin/ Berlin: Konrad-A<strong>de</strong>nauer-Stiftung e. V.Ebert, Sophia (2011): „Der Umbarmherzige“. In: Kulturspiegel, 10, 23.Hage, Volker (2011): „Nur die Natur ist gerecht“. In: Der Spiegel, Nr. 41,10. Oktober, 140-144.Kämmerlings, Richard (2011): „Unsere neue DDR-Literatur“. In: Welt amSonntag, Nr. 36, 4. September, 48.Kegel, Sandra (2011): „Der Untergang <strong>de</strong>s Hauses Ruge“. In: FrankfurterAllgemeine Zeitung, Nr. 198, 26. August, 31.Knipphals, Dirk (2011a): „Wie bastelt man sich eine Familiengeschichte?“.In: die tageszeitung, Nr. 9583, 27. August, 27.Knipphals, Dirk (2011b): „Die krassen Geschichten unserer Herkunft“. In:die tageszeitung, Nr. 9621, 12. Oktober, 3.Lahusen, Christiane (2010): Den Sozialismus erzählen. AutobiografischeInterpretationen von Diskontinuitäten. In: Heinz-Peter Preusser/Helmut Schmitz (Hrsg.): Autobiografie und historische Krisenerfahrung,Hei<strong>de</strong>lberg: Universitätsverlag Winter, 139-148.Löffler, Sigrid (2005): „Die Familie. Ein Roman“. In: Literaturen. DasJournal für Bücher und Themen, Nr. 6, 17-26.11 Vgl. dazu Annette Kaminsky (Hrsg.) (2004): Orte <strong>de</strong>s Erinnerns. Ge<strong>de</strong>nkzeichen,Ge<strong>de</strong>nkstätten und Museen <strong>zur</strong> Diktatur in SBZ und DDR, Leipzig: Forum.206


Löffler, Sigrid (2011): „Nachrichten aus einem verschwun<strong>de</strong>nen Landnamens DDR“. In: Falter, 41 (Beilage: Literatur „Bücher-Herbst“),12. Oktober, 14.Pfister, Eva (2011): „Genug Blech im Karton“. In: Die Wochenzeitung, Nr.40, 6. Oktober, 27.Radisch, Iris (2011): Die elementare Struktur <strong>de</strong>r Verwandschaft. Internet-Platform Zeit-Online (Literatur), 11. Oktober, http://www.zeit.<strong>de</strong>/2011/41/Literatur-Familienromane/komplettansicht?print=true[20.10.2011].Richter, Stefen (2011): „Der Blick <strong>de</strong>r Hineingeborenen“. In: DerTagesspiegel, Nr. 21079, 28. August, 33.Ruge, Eugen (2009): „Wahrheit ist eine Erfindung“. Interview geführt vonAnja Köhler und Daniel Möglich am 11. Juni,http://www.berlinerliteraturkritik.<strong>de</strong>/<strong>de</strong>tailseite/ artikel/verstehen-wasin-<strong>de</strong>n-an<strong>de</strong>ren-vorgeht.html[8.11.2011].Ruge, Eugen (2011): In Zeiten <strong>de</strong>s abnehmen<strong>de</strong>n Lichts, 6. Auflage,Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.Schnei<strong>de</strong>r, Wolfgang (2009): „Das Jahr <strong>de</strong>r Väter“. In: FrankfurterAllgemeine Zeitung, Nr. 132, 10. Juni, 32.Steinert, Hajo (2011): „Im Osten geht die Sonne unter“. In: Die Welt, Nr.218, 17. September, 6.207


Andreea Rodica RuthnerTemeswarDer Einsatz authentischer Texte <strong>zur</strong> Vermittlunginterkultureller Kompetenz im DaF-UnterrichtAbstract: Authentic texts could be introduced to GFL stu<strong>de</strong>nts as an alternative to thefictional texts, which usually appear in foreign language text books. Texts, which aretypically used in foreign language textbooks, are <strong>de</strong>signed to approach stu<strong>de</strong>nts of allsociocultural origins and not a specific target group. However, by introducing authentictexts to a certain target group, one can adapt its contents to the social and culturalbackground of the targeted stu<strong>de</strong>nts and thus captivate their attention and stimulate theirinput to lessons. Authentic texts are therefore great resources for sociocultural informationand can also serve as an access path to the targeted cultural perspective, particularly if thereis no opportunity for the learners to establish contact with representatives of the targetculture.Keywords: intercultural competence, coeducational course, authentic texts, self-perceptionand perception of the other, cultural learning process.1. Zum Begriff <strong>de</strong>s „authentischen Textes”Gleich zu Beginn sollte geklärt wer<strong>de</strong>n, welche Textsorten in die Kategorieauthentischer Lehr- und Lernmaterialien eingeordnet wer<strong>de</strong>n, die interkulturellesLernen ermöglichen und sogar aktivieren können, in<strong>de</strong>m sieFremdsprachenlernen<strong>de</strong> dazu motivieren, sich einen tieferen Einblick in diefremdkulturelle Welt zu verschaffen.Michael Bludau (1993) stellt z. B. einen kurzen Katalog vonTextsorten zusammen, die für das interkulturelle Lernen geeignet sind, undteilt sie in drei Kategorien ein:a) Texte mit personalisierten Darstellungen: Interviews, Biografien,Oral History 1 , Briefe, Tagebücher usw.;1Oral History ist eine Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Geschichtswissenschaft, die Zeitzeugen ihreLebenswelt und Sichtweisen für die Nachwelt frei erzählen lässt. Dabei sollen dieZeitzeugen vor allem Personen aus <strong>de</strong>r Unterschicht sein und möglichst wenig vomHistoriker beeinflusst wer<strong>de</strong>n. Verwen<strong>de</strong>t wird die Metho<strong>de</strong> vor allem für dieAlltagsgeschichte und Volkskun<strong>de</strong>, auch Lokalgeschichte. Das Erzählte wird mit einemTonaufnahmegerät festgehalten und schließlich muss <strong>de</strong>r Historiker die Aufzeichnungenauf eine angemessene Weise in Schrift übertragen (vgl. Oral History).209


) Informieren<strong>de</strong> Sachtexte aus: Enzyklopädien, Nachschlagewerken,Informationsbroschüren und -blättern, Prospekten, Reiseführern,Zeitungen und Zeitschriften usw.;c) Literarische Texte: Romane (vor allem <strong>de</strong>skriptive Abschnitte);Theaterstücke (für die sozialkommunikative Interaktion) undDichtung (als Wie<strong>de</strong>rgabe kulturspezifischer Gedanken- undGefühlsmustern) (vgl. Bludau 1993: 12).Claus Altmayer (2002: 3) fügt auch jene Kommunikationsformenhinzu, die in <strong>de</strong>n neuen elektronischen Medien (Rundfunk, Fernsehen,Vi<strong>de</strong>o, CD, Internet, usw.) öffentlich kursieren und in Verbindung mitMusik o<strong>de</strong>r Bil<strong>de</strong>rn verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n: Werbeanzeigen, Plakate,Karikaturen o<strong>de</strong>r Lie<strong>de</strong>r.Alex Gilmore (2007: 107) <strong>de</strong>finiert authentische Materialien als„cultural artefacts“, erwähnt gleichfalls Bücher, Zeitungen undZeitschriften, Radio- und Fernsehsendungen, Internetseiten, Werbung undMusik, weist jedoch darauf hin, dass man in diesen Fällen von bestimmtenAusdrücken Gebrauch macht, die die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Publikumsfesseln sollen und <strong>de</strong>swegen viel interessanter als die Alltagssprachescheinen.2. Die Rolle personalisierter und informieren<strong>de</strong>r TexteAuthentische Texte können unserer Ansicht nach wenigstens alternativ zu<strong>de</strong>n erfun<strong>de</strong>nen Texten verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, die in <strong>de</strong>n Lehrbüchernüblicherweise zu standardisierten Themen zu fin<strong>de</strong>n sind. WährendLehrbuchtexte meistens für keine spezifische Zielgruppe geschaffen sind,son<strong>de</strong>rn auf Fremdsprachenlernen<strong>de</strong> verschie<strong>de</strong>ner sozialkulturellerHerkunft im Allgemeinen ausgerichtet sind, können authentische Textegera<strong>de</strong> dadurch anregend wirken, dass sie <strong>de</strong>m sozialen und kulturellenHintergrund <strong>de</strong>r Lerngruppe entsprechend ausgewählt wer<strong>de</strong>n (vgl. Gilmore2007: 107).In <strong>de</strong>r Fachliteratur wer<strong>de</strong>n auch mögliche Nachteile <strong>de</strong>s Einsatzesauthentischer Texte im Fremdsprachenunterricht erwähnt: Der frem<strong>de</strong>Wortschatz und das vorausgesetzte kulturelle Wissen bereiten <strong>de</strong>nLernen<strong>de</strong>n möglicherweise Schwierigkeiten und <strong>de</strong>motivieren sie dadurch(vgl. Gilmore 2007: 107). Denn „Texte enthalten vielfältige Instruktionenan einen potenziellen Rezipienten, dieses lebensweltlicheHintergrundwissen zu aktivieren und für <strong>de</strong>n Rezeptions- undVerstehensprozess fruchtbar zu machen“ (Altmayer 2002: 11).210


Zugleich kann die Arbeit mit authentischen Texten für dieLernen<strong>de</strong>n dadurch motivational wirken, dass sie, in<strong>de</strong>m sie eine solcheAufgabe bewältigen, sich selbst ihre sprachliche und soziokulturelleKompetenz bestätigen (vgl. Gilmore 2007: 107) und dadurch viel mehrSelbstvertrauen gewinnen.Eine mögliche Strukturierung <strong>de</strong>s Lernvorgangs fin<strong>de</strong>n wir beiMichael Bludau (1993). Er schreibt über vier Schritte:a) Erfahren: Der Text wird gelesen und die Lernen<strong>de</strong>n machen sichkurz Gedanken über die vorhan<strong>de</strong>nen und zugleich leichterkennbaren Elemente <strong>de</strong>r Zielsprachen-Kultur.b) Vergleichen: Es wer<strong>de</strong>n Vergleiche zwischen <strong>de</strong>r persönlichenSituation <strong>de</strong>s Lesers und <strong>de</strong>r Hauptfigur(en) angestellt, zuerst dieäußeren und im Nachhinein auch die tieferen Umstän<strong>de</strong> betreffend.c) Informieren: Ergänzen<strong>de</strong> Informationen aus <strong>de</strong>m sprachlichen o<strong>de</strong>r<strong>de</strong>m allgemeinen o<strong>de</strong>r kulturspezifischen Wissen wer<strong>de</strong>ngesammelt.d) Umsetzen: Die Handlungsfähigkeit <strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong>n wird durch diegewonnenen kulturellen Erkenntnisse und Erfahrungen bereichertund soll in simulierten Situationen, die von <strong>de</strong>m besprochenenThema ausgehen, eingesetzt wer<strong>de</strong>n (vgl. Bludau 1993: 13).Folglich vermitteln authentische Texte nicht exklusivSprachkenntnisse, sie sind auch sehr gute Ressourcen für soziokulturelleInformationen, und falls <strong>de</strong>r direkte Kontakt zu Vertretern <strong>de</strong>r Zielkulturausfällt, sind diese Textsorten womöglich <strong>de</strong>r einzige Zugang, <strong>de</strong>n dieFremdsprachenlernen<strong>de</strong>n zu <strong>de</strong>r frem<strong>de</strong>n Perspektive haben. AuthentischeTexte gewähren <strong>de</strong>n Lernen<strong>de</strong>n die nötige Handlungsfähigkeit, in einemfremdkulturellen Kontext „unter bestimmten Umstän<strong>de</strong>n und in spezifischenUmgebungen und Handlungsfel<strong>de</strong>rn kommunikative Aufgaben [zu]bewältigen [...], und zwar nicht nur sprachliche“ (Europarat 2001: 21).An<strong>de</strong>rerseits sollen sie immer, damit <strong>de</strong>r subjektive Einfluss personalisierterTexte ausgeglichen wird, von informieren<strong>de</strong>n Sachtexten begleitet wer<strong>de</strong>n(Bludau 1993: 12).3. Die Wirkung literarischer Texte im DaF-UnterrichtIn <strong>de</strong>r ersten Hälfte <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts wur<strong>de</strong> die Verwendungliterarischer Texte im Deutsch als Fremdsprache – Unterricht mit <strong>de</strong>rBegründung vermie<strong>de</strong>n, dass diese Textkategorie <strong>de</strong>n Lernen<strong>de</strong>n nurschwierige Texte anzubieten hat. Solche Texte wür<strong>de</strong>n zu viel Lesezeit in211


Anspruch nehmen und wären durch Subjektivität und Perspektivität geprägt.Zeuner (2001) erwähnt z. B. in <strong>de</strong>r Arbeit Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> und interkulturellesLernen. Eine Einführung zwei gegen literarische Texte oft gebrauchteArgumente:Literarische Texte sind erschwerte Texte, oft sehr komplex, mehr<strong>de</strong>utig und nichtspontan verständlich. Sie vergrößern die Mühen und Schwierigkeiten für <strong>de</strong>nfremdsprachigen Leser unnötig.Literarische Texte sind <strong>zur</strong> Vermittlung lan<strong>de</strong>skundlichen Wissens ungeeignet,weil sie keine dokumentarisch objektiven Texte, son<strong>de</strong>rn höchst subjektive,perspektivische Texte sind (Zeuner 2001: 92).Wir fin<strong>de</strong>n jedoch in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Fachliteratur genugGegenargumente diesen zwei Aussagen gegenüber, die ohne Ausnahme für„ein differenziertes und sensibles Kulturverstehen“ (vgl. Zeuner 2001: 92)mittels fremdkulturellen Literaturunterrichts plädieren (im Vergleich <strong>zur</strong>Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> als bloße Faktenvermittlung). D.h. <strong>de</strong>r Umgang mitliterarischen Texten gewährt <strong>de</strong>n Lernen<strong>de</strong>n einen tiefen Einblick in die<strong>de</strong>utsche Wirklichkeit und Sprachwirklichkeit sowohl auf mentaler,kognitiver als auch auf emotionaler, affektiver Ebene (vgl. Zeuner 2001:93).Der fremdkulturelle Literaturunterricht ist ein unschätzbarer Weg zum Verstehenan<strong>de</strong>rer Völker und Kulturen wie auch zum Verstehen <strong>de</strong>r eigenen Kultur.Literatur lesen be<strong>de</strong>utet, vertiefte Welterfahrungen machen, die instruktiveÜberlegenheit eines literarisch vorgespielten Mo<strong>de</strong>lls, d. h. verdichteterWirklichkeit erfahren (Weller 1995: 306).Bei <strong>de</strong>r Textauswahl ist es gleichfalls ganz wichtig, das sprachlicheNiveau <strong>de</strong>s Lesers in Betracht zu ziehen. Es sind Texte für alleSprachniveaus vorhan<strong>de</strong>n, sogar für Anfänger:Rudolf Steinmetz: KonjugationIch gehedu gehster gehtsie gehtes geht.Geht es?Danke - es geht (Zeuner 2001: 92).212


Michael Bludau (1993) empfiehlt gleichfalls <strong>de</strong>n Gebrauchliterarischer Texte, allerdings nur im Falle <strong>de</strong>r fortgeschrittenen Lerner:Weil Dichter eben die Lebenswirklichkeit und damit auch <strong>de</strong>ren kulturelleEinbettung sprachlich ‚verdichten‘, und weil sie eben diese fiktiveLebenswirklichkeit auf eine beson<strong>de</strong>rs sensible Weise zu erfassen versuchen, läßtsich gera<strong>de</strong> durch literarische Texte – so <strong>de</strong>nn die inzwischen erworbenesprachliche Kompetenz <strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong>n dies möglich macht – Kultur im weitestenSinne <strong>de</strong>s Wortes intensiv erfahren (Bludau 1993: 12).Die Deutung <strong>de</strong>r fremdkulturellen Muster erfolgt sicherlich in ersterLinie aus <strong>de</strong>r eigenen kulturellen Perspektive, <strong>de</strong>nnoch haben die Lernen<strong>de</strong>nanhand literarischer Texte gleichzeitig Zugang zu <strong>de</strong>r Innenperspektiveeiner Kultur und können dadurch frem<strong>de</strong> Deutungs- und Handlungsmusterviel leichter entziffern.Der Einsatz literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht kanngleichfalls im Rahmen interkultureller Begegnungen 2 erfolgen. DieLernen<strong>de</strong>n können sich in diesem Fall dadurch Vorteile verschaffen, dasssie beim Dekodieren fremdkultureller Muster aller Art von resource personsgeholfen wer<strong>de</strong>n.Im Rahmen <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Fremdsprachenunterrichts wird folglichversucht, Sprachkenntnisse nicht in Form von purer Grammatik zuvermitteln, son<strong>de</strong>rn sie in <strong>de</strong>n konkreten, wirklichkeitsnahen Kontexteinzufügen. Dieselbe Ten<strong>de</strong>nz können wir auch im Bereich <strong>de</strong>rLan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> bemerken: Der „faktenorientierte“ Unterricht wird durch <strong>de</strong>n„dynamischen“ Unterricht ersetzt (vgl. Frakele/Grünzweig 1993: 627), d. h.,<strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong> wird ermutigt, sich <strong>de</strong>n konkreten alltagskulturellen o<strong>de</strong>rsozialwissenschaftlichen Erfahrungen zuzuwen<strong>de</strong>n und dadurch <strong>de</strong>nKontakt zu <strong>de</strong>m Erlebten und Erlebbaren zu pflegen.Literarische Texte sowie fiktionale Texte bieten viel realistischereKontexte und Situationen an, „im Gegensatz zu schematisierten und2Der Kontakt zu fremdkulturellen Gemeinschaften kann im Rahmen vonAuslandsaufenthalten anhand von persönlichen interkulturellen Treffen, wie face-to-facecontacts (vgl. Burwitz-Melzer 2003: 72) und face-to-face Tan<strong>de</strong>m Lernen (vgl. Steinig1993: 307-318, Vences 1998: 189 und Schlang-Redmond 1998: 204) aufgenommen wer<strong>de</strong>no<strong>de</strong>r mithilfe virtueller Interaktionsformen, d. h. in virtuellen Klassenräumen und inInternetforen (vgl. Reising-Schapler 2003), durch Vi<strong>de</strong>oconferencing (vgl. Schlickau 2000),Vi<strong>de</strong>oarbeit (vgl. Schlickau 2000 und Timmermann 2012) o<strong>de</strong>r e-mail-Tan<strong>de</strong>m-Lernen(vgl. Vences 1998: 189) hergestellt wer<strong>de</strong>n.213


stereotypen Alltagsdialogen, die Wirklichkeit nur vortäuschen und zueindimensionalen faktischen Texten wie Werbetexten o<strong>de</strong>r Zeitungsartikel“(Frakele/Grünzweig 1993: 626-627). Literarische o<strong>de</strong>r fiktionale Texteschenken <strong>de</strong>n Lernen<strong>de</strong>n Interpretationsfreiheit und stellen dadurch einenguten Anlass <strong>zur</strong> Diskussion dar. Lernen<strong>de</strong> tendieren auf <strong>de</strong>r einen Seitedazu, sich mit <strong>de</strong>n möglichen Situationen zu i<strong>de</strong>ntifizieren, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>renSeite reizen sie jene Leerstellen an, die „durch die Virtualisierung bzw.Negierung jeweils bestimmter Elemente <strong>de</strong>s vom Autor bearbeitetenWirklichkeitssegments“ (Frakele/Grünzweig 1993: 627) geschaffen wur<strong>de</strong>n.4. Koedukative LehrveranstaltungenAuthentische Literatur ist außer<strong>de</strong>m nie ein<strong>de</strong>utig, sie hinterlässt immeroffene Wege und ermöglicht dadurch nicht nur literarische Gespräche,son<strong>de</strong>rn innerhalb von gemischten Gruppen (aus einheimischen undausländischen Studieren<strong>de</strong>n gebil<strong>de</strong>t) aufklären<strong>de</strong> Diskussionen zum ThemaLan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong>. Solche Lehrveranstaltungen gehören zu einerUnterrichtsform, Neue Koedukation genannt (vgl. Frakele/Grünzweig 1993:623), die bereits seit <strong>de</strong>n achtziger Jahren im Hochschulwesen <strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschsprachigen Län<strong>de</strong>r geför<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong> und die durch dieZusammenarbeit verschie<strong>de</strong>nsprachlicher Lernen<strong>de</strong>n einen mehrseitigenLernprozess ermöglicht.Im Rahmen <strong>de</strong>r Grazer Deutsch als Fremdsprache – Ausbildung(vgl. Frakele/ Grünzweig 1993: 624) wur<strong>de</strong>n bereits 1989 solchekoedukative Lehrveranstaltungen organisiert. Es waren jeweils 30Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die Hälfte von <strong>de</strong>nen Studieren<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>nUSA, aus Kanada, Großbritannien, China und <strong>de</strong>n afrikanischen Län<strong>de</strong>rn,welche ein zweijähriges Studium für Deutsch als Fremdspracheabgeschlossen hatten. Die an<strong>de</strong>re Hälfte waren Österreicherinnen undÖsterreicher, alle Germanistinnen und Germanisten und zum Teil an einerZusatzausbildung für Deutsch als Fremdsprache interessiert. Sie haben vorallem in sprachlich gemischten Vierergruppen gearbeitet und literarischeTexte als Vorbereitung für die Seminare besprochen. Es wur<strong>de</strong>n Prosa-Erzählungen aus <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur angeboten, zu <strong>de</strong>n Themen:österreichische Frauenliteratur nach 1945, Kurzprosa aus <strong>de</strong>r DDR und<strong>de</strong>utschsprachige Theaterstücke, die im Herbst 1989 in Graz, Wien undMünchen auf <strong>de</strong>m Spielplan stan<strong>de</strong>n (wobei die entsprechen<strong>de</strong>nAufführungen besucht wur<strong>de</strong>n).214


Die Zusammenarbeit <strong>de</strong>r ausländischen Stu<strong>de</strong>nt/innen mit <strong>de</strong>nösterreichischen Germanist/innen ermöglichte einen mehrseitigenLernprozess: Zum einen hatten die Auslän<strong>de</strong>r/innen die Möglichkeit ihreKenntnisse über <strong>de</strong>utschsprachige Literatur zu vertiefen und gleichzeitigeinen engen Kontakt zum <strong>de</strong>utschen Alltag zu pflegen, was die Einfügungin <strong>de</strong>n neuen kulturellen Kontext erleichterte, zum an<strong>de</strong>ren durften sich dieGermanist/innen in <strong>de</strong>r neuen Lehrerrolle einüben und als resource personsbei <strong>de</strong>m „sprachlich-semantischen, sprachlich-ästhetischen und kultursemantischenDekodieren <strong>de</strong>r Texte“ (Frakele/ Grünzweig 1993: 626)mithelfen. Das Gespräch war folglich in <strong>de</strong>n kleinen Arbeitsgruppen immer„message-orientiert“ (botschaftsorientiert) und erfüllte eine komplexereRolle als das einfache Üben <strong>de</strong>r Sprache. „Gemeinsam sollen bei<strong>de</strong>Gruppen lernen, die ‚Vielfalt kulturrelativer Be<strong>de</strong>utungszuweisungen‘ zuermöglichen und zu reflektieren“ (Frakele/ Grünzweig 1993: 626).Das Verwen<strong>de</strong>n literarischer Texte im DaF-Unterricht erlaubt <strong>de</strong>mLehrer mit seinen Stu<strong>de</strong>nt/innen auf mehreren Ebenen zu arbeiten: Wenn<strong>de</strong>r Text Neugier<strong>de</strong> weckt, dann bietet er Anlass zu Diskussionen, bewirkteinen „Schreibanreiz“ (vgl. Frakele/ Grünzweig 1993: 626) und för<strong>de</strong>rtdadurch das Interagieren <strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Text und auchuntereinan<strong>de</strong>r. Im Rahmen einer interkulturellen Gruppe stellt dieseSituation einen i<strong>de</strong>alen Anlass zum kulturellen Austausch, <strong>zur</strong> gemeinsamenAnalyse gesellschaftlicher Normen und Werte und dadurch <strong>zur</strong> Entwicklungeiner interkulturellen Bewusstheit und Verständigungsfähigkeit dar.Die erste Voraussetzung <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Unterrichts besteht in <strong>de</strong>raktiven Teilnahme <strong>de</strong>s Lernen<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>r Lehrveranstaltung, was eigentlichnur unter <strong>de</strong>r einen Bedingung möglich ist, dass <strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong> an <strong>de</strong>mUnterricht Gefallen hat und dazu Lust verspürt 3 . Die Arbeit am Text stellteinen mehrstufigen Lehr- und Lernprozess dar und kann sowohl inmündlicher als auch in schriftlicher Form erfolgen. Bei<strong>de</strong> Variantenverlaufen aber auf mehreren Ebenen und je<strong>de</strong> Ebene setzt eine höhereSchicht <strong>de</strong>s Verstehens voraus:a) Mündliche Übungsformen:Ebene 1: Einfache Fragen zum Inhalt;3 Für dieses Prinzip <strong>de</strong>s „lustvollen Fremdsprachenunterrichts“ plädiert auch Bernd Kast(1985) in seinem Artikel Von <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>s Lernens, <strong>de</strong>r Lust <strong>de</strong>s Lesens und <strong>de</strong>r List <strong>de</strong>rDidaktik.215


Ebene 2: Übungen, die auf Erzählverhalten und auf Erzählhaltungabzielen; Fragen zum Sinnpotenzial <strong>de</strong>s Textes;Ebene 3: Diskussionen <strong>zur</strong> Rezeption <strong>de</strong>s Textes.b) Schriftliche Textproduktion:Ebene 1: Die Erstellung eines inneren Monologs aus <strong>de</strong>r Sicht einer<strong>de</strong>r Textfiguren;Ebene 2: Rollenspiel o<strong>de</strong>r die szenische Aufbereitung einesErzähltextes; Kritiken verfassen;Ebene 3: Dramatische Texte gemeinsam zu großflächigen Comicsumarbeiten; das Verfassen eines Briefes in <strong>de</strong>r Rolle einerFigur; die Vollendung einer Episo<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>sfiktiven Erzählers (vgl. Frakele/ Grünzweig 1993: 628).Die ungewöhnliche Zusammensetzung einer solchen Gruppe, d. h.unterschiedliche kulturelle Herkunft und verschie<strong>de</strong>ne sprachliche Niveaus,macht vor allem die Arbeit innerhalb <strong>de</strong>r Kleingruppen beson<strong>de</strong>rs wichtig,<strong>de</strong>nn nur innerhalb dieser Gruppen können die Texte vorerst lexikalisch<strong>de</strong>kodiert und dann ausführlich diskutiert und vorbereitet wer<strong>de</strong>n. Spätersollen die Studieren<strong>de</strong>n die literarischen Erkenntnisse ihrer „interpretatorischenArbeit“ (Frakele/ Grünzweig 1993: 627) im Plenum bekanntmachen und verteidigen.Dieses gemeinsame Lernen hat jedoch auch <strong>de</strong>n Vorteil einesbesseren interkulturellen Kennenlernens und einer besseren interkulturellenKommunikation, welche ihrerseits eine kommunikative Literaturvermittlungermöglicht. Um es für die Germanist/innen spannen<strong>de</strong>r und für dieAuslän<strong>de</strong>r/innen leichter zu machen, können auch „fremdkulturelle Texte,die <strong>de</strong>n Herkunftslän<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r ausländischen Studieren<strong>de</strong>n entsprechen, in<strong>de</strong>n Leseplan eingebaut wer<strong>de</strong>n“, auf diese Weise wird „das gemeinsameLernen und das Lernen voneinan<strong>de</strong>r“ (Frakele/ Grünzweig 1993: 630-631)zwischen <strong>de</strong>n zwei Parteien sogar ausgeglichener.Die (einfache) ‚Duldung‘ ausländischer Studieren<strong>de</strong>r ohne Berücksichtigung <strong>de</strong>rdurch ihre Anwesenheit gegebenen beson<strong>de</strong>ren Lehr- und Lernsituationen kannsogar zu Frustration und Unzufrie<strong>de</strong>nheit führen (Frakele/ Grünzweig 1993: 631).Viel empfehlenswerter sind Aktionen in <strong>de</strong>r Art literarischer„Exkursionen“ (Frakele/ Grünzweig 1993: 629) zu Ge<strong>de</strong>nkstätten o<strong>de</strong>r insTheater, im Rahmen <strong>de</strong>rer die ausländischen Lernen<strong>de</strong>n Kontakt zu <strong>de</strong>rfrem<strong>de</strong>n Wirklichkeit aufnehmen können. Sie können außer<strong>de</strong>m ungestört216


die inneren Mechanismen <strong>de</strong>r frem<strong>de</strong>n Gesellschaft aus unmittelbarer Nähestudieren und gleichzeitig, wann immer sie dazu bereit sind, mit <strong>de</strong>mFremdartigen interagieren.Diesen praktischen Vorschlägen schließt sich auch Dieter W.Adolphs (1993) an und unterbreitet selbst in seiner Arbeit mit <strong>de</strong>m Titel DieBeteiligung interkultureller Germanistik an einem fachübergreifen<strong>de</strong>nMo<strong>de</strong>ll zum Studium fremdsprachlicher Literatur in <strong>de</strong>n USA einenVorschlag, <strong>de</strong>r sowohl in monokulturellen als auch in multikulturellenLehrveranstaltungen anwendbar ist. Adolphs berichtet über spanische,französische, <strong>de</strong>utsche und nordamerikanische Texte und Filme alsStudienobjekte seiner Fremdsprachenseminare an <strong>de</strong>r nordamerikanischenMichigan Technological University, die die Studieren<strong>de</strong>n zum einen auf„<strong>de</strong>n multikulturellen Charakter ihrer eigenen Gesellschaft“ aufmerksammachen und zum an<strong>de</strong>ren „die Erlerner einer Fremdsprache von <strong>de</strong>m Gefühl[...] befreien, sie seien noch nicht informiert genug, um Stellung beziehen zukönnen“ (Adolphs 1993: 497). Er schafft es, seine Stu<strong>de</strong>nten von <strong>de</strong>mZwang <strong>de</strong>s to-go-native-I<strong>de</strong>als zu befreien, in<strong>de</strong>m er die Studieren<strong>de</strong>n indrei Gruppen von ‚Spezialisten‘ einteilt: eine <strong>de</strong>utsche, eine französischeund eine spanische Gruppe. Im Rahmen ihrer Arbeitsgruppe müssen sieliterarische Texte in <strong>de</strong>r originalen Auffassung lesen o<strong>de</strong>r sich künstlerischeFilme im Original mit englischen Untertiteln ansehen, sich regelmäßigtreffen und diese Texte besprechen, sodass sie im En<strong>de</strong>ffekt als‚Spezialisten‘ für ihre Kollegen fungieren. Die An<strong>de</strong>ren müssen sichihrerseits für ‚das große Treffen‘ vorbereiten, in<strong>de</strong>m sie die Texte inenglischer Übersetzung lesen o<strong>de</strong>r sich die Filme im Original mit englischenUntertiteln ansehen und sich Fragen für die ‚Spezialisten‘ notieren. DieDiskussionen fin<strong>de</strong>n dann im Plenum statt und behan<strong>de</strong>ln inhaltliche Fragenund kulturelle Vergleiche, und bieten zugleich auch „Anlaß zufachübergreifen<strong>de</strong>n stilkritischen Untersuchungen“ (Adolphs 1993: 499).Texte und vor allem Filme bieten laut Adolphs (1993) einen leichtenZugang zu frem<strong>de</strong>n Kulturen (vgl. 1993: 499).5. SchlussfolgerungAbschließend wagen wir es zu behaupten, dass authentische Texte,unwichtig ob personalisierter, informieren<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r literarischer Sorte, diegleiche Wirkung wie interkulturelle Begegnungen einer je<strong>de</strong>n Art erzielen.Texte fungieren als zuverlässige Informationsquellen, erleichtern dieEntschlüsselung frem<strong>de</strong>r Kulturmuster und ermöglichen <strong>de</strong>n Perspektiven-217


wechsel. Viele Lernen<strong>de</strong> empfin<strong>de</strong>n literarische Texte in <strong>de</strong>m Sinneabwechslungsreich, dass sie ihre Fantasie erregen.Selbstverständlich sind auch weitere Interaktionsformen mitVertretern <strong>de</strong>r Zielkultur empfehlenswert: face-to-face contacts, face-toface-Tan<strong>de</strong>m-Lerneno<strong>de</strong>r E-Mail-Tan<strong>de</strong>m-Lernen, Vi<strong>de</strong>oconferencing undVi<strong>de</strong>oarbeit, text chat bzw. voice chat, E-Mail- o<strong>de</strong>r Tan<strong>de</strong>m-Projekte, usw.Komplementär zum Unterricht können interkulturelle Trainingsdurchgeführt wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Materialienbücher eingeführt wer<strong>de</strong>n, die für <strong>de</strong>nUnterricht zusätzliche lan<strong>de</strong>skundliche und interkulturelle Übungen undAktivitäten vorschlagen. Rollenspiele bzw. Simulationen von thematischenFallbeispielen (critical inci<strong>de</strong>nts) stellen Bezüge zum Alltag <strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong>nher, lösen zugleich interkulturelle Sensibilisierungsprozesse aus undverhin<strong>de</strong>rn sogar Missverständnisse und Konflikte.Dadurch gewinnen die Lernen<strong>de</strong>n an Sicherheit in <strong>de</strong>r Interaktionmit Vertretern <strong>de</strong>r Zielkultur und haben dadurch einen viel leichterenZugang zum zielkulturellen Wissen.LiteraturAdolphs, Dieter (1993): Die Beteiligung interkultureller Germanistik aneinem fachübergreifen<strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>ll zum Studium fremdsprachlicherLiteratur in <strong>de</strong>n USA. In: Bernd Thum/ Gonthier-Louis Fink (Hrsg.):Praxis interkultureller Germanistik: Forschung – Bildung –Politik: Beiträge zum II. Internationalen Kongreß <strong>de</strong>r Gesellschaftfür Interkulturelle Germanistik Straßburg 1991, München:iudicium, 491-502.Bludau, Michael (1993): „Die Rolle von Texten beim interkulturellenLernen“. In: Fremdsprachenunterricht 46/1993, 11-14.Burwitz-Melzer, Eva (2003): Allmähliche Annäherungen: FiktionaleTexte im interkulturellen Fremdsprachenunterricht <strong>de</strong>rSekundarstufe I, Tübingen: Gunter Narr.Europarat. Rat für kulturelle Zusammenarbeit (2001): GemeinsamerEuropäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren,beurteilen [Niveau A1, A2, B1, B2, C1, C2], Berlin: Langenscheidt.Frakele, Beate/ Grünzweig, Walter (1993): Lehren lernen: Praxis <strong>de</strong>sinterkulturellen Literaturunterrichts. Zur Erfahrung mit Unterricht iminterkulturellen Klassenzimmer mit ausländischen Deutschlernen<strong>de</strong>nund österreichischen DaF-Lernen<strong>de</strong>n. In: Bernd Thum/ Gonthier-218


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Karla Lupşan/ Marianne MarkiTemeswarZur Übersetzung <strong>de</strong>r Form das ins RumänischeAbstract: The one and the same form DAS can express several parts of speech in German,such as the <strong>de</strong>finite article, the <strong>de</strong>monstrative article, the <strong>de</strong>monstrative pronoun or therelative pronoun. This particularity is not to be found in Romanian and therefore this paper<strong>de</strong>als with the most important translation techniques of the German DAS into Romanian.Keywords: the use of das in German , translation techniques of German das into RomanianDie Form das wird in <strong>de</strong>r sprachwissenschaftlichen Fachliteratur mehrerenWortarten zugerechnet, was einerseits zu einer hohen Gebrauchsfrequenzim Deutschen, an<strong>de</strong>rerseits zu unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeitenführt. Im vorliegen<strong>de</strong>n Beitrag wird die Form das aus einerübersetzungsrelevanten Perspektive behan<strong>de</strong>lt, in<strong>de</strong>m man in Anlehnung anVinay/ Darbelnet (1958), Newmark (1973 und 1979), Schreiber (1993 und1997) die wichtigsten Übersetzungsverfahren ausführt.1. BegriffsbestimmungIn <strong>de</strong>r traditionellen Grammatik <strong>de</strong>s Deutschen wird die Form dasunterschiedlichen Wortarten zugerechnet: <strong>de</strong>m bestimmten Artikel, <strong>de</strong>mDemonstrativpronomen und <strong>de</strong>m Relativpronomen. Die neuengrammatischen Verfahren (normativen, distributionellen usw.) und dieEntwicklung neuer Grammatikmo<strong>de</strong>lle (Depen<strong>de</strong>nzgrammatik, funktionaleGrammatik, Textgrammatik usw.) brachten Neuauffassungen in Bezug aufdie Wortklassen mit sich. Somit wur<strong>de</strong>n beispielsweise die Begleiter <strong>de</strong>sNomens in <strong>de</strong>r normativen Grammatik von Helbig/Buscha (1977) <strong>zur</strong>Klasse <strong>de</strong>r Artikelwörter, in <strong>de</strong>r Depen<strong>de</strong>nzgrammatik von Engel (1988) <strong>zur</strong>Klasse <strong>de</strong>s Determinativs und in <strong>de</strong>r Textgrammatik von Weinrich (1993)<strong>zur</strong> Klasse <strong>de</strong>r einfachen bzw. spezifischen Artikel gerechnet. DieStellvertreter <strong>de</strong>s Nomens im Satz bil<strong>de</strong>n jedoch im Allgemeinen die Klasse<strong>de</strong>r Pronomina.Die theoretische Grundlage <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit ist die<strong>de</strong>skriptive Textgrammatik von Weinrich (1993), wo die Form das alsTextmorphem verstan<strong>de</strong>n wird, das durch spezifische Verbindungen einigero<strong>de</strong>r oft auch nur durch ein einziges semantisches Merkmal <strong>de</strong>finierbar wird221


(1993: 19). Weinrich erweitert <strong>de</strong>n Begriff Artikel und löst <strong>de</strong>n BegriffDemonstrativ von <strong>de</strong>r Vorstellung <strong>de</strong>s Zeigens ab (1993: 20). Dafür führt<strong>de</strong>r Autor <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Auffälligkeit ein. Um <strong>de</strong>m Hörer das Verständniseines Textes zu erleichtern, kann <strong>de</strong>r Sprecher seinem Text ein bestimmtesInformationsprofil geben, das zwischen einem Minimum und MaximumUnterscheidungen <strong>de</strong>r Auffälligkeit ausdrückt. Zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>nExtremen Fokus (Maximum) bzw. Horizont (Minimum) steigt dieAufmerksamkeit stufenweise an (Thema-Rhema-Struktur). Thematisch wirddas jeweils weniger Auffällige und rhematisch das jeweils Auffälligeregenannt (1993: 25). Demzufolge ordnet <strong>de</strong>r Autor die Form das folgen<strong>de</strong>nKlassen zu: rhematische Referenz-Pronomina, Fokus-Pronomen, Artikelund Relativ-Pronomina.Der einheitlichen Terminologie zuliebe versuchen wir die oben angeführtenBezeichnungen sowohl für die Beschreibung <strong>de</strong>r Sprachphänomene imDeutschen als auch im Rumänischen zu verwen<strong>de</strong>n.2. Diachronischer ExkursDie mehrfache Zuordnung einer und <strong>de</strong>rselben Form wird eigentlich durchdie diachronische Entwicklung <strong>de</strong>s ahd. Demonstrativums dër, diu, dazerklärt. In <strong>de</strong>n Untersuchungen zu <strong>de</strong>n indoeuropäischen Sprachen wur<strong>de</strong>mehrfach durch Belege bewiesen, dass die Demonstrativa einem Prozess <strong>de</strong>rGrammatikalisierung unterworfen waren, <strong>de</strong>r als Folge die Bildung vonDefinitartikeln, Personalpronomina <strong>de</strong>r 3. Person, Relativpronomina u. a.hatte. Für die Grammatikalisierung eines einzigen Elements zu neuenWörtern mit verschie<strong>de</strong>nen Funktionen und manchmal mitunterschiedlichen Formen prägte Craig (1991) <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>rPolygrammatikalisierung. Diessel (1999: 18-19) zeigte, dass <strong>de</strong>rEntstehungsprozess von verschie<strong>de</strong>nen grammatischen Einheiten aus <strong>de</strong>mDemonstrativum eigentlich von seiner syntaktischen Umgebung abhängigist:I show that the path-of-evolution that a <strong>de</strong>monstrative might take is crucially<strong>de</strong>termined by the syntactic context in which it occurs. I show that pronominal,adnominal, adverbial, and i<strong>de</strong>ntificational <strong>de</strong>monstratives <strong>de</strong>velop intogrammatical items that usually retain some of the syntactic properties that the<strong>de</strong>monstrative had in the source construction. Pronominal <strong>de</strong>monstratives <strong>de</strong>velopinto grammatical items that are either used as pronouns or that have at least someof the properties of a pronominal item. Adnominal <strong>de</strong>monstratives give rise togrammatical markers functioning as operators of nominal constituents. Adverbial222


<strong>de</strong>monstratives evolve into operators of verbs or verb phrases. And i<strong>de</strong>ntificational<strong>de</strong>monstratives <strong>de</strong>velop into grammatical markers that interact with constituents<strong>de</strong>rived from predicate nominals.Daraus schließt man, dass die Polygrammatikalisierung imAlthoch<strong>de</strong>utschen wie folgt stattgefun<strong>de</strong>n hat (vgl. Lupşan 2007: 29):• aus <strong>de</strong>m adnominal gebrauchten Demonstrativ entstand <strong>de</strong>ranaphorische Artikel <strong>de</strong>r/die/das und die Demonstrativ-Artikeldieser/<strong>de</strong>rjenige/<strong>de</strong>rselbe;• aus <strong>de</strong>m pronominal gebrauchten Demonstrativ entstan<strong>de</strong>n dierhematischen Referenz-Pronomina <strong>de</strong>r/die/das, die Demonstrativ-Pronomina dieser/ <strong>de</strong>rjenige/ <strong>de</strong>rselbe, die Relativ-Pronomina <strong>de</strong>r/die/ das und das Fokus-Pronomen das (sog. I<strong>de</strong>ntifikationspronomenbei Diessel 1991).Polygrammatikalisierung ist jedoch nicht nur in <strong>de</strong>n germanischenSprachen, son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>n romanischen Sprachen zu verzeichnen.Iliescu (2006) weist darauf hin, dass je mehr eine Einheit gebraucht wird,<strong>de</strong>sto mehr verliert sie an emphatisch-expressiven Eigenschaften. DieSprecher empfin<strong>de</strong>n es aber trotz<strong>de</strong>m für nötig diesen Verlustwie<strong>de</strong>rherzustellen und greifen <strong>de</strong>mzufolge sehr oft zu Wortbildungsmitteln.Die Autorin zeigt, dass die Bildung einiger neuen Formen dieses Phänomenals Grundlage hat, darunter auch <strong>de</strong>r rumänischen pronominal undadjektivisch gebrauchten Demonstrativa.Demzufolge hat die Polygrammatikalisierung <strong>de</strong>s lat. ille folgen<strong>de</strong>grammatische Einheiten im Rumänischen ergeben (vgl. Lupşan 2010: 497):• aus <strong>de</strong>m adnominal gebrauchten Demonstrativum entstand <strong>de</strong>ranaphorische Artikel (lui, -l, -a, -lui);• aus <strong>de</strong>m pronominal gebrauchten Demonstrativum entstand dasPersonalpronomen <strong>de</strong>r 3. Person und durch die Zusammensetzungmit <strong>de</strong>r Partikel ecce/eccu(m) <strong>de</strong>r rumänische Demonstrativ-Artikelund das Demonstrativ-Pronomen (acela/aceea);Ausgehend von <strong>de</strong>r gleichen etymologischen Basis haben sichallerdings im Rumänischen, außer <strong>de</strong>r oben genannten Einheiten, die inallen romanischen Sprachen vorhan<strong>de</strong>n sind, noch zwei neue Einheitenentwickelt, die in <strong>de</strong>r Fachliteratur als Beson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>s Rumänischengelten. Es han<strong>de</strong>lt sich um <strong>de</strong>n Adjektivartikel cel und <strong>de</strong>n Genitivartikel al.In <strong>de</strong>n neueren Grammatiken, wie zum Beispiel in <strong>de</strong>r Grammatik <strong>de</strong>rRumänischen Aka<strong>de</strong>mie (GALR) wer<strong>de</strong>n cel und al kontextbedingtentwe<strong>de</strong>r <strong>zur</strong> syntaktischen Subklasse <strong>de</strong>r „unselbstständigen Prono-223


mina“ (die sog. „pronume semiin<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nte“) gerechnet o<strong>de</strong>r als Formant 1bezeichnet (vgl. GALR 2005: 44). Diese Klassifikation erweist sich jedochin <strong>de</strong>r rumänischen Fachliteratur als strittig 2 , sodass wir im Folgen<strong>de</strong>n von<strong>de</strong>n traditionellen Auffassungen ausgehen und diese Elemente zu <strong>de</strong>nrumänischen Artikeln bzw. Demonstrativ-Pronomina rechnen (s. auchIliescu/Popovici 2013: 88-89).Die Polygrammatikalisierung von ille hatte nicht nurFunktionsän<strong>de</strong>rungen als Folge, son<strong>de</strong>rn auch stärkere formaleTransformationen. Gemeint wer<strong>de</strong>n die starken Reduktionen auf <strong>de</strong>rphonetischen Ebene (z. B. <strong>de</strong>r einfache anaphorische enklitische Artikel -l, -lui, -a und die klitischen Formen <strong>de</strong>s Personalpronomens <strong>de</strong>r 3. Person îi, -li,-le, -i-) und die Zusammensetzung, um alte Inhalte (acela) o<strong>de</strong>r aber neue(al) auszudrücken. Bei <strong>de</strong>r Polygrammatikalisierung von dër, diu, dazverzeichnet man Transformationen eher auf <strong>de</strong>r Inhaltsebene als auf <strong>de</strong>rformalen. Dër, diu, daz sind in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gegenwartssprache zuunabhängigen Morphemen gewor<strong>de</strong>n, die für <strong>de</strong>n anaphorischen Artikel(<strong>de</strong>r, die, das) stehen. Sie sind außer<strong>de</strong>m mit <strong>de</strong>n Formen <strong>de</strong>s rhematischenund <strong>de</strong>s Relativ-Pronomens im N./A./D. Sg. und N./A. Pl. fast i<strong>de</strong>ntisch.Die einzigen Unterschie<strong>de</strong> betreffen <strong>de</strong>n G. Sg. und Pl. und D. Pl., wo dasPronomen statt <strong>de</strong>r Artikelformen <strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n die Formen <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>rer,<strong>de</strong>nen hat. Die Homonymie <strong>de</strong>r Formen im N./A. Sg. Neutrum ist auch imFalle <strong>de</strong>s Fokus-Pronomen das zu verzeichnen.3. Die ÜbersetzungsmöglichkeitenEs gibt wenigstens sieben Übersetzungsverfahren, durch die man das insRumänische übertragen kann. Diese sind die Wort-für-Wort-Übersetzung,die Permutation, die Expansion, die Reduktion, die Transposition, diesyntaktische Transformation und <strong>de</strong>r interkategoriale Wan<strong>de</strong>l (vgl.Schreiber 1997). Sehr oft wer<strong>de</strong>n aber mehrere Verfahren verbun<strong>de</strong>n unddieses Phänomen nennen wir im Folgen<strong>de</strong>n Häufungen von Übersetzungsverfahren.Ohne Anspruch auf Exhaustivität versuchen wir in <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>nArbeit die häufigsten Gebrauchskontexte <strong>de</strong>r Form das auszuson<strong>de</strong>rn unddie dazu entsprechen<strong>de</strong>n Übersetzungsverfahren anzugeben. DieUntersuchung beschränken wir auf <strong>de</strong>n Nominativ und <strong>de</strong>n Akkusativ1 Unter Formant verstehen wir Formen, die <strong>zur</strong> Bildung komplexer Strukturen helfen.2 Vgl. dazu die Argumente von Neamţu (2011) bezüglich <strong>de</strong>r Form AL.224


Singular, da die Form das lediglich in diesen Kasus allen bereitsangeführten Klassen zugeordnet wer<strong>de</strong>n kann.3.1 Das als rhematisches Referenz-PronomenFür Weinrich be<strong>de</strong>utet Pronominalisierung „Stellvertretung und semantischeFortführung eines Nomens durch ein referenzi<strong>de</strong>ntisches Pronomen“ (1993:372-373). Dementsprechend sind Pronomina einfache, kurze Morpheme,<strong>de</strong>nen das semantische Merkmal ‘bekannt‘ zukommt. Weiter wer<strong>de</strong>n diese,„ihren mehr o<strong>de</strong>r weniger spezifischen Be<strong>de</strong>utungen“ entsprechend, inverschie<strong>de</strong>ne Arten von Pronomina eingeteilt. Die Pronomina mit <strong>de</strong>rgeringsten Spezifik bezeichnet Weinrich als Referenz-Pronomina. Diesekönnen bekannte unauffällige (thematische) o<strong>de</strong>r bekannte auffällige(rhematische) Aspekte im Text weiter gelten lassen und <strong>de</strong>shalbunterschei<strong>de</strong>t Weinrich zwei Unterklassen von Referenz-Pronomina. Dasgehört <strong>de</strong>r Unterklasse <strong>de</strong>r rhematischen Referenz-Pronomina (<strong>de</strong>r/die/das-Reihe) an. Diese konstituieren ihre Be<strong>de</strong>utung mit <strong>de</strong>n semantischenMerkmalen ‘bekannt‘ und ‘Auffälligkeit‘.Mit Hilfe dieser Pronomina weist <strong>de</strong>r Sprecher <strong>de</strong>n Hörer an, einerseits dieBe<strong>de</strong>utung eines nominalen Referenten im Text weitergelten zu lassen,an<strong>de</strong>rerseits gleichwohl <strong>de</strong>ren Auffälligkeitswert nicht verfallen o<strong>de</strong>r sogar neuaufheben zu lassen (Weinrich 1993: 380).Die rhematischen Referenz-Pronomina unterschei<strong>de</strong>n sich von <strong>de</strong>nDemonstrativ-Morphemen (Artikel und Pronomen), <strong>de</strong>ren spezifischeLeistung als Aufmerksamkeitssignal für eine auffällige Referenz angesehenwird. Diese Morpheme sind für Weinrich die Formen dieser, jener,<strong>de</strong>rjenige usw. Das Aufmerksamkeitssignal <strong>de</strong>s Demonstrativ-Artikelsvermittelt <strong>de</strong>m Hörer die Instruktion, das in <strong>de</strong>r Referenzrolle neuauftreten<strong>de</strong> Nomen nicht als Sprachzeichen für einen neuen Referenten,son<strong>de</strong>rn als kontextuelle Rekodierung <strong>de</strong>s im Text bereits eingeführtenReferenten aufzufassen. Das macht diese Referenz gegenüber <strong>de</strong>r sonstigenReferenzroutine auffällig (vgl. Weinrich 1993: 441). Der spezifischeDemonstrativ-Artikel dieser/jener und seine freien Formen, d. h. dasDemonstrativ-Pronomen sind „nicht vom isolierten Zeigeakt, son<strong>de</strong>rn vomgesamten Text-in-<strong>de</strong>r-Situation her“ zu verstehen (Weinrich 1993: 445).225


Es wird grundsätzlich als eine <strong>de</strong>m Hörer übermittelte Rekodierungsanleitung <strong>zur</strong>Bewältigung eines bestimmten Problems in <strong>de</strong>r Referenz angesehen (Weinrich1993: 445).Die Form dieser verweist auf eine zu leisten<strong>de</strong> Rekodierung imnäheren sprachlichen Kontext bzw. situativen Nahbereich und die Formjener auf <strong>de</strong>n ferneren sprachlichen Kontext bzw. situativen Fernbereich.(1) Siehst du das Mikrophon im Schaufenster? Das kaufe ich mir.Vezi microfonul din vitrină? Pe acela/ Pe acesta mi-l cumpăr.Wie aus <strong>de</strong>r rumänischen Übersetzung ersichtlich ist, kann man dieUnterscheidung zwischen <strong>de</strong>n rhematischen Referenz-Pronomina und <strong>de</strong>nDemonstrativ-Pronomina im Rumänischen nicht machen, <strong>de</strong>nn dierumänischen Formen aktualisieren nicht lediglich die Merkmale‘bekannt‘ und ‘Auffälligkeit‘. Die rumänischen Formen geben zugleichAuskunft über die Nähe (acesta) o<strong>de</strong>r die unmittelbare Entfernung (acela)<strong>de</strong>r Referenz. Demzufolge gelten die rumänischen Demonstrativ-Pronomen<strong>de</strong>r Nähe und <strong>de</strong>r Entfernung als Entsprechungen <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschenrhematischen Referenz-Pronomens. Im Kontext (1) sind die Pronominaaustauschbar, <strong>de</strong>nn die Nähe bzw. die Entfernung von <strong>de</strong>r Bezugsgröße wirdhöchstwahrscheinlich von Zeigegesten geklärt. Umgangssprachlich wür<strong>de</strong>man für das Demonstrativ <strong>de</strong>r Entfernung die Form ăla verwen<strong>de</strong>n.Die Verdoppelung durch die klitische, unbetonte Form -l <strong>de</strong>sPersonalpronomens und die Voranstellung <strong>de</strong>r Präposition pe gehören zu<strong>de</strong>n zusätzlichen Akkusativmarkern <strong>de</strong>s Rumänischen. Dies führt ausübersetzungsrelevanter Perspektive <strong>zur</strong> Häufung von Übersetzungsverfahren.Es han<strong>de</strong>lt sich um eine Kombination aus Transposition undExpansion. Unter Transposition verstehen wir „die Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Wortart in<strong>de</strong>r Übersetzung” und unter Expansion „die Erhöhung <strong>de</strong>r Wortzahl in <strong>de</strong>rÜbersetzung” (vgl. Schreiber 1997: 221; Newmark 1988: 78).Bei <strong>de</strong>r Übertragung muss man aber auch das Genus <strong>de</strong>rBezugsgröße berücksichtigen, <strong>de</strong>nn eine konsequente Übereinstimmungdiesbezüglich gibt es zwischen <strong>de</strong>m Deutschen und Rumänischen nicht.(2) Siehst du das Buch (Neutr.) im Schaufenster? Das (Neutr.) kaufeich mir.Vezi cartea (Fem.) din vitrină? Pe aceea/Pe asta (Fem.) mi-ocumpăr.226


Die feminine Form asta ist umgangssprachlich. Sie wird auch in <strong>de</strong>rStandardsprache verwen<strong>de</strong>t und <strong>de</strong>shalb gilt sie hier als Übersetzungsvariante.Die <strong>de</strong>utschen rhematischen Referenz-Pronomina lassen insbeson<strong>de</strong>redie Adverbien hier, da und dort als Determinanten zu.(3) Siehst du das Mikrophon im Schaufenster?Meinst du das da o<strong>de</strong>r das dort?Vezi microfonul din vitrină?(3a) Te referi la cel <strong>de</strong> aici sau la cel <strong>de</strong> acolo?(3b) Te referi la acesta sau la acela?Die Übersetzungsvarianten haben als Grundlage das gleicheÜbersetzungsverfahren, und zwar die Transposition. Der Unterschiedbesteht einerseits in <strong>de</strong>r verwen<strong>de</strong>ten Wortart und an<strong>de</strong>rerseits in <strong>de</strong>rKombinationsnotwendigkeit mehrerer Übersetzungsverfahren.Die erste Übersetzungsvariante (3a) kann unterschiedlichinterpretiert wer<strong>de</strong>n. Einerseits kann man sie als ein weiteres Beispiel <strong>de</strong>rTransposition betrachten, an<strong>de</strong>rerseits als einen Beleg für die Wort-für-Wort-Übersetzung.Cel nimmt eine Zwischenstellung zwischen Pronomen und Artikelein. Wenn es aber wie in unserem Fall mit Determinanten vorkommt, dannwird cel stets als Pronomen eingestuft. Die Transposition erfolgt durch dasDemonstrativ-Pronomen verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>n Determinanten <strong>de</strong> aici bzw. <strong>de</strong>acolo.Da es sich hier um ein abgeschwächtes Demonstrativ han<strong>de</strong>lt, wäreauch eine weitere Interpretation aus sprachwissenschaftlicher Perspektivemöglich. Cel kann die Merkmale <strong>de</strong>r Nähe und Entfernung nichtaktualisieren, jedoch die <strong>de</strong>r Bekanntheit und <strong>de</strong>r Auffälligkeit. So könnteman cel hier als rumänisches rhematisches Referenz-Pronomen verstehen.In diesem Fall wür<strong>de</strong> man hier über eine Wort-für-Wort-Übersetzungsprechen, also eine wortgetreue Übertragung durch Beibehaltung <strong>de</strong>r„Wortstellung, <strong>de</strong>r Anzahl und <strong>de</strong>r Wortart“ (vgl. Schreiber 1997: 220). Dierumänische Entsprechung ist also ein <strong>de</strong>terminiertes abgeschwächtesDemonstrativ-Pronomen.Die Wahl <strong>de</strong>r rumänischen Demonstrativ-Pronomina verläuft in <strong>de</strong>rzweiten Übersetzungsvariante (3b) nicht mehr beliebig, son<strong>de</strong>rn abhängigvon <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Adverbien <strong>de</strong>r Nähe bzw. <strong>de</strong>r Distanz.Das da entspricht <strong>de</strong>r rumänischen Form acesta o<strong>de</strong>r aber <strong>de</strong>r227


umgangssprachlichen asta und das dort <strong>de</strong>r standardsprachlichen Formacela bzw. <strong>de</strong>r umgangssprachlichen Form ăla. Das Verfahren <strong>de</strong>rTransposition tritt hier zusammen mit <strong>de</strong>r Reduktion auf, d. h. mit „<strong>de</strong>rVerringerung <strong>de</strong>r Wortzahl in <strong>de</strong>r Übersetzung“ (Schreiber 1997: 220;Newmark 1988: 76).Manchmal bleibt die Form das unübersetzt, wird also in <strong>de</strong>rÜbersetzung ausgelassen. Diese Auslassung ist jedoch grammatikalischbedingt und än<strong>de</strong>rt somit die Information auf <strong>de</strong>r Inhaltsebene nicht. Eshan<strong>de</strong>lt sich um bestimmte rumänische Kontexte, in <strong>de</strong>nen das Subjekt nichtaktualisiert wird. Das rumänische pronominale Subjekt kann einerseitsdarum ausgelassen wer<strong>de</strong>n, weil „Person und Numerus durch diePersonalendungen <strong>de</strong>s Verbs gesichert sind (inbegriffenes Subjekt)“ undan<strong>de</strong>rerseits dann, „wenn seine Bezugsgröße im Vortext o<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>mKontext erschließbar ist (mitverstan<strong>de</strong>nes Subjekt)“ (Engel 1993: 50).228(4) Können Sie mir sagen, wo das Mikrophon ist?Das ist hier.Îmi puteţi spune un<strong>de</strong> e microfonul?Ø E aici.Im Deutschen kann die Auslassung <strong>de</strong>s Subjekts lediglich in <strong>de</strong>rsaloppen Alltagssprache vorkommen.3.2 Das als Fokus-PronomenWeinrich unterschei<strong>de</strong>t zwei Formen <strong>de</strong>r Neutralisierungen in <strong>de</strong>r Referenz,die im Umfang verschie<strong>de</strong>n sind (es und das). Das als Neutral-Pronomenwird Fokus-Pronomen genannt und enthält die semantischen Merkmale‘Auffälligkeit‘ und ‘Bün<strong>de</strong>lung‘ (1993: 398). Mit Fokus-Pronomen meintman ausschließlich die Form <strong>de</strong>s N./A. Sg. Neutr. das, die im Unterschiedzum rhematischen Referenz-Pronomen morphologisch invariant ist. Es stehtalso mit gleicher Form für auffällige I<strong>de</strong>ntifikationen im Nominativ o<strong>de</strong>rAkkusativ. In <strong>de</strong>r Aussprache wird es allerdings betont und kann selberDeterminanten bei sich haben. Eine Genitivform gibt es nicht und dieDativform kommt nur noch in wenigen archaischen Ausdrücken vor (vgl.Weinrich 1993: 401).Im Rumänischen wird die Kurzform asta und „in weitausgeringerem Maße, aceasta o<strong>de</strong>r aia“ (Iliescu/ Popovici 2013: 147) autonommit neutraler Be<strong>de</strong>utung verwen<strong>de</strong>t, „wenn sie auf vorangegangene


Äußerungen o<strong>de</strong>r Bezeichnungen für Abstraktes verweisen“ (Engel 1993:782). Giurgea (2008) nennt diese Formen neutrale Demonstrativ-Pronomen(„pronume <strong>de</strong>monstrative neutre“) und zeigt, dass sie formal mit <strong>de</strong>m Fem.Sg. <strong>de</strong>s Demonstrativ-Pronomens i<strong>de</strong>ntisch sind, sich aber von diesemdadurch unterschei<strong>de</strong>n, dass sie bei Maskulina keine Genus-Kongruenzaufweisen (1) und im Akkusativ keinen zusätzlichen Marker pe erhalten (3).Pronumele se pot referi la entităţi care nu cad sub un concept exprimat printr-unnume sau un grup nominal: acestea sunt fie entităţi ce pot fi i<strong>de</strong>ntificate perceptual,dar nu au fost încă subsumate unei categorii, precum obiecte pe care le ve<strong>de</strong>m,dar nu ştim ce sunt, fie entităţi ce nu se exprimă lingvistic prin nume, precumconţinuturile propoziţiilor. În acest caz, limbile care au gen neutru folosescpronume neutre. […] În română, se poate folosi cliticul feminin singular o, darmult mai rar <strong>de</strong>cât pronumele neutre din alte limbi. În schimb se folosesc, fărărestricţie, pronumele <strong>de</strong>monstrative neutre, i<strong>de</strong>ntice ca formă cu femininulsingular, dar <strong>de</strong>osebindu-se <strong>de</strong> acesta prin acordul la masculine <strong>şi</strong> prinimposibilitatea <strong>de</strong> a primi marca <strong>de</strong> obiect direct pe (Giurgea 2008: 6).(1) „Ein Wortstamm“, was ist das? Das bezeichnet <strong>de</strong>n Bestandteileines Wortes, <strong>de</strong>r als Basis <strong>zur</strong> Bildung von flektiertenWortformen dient.„Radicalul“, ce înseamnă aceasta/asta? Aceasta/Asta <strong>de</strong>numeştepartea unui cuvânt care serveşte ca bază pentru formareacuvintelor flexibile.(2) (Situation: Das Kind beschriftet die Wän<strong>de</strong>)Was ist das? Was ist <strong>de</strong>nn das da schon wie<strong>de</strong>r!Ce-i asta? Ce-înseamnă asta (<strong>de</strong> aici) iară<strong>şi</strong>!(3) Ich müsste die Lehrerin anrufen, aber das mache ich nicht.Ar trebui să o sun pe profesoară, însă nu fac asta.Aus <strong>de</strong>n oben angeführten Aussagen und Belegen könnte manschließen, dass auch das Rumänische über ein Fokus-Pronomen verfügt.Jedoch wird im Rumänischen nur die Genusopposition im N./A. Sg. unddies in wenigen Kontexten neutralisiert, <strong>de</strong>nn in „Subjektfunktionkongruiert das Pronomen in Genus und Numerus mit <strong>de</strong>mPrädikatsnomen“ (Iliescu/Popovici 2013: 145). Zumal die Neutralisierung<strong>de</strong>r Numerusopposition nie belegbar sein wird und somit die Form nur insehr wenigen Kontexten morphologisch invariant ist, vertreten wir dieMeinung, dass das Rumänische über kein eigenständiges Neutral-Pronomen229


verfügt, son<strong>de</strong>rn über eine noch sehr schwach grammatikalisierteÜbergangsform zwischen <strong>de</strong>m Demonstrativ- und <strong>de</strong>m Fokus-Pronomenasta. Der einheitlichen Terminologie zuliebe wer<strong>de</strong>n wir aber diese Formausschließlich in <strong>de</strong>njenigen Kontexten, in <strong>de</strong>nen sie eine 1:1 Entsprechungzum <strong>de</strong>utschen Fokus-Pronomen das darstellt, als Fokus-Pronomenbetrachten. In allen an<strong>de</strong>ren Fällen wer<strong>de</strong>n wir sie als rumänischesDemonstrativ-Pronomen verstehen.Die oben angegebenen Beispiele bedürfen einiger Kommentare. Dietextuelle Fokusbildung (1) entsteht durch die Frage und <strong>de</strong>n Gebrauch <strong>de</strong>sFokus-Pronomens, das sowohl <strong>de</strong>n Gegenstand auffällig macht als auch dieAufmerksamkeit <strong>de</strong>s Gesprächspartners dazu bün<strong>de</strong>lt. Die Übersetzungerfolgt durch <strong>de</strong>n Einsatz <strong>de</strong>r Wort-für-Wort-Übersetzung, d. h. um mitSchreiber (1997: 220) zu sprechen, durch „die Beibehaltung vonWortstellung, Anzahl und Wortart sowie (mit Einschränkungen)grammatischer Be<strong>de</strong>utung und syntaktischer Konstruktion“ 3 . Das gleicheVerfahren wird auch im Falle <strong>de</strong>r situativen Fokusbildung (2) eingesetzt,wobei das Fokus-Pronomen diesmal die Situation <strong>zur</strong> Aufmerksamkeit <strong>de</strong>sPartners bün<strong>de</strong>lt. Die Determinierung <strong>de</strong>s Pronomens durch die Partikel da/<strong>de</strong> aici kann im Rumänischen ausgelassen wer<strong>de</strong>n, zumal dies dieAufmerksamkeit auf eine konkrete Stelle lenken wür<strong>de</strong> und nicht mehr aufdie gesamte Situation.Die rumänische Variante (3) stellt jedoch die wichtigsteAbweichung von <strong>de</strong>r Wort-für-Wort-Übersetzung dar, und zwar „dieobligatorische (grammatikalisch bedingte) Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Wortstellung“, diebei Schreiber (1993: 219) Permutation heißt. Außer<strong>de</strong>m kann man imDeutschen die Form das durch dies ersetzen und im Rumänischen diedirekten Akkusativobjekte („complement direct în acuzativ”) verdoppeln:(3a) Ich müsste die Lehrerin anrufen, aber das/dies mache ich nicht.Ar trebui să o sun pe profesoară, însă asta n-o fac.Wie bereits erwähnt, gehören die Verdoppelung durch klitische,unbetonte Formen <strong>de</strong>s Personalpronomens und die Voranstellung <strong>de</strong>rPräposition pe zu <strong>de</strong>n zusätzlichen Akkusativmarkern <strong>de</strong>s Rumänischen.Die Wie<strong>de</strong>raufnahme durch ein Klitikon ist je<strong>de</strong>nfalls fakultativ, „wenn diebetonte Form eines <strong>de</strong>r Pronomina asta, ce, cine ist” (Engel 1993: 56), wasdurch das Beispiel (3) belegt wird. Allerdings wird heutzutage die3 Bei Vinay/ Darbelnet (1958) heißt dieses Verfahren wortgetreue Übersetzung.230


Verdoppelung bevorzugt, „<strong>de</strong>nn solche Sätze wirken im Allgemeinenexpressiver als die einfachen ohne Wie<strong>de</strong>rholung <strong>de</strong>s Pronomens”(Iliescu/Popovici 2013: 147). Durch die Erhöhung <strong>de</strong>r Wortzahl in <strong>de</strong>rÜbersetzung wur<strong>de</strong> in diesem Fall das Verfahren <strong>de</strong>r Expansion eingesetzt(vgl. Schreiber 1997: 220; Newmark 1988: 76).An<strong>de</strong>re Übersetzungsvarianten wären aber auch folgen<strong>de</strong>:(3b) Ar trebui să o sun pe profesoară, însă n-o fac.(3c) Ar trebui să o sun pe profesoară, însă nu fac aşa ceva.Das rumänische Fokus-Pronomen asta wird in diesen Beispielennicht mehr aktualisiert, <strong>de</strong>nn seine Funktion wird entwe<strong>de</strong>r vom Klitikonallein o<strong>de</strong>r aber von einem <strong>de</strong>terminierten In<strong>de</strong>finit-Pronomen (aşa ceva/ soetwas) übernommen. Aus <strong>de</strong>r übersetzungsrelevanten Perspektive sprichtman in diesen Fällen von Transposition (3b) und Transformation (3c).Unter Transformation verstehen wir „die Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r syntaktischenKonstruktion” (Schreiber 1997: 221; Newmark 1988: 78).In an<strong>de</strong>ren Kontexten, wie zum Beispiel bei unpersönlichen Verben,können mittels <strong>de</strong>r Transposition die rumänischen Relativa alsEntsprechungen <strong>de</strong>s Fokus-Pronomens das gelten.(4) Das blitzt und donnert ja unheimlich!Ce/Cum mai fulgeră <strong>şi</strong> tună!Wie erwähnt, kann die Numerusopposition im Rumänischen nichtneutralisert wer<strong>de</strong>n und dies führt zu morphologischen Varianzen.Außer<strong>de</strong>m muss neben <strong>de</strong>r Kasusmarkierung auch noch dieGenusunterscheidung vorhan<strong>de</strong>n sein, falls das Pronomen als Subjektgebraucht wird. Die morphologische Invarianz, die <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Fokus-Pronomen eigen ist, kann im Rumänischen nicht mehr erhalten bleiben, sodass man in diesen rumänischen Gebrauchskontexten nicht mehr über einFokus-Pronomen sprechen kann. Der Einsatz <strong>de</strong>s Verfahrens <strong>de</strong>rTransposition ist <strong>de</strong>mzufolge grammatisch bedingt.(5) (Situation: Anschauen eines Fotoalbums)Wer ist das?Das sind meine Eltern. Das ist meine Mutter und das mein Vater.Cine sunt aceştia/ăştia?231


Aceştia/ Ăştia sunt părinţii mei. Aceasta/Asta e mama (mea), iaracesta/ăsta/acela/ăla e tatăl (meu).Die rumänischen Demonstrativ-Pronomina (acesta/acela)entsprechen also einerseits <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen rhematischen Referenz-Pronomina (<strong>de</strong>r/die/das) und <strong>de</strong>n mit spezifischeren Be<strong>de</strong>utungsmerkmalenversehenen Demonstrativ-Pronomina (dieser/jener), an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>mFokus-Pronomen das. Die Formen aceştia, aceasta und acela gehörenjedoch fast ausschließlich <strong>de</strong>r geschriebenen Sprache an, <strong>de</strong>nn imgesprochenen Rumänischen wer<strong>de</strong>n die umgangssprachlichen Kurzformenăştia, asta/aia und ăsta/ăla gebraucht. Hier kann man „und das meinVater“ sowohl durch die Formen <strong>de</strong>r relativen Nähe acesta/ăsta als auchdurch die <strong>de</strong>r relativen Entfernung acela/ăla übersetzen, <strong>de</strong>nn mandifferenziert zwischen zwei Personen und somit wählt man zwischen zweiErscheinungen. Die Beibehaltung <strong>de</strong>r Invarianz auf <strong>de</strong>r Inhaltsebene ist aberauch durch <strong>de</strong>n Gebrauch <strong>de</strong>s Personalpronomens möglich:(5a) Ea e mama mea, iar el e tatăl meu.Eine an<strong>de</strong>re Übersetzungsmöglichkeit wäre die Nicht-Aktualisierung<strong>de</strong>s Subjekts, die, wie bereits angeführt, im Rumänischenstandardsprachlich ist. Im Beispiel ist jedoch neben <strong>de</strong>r Auslassung aucheine Reduktion ersichtlich (5b).(5b) Ø Sunt mama mea <strong>şi</strong> tatăl meu.Dieselbe Aussage kann aber ins Rumänische auch durch ein an<strong>de</strong>resVerfahren übersetzt wer<strong>de</strong>n:(5c) Cea <strong>de</strong> aici e mama mea, celălalt/ălălalt e tatăl meu.Im angegebenen Kontext (5c) wird cel als Pronomen eingestuft,genauer als ein abgeschwächtes Demonstrativ-Pronomen, <strong>de</strong>nn eskontrastiert mit <strong>de</strong>m Demonstrativ-Pronomen <strong>de</strong>r Wahl celălalt/ălălalt (vgl.Iliescu/Popovici 2013: 148). Das Übersetzungsverfahren ist in diesem Falldie syntaktische Transformation, <strong>de</strong>nn es han<strong>de</strong>lt sich um eine komplexesyntaktische Struktur, bestehend aus cel mit eigener Determinierung (<strong>de</strong>aici) und <strong>de</strong>m rumänischen Demonstrativ <strong>de</strong>r Wahl celălalt.232


3.3 Das als anaphorischer ArtikelArtikel sind für Weinrich Morpheme, „die im Text die Aufgabe haben,Nomina zu begleiten und <strong>de</strong>m Hörer Anweisungen zu geben, wo im TextDeterminanten für diese Nomina zu fin<strong>de</strong>n sind“ (1993: 406). Die Artikelkongruieren im Genus, Numerus und Kasus mit ihren Nomina undhinsichtlich <strong>de</strong>s dazugehören<strong>de</strong>n Nomens kommt ihnen das semantischeMerkmal ‘bestimmbar‘ zu. Zumal <strong>de</strong>n Determinanten das semantischeMerkmal ‘bestimmend‘ zugeteilt wird und diese erst nach <strong>de</strong>nSuchanweisungen <strong>de</strong>r Artikel zu fin<strong>de</strong>n sind, „sind Artikel selber keineDeterminanten, son<strong>de</strong>rn Determinationshelfer“. Die Klasse <strong>de</strong>r Artikelumfasst zwei Unterklassen (1993: 410): die einfachen Artikel und diespezifischen Artikel. Als Artikel gehört das <strong>de</strong>r Klasse <strong>de</strong>r einfachen Artikelund ferner <strong>de</strong>r Unterklasse <strong>de</strong>r anaphorischen Artikel (<strong>de</strong>r/die/das) an,<strong>de</strong>nen zum Grundmerkmal ‘bestimmbar‘ auch noch das semantischeMerkmal ‘bekannt‘ zukommt; das hat also die Be<strong>de</strong>utungsmerkmale‘bekannt’ und ‘bestimmbar‘ und stimuliert die Suche nach Determinanten in<strong>de</strong>r kontextuellen und situativen Vorinformation o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Vorinformationaus <strong>de</strong>m Sprach- und Weltwissen (vgl. Weinrich 1993: 411-415). Dabeiaktualisiert das immer das Neutrum im N./A. Sg. Zu <strong>de</strong>n rumänischenanaphorischen Artikeln rechnen wir <strong>de</strong>n proklitischen und enklitischenArtikel, <strong>de</strong>n Demonstrativartikel cel und <strong>de</strong>n Genitivartikel al.Der Demonstrativartikel verbin<strong>de</strong>t ein mit <strong>de</strong>m bestimmten Artikel versehenesSubstantiv mit seinem Bestimmungswort, er substantiviert Adjektive, Numeraleo<strong>de</strong>r Präpositionalgefüge und er ist ein Bestandteil <strong>de</strong>s relativen Superlativs. DerDemonstrativartikel ist formal i<strong>de</strong>ntisch mit <strong>de</strong>m abgeschwächtenDemonstrativpronomen cel [...] Der Genitivartikel ist ein Bestandteil <strong>de</strong>rPossessivpronomen und <strong>de</strong>r Ordnungszahlwörter (Iliescu/Popovici 2013: 88, 90).(1) (Situation: Redner spricht zu leise)Das Mikrophon! Das Mikrophon einschalten!Microfonul! Porniţi mocrofonul!(2) Auf <strong>de</strong>r Bank liegt ein Mikrophon. Das Mikrophon ist schwarz.Pe bancă e un microfon. Microfonul e negru.(3) Die Menschen haben lange gebraucht, bis sie das Feuer ent<strong>de</strong>ckthaben.Oamenilor le-a trebuit mult până au <strong>de</strong>scoperit focul.233


In <strong>de</strong>n oben angeführten Belegen entspricht <strong>de</strong>r Form das <strong>de</strong>rrumänische einfache anaphorische Artikel -l . Er steht so wie im Deutschenfür <strong>de</strong>n N. Sg. Neutr. und weist auf die Vorinformation hin, die situativ (1),kontextuell (2) o<strong>de</strong>r im eignen Weltwissen (3) vorhan<strong>de</strong>n ist. Die einzigeBeson<strong>de</strong>rheit an <strong>de</strong>r rumänischen Entsprechung ist die Enklise. Aufgrunddieser muss bei <strong>de</strong>r Übertragung aller <strong>de</strong>finiten Strukturen ins Rumänischedie Wortstellung geän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, so dass das stets einzusetzen<strong>de</strong>Verfahren die Permutation ist.Einige sprachenpaarspezifische Probleme wie Genusunterschie<strong>de</strong> (4)und unterschiedliche Kasus-Rektion (5) kommen in <strong>de</strong>n nächsten Beispielen<strong>zur</strong> Geltung. Aufgrund dieser wird bei <strong>de</strong>r Übertragung <strong>de</strong>s einfachenArtikels häufig <strong>de</strong>r intrakategoriale Wechsel als Übersetzungsverfahreneingesetzt. Darunter versteht Schreiber (1997: 220-221) „die Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>rgrammatischen Be<strong>de</strong>utung innerhalb einer grammatischen Kategorie“.Natürlich kommt dieses Verfahren immer zusammen mit <strong>de</strong>r Permutationvor.234(4) Das Kind liest das Buch laut vor. (Neutrum, Neutrum)Copilul citeşte cartea cu voce tare. (Maskulinum, Femininum)Der intrakategoriale Wechsel ist obligatorisch, zumal dierumänischen Nomen Maskulina bzw. Feminina sind und keine Neutra wieim Deutschen. Nicht nur die grammatische Kategorie Genus, son<strong>de</strong>rn auchdie Kategorie Kasus kann in ihrer Be<strong>de</strong>utung obligatorisch geän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n,wenn beispielsweise die Rektion <strong>de</strong>r Präpositionen in <strong>de</strong>n untersuchtenSprachen unterschiedlich ist. Im Beispiel (5) han<strong>de</strong>lt es sich sowohl um diegrammatikalisch bedingte Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Genus wie auch die <strong>de</strong>s Kasus.(5) Das Kind spielt mit <strong>de</strong>m Buch. (Dativ)Copilul se joacă cu cartea. (Akkusativ)Die <strong>de</strong>utsche Präposition mit verlangt immer <strong>de</strong>n Dativ, wobei dierumänische Entsprechung cu immer <strong>de</strong>n Akkusativ regiert.Bei attribuiertem Nomen gibt es im Rumänischen mehrereÜbersetzungsvarianten und es kommen oft gehäufte Übersetzungsverfahrenvor.(6) Das neue Mikrophon liegt auf <strong>de</strong>r Bank.


Microfonul nou se află pe bancă.(6a) Noul microfon se află pe bancă.(6b) Microfonul cel nou se află pe bancă.Dies ist eine Folge <strong>de</strong>r Stellungsmöglichkeiten <strong>de</strong>s adjektivischenAttributs im Rumänischen. Es kann nämlich vor o<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Nomenstehen. Die Regel besagt, dass <strong>de</strong>r anaphorische Artikel immer beim erstenGlied einer Nominalgruppe steht. Dies kann das Nomen (6) o<strong>de</strong>r dasAdjektiv (6a) sein. Möchte man aber das Adjektiv beson<strong>de</strong>rs hervorheben,so wird auch <strong>de</strong>r Demonstrativartikel cel gesetzt (6b). Seine Setzung ist hierfakultativ und hat eine rein emphatische Funktion (vgl. Iliescu/Popovici2013: 89). Die einzuführen<strong>de</strong>n Verfahren sind die Permutation und dieExpansion.Eine Häufung von Übersetzungsverfahren sind in folgen<strong>de</strong>nBeispielen zu verzeichnen:(7) Das beste Buch <strong>de</strong>s Autors ist ausverkauft.Cea mai bună carte a autorului nu se mai găseşte.(7a) Cartea cea mai bună a autorului nu se mai găseşte.Eine Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r rumänischen Sprache ist die Bildung <strong>de</strong>srelativen Superlativs mit <strong>de</strong>m Demonstrativartikel cel, welches eine 1:1Entsprechung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Artikels darstellt. Der attributive Superlativkann vor o<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Bezugswort stehen, das <strong>de</strong>mzufolge mit o<strong>de</strong>r ohne<strong>de</strong>n anaphorischen Artikel stehen kann.Beim präponierten Superlativ (7) ist cel allein die Entsprechung <strong>de</strong>s<strong>de</strong>utschen Artikels, aber bei nachgestelltem Superlativ (7a) ist eine Häufungvon mehreren Artikeln (cel und anaphorischem enklitischem Artikel) dieEntsprechung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Form das. Die hier angewen<strong>de</strong>tenÜbersetzungsverfahren sind einerseits die Wort-für-Wort-Übersetzung (7)und an<strong>de</strong>rerseits die Permutation verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Expansion und <strong>de</strong>mintrakategorialen Wechsel (7a). Der intrakategoriale Wechsel ist einzusetzen,zumal auch Genusunterschie<strong>de</strong> vorhan<strong>de</strong>n sind.Eine zweite Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>s Rumänischen ist die Bildung <strong>de</strong>rOrdinalzahlen mit vorangestelltem Genitivartikel al und <strong>de</strong>n Endungen -lea(Mask.) o<strong>de</strong>r -a (Fem.).(8) Das zweite Mikrophon hat funktioniert.Al doilea microfon a funcţionat.235


Die übliche rumänische Entsprechung bei attributiv gebrauchterOrdinalzahl ist die Struktur mit vorangestelltem Attribut, so wie imDeutschen (8). Es han<strong>de</strong>lt sich hier um eine Wort-für-Wort-Übersetzung.Trotz<strong>de</strong>m besteht aber auch die Möglichkeit, die Ordinalzahl nach <strong>de</strong>mNomen zu stellen (8a). In diesem Fall wer<strong>de</strong>n obligatorisch cel und diePräposition <strong>de</strong> in die Struktur miteinbezogen, wobei durch cel auch dieFlexion realisiert wird. Allerdings können diese Elemente fakultativ auchbeim vorangestellten Attribut verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n (8b):236(8a) Microfonul cel <strong>de</strong>-al doilea a funcţionat.(8b) (Cel <strong>de</strong>-)al doilea microfon a funcţionat.Die hier einzusetzen<strong>de</strong>n Übersetzungsverfahren sind entwe<strong>de</strong>r diePermutation verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Expansion (8a) o<strong>de</strong>r die einfache Expansion(8b).3.4 Das als Relativ-PronomenDas wird auch <strong>de</strong>r Klasse <strong>de</strong>r Relativ-Pronomina zugeordnet, diegleichzeitig Relativ-Junktoren und Referenz-Pronomina sind. Als Junktorverbin<strong>de</strong>t es eine nominale Basis mit einem satz- und klammerförmigenAdjunkt und als Pronomen führt es die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Basis-Nomens überdas ganze Adjunkt fort, durch eine Kongruenzbrücke im Genus undNumerus, aber nicht im Kasus (vgl. Weinrich 1993: 769). Die Relativ-Pronomina unterschei<strong>de</strong>n sich von <strong>de</strong>n formi<strong>de</strong>ntischen Referenz-Pronomina einerseits durch die Stellung <strong>de</strong>s Verbs, <strong>de</strong>nn nur das Relativ-Pronomen eröffnet eine Verbalklammer, an<strong>de</strong>rerseits ist das Relativ-Pronomen an<strong>de</strong>rs als das rhematische Pronomen hinsichtlich <strong>de</strong>sInformationsprofils neutral (vgl. Weinrich 1993: 771).Sofern es die Subjektsrolle einnimmt (1), ist es mit <strong>de</strong>m Verb <strong>de</strong>sAdjunkts durch die Kongruenz <strong>de</strong>r Subjekt-Konjugation verbun<strong>de</strong>n. DieseKongruenz erstreckt sich nur auf <strong>de</strong>n Numerus. Steht das Relativ-Pronomenin einem an<strong>de</strong>ren Kasus als Nominativ (2) und (3), so fällt dieKongruenzbrücke <strong>de</strong>r Subjekt-Konjugation (nach rechts) aus, und es bestehtnur die Kongruenzbrücke <strong>de</strong>r Pronominalisierung (vgl. Weinrich 1993: 769).(1) Das Mikrophon, das hier liegt, ist neu. (Nominativ)Microfonul care se află aici e nou.


(2) Das Mikrophon, das du gekauft hast, ist kaputt. (Akkusativ)Microfonul pe care l-ai cumpărat e stricat.Weil die Nominativ- und Akkusativ-Formen homonym sind, führenwir hier ausnahmsweise auch <strong>de</strong>n Dativ an.(3) Das Mikrophon, <strong>de</strong>m du das Kabel abgeschnitten hast, liegt in<strong>de</strong>r Schubla<strong>de</strong>. (Dativ)Microfonul căruia i-ai tăiat cablul se află în sertar.Im Beispiel (1) ist eine Wort-für-Wort-Übersetzung vorhan<strong>de</strong>n. Dasrumänische Relativ-Pronomen care nimmt das Nomen <strong>de</strong>s Hauptsatzeswie<strong>de</strong>r auf und ist zugleich Subjekt <strong>de</strong>s satzförmigen Adjunkts. Dienächsten zwei Beispiele zeigen grammatisch bedingte Expansionen: Daspronominale care als Akkusativobjekt (2) wird im Rumänischenobligatorisch von pe und einem unbetonten, klitischen Personalpronomen -lim Akkusativ begleitet, „unabhängig davon, ob das Bezugswort belebt o<strong>de</strong>runbelebt ist“. Die Wie<strong>de</strong>raufnahme durch ein unbetontes, klitischesPersonalpronomen i- ist auch im Dativ (3) obligatorisch (vgl.Iliescu/Popovici 2013: 167).Relativ-Junktoren können aber im Text auch mit an<strong>de</strong>renDeterminanten zusammen wirken, wie zum Beispiel Präpositionen o<strong>de</strong>rInfinitive. Diese bil<strong>de</strong>n laut Weinrich komplexe Relativ-Junktoren (1993:779).(4) Das Forschungsgebiet, auf das er sich konzentriert, istinteressant.Domeniul <strong>de</strong> cercetare pe care se concenterază este interesant.(4a) Das Forschungsgebiet, in <strong>de</strong>m er tätig ist, ist interessant.Domeniul <strong>de</strong> cercetare în care activează e interesant.Alle <strong>de</strong>utschen Präpositionen können mit <strong>de</strong>m Relativ-Pronomen daskombiniert wer<strong>de</strong>n. Im Rumänischen liegt ein i<strong>de</strong>ntisches Phänomen vor, sodass die meisten rumänischen Übersetzungsvarianten (4) und (4a) Belegefür Wort-für-Wort-Übersetzungen sind. Die Abhängigkeit <strong>de</strong>r Kasus-Rektion <strong>de</strong>s Relativ-Pronomens von <strong>de</strong>r Rektion <strong>de</strong>r Präposition bewirkt237


<strong>de</strong>n Einsatz eines an<strong>de</strong>ren Verfahrens, und zwar <strong>de</strong>s intrakategorialenWechsels (5).238(5) Das Gebiet, aus <strong>de</strong>m du ausgefragt wirst, kenne ich nicht.Domeniul din care vei fi ascultat nu-l ştiu.Im Deutschen regiert die Präposition aus immer <strong>de</strong>n Dativ, jedochihre rumänische Entsprechung din <strong>de</strong>n Akkusativ. Deshalb muss in <strong>de</strong>rÜbersetzung die grammatische Be<strong>de</strong>utung innerhalb <strong>de</strong>r Kategorie Kasusobligatorisch geän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.Hat das einen Infinitiv als Determinant, dann gibt es folgen<strong>de</strong>Übersetzungsmöglichkeiten:(6) Das Forschungsgebiet, das zu vertreten mir aufgetragen ist, istneu.Domeniul <strong>de</strong> cercetare pe care mi-e dat să-l reprezint e nou.(6a) Domeniul <strong>de</strong> cercetare încredinţat mie pentru a-l reprezenta enou.Als Übersetzungsproblem ist hier die Übertragung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschenInfinitivs zu vermerken und nicht die <strong>de</strong>s Relativ-Pronomens. Deshalb sinddie Belege nur als Expansionen zu betrachten, zumal hinsichtlich <strong>de</strong>rÜbertragung <strong>de</strong>r Form das nur die Wortzahl erhöht wur<strong>de</strong>. Typischerumänische Entsprechungen <strong>de</strong>s Infinitivs sind entwe<strong>de</strong>r satzwertigeKonstruktion im Subjunktiv (Rumänsich: conjunctiv), wie im Beispiel (6)o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r rumänische Infinitiv mit vorangestelltem a, wie in (6a).Das Relativ-Pronomen das kann auch eine pronominale Basis haben.Wir beziehen uns hier nur auf die Pronomina mit Genus Neutrum. DieFormi<strong>de</strong>ntität zwischen <strong>de</strong>m rhematischen Referenz-Pronomen und <strong>de</strong>mRelativ-Pronomen ergibt oft eine Aufeinan<strong>de</strong>rfolge von gleichen Formen.(Situation: In <strong>de</strong>r Sichtweite <strong>de</strong>r Gesprächspartner gibt es Kin<strong>de</strong>r.)(7) Das, das spricht, ist mein Kind.Cel care/ce vorbeşte e copilul meu.Eine Übersetzungsmöglichkeit besteht aus <strong>de</strong>r Kombinationzwischen <strong>de</strong>m abgeschwächten Demonstrativ-Pronomen cel und <strong>de</strong>nRelativ-Pronomina care bzw. ce. Das Übersetzungsverfahren hängt davonab, wie die Einheit cel grammatisch interpretiert wird. Betrachtet man cel


als rhematisches Referenz-Pronomen, so ist (7) ein Beleg für eine Wort-für-Wort-Übersetzung; wird es aber als Demonstrativ-Pronomen interpretiert,dann liegt hier eine Transposition vor. Auch die etwas seltener gebrauchteVariante mit <strong>de</strong>r emphatischen Struktur acela care ist ebenfalls alsTransposition zu verstehen:(7a)Acela care vorbeşte e copilul meu.Um das Zusammentreffen zweier i<strong>de</strong>ntischer Formen zu vermei<strong>de</strong>n,gibt es im Deutschen die Möglichkeit die Formvarianten welcher/welche/welches (7b) o<strong>de</strong>r das Demonstrativ-Pronomen <strong>de</strong>rjenige (7c) zuverwen<strong>de</strong>n.(7b)(7c)Das, welches spricht, ist mein Kind.Dasjenige Kind, das spricht, ist mein Kind.Die bereits angeführten Übersetzungsvarianten (7) und (7a)entsprechen auch <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Belegsätzen (7b) und (7c).Nach das, substantivierten Adjektiven mit Genus Neutrum und etwassteht im Regelfall das <strong>de</strong>utsche Relativ-Pronomen was, doch manchmal sinddie Relativ-Pronomina das und was austauschbar. Die rumänischeEntsprechung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Konstruktion das, was ist daszusammengesetzte Relativ-Pronomen ceea ce, das immer eine neutraleBe<strong>de</strong>utung hat (vgl. Iliescu/Popovici 2013: 170).(8) Das, was geschieht, ist beeindruckend.Ceea ce se întâmplă e impresionant.Im Deutschen sind es zwei unterschiedliche Pronomina(rhematisches Pronomen das und relatives was), im Rumänischen aber einzusammengesetztes Relativ-Pronomen 4 . Es han<strong>de</strong>lt sich hier um eineTransposition. Auch eine Reduktion ist möglich durch <strong>de</strong>n Gebrauch <strong>de</strong>seinfachen Relativ-Pronomens ce.(8a) Ce se întâmplă e impresionant.4 Das ist hier die Basis und nicht das Relativ-Pronomen. Das angegebene Beispiel wirdaber trotz<strong>de</strong>m unter Punkt 3.4 behan<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>nn im Rumänischen steht das Relativ-Pronomenceea ce für die gesamte Konstruktion das, was.239


Nach etwas können entwe<strong>de</strong>r das o<strong>de</strong>r was stehen. Für bei<strong>de</strong> gibt esdie gleiche rumänische Entsprechung ce, so dass die Wort-für-Wort-Übersetzung einzusetzen ist.4. Fazit(9) Ich sehe etwas, das/was wir gefällt.Văd ceva ce îmi place.Aus <strong>de</strong>r Untersuchung geht hervor, dass die Form das kontext- undgrammatikalisch bedingt eine Vielfalt von rumänischen Entsprechungenaufweist. Diese sind aus <strong>de</strong>r sprachwissenschaftlichen Perspektive nichtimmer als 1:1 Entsprechungen zu betrachten und <strong>de</strong>shalb erfolgt dieÜbertragung <strong>de</strong>r Form durch <strong>de</strong>n Einsatz mehrererEinzelübersetzungsverfahren o<strong>de</strong>r sogar durch Häufung von mehrerenÜbersetzungsverfahren. Die meisten Häufungen von Verfahren sind die in<strong>de</strong>n angeführten Belegsätzen grammatikalisch bedingt und gehören somit zu<strong>de</strong>n obligatorischen Än<strong>de</strong>rungen, die bei <strong>de</strong>n Übersetzungen aus <strong>de</strong>mDeutschen ins Rumänische vorgenommen wer<strong>de</strong>n.LiteraturAca<strong>de</strong>mia Română/ Institutul <strong>de</strong> Lingvistică „Iorgu Iordan-AlexandruRosetti“ (2005): Gramatica Limbii Române (GALR) Cuvântul (1.Bd.)/ Enunţul (2. Bd.), Bucureşti: Editura Aca<strong>de</strong>miei Române.Avram, Mioara (1986): Gramatica pentru toţi, Bucureşti: EdituraAca<strong>de</strong>miei Române.Beyrer, Arthur/ Bochmann, Klaus/ Bronsert, Siegfried (1987): Grammatik<strong>de</strong>r rumänischen Sprache <strong>de</strong>r Gegenwart, Leipzig: VEB.Bosch, Peter/ Katz, Graham/ Umbach, Carla (2007): The Non-Subject Biasof German Demonstrative Pronouns. In: Monika Schwarz-Friesel/Manfred Consten/ Mareile Knees (Hrsg.): Anaphors in Text:Cognitive, formal and applied approaches to anaphoric reference,Amsterdam: Benjamins, 145-164.http://cogsci.uni-osnabrueck.<strong>de</strong>/~pbosch/Papers2/Bosch_Katz_Umbach2007. pdf [24.03.2013].240


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AnhangÜbersetzungsmöglichkeiten <strong>de</strong>r Form dasDas = rhematisches Referenz-PronomenÜbersetzungsverfahren Deutsch RumänischTransposition 5 das Meinst du das dao<strong>de</strong>r das dort?cel <strong>de</strong> aici/cel <strong>de</strong> acoloTe referi la cel<strong>de</strong> aici sau la celTransposition +Reduktiondasda/dasdortTransposition+Expansion dasMeinst du das dao<strong>de</strong>r das dort?Siehst du dasMikrophon imSchaufenster?Das kaufe ichmir.acesta/astaacela/(ăla)pe acela/acela+Klitikon<strong>de</strong> acolo?Te referi laacesta/asta saula acela/(ăla).Vezi microfonuldin vitrină? Peacela/ Pe acesta/(ăsta) mi-lcumpăr.Siehst du dasBuch imSchaufenster?Das kaufe ichmir.Auslassung das Können Sie mirsagen, wo dasMikrophon ist?Das ist hier.peaceea/aceasta/asta+KlitikonØVezi cartea dinvitrină? Peaceea/ Peaceasta/Pe astami-o cumpăr.Îmi puteţi spuneun<strong>de</strong> emicrofonul?Ø E aici.Das = Fokus-PronomenÜbersetzungsverfahren Deutsch RumänischWort-für-Wort-asta/aceastaÜbersetzungdas „EinWortstamm“,was ist das?Das bezeichnet<strong>de</strong>n Bestandteileines Wortes,<strong>de</strong>r als Basis<strong>zur</strong> Bildungvon flektiertenWortformendient.„Radicalul“, ceînseamnăaceasta/asta?Aceasta/Asta<strong>de</strong>numeştecomponentul unuicuvânt careserveşte ca bazăpentru formareacuvintelorflexibile.5 Das Beispiel könnte auch als eine Wort-für-Wort-Übersetzung verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n (s.Punkt 3.1).243


PermutationExpansionTranspositionTransformationAuslassung+Reduktiondas Ich müsste dieLehrerinanrufen, aberdas mache ichnicht.das Ich müsste dieLehrerinanrufen, aberdas mache ichnicht.das Ich müsste dieLehrerinanrufen, aberdas mache ichnicht.Wer ist das?Das sind meineEltern.dasDas ist meineMutter und dasmein Vater.Das blitzt unddonnert jaunheimlich!Ich müsste dieLehrerinanrufen, aberdas mache ichnicht.Das ist meineMutter und dasmein Vater.Das ist meineMutter und dasmein Vater.das Wer ist das?Das ist meineMutter und dasmein Vater.astaasta + ooaceştia/(ăştia)acela/(ăla)ce/cumaşa cevaea/elcea/cea+Determinant…+celălalt/ (ălălalt)ØAr trebui să o sunpe profesoară, însănu fac asta.Ar trebui să o sunpe profesoară, însăasta n-o fac.Ar trebui să o sunpe profesoară, însăn-o fac.Cine suntaceştia/(ăştia)?Aceştia/(Ăştia)sunt părinţii mei.Asta e mama(mea), iaracela/(ăla )e tatăl(meu).Ce/Cum maifulgeră <strong>şi</strong> tună!Ar trebui să o sunpe profesoară, însănu fac aşa ceva.Ea e mama mea,iar el e tatăl meu.Cea <strong>de</strong> aici emama,celălalt/(ălălalt) etatăl meu.Cine sunt aceştia?Ø Sunt mama mea<strong>şi</strong> tatăl meu.244


Das= anaphorischer ArtikelÜbersetzungsverfahren Deutsch RumänischWort-für-Wort-ÜbersetzungdasSuperlativceaPermutationPermutation +Expansionintrakategorialer Wechsel+ Permutationintrakategorialer Wechsel+Permutation+ExpansiondasOrdinalzahldasdas+Adjektiv+Nomendas+Adjektiv+NomendasOrdinalzahldas(Neutr.)mit <strong>de</strong>m(D. Neutr.)dasSuperlativDas beste Buch<strong>de</strong>s Autors istausverkauft.Das zweiteMikrophon hatfunktioniert.DasMikrophon!DasMikrophoneinschalten!Das neueMikrophonliegt auf <strong>de</strong>ralCea mai bunăcarte aautorului nu semai găseşte.Al doileamicrofon afuncţionat.-l Microfonul!Porniţimicrofonul!Nomen+-lMicrofonul nouse află pebancă.Bank. Adjektiv+ -l Noul microfonse află pebancă.Das neueMikrophonliegt auf <strong>de</strong>rBank.Das zweiteMikrophon hatfunktioniert.Das Kind liestdas Buch lautvor.Das Kind spieltmit <strong>de</strong>m Buch.Das beste Buch<strong>de</strong>s Autors istausverkauft.-l+cel+Adjektiv-l+cel+<strong>de</strong>+Ordinalzahlcel+<strong>de</strong>+Ordinalzahl-l(Mask.)cu+-a(A. Fem.)a+ceaMicrofonul celnou se află pebancă.Microfonul cel<strong>de</strong>-al doilea afuncţionat.(Cel <strong>de</strong>-)aldoilea microfona funcţionat.Copilul citeştecartea cu vocetare.Copilul sejoacă cu cartea.Cartea cea maibună aautorului nu semai găseşte.245


Das = Relativ-PronomenÜbersetzungsverfahren Deutsch RumänischWort-für-Wort-Übersetzungdas Das Mikrophon,das hier liegt, istneu.careExpansionintrakategorialerWechselTranspositionetwas, dasPräp.+dasdasdas+InfinitivDativpräp.+dasdas, dasdas, wasIch sehe etwas,das/was mirgefällt.DasForschungsgebiet,in <strong>de</strong>m er tätig ist,ist interessant.Das Mikrophon,das du gekaufthast, ist kaputt.DasForschungsgebiet,das zu vertretenmir aufgetragenist, ist neu.Das Gebiet, aus<strong>de</strong>m du ausgefragtwirst, kenne ichnicht.Das, das spricht,ist mein Kind.Das, wasgeschieht, istbeeindruckend.ceva, cePräp.+carepe care+Klitikoncare+Satz imSubjunktivcare + a+InfinitivAkkusativpräp.+carecel carecel ceacela careceea ceMicrofonulcare se aflăaici e nou.Văd ceva cemiplace.Domeniul <strong>de</strong>cercetare încare activeazăe interesant.Microfonul pecare l-aicumpărat estricat.Domeniul <strong>de</strong>cercetare pecare mi-e datsă-l reprezinte nou.Domeniul <strong>de</strong>cercetareîncredinţatmie pentru a-lreprezenta enou.Domeniul dincare vei fiascultat nu-lştiu.Cel carevorbeşte ecopilul meu. 6Cel cevorbeşte ecopilul meu.Acela carevorbeşte ecopilul meu.Ceea ce seîntâmplă eimpresionant.6 Diese Übersetzungsvariante könnte auch als eine Wort-für-Wort-Übersetzung verstan<strong>de</strong>nwer<strong>de</strong>n. (s. Punkt 3.4).246


Thilo HerberholzBad Kissingen/TemeswarModalpartikeln in DialogenAbstract: Modal particles are important signals in the conversational dynamics and specialsignals for emotion and expression, so they implicitly refer to corresponding illocutionaryspeech acts. Are modal particles in the spoken language not used, for example by learningGerman foreigners, so the impression of a breach of communicative conventions is given.This interaction is impe<strong>de</strong>d and possibly leads to a complete standstill. In addition, the flowof words in German is unnatural without the use of particles. If learners of German speak amodal particle free German, they lack the expressive dimension and thus the possibility ofself-expression in the language, to feel at home, is missing. This <strong>de</strong>ficit makes both, ontheir si<strong>de</strong> and the si<strong>de</strong> of their partner, feel like there is no real communication. This workshows a short classification and the functions of the modal particles and their importancefor dialogues.Keywords: grammar, particles, classification and function of modal particles, didactics,dialogue, communication.1. Klassifikation <strong>de</strong>r ModalpartikelnPeter Eisenberg (2006: 210) bezeichnet die Partikeln als „inhomogeneRestklasse“, da große Abgrenzungsprobleme zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Nichtflektierbaren(Adverbien, Konjunktionen, Adjektiven) existieren und zitiertReiners’ (1967: 340) Aussage, sie seien „Läuse im Pelz <strong>de</strong>r Sprache.“ Dieverschie<strong>de</strong>nen Partikelwörter sind bereits als Nichtflektierbare kategorisiertbzw. besitzen (bis auf halt) Homonyme in <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Klassen <strong>de</strong>rNichtflektierbaren, z. B. schon als Adverb, aber als Konjunktion und ruhigals Adjektiv.Partikeln fin<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Forschungsliteratur erst seit <strong>de</strong>rPragmatischen Wen<strong>de</strong> En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 1960er Jahren Beachtung, die Pionierarbeitauf diesem Feld leisteten Weydt und Krivonosov, <strong>de</strong>r 1963 die ersteMonografie über Modalpartikeln schrieb. Seit<strong>de</strong>m wer<strong>de</strong>n sie entwe<strong>de</strong>r alsneue Konstituentenkategorie <strong>de</strong>r Nichtflektierbaren betrachtet o<strong>de</strong>r alleNichtflektierbaren wer<strong>de</strong>n als Partikeln <strong>de</strong>finiert und die verschie<strong>de</strong>nenPartikelkategorien (Fokuspartikeln, Modalpartikeln etc.) bil<strong>de</strong>n dort eigeneUnterkategorien. Eisenberg schlägt als alternative Lösung vor, die Partikeln247


als Teilklassen <strong>de</strong>r Kategorien Adverbien, Konjunktionen und Adjektive zuwerten (vgl. Eisenberg 2006: 211-212).In <strong>de</strong>r IDS-Grammatik teilen Zifonun et al. (1997: 56-60) die Partikeln inverschie<strong>de</strong>ne Klassen ein:KlasseKonnektivpartikelModalpartikelNegationspartikelGradpartikel(Fokuspartikel)AbtönungspartikelIntensitätspartikelResponsivpartikelBeispielein<strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>nnoch, sonst, überhauptwahrscheinlich, sicherlich, keineswegsnicht, gar nicht, überhaupt nichtnur, sogar, allein, bereits, nicht einmal, lediglich,bloßaber, <strong>de</strong>nn, doch, ja, vielleicht, bloß, eben, halteinigermaßen, etwas, recht, sehr, ziemlich, höchstja, nein, okay, kaumAn<strong>de</strong>re Grammatiken verwen<strong>de</strong>n divergieren<strong>de</strong> und teilweise an<strong>de</strong>rsbenannte Einteilungen und ziehen auch die Abgrenzung zu <strong>de</strong>n Adverbienan<strong>de</strong>rs. Für diese Arbeit wer<strong>de</strong> ich die IDS-Grammatik und die Grammatikvon Eisenberg verwen<strong>de</strong>n.Eisenberg (2006: 233) benennt als am häufigsten in <strong>de</strong>r Literaturgenannte Modal- bzw. Abtönungspartikeln: „aber, auch, bloß, <strong>de</strong>nn, doch,eigentlich, eben, einfach, etwa, erst, halt, ja, jetzt, mal, nun, nur, schon,vielleicht, ruhig, wohl“. Zu diesen Partikeln existieren – wie schon erwähnt– gleichlauten<strong>de</strong> Adjektive, Konjunktionen und Adverbien. Die Abtönungspartikelnund Modalpartikeln wer<strong>de</strong>n im 1. Band <strong>de</strong>r IDS-Grammatik nochgetrennt aufgeführt, im 2. Band wer<strong>de</strong>n sie aber als eine Klasse behan<strong>de</strong>lt.Im Kernbereich wer<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong> Modalpartikeln genannt: aber, auch,bloß, <strong>de</strong>nn, doch, eben, etwa, halt, ja, mal, man (regional), nicht, nur,schon, vielleicht, wohl. Bestimmte Wörter wer<strong>de</strong>n laut IDS-Grammatik nurin bestimmten Kontexten als Modalpartikeln verwen<strong>de</strong>t: eh, eigentlich,einfach, erst, ruhig, überhaupt. Eine Reihe von Wörtern <strong>de</strong>finiert die IDS-Grammatik – im Gegensatz zu an<strong>de</strong>ren Grammatiken und Monografien zudiesem Thema – jedoch nicht als Modalpartikeln, son<strong>de</strong>rn als Konnektivpartikeln,da sie in <strong>de</strong>r Erstposition und im Mittelfeld funktionsgleich sind:allerdings, also, immerhin, je<strong>de</strong>nfalls, ohnehin, schließlich, sowieso,überdies, übrigens (vgl. Zifonun et al. 1997: 1209).248


Heggelund benennt für die Modalpartikeln folgen<strong>de</strong> Eigenschaften:Kürze, Nicht-Flektierbarkeit, Bezug auf <strong>de</strong>n ganzen Satz, Unbetontheit (alsNormalfall), Nicht-Erstellfähigkeit, Nicht-Erfragbarkeit, Kombinierbarkeit(aber nicht Koordinierbarkeit) mit an<strong>de</strong>ren Modalpartikeln, Besitz vonHomonymen, Beschränkung auf bestimmte Satztypen (dies variiert jedochzwischen <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Modalpartikeln), semantische Verschwommenheitund Gesprächscharakter (vgl. Heggelund 2001: 15).Modalpartikeln beziehen sich auf <strong>de</strong>n ganzen Satz und stehen in <strong>de</strong>rRegel im Mittelfeld. Die Modalpartikeln können im Satz keinesfalls wahlloseingesetzt wer<strong>de</strong>n, wie das Beispiel von Hentschel (1983: 46) zeigt:(1) Frau Neumann hat ( ) gestern ( ) ihrer Tochter ( ) dasversprochene Fahrrad ( ) geschenkt.Versucht man, die Modalpartikel doch jeweils an einer <strong>de</strong>r vier mit ( )gekennzeichneten Stellen einzusetzen, so wird <strong>de</strong>r Satz dann je nach Stellung <strong>de</strong>rModalpartikel unterschiedlich gefärbt (Jiang1994: 62).Hinsichtlich <strong>de</strong>r Thema-Rhema-Glie<strong>de</strong>rung lässt sich feststellen,dass die Wörter links <strong>de</strong>r Modalpartikel oft das Thema bil<strong>de</strong>n, während dieWörter rechts <strong>de</strong>r Modalpartikel das Neue – also das Rhema – darstellen.Die Modalpartikel steht also vor <strong>de</strong>m Mitteilungskern <strong>de</strong>r Nachricht (vgl.Jiang 1994: 62-63).Die einzelnen Modalpartikeln können in unterschiedlichen Satztypenvorkommen. Nur Modalpartikeln, die für <strong>de</strong>nselben Satztyp subklassifiziertsind, können in Kombination miteinan<strong>de</strong>r auftreten. Die unspezifischstenModalpartikeln (z. B. ja, <strong>de</strong>nn) stehen an erster Stelle, danach folgenaufsteigend die spezifischeren. An zweiter Stelle stehen die Modalpartikeln,die abschwächen o<strong>de</strong>r verstärken (z. B. mal, nur, bloß) o<strong>de</strong>r die eineSprecherhypothese über die Geltung <strong>de</strong>s Gesagten zum Ausdruck bringen(z. B. schon, nicht, etwa). Modalpartikeln können in geschlossenen o<strong>de</strong>roffenen Kombinationen auftreten, verfestigte Kombinationen sind z. B.doch nicht etwa, doch bloß, doch nur (vgl. Zifonun et al. 1997: 1211-1212).Die verschie<strong>de</strong>nen Modalpartikeln können – allerdings nur je<strong>de</strong>sElement einzeln – bestimmten modusspezifischen Satztypen zugeordnetwer<strong>de</strong>n. Modalpartikeln können unbetont o<strong>de</strong>r betont auftreten (mancheSprachwissenschaftler zählen auch nur die unbetonten Varianten zu dieserKlasse). Die betonten Varianten sind mit <strong>de</strong>n Satztypen kombinierbar, wobei249


sich je<strong>de</strong>s Mal <strong>de</strong>r Akzent verlagert und die Information an<strong>de</strong>rs strukturiertwird:<strong>de</strong>nn unbetont: Entscheidungsfragesatztyp, Ergänzungsfragesatztyp,betont: Ergänzungsfragesatztypdoch unbetont: alle außer Fragesatztypenbetont: alle Satztypenschon unbetont: Aussagesatz-, Ergänzungsfragesatz-, Auffor<strong>de</strong>rungssatztypbetont: Aussagesatztyp, oft elliptisch und vor aber-Satz [...]wohl unbetont: Aussagesatz-, Fragesatztyp mit Auffor<strong>de</strong>rungscharakter,Entscheidungs- und Ergänzungsfragesatztypbetont: Aussagesatztyp, oft vor aber-Satzeigentlich unbetont: Aussagesatz-, Entscheidungs- und Ergänzungsfragesatztypbetont: Ergänzungsfragesatztypüberhaupt unbetont: Aussagesatz-, Auffor<strong>de</strong>rungssatztyp, Entscheidungs- undErgänzungsfragesatztypbetont: Aussagesatz-, Auffor<strong>de</strong>rungssatztyp, Entscheidungs- undErgänzungsfragesatztyp (vgl. Zifonun et al 1997: 1215).In <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n Beispiel zeigt sich die Beschränkung <strong>de</strong>runbetonten und betonten Modalpartikeln hinsichtlich <strong>de</strong>r Satztypen recht<strong>de</strong>utlich: 1(2a) Wo wollen Sie <strong>de</strong>nn hin? vs. »Wo wollen Sie <strong>de</strong>nn hin?(2b) Wollen Sie <strong>de</strong>nn hin? vs. *Wollen Sie <strong>de</strong>nn hin?Die betonte Form von <strong>de</strong>nn kommt nur im Ergänzungsfragesatztypvor, im Entscheidungssatzfragetyp ist sie ungrammatisch.Modalpartikeln besitzen – wie bisher gezeigt wur<strong>de</strong> – polyvalente und sichteilweise überschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Funktionen. Helbig (1988: 70) beschreibt dieses„Partikel-Paradoxon“ folgen<strong>de</strong>rmaßen:Die For<strong>de</strong>rung nach semantischer Darstellung <strong>de</strong>s Zusammenhangs <strong>de</strong>rFunktionsweisen untereinan<strong>de</strong>r (d. h. nach einer übergreifen<strong>de</strong>nGesamtbe<strong>de</strong>utung) kollidiert mit <strong>de</strong>r nach Verständlichkeit, weil die allenVarianten gemeinsame Be<strong>de</strong>utung so abstrakt ist, dass sie für <strong>de</strong>n nur ampraktischen Gebrauch interessierten Benutzer wenig nützlich ist. DieBeschreibung nur <strong>de</strong>r einzelnen Funktionsvarianten in<strong>de</strong>s verstellt <strong>de</strong>m Benutzerdas Verständnis für die Zusammenhänge zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Varianten.1Alle folgen<strong>de</strong>n Sprachbeispiele stammen aus <strong>de</strong>m Korpus COSMAS II (Institut für<strong>de</strong>utsche Sprache Mannheim).250


Weydt (1981: 51) zeigt zwei verschie<strong>de</strong>ne semantische Perspektivenhinsichtlich <strong>de</strong>r Modalpartikeln auf: Die semasiologische Perspektive fragtnach <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Partikeln, während die onomasiologischePerspektive danach fragt, wie – also mit welchen Partikeln – bestimmteHandlungen o<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utungen ausgedrückt wer<strong>de</strong>n. Diese Arbeit istsemasiologisch ausgerichtet.Es gibt verschie<strong>de</strong>ne semantische Grundpositionen <strong>zur</strong> Be<strong>de</strong>utungsbeschreibung<strong>de</strong>r Modalpartikeln, <strong>de</strong>r be<strong>de</strong>utungsminimalistische und <strong>de</strong>rbe<strong>de</strong>utungsmaximalistische Ansatz stehen dabei im Vor<strong>de</strong>rgrund. Die eherinduktiv arbeiten<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utungsmaximalisten versuchen für je<strong>de</strong>Verwendungsvariante einer Modalpartikel eine eigene Be<strong>de</strong>utungfestzulegen, die weitgehend <strong>de</strong>duktiv arbeiten<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utungsminimalistenversuchen hingegen für je<strong>de</strong> Modalpartikel eine Grund- o<strong>de</strong>r Gesamtbe<strong>de</strong>utungfestzulegen. „Minimalistische Ansätze stellen eine Ableitungsbeziehungzwischen Be<strong>de</strong>utungsvarianten o<strong>de</strong>r einer Modalpartikel undihren Heterosemen her. [...] Der Vorteil be<strong>de</strong>utungsmaximalistischerAnsätze wie<strong>de</strong>rum besteht darin, dass sie <strong>de</strong>n Facettenreichtum <strong>de</strong>rBe<strong>de</strong>utungen auch einzelner Partikelvarianten im Detail erfassen können“(Diewald/ Kresic 2011: 89). In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit wer<strong>de</strong>n sowohlminimalistische als auch maximalistische Ansätze verwen<strong>de</strong>t, um einerseits<strong>de</strong>n kontextuellen Faktoren und an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>m vielfältigenBe<strong>de</strong>utungsspektrum <strong>de</strong>r Modalpartikeln gerecht zu wer<strong>de</strong>n.Der Beschreibung <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung von Modalpartikeln in Gesprächenist bisher <strong>de</strong>r größte Teil <strong>de</strong>r Forschung gewidmet wor<strong>de</strong>n. Modalpartikelntragen keine bzw. kaum eine <strong>de</strong>notative Be<strong>de</strong>utung, d. h. sie referieren nichtauf Objekte o<strong>de</strong>r Sachverhalte <strong>de</strong>r außersprachlichen Wirklichkeit. Auf <strong>de</strong>rsyntaktischen Ebene sind sie entbehrlich, <strong>de</strong>nn sie können weggelassenwer<strong>de</strong>n, ohne das <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong> Satz ungrammatisch wird (Jiang 1994:26). Krivonosov (1963: 56) ordnete die Modalpartikeln <strong>de</strong>n Synsemantikazu, ihre Be<strong>de</strong>utung wird also erst im Satzzusammenhang <strong>de</strong>utlich. DieFrage, ob Modalpartikeln eine selbstständige lexikalische Be<strong>de</strong>utungbesitzen, ist bis heute ein Diskussionsgegenstand unter <strong>de</strong>n Linguisten (vgl.Heggelund 2001: 34). Hätten sie keinerlei lexikalische Be<strong>de</strong>utung, wärenpartikelhaltige Sätze mit ihren partikelfreien Varianten synonym. Wenn manbei<strong>de</strong> Varianten gegenüberstellt, kann diese Ansicht jedoch nichtvorbehaltlos stehen bleiben:(3a) „Du spinnst wohl“, nörgelte sie missmutig.(3b) „Du spinnst“, nörgelte sie missmutig.251


(4a) Diese Frage soll einer mal beantworten.(4b) Diese Frage soll einer beantworten.(5a) Wollen sie etwa auch?(5b) Wollen sie auch?(6a) Mensch, das hättest doch eigentlich du sagen sollen!(6b) Mensch, das hättest du sagen sollen!(7a) Ich kriege eben nie, was ich will.(7b) Ich kriege nie, was ich will.(8a) Du glaubst doch wohl nicht, dass mich <strong>de</strong>r Name Pariseinschüchtern kann.(8b) Du glaubst doch nicht, dass mich <strong>de</strong>r Name Paris einschüchternkann.Modalpartikeln sind eine selbstständige Wortart mit subjektivmodalerBe<strong>de</strong>utung für <strong>de</strong>n ganzen Satz. Die Be<strong>de</strong>utungserschließung muss<strong>de</strong>n kontextuellen Rahmen – also die pragmatischen, außersprachlichenBedingungen eines größeren Handlungszusammenhangs – miteinbeziehen,<strong>de</strong>nn die formale Sprachdimension ist für eine Analyse nicht ausreichend(vgl. Jiang 1994: 60).2. Funktionsvarianten <strong>de</strong>r ModalpartikelnDie <strong>de</strong>utschen Modalpartikeln besitzen zahllose Funktionsvarianten, andieser Stelle wer<strong>de</strong>n nur einige Beispiele gezeigt:Beispiel (9a) kann als neutrale Frage aufgefasst wer<strong>de</strong>n, während es sich bei(9b) um eine rhetorische Frage han<strong>de</strong>lt:(9a) Wem scha<strong>de</strong>t ein Picknick?(9b) Wem scha<strong>de</strong>t schon ein Picknick?In semantischer Hinsicht kennzeichnet doch Adversativität. Beispiel(10a) kann wie<strong>de</strong>r als normale Frage gewertet wer<strong>de</strong>n, während die Frage(10b) <strong>de</strong>utlich eindringlicher formuliert ist und eine perlokutionäreKomponente mitschwingt (vgl. Weydt 1983: 9):(10a) Du kommst mit?(10b) Du kommst doch mit?Die Modalpartikel bloß in (11b) verstärkt ganz offensichtlich die252


illokutive Kraft (dringen<strong>de</strong> Empfehlung):(11a) Ach, halt <strong>de</strong>in Schandmaul!(11b) Ach, halt bloß <strong>de</strong>in Schandmaul!Bei bloß und nur ist <strong>de</strong>r Satztyp für die unterschiedliche illokutiveKraft sehr wichtig. Sie kommen in W-Fragesätzen, W-Ausrufesätzen, inWunschsätzen und in Auffor<strong>de</strong>rungssätzen vor. In W-Fragesätzen, W-Ausrufesätzen und in Wunschsätzen sind bloß und nur synonym, inAuffor<strong>de</strong>rungssätzen sind sie es jedoch nicht, vor allem wenn bloß betontist:(12a) (…) aber komm ihm bloß [bloß] nicht zu nahe!(12b) (…) aber komm ihm nur nicht zu nahe.Zifonun et al. (1997: 1217) benennen die unterschiedliche illokutiveKraft folgen<strong>de</strong>rmaßen:Bloß ist in Auffor<strong>de</strong>rungssätzen nur am Platz, wenn die Auffor<strong>de</strong>rung an einePerson gerichtet ist, von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Sprecher annimmt, daß [sic] sie das Gewünschteohne seine Auffor<strong>de</strong>rung nicht täte. Im Gegensatz dazu kennzeichnet nur eineAuffor<strong>de</strong>rung als Erlaubnis, das heißt, <strong>de</strong>r Sprecher geht davon aus, daß [sic] <strong>de</strong>rAdressat ohnehin dazu neigt, das Gewünschte zu tun, und lediglich einer Erlaubniso<strong>de</strong>r einer Ermunterung bedarf.Ein betontes ja hat in diesem Fall dieselbe Funktion wie ein betontesbloß (Drohung), ein unbetontes bloß kann hingegen noch als Warnungverstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n:(12c) (…) aber komm ihm ja nicht zu nahe.Vielleicht und aber können verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, um „das Erstaunen<strong>de</strong>s Sprechers über <strong>de</strong>n geäußerten Sachverhalt kenntlich zu machen“(Hentschel 1986: 4):(13) Die Kollegen haben vielleicht gestaunt!(14) Das ist aber schön!Etwa im Fragemodus ist hinsichtlich <strong>de</strong>r Selbstoffenbarungsseite(Schulz von Thun: Die vier Seiten einer Nachricht) interessant. Etwa zeigt,253


dass <strong>de</strong>r Fragen<strong>de</strong> <strong>de</strong>n erfragten Sachverhalt als unerwünscht kennzeichnet(vgl. Weydt 1983: 11):254(15) Er will Sie doch nicht etwa verheiraten?Die Höflichkeitsleistung <strong>de</strong>r Modalpartikel mal liegt laut Stolt(1979: 481) darin, dass „es, zusammen mit <strong>de</strong>r Intonationsführung <strong>de</strong>nCharakter <strong>de</strong>s Imperativs vom Befehl <strong>zur</strong> Auffor<strong>de</strong>rung hin mil<strong>de</strong>rt“:(16a) Befehl: Wer<strong>de</strong>n Sie genauer!(16b) Auffor<strong>de</strong>rung: Wer<strong>de</strong>n sie mal genauer!(16c) Höfliche Auffor<strong>de</strong>rung: Wer<strong>de</strong>n Sie bitte mal genauer!Der Zeitpunkt <strong>de</strong>r Ausführung <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung wird durch dieModalpartikel mal nur scheinbar <strong>de</strong>m Ermessen <strong>de</strong>s Adressaten überlassen.Die Höflichkeitsleistung von mal ist also rein sprachlich-formal. Beifolgen<strong>de</strong>m Beispiel fehlt <strong>de</strong>r Zeitbezug hingegen, allerdings ist es alsGrenzfall zwischen Zeitadverbalie und Modalpartikel zu werten:(17) Ruf doch mal an!An dieser Stelle könnten noch viele an<strong>de</strong>re Funktionsvarianten <strong>de</strong>rModalpartikeln aufgezeigt wer<strong>de</strong>n, aber dies wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Rahmen dieserArbeit sprengen. Sehr ausführliche Beschreibungen <strong>de</strong>r einzelnen Modalpartikelnfin<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>r IDS-Grammatik (1997) und bei Weydt:Partikeln und Interaktion (1983).3. Modalpartikeln in DialogenModalpartikeln sind ein be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s Charakteristikum <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschenSprache und zu ihrer Erforschung wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Regel die Sprechakttheorieund die Gesprächsanalyse herangezogen, <strong>de</strong>nn sie wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>rmündlichen Kommunikation häufiger eingesetzt als in <strong>de</strong>r Schriftsprache.Modalpartikeln beziehen sich in pragmatischer Hinsicht auf Einstellungen,Vorwissen, Situations- und Kontextvoraussetzungen, die Art <strong>de</strong>r Sprecher-Hörer-Beziehung (Rollenverständnis) und auf die durch <strong>de</strong>n Sprechaktintendierten Folgen. Sie sind Ausdruck von Erstaunen, impliziertenZurückweisungen und Behauptungshandlungen, indirekten Vorwürfen,Erwartungen, Nichtbefolgen eines vorangegangenen Ratschlags u. v. m.


Zimmermann (1981: 112-113) bezeichnet die Modalpartikeln alsin<strong>de</strong>xikalische Ausdrücke, da sie immer eine pragmatische Beziehungausdrücken und „<strong>de</strong>iktisch auf interaktionelle und psychische Konstituenten<strong>de</strong>r Sprechsituation verweisen.“ Sie haben somit bei <strong>de</strong>r Interaktion sowohlauf <strong>de</strong>r inhaltlichen (Textverknüpfung) als auch auf <strong>de</strong>r personalen Ebeneeine wichtige Funktion. Modalpartikeln dienen also nicht nur dazu, dieEinstellung <strong>de</strong>s Sprechers zu <strong>de</strong>m, was er gesagt hat, mitzuteilen, son<strong>de</strong>rnvor allem dazu, die Einstellungen <strong>de</strong>s Sprechers auf erwartete Reaktionenvom Hörer (meistens bei rhetorischen Fragen) zu zeigen (vgl. Jiang 1994:48). „Die Interaktionsbeziehung wird dabei jedoch nicht zum Thema <strong>de</strong>rÄußerung gemacht, son<strong>de</strong>rn bleibt [...] im präsuppositionalen Bereich.Nichts<strong>de</strong>stoweniger <strong>de</strong>finiert sie damit aber auch implizit dieInteraktionsbeziehung“ (Zimmermann 1981: 114).Wodak (1983: 205) arbeitete die interaktionelle Funktion <strong>de</strong>rModalpartikeln anhand <strong>de</strong>r Beziehung von Müttern und Töchtern heraus, sieuntersuchte dazu Aufsätze zum Thema Meine Mutter und ich. Sie stelltefest, dass die Verwendung von Modalpartikeln von psychologischen undsoziologischen Faktoren <strong>de</strong>s Sprechers abhängig ist:Bei repressivem Erziehungsstil, wie auch bei ambivalenter bzw. negativerMutterbeziehung traten Partikeln viel frequenter auf als bei liberaler Erziehung undpositiver Mutterbeziehung. Dies mag v. a. drei Grün<strong>de</strong> haben: Gefühle ambivalenterNatur drücken sich notwendigerweise mit Hilfe von Partikeln aus; außer<strong>de</strong>m sinddirekte Angriffe auf die Mutter erziehungsberechtigt tabuisiert. Daher dienenPartikeln in solchen Fällen auch <strong>zur</strong> Abschwächung negativer Gefühle o<strong>de</strong>rAussagen.Auf <strong>de</strong>r Inhaltsebene dienen die Modalpartikeln als Orientierungshilfen,d. h. die Interaktanten können sich mit Hilfe von Modalpartikeln, diesich auf die Einstellung <strong>de</strong>s Gesprächspartners beziehen, vergewissern, obein gemeinsamer Gesprächskonsens vorhan<strong>de</strong>n ist. Darüber hinausermöglichen sie <strong>de</strong>n Gesprächsteilnehmern einen Rückgriff auf einvorangegangenes Stadium <strong>de</strong>s Gespräches, in<strong>de</strong>m sie Modalpartikelnverwen<strong>de</strong>n, die sich auf das Vorwissen <strong>de</strong>s Gesprächspartners beziehen. Sokann eine „getätigte Äußerung in <strong>de</strong>n aktuellen situativen Kontext „<strong>de</strong>sGesprächs eingebun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n und gewährleistet somit einenreibungslosen und störungsfreien Gesprächsverlauf“ (Ankenbrand 2006: 1).Die Partikeln haben also neben <strong>de</strong>r konversationellen auch eineinteraktionsstrategische Funktion, <strong>de</strong>nn sie ordnen eine getätigte Äußerungin <strong>de</strong>n Interaktionszusammenhang ein.255


Jiang (1994: 88) hat vor allem die Polyvalenz <strong>de</strong>r Modalpartikelnauf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Gesprächsanalyse untersucht und festgestellt, dass sie alsSteuerungsmittel bei dialogaufrechterhalten<strong>de</strong>n Steuerungsakten dienen. Sieinszenieren auf <strong>de</strong>r Beziehungsebene zwischen <strong>de</strong>m Sprecher und <strong>de</strong>mHörer einen kurzen Verständigungsprozess, „obwohl sie sich kaum auf <strong>de</strong>nSachverhalt beziehen“:Hierbei kann <strong>de</strong>r Sprecher z. B. mit <strong>de</strong>r Modalpartikel ja bzw. doch <strong>de</strong>n Hörer aufsein Vorwissen für <strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> vermittelten Sachverhalt hinweisen. Mit <strong>de</strong>nModalpartikeln doch, etwa, nicht, schon usw. kann <strong>de</strong>r Sprecher die Bestätigungvom Hörer erheischen, die <strong>de</strong>r Vermutung <strong>de</strong>s Sprechers entsprechen. DurchVerwendung <strong>de</strong>r unterschiedlichen Modalpartikeln kann <strong>de</strong>r Sprecher sogar einebejahen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r verneinen<strong>de</strong> Bestätigung vorstrukturieren.Bejahen<strong>de</strong> Hörersignale erheischend:(18) Soweit waren wir doch noch nicht, o<strong>de</strong>r?(19) Ihr habt doch Fahrrä<strong>de</strong>r hier?(20) War doch schön heute Nacht, nicht Doris?(21) Ist sie <strong>de</strong>nn nicht verliebt?(22) Lässt sich <strong>de</strong>nn so etwas [...] verfilmen?Verneinen<strong>de</strong> Hörersignale erheischend:(23) Ja meinst du <strong>de</strong>nn, ich wür<strong>de</strong> mir so etwas aus<strong>de</strong>nken?!(24) Wohl aus <strong>de</strong>r Mülltonne, was?(25) Daran soll ich wohl schuld sein, o<strong>de</strong>r?(26) Sie haben das wohl doch nicht (...)?!(27) Mich etwa?(28) Hast du etwa alles gehört?(29) Was habe ich <strong>de</strong>nn jetzt schon wie<strong>de</strong>r falsch gemacht?Die Modalpartikel ja gibt Hinweise auf die Vorkenntnisse <strong>de</strong>s Hörers:(30) Ich hab’s dir ja gesagt!(31) Ich hab es ja gesagt, ich bin nicht gut in Konversation.In bei<strong>de</strong>n Fällen scheint offensichtlich an ein früheres Gespräch erinnert zuwer<strong>de</strong>n.256


(32) Man weiß ja nie, was man vergisst.In diesem Fall drückt die Modalpartikel eine Lebenserfahrung aus.(33) Das ist es ja eben.Hier besitzt die Partikel ja einen situativen Kontext. DieModalpartikel ja signalisiert eine Verständigung über das Vorwissen, dieModalpartikel doch hat eine ähnliche Funktion, darüber hinaus zeigt sieaber auch eine gewisse Diskrepanz zwischen <strong>de</strong>m Vorwissen und <strong>de</strong>mSachverhalt (vgl. Jiang 1994: 89).(34) Hat er doch gar nicht gemerkt.Jiang untersuchte auch die Modalpartikeln als Steuerungsmittel beidialogthematischen Steuerungsakten. Gesprächszüge, die die Funktionhaben <strong>de</strong>n Gesprächspartner zu einer bestimmten verbalen Handlung zubewegen, bezeichnet sie als initiieren<strong>de</strong> Akte. Neben verschie<strong>de</strong>nen an<strong>de</strong>renSprachmitteln kommen bei diesen Steuerungsakten in Dialogen auch wie<strong>de</strong>rdie Modalpartikeln, die auf <strong>de</strong>r Beziehungsebene wirken, zum Einsatz. Siekönnen einen Konsens, einen Teilkonsens o<strong>de</strong>r einen Dissens ausdrücken.Die initiieren<strong>de</strong> Wirkung <strong>de</strong>r Modalpartikeln ist vor allem beiÄußerungen mit einem Auffor<strong>de</strong>rungscharakter erkennbar, die häufig alsFragesatz formuliert sind. Die Modalpartikel <strong>de</strong>nn taucht oft bei einerwie<strong>de</strong>rholten Frage als Dissens (negativer respondieren<strong>de</strong>r Zug) auf, da <strong>de</strong>mGesprächspartner die gegebene Antwort nicht ausreicht. Die Modalpartikelüberhaupt führt das Gespräch im Gegensatz zu <strong>de</strong>nn in eine ganz neueRichtung (Jiang 1994: 90-92).(35) A Peter zieht nach Berlin?B Nein, er zieht woan<strong>de</strong>rs hin.A1 Wohin <strong>de</strong>nn?A2 Warum zieht er überhaupt weg?Die Modalpartikel doch besitzt eine konnektive Funktion und zeigtgleichzeitig einen Wi<strong>de</strong>rspruch zu <strong>de</strong>r vorangegangenen verbalen o<strong>de</strong>rnichtverbalen Handlung:(36) A Entschuldige, die Lilien gefallen mir nicht so gut.257


B Aber du magst doch Lilien?A Ja, aber nicht die Roten.(37) A Warum isst du <strong>de</strong>nn nichts? Ich habe diesmal doch extrakeinen Knoblauch genommen!B Ja, aber dafür ist jetzt Ingwer im Essen, <strong>de</strong>n mag ich auch nicht.4. SchlussfolgerungenLernern <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache, welche die Verwendung <strong>de</strong>r Modalpartikeln(noch) nicht beherrschen, fehlt somit die Möglichkeit einen Teil dieserkommunikativen Handlungen auszuführen. Laut Steinmüller könnendadurch Aversionen provoziert wer<strong>de</strong>n, welche die Akzeptabilität <strong>de</strong>rÄußerungen <strong>de</strong>utlich vermin<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r sogar ganz verhin<strong>de</strong>rn, auch wenndie Verständlichkeit gegeben ist. Steinmüller (1981: 143-144) merkt an, dassauch das Fehlen <strong>de</strong>r kommunikationsstrategischen Funktion <strong>de</strong>rModalpartikeln problematisch ist, <strong>de</strong>nn:258Modalpartikeln wie doch, ja, eben verweisen auf o<strong>de</strong>r postulieren einentatsächlichen o<strong>de</strong>r vorgegebenen Konsens und versuchen dadurch eineLegitimierung <strong>de</strong>r Äußerung, die so <strong>de</strong>r argumentativen o<strong>de</strong>r sonstigen Begründungnicht mehr bedarf. Das Fehlen dieser Kommunikationsstrategie durch die fehlen<strong>de</strong>Verwendung von Partikeln in <strong>de</strong>r kommunikativen Tätigkeit von Auslän<strong>de</strong>rn macht<strong>de</strong>ren sprachliche Äußerungen zu jeweils individuellen Meinungsäußerungen, <strong>de</strong>rPlausibilität und Legitimierung für je<strong>de</strong>n einzelnen Fall erst hergestellt wer<strong>de</strong>nmuss. Dabei ist immer wie<strong>de</strong>r die Verstehensbereitschaft <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschenGesprächspartner erfor<strong>de</strong>rlich. Dies be<strong>de</strong>utet eine Erschwerung <strong>de</strong>rkommunikativen Tätigkeit.Gera<strong>de</strong> die sogenannten All-Äußerungen und Soll-Äußerungen (z. B.es ist doch so, das zeigt doch, man muss doch, wir dürfen ja nicht) inDiskussionen, mit <strong>de</strong>nen sich Sprecher <strong>de</strong>s Deutschen auf soziale Normeno<strong>de</strong>r Handlungsmaximen berufen können und diese nicht mehr begrün<strong>de</strong>nmüssen, fehlen <strong>de</strong>m Deutschlernen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r die Verwendung <strong>de</strong>rModalpartikeln nicht beherrscht. Er kann also nicht am Gruppenkonsensteilhaben und gerät – gera<strong>de</strong> bei Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen – leicht in dieOpposition <strong>zur</strong> <strong>de</strong>utschen Sprachgemeinschaft. Die Verwendung vonModalpartikeln hat also wenig mit <strong>de</strong>r Verständlichkeit <strong>de</strong>r getätigtenÄußerungen zu tun, son<strong>de</strong>rn vielmehr mit ihrer Akzeptabilität (durch die


Einbindung in <strong>de</strong>n Gruppenkonsens), die sich wie<strong>de</strong>rum stark auf dieVerständlichkeit auswirkt.LiteraturAnkenbrand, Katrin (2006): Modalpartikeln und Höflichkeit. In: NorbertFries/ Christiane Fries (Hrsg.): Deutsche Grammatik imeuropäischen Dialog. Beiträge zum Kongress Krakau 2006,Krakau: Online-Publikation, 1-8. http://krakau2006.anaman.<strong>de</strong>/[11.09.2012].Diewald, Gabriele/ Kresić, Marijana (2010): „Ein übereinzelsprachlicheskontrastives Beschreibungsmo<strong>de</strong>ll für Partikelbe<strong>de</strong>utungen“. In:Linguistik online 44, 4/2010. http://www.linguistik-online.<strong>de</strong>/44_10/diewaldKresic.html [13.09.2012].Eisenberg, Peter (2006): Der Satz. Grundriss <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Grammatik,Stuttgart/ Weimar: J. B. Metzler.Fandrych, Christian ( 2 2010): Grundlagen <strong>de</strong>r Linguistik im Fach Deutschals Fremd- und Zweitsprache. In: Hans-Jürgen Krumm/ ChristianFandrych/ Britta Hufeisen/ Claudia Riemer (Hrsg.): Deutsch alsFremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch, Berlin[u. a.]: <strong>de</strong> Gruyter, 173-189.Heggelund, Kjell T. (2001): „Zur Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Modalpartikelnin Gesprächen unter beson<strong>de</strong>rer Berücksichtigung <strong>de</strong>r Sprechakttheorieund <strong>de</strong>r DaF-Perspektive“. In: Linguistik online, 9, 2/2001,Deutsch als Fremdsprache. http://www.linguistik-online.<strong>de</strong>/9_01/Heggelund.html [26.08.2012].Helbig, Gerhard ( 2 1988): Lexikon <strong>de</strong>utscher Partikeln, Leipzig:Enzyklopädie.Hentschel, Elke (1983): Partikeln und Wortstellung. In: Harald Weydt(Hrsg.): Partikeln und Interaktion, Tübingen: Niemeyer, 46-53.Jiang, Minhua (1994): Deutsche Modalpartikeln als Lehr- undLernproblem im Fach Deutsch als Fremdsprache für Auslän<strong>de</strong>rmit didaktischen Überlegungen, Berlin u. a.: Peter Lang.Krivonosov, Aleksej (1963): Die modalen Partikeln in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschenGegenwartssprache, Diss. Berlin.Neuner, Gerhard ( 5 2007): Vermittlungsmetho<strong>de</strong>n: Historischer Überblick.In: Karl-Richard Bausch/ Herbert Christ/ Werner Hüllen/ Hans-JürgenKrumm (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht, Stuttgart/259


Tübingen: Francke, 225-234.Stolt, Birgit (1979): Ein Diskussionsbeitrag zu mal, eben, auch, doch auskontrastiver Sicht (Deutsch-Schwedisch) In: Harald Weydt (Hrsg.):Die Partikeln <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache, Berlin/ New York: <strong>de</strong> Gruyter,479-487.Reiners, Ludwig (1967): Stilkunst. Ein Lehrbuch <strong>de</strong>utscher Prosa,München: Beck.Reinmann-Rothmeier, Gabi/ Mandl, Heinz (1997): Lernen in Unternehmen.Von einer gemeinsamen Vision zu einer effektivenFör<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Lernens, LMU München: Lehrstuhl für EmpirischePädagogik (Forschungsbericht Nr. 80).Steinmüller, Ulrich (1981): Akzeptabilität und Verständlichkeit: ZumPartikelgebrauch von Auslän<strong>de</strong>rn. In: Harald Weydt (Hrsg.):Partikeln und Deutschunterricht. Abtönungspartikeln für Lerner<strong>de</strong>s Deutschen, Hei<strong>de</strong>lberg: Julius Groos, 137-148.Weydt, Harald (Hrsg.) (1981): Partikeln und Deutschunterricht.Abtönungspartikeln für Lerner <strong>de</strong>s Deutschen, Hei<strong>de</strong>lberg: JuliusGroos.Weydt, Harald (Hrsg.) (1983): Partikeln und Interaktion, Tübingen:Niemeyer.Wodak, Ruth (1983): Eigentlich habe ich meine Mutter sehr gerne ... Sozioundpsycholinguistische Überlegungen <strong>zur</strong> Partikelverwendung. In:Harald Weydt (Hrsg.): Partikeln und Interaktion, Tübingen:Niemeyer, 203-212.Zifonun, Gisela et al. (1997): Grammatik <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache (IDS-Grammatik), Berlin [u. a.]: <strong>de</strong> Gruyter.Zimmermann, Klaus (1981): Warum sind Modalpartikeln ein Lernproblem?In: Harald Weydt (Hrsg.): Partikeln und Deutschunterricht.Abtönungspartikeln für Lerner <strong>de</strong>s Deutschen, Hei<strong>de</strong>lberg: JuliusGroos, 111-122.260


Adriana IonescuBukarestBe<strong>de</strong>utungswan<strong>de</strong>l im Rumänischen: Freund o<strong>de</strong>r Feind <strong>de</strong>rrumänischen Deutschlernen<strong>de</strong>n?Abstract. This paper explores the perpetual phenomenon of lexical interference seen in thecontext of a new dimension of multilingualism. In today’s Europe many foreign languagelearners are already bilingual or multilingual. This is the case also for many Romanianlearners of German as a foreign language who are prone to the influence of English, usuallyas their first foreign language. This situation is fairly new in <strong>de</strong>aling with lexical influences:for many years it was mainly the mother tongue of the learner that constituted a source oflexical interference. Today one has to take English into account as a language exercising adouble pressure on the newly acquired German vocabulary of the foreign speaker: a directpressure due to the exposure of many learners to English and an indirect pressure caused bythe standardization and spreading of Eurospeak within the EU. Given these new influencesI ask questions and hope to provi<strong>de</strong> answers aiming at ensuring a certain precision andtherefore authentic competence in German vocabulary acquisition.Keywords: Interference, false friends, Eurospeak, multilingualismProblematik und ursprüngliche RecherchefragenDie rumänischen Fremdsprachenlernen<strong>de</strong> befin<strong>de</strong>n sich heute, so wie diemeisten Fremdsprachenlernen<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rer europäischer Nationalitäten auch,in einer wesentlich verän<strong>de</strong>rten Lage im Vergleich zu jener von vor einigenJahrzehnten. Dieser neue Lernkontext umfasst verschie<strong>de</strong>ne Aspekte, davonsind einige relativ neu in <strong>de</strong>r didaktischen Problematik. Schon zu diesemZeitpunkt muss in meinen Ausführungen geklärt wer<strong>de</strong>n, dass ich dieseAspekte aus allgemeiner Perspektive betrachte, solange das Ziel dieserArbeit ist, einige generelle Ten<strong>de</strong>nzen und Entwicklungen zu notieren und<strong>de</strong>ren Konsequenzen für <strong>de</strong>n Wortschatzunterricht festzuhalten und nichtindividuelle Fallstudien zu diskutieren.Folglich beziehe ich mich auf Deutschlernen<strong>de</strong>n mit Rumänisch alsMuttersprache, in<strong>de</strong>m ich bewusst die sozio-linguistischen Spezifikavermei<strong>de</strong>. Auch wenn die rumänischen Deutschlernen<strong>de</strong>n eine höchstheterogene Gruppe darstellen, in welcher das Alter, <strong>de</strong>r kulturelle undsprachliche Hintergrund und die Lernziele stark variieren können, fin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>rDeutschunterricht heute in einem allgemeinen Rahmen statt, wo„klassische“ (z. B. die natürliche Hybridität <strong>de</strong>r Ausgangs- und Zielsprache)261


sowie jüngere Umstän<strong>de</strong> i<strong>de</strong>ntifiziert wer<strong>de</strong>n können.Als zeitlichen Rahmen ziehe ich die unscharf bestimmte Etappe nach<strong>de</strong>r Reform <strong>de</strong>s Unterrichtswesens in Rumänien in Betracht, ungefähr dieZeitspanne nach <strong>de</strong>m Jahre 2000, einem Zeitpunkt, als <strong>de</strong>rFremdsprachenunterricht und die Unterrichtsmaterialien eine von <strong>de</strong>n sichverän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Zeiten gefor<strong>de</strong>rte Mo<strong>de</strong>rnisierung erlebt hatten. Gleichzeitigwählte ich diese Zeitspanne in <strong>de</strong>r Bewusstheit, dass nach <strong>de</strong>m Jahre 2000Rumänien sich auf allen Ebenen auf <strong>de</strong>n Beitritt <strong>zur</strong> EU vorbereitet hat, wasauch voraussetzte, dass das Universitätssystem – unter an<strong>de</strong>ren –Sprachfachleute (Übersetzer, Dolmetscher, Fachleute im Bereich <strong>de</strong>rDidaktik <strong>de</strong>r Translationswissenschaft), die im Rahmen <strong>de</strong>r EU-Aktivitätenund -Institutionen benötigt wur<strong>de</strong>n, aus- und fortbil<strong>de</strong>n musste.In diesem Kontext stellen sich gewisse Fragen, die für dieRechercheproblematik Relevanz aufweisen:• Welche (neue) Faktoren beeinflussen die Wortschatzarbeit imDeutschunterricht?• Welche Konsequenzen lassen sich in diesem neuen Rahmeni<strong>de</strong>ntifizieren?• Wie schwerwiegend sind diese Konsequenzen für die lexikalischenKompetenzen <strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong>n?• Können diese Konsequenzen von <strong>de</strong>r Lehrkraft vorweggenommen undkontrolliert wer<strong>de</strong>n?• Neue zu berücksichtigen<strong>de</strong> Faktoren im Kontext <strong>de</strong>r WortschatzarbeitDie Antwort auf Frage 1 beginnt eigentlich mit einem „klassischen“Faktor, <strong>de</strong>r permanent präsent ist, auch wenn er nicht immer konkret gespürtwird: die Hybridität <strong>de</strong>r Sprachen. Im Falle <strong>de</strong>r für diese Rechercherelevanten Sprachen – Deutsch und Rumänisch – ist <strong>de</strong>rHybridisierungsgrad beachtlich und wird dadurch verstärkt, dass Deutschund Rumänisch auch historisch sich in einem längeren Sprachkontaktbefan<strong>de</strong>n. Dieser klassische Faktor ist die objektive Quelle <strong>de</strong>rzwischensprachlichen Interferenz und agiert zusammen mit einem „neuen“Faktor, <strong>de</strong>r steigen<strong>de</strong>n Mehrsprachigkeit <strong>de</strong>r Europäer im Allgemeinen und<strong>de</strong>r Rumänen im Beson<strong>de</strong>ren. Die Mehrsprachigkeit wird durch weiteresoziologisch aber auch linguistisch wichtige Faktoren geför<strong>de</strong>rt: die erhöhteMobilität <strong>de</strong>r Personen, <strong>de</strong>r Unternehmen und <strong>de</strong>r (schriftlichen)Dokumente, die Anfor<strong>de</strong>rungen eines internationalen, europäischen,folglich mehrsprachigen Arbeitsmarktes, die heute insgesamt größereFlexibilität im beruflichen Bereich.Auch die Tatsache, dass die Lernen<strong>de</strong>n oft schon eine an<strong>de</strong>re262


Fremdsprache können, kann als relativ neuer Faktor gesehen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nndie Sprachenlage an Schulen und Universitäten erlaubt ein breiteresAngebot, was die Fremdsprachen betrifft; das Curriculum umfasst zweiFremdsprachen als Reaktion auf <strong>de</strong>n Erwartungshorizont <strong>de</strong>sArbeitsmarktes, wo die Konkurrenz und die benötigte Dynamik dieBeherrschung zweier Fremdsprachen voraussetzen. Für die Teilnehmer amUnterrichtsprozess be<strong>de</strong>uten die oben erwähnten Faktoren eine erhöhteInterferenzgefahr.Dieser neue Faktorensatz kommt zu <strong>de</strong>m sprachinternenInterferenzhintergrund hinzu; auch wenn Deutsch und Rumänisch zweiunterschiedlichen Sprachfamilien angehören und systemisch getrennt voneinan<strong>de</strong>r sind, verbin<strong>de</strong>t sie einerseits die innerliche Hybridität, an<strong>de</strong>rerseits<strong>de</strong>r historische und kulturelle Kontakt. Die Hybridität <strong>de</strong>s Rumänischenwird z. B. nicht nur von vielen Rumänisten, son<strong>de</strong>rn auch von Germanistenerwähnt, die sich mit zwischensprachlichen Phänomenen beschäftigt haben,z. B. Lăzărescu (2006), Bezug nehmend auf Taglianini (1998): „Was <strong>de</strong>mRumänischen jedoch seine beson<strong>de</strong>re Gestalt und Eigentümlichkeit verleiht,ist vorwiegend die Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Adstrate und Superstrate, die auf esgewirkt haben.“ (Taglianini 1998, S. 298 zitiert nach Lăzărescu 2006: 95)Diachronisch gesehen weist das heutige Rumänisch vielfacheHybridisierungsschichten auf (Einflüsse aus <strong>de</strong>m Slawischen, Lateinischen,Türkischen, Griechischen, Deutschen, Ungarischen und Jiddischen, die sichteilweise zeitlich und räumlich überlappen), synchronisch scheint es eineweitere Mo<strong>de</strong>rnisierungsphase durch Neulatinisierung und Anglisierungunter <strong>de</strong>m (positiven) Druck <strong>de</strong>s EU-Kontexts, wo die Arbeits- undVerhandlungssprachen überwiegend Französisch und Englisch sind, erlebtzu haben.Der heutige Einfluss <strong>de</strong>s EurospeaksDie Notwendigkeit einer funktionalen gemeinsamen Sprache in <strong>de</strong>n EU-Institutionen hat das Rumänische ermutigt, Empfänger vielfacherinternationaler Begriffe zu wer<strong>de</strong>n, sei es für semantisch gewan<strong>de</strong>lteFremdwörter o<strong>de</strong>r für Neuschöpfungen <strong>de</strong>s EU-Jargons. Das Deutsche, soheftig auch die Debatte <strong>zur</strong> Sprachbehauptung und -bewahrung inDeutschland ist, erfährt die gleichen Ten<strong>de</strong>nzen. Im Folgen<strong>de</strong>n einebeschränkte Beispielsliste solcher neu geprägten Termini: ro.benchmarking/<strong>de</strong>. Benchmarking, ro. comitologie/<strong>de</strong>. Komitologie, ro.eurocrat/<strong>de</strong>. Eurokrat, ro. eurosceptic/<strong>de</strong>. Euroskeptiker, ro. Main-263


streaming/<strong>de</strong>. Mainstreaming, ro. subsidiaritate/<strong>de</strong>. Subsidiarität etc. Eineneue Semantik bekamen Wörter wie ro. a<strong>de</strong>rare/<strong>de</strong>. Beitritt, ro.comunitate/<strong>de</strong>. Gemeinschaft, ro. extin<strong>de</strong>re/<strong>de</strong>. Erweiterung, ro. mecanism(<strong>de</strong> stabilitate)/ <strong>de</strong>. (Stabilitäts)mechanismus, ro. tratat/<strong>de</strong>. Vertrag etc.Konsequenzen <strong>de</strong>s EurospeaksDie erste sofort sichtbare Folge dieser neuen sprachlichen Realität ist dieradikale Neu<strong>de</strong>finierung <strong>de</strong>r Sprachkompetenzen: Kommunikation –mündlich und schriftlich – soll gesichert wer<strong>de</strong>n, Grammatik, Stil,Rechtschreibung wer<strong>de</strong>n fast vollkommen <strong>zur</strong> Seite verschoben. DieDidaktik <strong>de</strong>r Fremdsprachen, min<strong>de</strong>stens für Nicht-Philologen, hat eineneue Pragmatismusstufe erreicht: Eurospeak ersetzt allmählich dieNationalsprachen <strong>de</strong>r EU. Ich beschränke mich hier auf ein einzigesmöglicherweise anfechtbares Beispiel, das diese Folge gut wi<strong>de</strong>rspiegelt: ro.trial ist ein Neologismus <strong>de</strong>r letzten Generation, <strong>de</strong>r dasselbe wie ro. „testclinic“/<strong>de</strong>. „klinische Studie“ heißen soll. Der Begriff hat sich in <strong>de</strong>rtechnischen Medizinersprache eingebürgert und konkurriert mit <strong>de</strong>mgleichlauten<strong>de</strong>n ro. trial „Dreizahl“, guter Freund <strong>de</strong>s <strong>de</strong>. Trial, aberfalscher Freund <strong>de</strong>s en. trial.Eine weitere Folge, die als Nebeneffekt <strong>de</strong>r ersten betrachtet wer<strong>de</strong>nkann, ist die beschleunigte Standardisierung eines beachtlichen Teils <strong>de</strong>rEurospeak-Terminologie, die die Rolle hat, diese gewünschte gemeinsameSprache in agreed language, in vereinbarter Ausdrucksweise zu verankern.Der heutige Einfluss <strong>de</strong>s EnglischenDass Englisch heute in vielen Bereichen die lingua franca ist, ist unstrittig.Die Fachliteratur hat bis jetzt <strong>de</strong>utliche Beweise dafür geliefert. Doch wer<strong>de</strong>ich mich hier nicht auf die reiche Kategorie <strong>de</strong>r Anglizismen imRumänischen o<strong>de</strong>r Deutschen im Allgemeinen beziehen, son<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>n Teilherausnehmen, <strong>de</strong>r für die spezifische Diskussion <strong>zur</strong> Interferenz im Falle<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschlernen<strong>de</strong>n Rumänen wichtig ist. Zu diesem Teil gehörenBeispiele, die aus zwei Wörterbüchern <strong>de</strong>r falschen Freun<strong>de</strong>Deutsch↔Englisch – Pascoe/Pascoe (1985) und Bennemann/Herting/Prause(1994) – ausgewählt und auf das Interferenzpotential mit <strong>de</strong>m Rumänischenanhand <strong>de</strong>r im Laufe meiner bisherigen Unterrichtserfahrung an <strong>de</strong>r Schule,an <strong>de</strong>r Hochschule und am Goethe Institut Bukarest gesammelten Vorfällevalidiert wur<strong>de</strong>n. So glauben viele rumänischen Lernen<strong>de</strong>, dass <strong>de</strong>. die264


Bildung das Gleiche wie en. building „Gebäu<strong>de</strong>“ wäre, <strong>de</strong>. fast verbin<strong>de</strong>nsie öfters mit en. fast, „schnell, rasch“, und sind meist in <strong>de</strong>n unterenLernstufen davon überzeugt, dass <strong>de</strong>. als mit en. as, „u. a. weil, wenn, wie“,und <strong>de</strong>. bald mit en. bald i<strong>de</strong>ntisch wären. Die Interferenzfälle mit <strong>de</strong>mEnglischen für die rumänischen Lernen<strong>de</strong>ngruppen kann man vereinfachendin zwei Unterkategorien teilen: die Lexeme, wo eine <strong>de</strong>utliche Interferenzmit <strong>de</strong>m Englischen stattfin<strong>de</strong>n kann und die, wo die rumänischen un<strong>de</strong>nglischen Lexeme wahre, mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen aber falsche Freun<strong>de</strong> sind.Zur ersten Untergruppe zählen Begriffe wie: <strong>de</strong>. bekommen/en. become, <strong>de</strong>.blamieren/en. to blame, <strong>de</strong>. blank/en. blank, <strong>de</strong>. clever/en. clever, <strong>de</strong>. <strong>de</strong>rFund/en. fund, <strong>de</strong>. das Gift/en. gift, <strong>de</strong>. die Mappe/en. map, <strong>de</strong>. <strong>de</strong>r Mist/en.mist „Nebel“, <strong>de</strong>. <strong>de</strong>r Mör<strong>de</strong>r/en. mur<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>. <strong>de</strong>r Pickel/en. pickle, <strong>de</strong>. <strong>de</strong>rPimpf/en. pimp, <strong>de</strong>. plump/en. plump, <strong>de</strong>. quittieren/en. to quit, <strong>de</strong>. dieRevision/en. revision etc.Die zweite Unterkategorie umfasst doppel<strong>de</strong>utige Interferenzfälle,nämlich die Situationen, wo man nicht mit Sicherheit die Fehlerquellei<strong>de</strong>ntifizieren kann (Rumänisch o<strong>de</strong>r Englisch). Aufgrund <strong>de</strong>r gleichenvereinfachen<strong>de</strong>n Logik kann man behaupten, Rumänisch sei stärker indiesem Interferenzverhältnis, nichts<strong>de</strong>stotrotz kann man einen Einfluss <strong>de</strong>sEnglischen nicht ganz ausschließen. Hierhin gehören Lexeme wie: <strong>de</strong>. dieAmbulanz/ro. ambulanță/en. ambulance, <strong>de</strong>. <strong>de</strong>r/das Biskuit/ro. biscuit/en.biscuit, <strong>de</strong>. brav/ro. brav/en. brave, <strong>de</strong>. <strong>de</strong>r Christ/ro. Cristos/en. Christ, <strong>de</strong>.<strong>de</strong>zent/ro. <strong>de</strong>cent/en. <strong>de</strong>cent, <strong>de</strong>. famos/ro. faimos/en. famous, <strong>de</strong>. fatal/ro.fatal/en. fatal etc.Divergenzen und Konvergenzen im Kontext <strong>de</strong>s Be<strong>de</strong>utungswan<strong>de</strong>lsAuf die Frage 4 in meiner Einführung (Kann man die Konsequenzen <strong>de</strong>sPhänomens kontrollieren?) kann eigentlich nur dann geantwortet wer<strong>de</strong>n,nach<strong>de</strong>m geklärt wor<strong>de</strong>n ist, wie „gravierend“ die Konsequenzen <strong>de</strong>sBe<strong>de</strong>utungswan<strong>de</strong>ls für <strong>de</strong>n Fremdsprachenunterricht sind.Zu diesem Zweck kehre ich kurz <strong>zur</strong>ück zu einigen <strong>de</strong>r Beispiele und stellemir die Frage: Wie „gravierend“ ist es, wenn Deutschlernen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>rFremdsprachler von Deutsch <strong>de</strong>. bald (ro. „(în) curând“) als en. bald inihren Textproduktionen benutzen? Wie gefährlich ist es für die schriftlicheo<strong>de</strong>r mündliche Kommunikation, dass mit <strong>de</strong>m Englischen formähnlicheAdjektive/Adverbien wie <strong>de</strong>. fast, fein, ö<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung ihrerenglischen falschen Freun<strong>de</strong> benutzt wer<strong>de</strong>n? Können Sätze wie (1) <strong>de</strong>. *Ichkomme so fast ich kann (I am coming as fast as I can) o<strong>de</strong>r (2) <strong>de</strong>. Er ist fast265


ums Leben gekommen (ro. *A murit repe<strong>de</strong>.) die Kommunikation stören?Das Fehlerausmaß kann abhängend von <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utungstruktur <strong>de</strong>sverwen<strong>de</strong>ten Lexems, vom Gesprächspartner, vom Kontextsatz sowie vomweiteren Kommunikationskontext variieren. In einem Kontext wie (2) istdie Missverständnisgefahr groß genug, um zu beweisen, dass falscheFreun<strong>de</strong> echte Stolpersteine <strong>de</strong>r Kommunikation sein können und folglicheine ernste Behandlung im Unterricht verdienen.Es muss ver<strong>de</strong>utlicht wer<strong>de</strong>n, dass nicht nur falsche Kognaten zu <strong>de</strong>nfalschen Freun<strong>de</strong>n gehören: es ist wahr, dass z. B. <strong>de</strong>. fast und ro. fast we<strong>de</strong>reine semantische Verbindung noch eine gemeinsame Etymologie miteinan<strong>de</strong>r zeigen. Diese mangeln<strong>de</strong> Verwandtschaft kann sogar als Hinweisfür <strong>de</strong>n Sprecher dienen, dass die Be<strong>de</strong>utungen <strong>de</strong>s Ausgangs- und <strong>de</strong>sZiellexems nicht ähnlich sein können.Auch Kognaten wie en. fine und <strong>de</strong>. fein haben leichtunterschiedliche Semantiken und Distributionsmerkmale, die möglicherweisezu fehlerhaftem Gebrauch führen, weil sie für <strong>de</strong>n Fremdsprachlernicht so einfach spürbar sind. In losen wie auch in (halb)festen Wendungensind die zwei nicht immer austauschbar: (3) <strong>de</strong>. fein geschnitten, klein aberfein, fein gemacht, fein verteilt. Für die rumänischen Lernen<strong>de</strong>n kompliziertsich die Be<strong>de</strong>utungsstruktur dieses Lexems <strong>de</strong>s Basiswortschatzes wegen<strong>de</strong>r Interferenz mit ro. fain, <strong>de</strong>r heute eine weitere Anwendung als imsiebenbürgischen Raum fin<strong>de</strong>t und von einer ursprünglich superlativenBe<strong>de</strong>utung zu einer allgemeineren gekommen ist. So heißt heute ro. (4) orochie faină (en. a fine dress, a beautiful dress) nicht unbedingt <strong>de</strong>. einfeines Kleid in <strong>de</strong>m Sinne von „dünn“ o<strong>de</strong>r „von sehr guter Qualität“.Anfängergruppen <strong>de</strong>r Germanistik an <strong>de</strong>r Universität Bukarest habenperiodisch durch ihre Übersetzungen und Textproduktionen (also sowohl inrezeptiver als auch in produktiver Phase) bestätigt, dass für sie <strong>de</strong>. <strong>de</strong>rFrie<strong>de</strong>n gleiche Be<strong>de</strong>utung wie en. freedom hat und dass die zwei Lexemesich kognitiv-semantisch fast überlappen: (5) <strong>de</strong>. im Frie<strong>de</strong>n leben wird fastimmer als ro. *a trăi in libertate (<strong>de</strong>. in Freiheit leben) übersetzt, während(6) <strong>de</strong>. Er kämpft für <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n. nur als ro. *El luptă pentru libertate (<strong>de</strong>.Er kämpft für die Freiheit.) verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann.Einen interessanten Fall stellt das Lexem <strong>de</strong>. die Mappe dar, worüberdie Lernen<strong>de</strong>n oft <strong>de</strong>nken, dass es en. map heiße. Auch wenn ro. mapăformell ähnlich und etymologisch verwandt mit <strong>de</strong>. die Mappe ist,interferiert das Deutsche als Fremdsprache 2 mit <strong>de</strong>m Englischen alsFremdsprache 1 bei vielen Rumänen, wahrscheinlich weil sie <strong>de</strong>r englischenSprache länger und intensiver als <strong>de</strong>m Deutschen ausgesetzt sind und wenn266


sie sich <strong>de</strong>ssen bewusst sind, dass sie eine Fremdsprache benutzen, dasEnglische eher im Vor<strong>de</strong>rgrund steht. <strong>de</strong>. (7) Zeig mir bitte die Mappe. wirdals ro. *Arată-mi harta (<strong>de</strong>. Zeig mir bitte die Landkarte.), <strong>de</strong>. (8) SuchenSie in <strong>de</strong>r Mappe. als ro. *Căutați pe hartă. (<strong>de</strong>. Suchen Sie auf <strong>de</strong>rLandkarte.) interpretiert. Missverständnisse wegen <strong>de</strong>r Interferenz mit <strong>de</strong>mEnglischen erwartet man auch im Falle von Wörtern wie <strong>de</strong>. Trubel/en.trouble, wo das <strong>de</strong>utsche Lexem eine positive Be<strong>de</strong>utung hat, <strong>de</strong>. <strong>de</strong>rMatsch/en. match, <strong>de</strong>. die Topik/en. topic und bei vielen an<strong>de</strong>ren mehr.Oft ist die Interferenz mit <strong>de</strong>m Englischen nicht <strong>de</strong>r einzigeStörfaktor im Suchverfahren nach Äquivalenzen. Bei einigen falschenFreun<strong>de</strong>n sind mehrfache simultane Interferenzfaktoren zu i<strong>de</strong>ntifizieren, sodass in diesen Fällen das Verwechslungsrisiko als höher einzuschätzen ist.Polysemie, Homonymie und Paronymie sind unterliegen<strong>de</strong> Phänomene <strong>de</strong>rFalsche-Freun<strong>de</strong>-Erscheinungen. Zur Illustrierung dieser Problematik eignetsich das Lexem <strong>de</strong>. <strong>de</strong>r Kitt, <strong>de</strong>nn hier spielt, auf <strong>de</strong>r einen Seite, dieformelle Ähnlichkeit mit <strong>de</strong>m en. kit (ein im Rumänischen immer öfterbenutzter Anglizismus), auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren, die doppelte Paronymie zwischen<strong>de</strong>m <strong>de</strong>. Kitt und <strong>de</strong>m neologischen <strong>de</strong>. <strong>de</strong>r/das Kit (auch aus <strong>de</strong>mEnglischen übernommen) und <strong>de</strong>m ro. chit („Kitt“) und ro. kit eine Rolle.Folglich kann in Abwesenheit <strong>de</strong>s Schriftbil<strong>de</strong>s eine Verwechslungzwischen <strong>de</strong>n zwei intralinguistischen Paronymen vorkommen: <strong>de</strong>. (9) Gibstdu mir, bitte, <strong>de</strong>n Kitt/<strong>de</strong>n Kit da? Wenn man sich eine Situation vorstellt,wo bei<strong>de</strong> Sachen (<strong>de</strong>. <strong>de</strong>r Kitt und <strong>de</strong>. <strong>de</strong>r/das Werkzeugskit) am Ort <strong>de</strong>rKommunikation vorhan<strong>de</strong>n sind, ist <strong>de</strong>r Kontext (9) auch pragmatisch, nichtnur lexikalisch ambig. In <strong>de</strong>r schriftlichen Produktion besteht weiter dieGefahr, dass die bei<strong>de</strong>n durcheinan<strong>de</strong>r gebracht wer<strong>de</strong>n, meist wenn dasNomen im Singular steht. Die Pluralform könnte eventuell <strong>zur</strong>Ver<strong>de</strong>utlichung dienen: Es ist vielleicht klarer zu unterschei<strong>de</strong>n zwischen<strong>de</strong>n Gemeinten, wenn man 10 Kits (für mechanische Instandhaltungsarbeiten)o<strong>de</strong>r 10 Kitte (zum Kleben) bestellt, als wenn man nur 1 Kitbzw. 1 Kitt bestellte, trotz<strong>de</strong>m ist die Pluralendung auch kein Garant zumBeseitigen <strong>de</strong>s Verwechslungsrisikos, <strong>de</strong>nn bekanntlich sind diePluralformen im Deutschen auch keine leichte bzw. immer ein<strong>de</strong>utigeAngelegenheit.Außer <strong>de</strong>m Thema <strong>de</strong>r „klassischen“ Paronymie, muss hier auch dieProblematik <strong>de</strong>r Homonymie im Rumänischen besprochen wer<strong>de</strong>n. Auchwenn die Lexeme ro. chit (Nomen) und ro. chit (Adj.) zu verschie<strong>de</strong>nenKlassen gehören, genauso wie <strong>de</strong>. <strong>de</strong>r Kitt (Nomen) und <strong>de</strong>. quitt (Adj.), istdas Verhältnis im Rumänischen durch die Homofonie/-grafie/-nymie etwas267


un<strong>de</strong>utlicher festzustellen als im Deutschen, <strong>de</strong>nn im Deutschen sind diezwei Wörter <strong>de</strong>s innersprachlichen Paronymenpaars grafisch und fonetischähnlich, aber nicht i<strong>de</strong>ntisch, während im Rumänischen die entsprechen<strong>de</strong>nPaarmitglie<strong>de</strong>r grafische und fonetische I<strong>de</strong>ntität aufweisen. Immuttersprachlichen monolingualen Bereich sollte das Phänomen keineSchwierigkeiten bereiten. Es ist für die meisten Rumänen klar, auch für dieweniger gebil<strong>de</strong>ten, dass <strong>de</strong>r Satz ro. (10) Suntem chit.(<strong>de</strong>. Wir sind quitt.)nichts mit <strong>de</strong>m Klebstoff zu tun hat. Auch <strong>de</strong>r Deutsche sollte keine großenSchwierigkeiten haben, die zwei zu unterschei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn dazu dienenmehrere Hilfen: a. die Wortklasse (auch Nichtspezialisten unterschei<strong>de</strong>n dieWortklassen anhand <strong>de</strong>s Sprachusus), b. die phraseologische Natur <strong>de</strong>sKontexts für ro. chit (Adj.)/<strong>de</strong>. quitt (Adj.), c. die distributiven Merkmale imengen Zusammenhang mit <strong>de</strong>m phraseologischen Charakter: das Adjektivkann nur nach <strong>de</strong>m Verb ro. a fi/ <strong>de</strong>. sein, in <strong>de</strong>r Regel in <strong>de</strong>r 1. Person Pl.,kommen, was für das Nomen nicht gilt.Ohne meinen Anspruch auf Allgemeinheit dieser Analysevorzuenthalten, muss ich <strong>de</strong>nnoch bemerken, dass die englischbedingteInterferenz beson<strong>de</strong>rs bei Jugendlichen anzutreffen ist. Das kann sogar alsSelbstverständlichkeit in <strong>de</strong>m Kontext <strong>de</strong>r europäischen Dynamik anerkanntwer<strong>de</strong>n, solange es die Jugendlichen sind, die mit Mehrsprachigkeitaufwachsen, lernen und später arbeiten. Zur gleichen Selbstverständlichkeitgehört die Bemerkung, dass die Stärke <strong>de</strong>r Anglisierungsten<strong>de</strong>nz bei <strong>de</strong>nverschie<strong>de</strong>nen Berufsgruppen schwankt. In einigen Bereichen hat dasEnglische sogar im Heimatland im Arbeitsmilieu wegen <strong>de</strong>r Internationalität<strong>de</strong>r Mitarbeiter und Kun<strong>de</strong>n sowie dank <strong>de</strong>s technischen Jargons starkzugenommen.Die Internationalismen- und beson<strong>de</strong>rs die Anglizismenforschungschenkt in diesem Kontext <strong>de</strong>r Jugendsprache eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>Aufmerksamkeit. Dazu notiert Lăzărescu (2006), aus <strong>de</strong>r entgegengesetztenRichtung betrachtend, die Jugendsprachenforschung konzentriere sichhauptsächlich auf die Anglizismen in <strong>de</strong>r Jugendkommunikation:Die Vorliebe <strong>de</strong>r jungen Generation für Anglizismen wird von <strong>de</strong>n meistenJugendsprachforschern hervorgehoben, von einigen sogar kritisiert und beklagt, istaber zweifelsohne hauptsächlich auf <strong>de</strong>n starken Einfluss <strong>de</strong>r anglophonen Musik<strong>zur</strong>ückzuführen. Viele aus <strong>de</strong>m Englischen und <strong>de</strong>m Amerikanischen entlehnteWörter und Ausdrücke hängen selbstverständlich auch mit Unterhaltung, Mo<strong>de</strong>,Freizeit, Sport bzw. mit <strong>de</strong>r Drogenszene zusammen (Lăzărescu 2006: 94).268


Der Fehlercharakter <strong>de</strong>r falschen Freun<strong>de</strong>Die Fragen, die in <strong>de</strong>r Einführung dieser Arbeit <strong>zur</strong> Strukturierung <strong>de</strong>rDiskussion gestellt wur<strong>de</strong>n, bezogen sich auf die Folgen <strong>de</strong>r Interferenz mit<strong>de</strong>m Englischen im Kontext <strong>de</strong>r Kommunikation in <strong>de</strong>r FremdspracheDeutsch. Bis zu diesem Punkt habe ich mich Begriffen wie Interferenz o<strong>de</strong>rVerwechslung bedient. Die Linguistik hat das Phänomen <strong>de</strong>r Interferenzausführlich untersucht und ist im Laufe <strong>de</strong>r Zeit zu <strong>de</strong>r Schlussfolgerunggekommen, dass <strong>de</strong>r Begriff Interferenz nicht unbedingt einen Fehlerbezeichnet. Desto weniger sei die Interferenz Quelle eines Fehlers, meintChamizo Domíngues (2008), wenn daraus kommunikativ und pragmatischschöpferische Produkte entstehen. Laut Chamizo Domíngues (2008) seiauch die lexikalische Interferenz, also auch die falschen Freundschaften,eine Kategorie <strong>de</strong>r positiven Fehler; falsche Freun<strong>de</strong> könnten dieKommunikation auf das Niveau <strong>de</strong>r Metapher o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Euphemismusbringen, was die Kommunikation bereichere:However, the existence of false friends does not only conform an obstacle forcommunication between speakers of different languages and for translation.Furthermore, it is a phenomenon that can be exploited – and, in fact, has beenexploited – to achieve literary, humoristic and cognitive effects (ChamizoDomínguez 2008: 29).So muss man sich fragen, was man als Fehler qualifizieren kann undwelche Fehler doch als weniger fehlerhaft zu betrachten sind, <strong>de</strong>nn sobalddie kommunikative Didaktik die grammatikalische und lexikalischeGenauigkeit mit <strong>de</strong>m Desi<strong>de</strong>ratum <strong>de</strong>r erfolgreichen Kommunikation ersetzthat, hat sich auch die Definition <strong>de</strong>s Fehlers flexibilisiert. Ein weiteresArgument für diese Flexibilisierung ist die historische Evolution <strong>de</strong>r Lexikin allen Sprachen, die Internationalismen und Fremdwörter zu einemgewissen Zeitpunkt übernehmen o<strong>de</strong>r übernommen haben. So erläutertPușcariu (1940) die Existenz zahlreicher Beispiele im Rumänischen, die ausursprünglichen Missverständnissen und Miss<strong>de</strong>utungen stammen:Cuvântul care are sensul opus lui cald, adjectivul rece, datorește înțelesul său înromânește întâmplării că se găsea mai a<strong>de</strong>sea în tovărășia substantivului apă. Înlatinește, recens – din care <strong>de</strong>rivă rece al nostru – însemna cu totul altceva.Precum arată neologismul recent – care e un dublet al lui rece – sensul lui originarera cel <strong>de</strong> ‘proaspăt’. Se zicea <strong>de</strong>ci aqua recens, care însemna ‘apă proaspătă’,adusă <strong>de</strong> curând <strong>de</strong>la izvor și <strong>de</strong> aceea ‘având o temperatură scăzută’. Dacăacci<strong>de</strong>ntul fatal în istoria cuvântului rece ar fi fost întovărășirea269


270lui cu panis, în loc <strong>de</strong> aqua, sensul lui rece ar fi fost în românește, tocmaidimpotrivă, cel <strong>de</strong> cald (Pușcariu 1940: 24).Die semantische Übertragung – eine Erscheinung, die sehr nah <strong>de</strong>nfalschen Freundschaften steht, nur im intralinguistischen Bereich – ist dieQuelle einiger Dublettformen wie ro. cumplit („furchtbar“) – complet(„vollständig“), ro. a cuprin<strong>de</strong> („umarmen, umfassen“) – a aprin<strong>de</strong>(„anzün<strong>de</strong>n“), wo man wie<strong>de</strong>r die Paronymie als Hintergrund <strong>de</strong>rInterferenz (einer Art intralinguistischer falscher Freundschaften)i<strong>de</strong>ntifiziert. Dass diese Lexeme mit einer an<strong>de</strong>ren Be<strong>de</strong>utungsstruktur alsihr Ausgangslexem auf Dauer transferiert wor<strong>de</strong>n sind, kann als Fehlergesehen wer<strong>de</strong>n, nur dass in solchen Situationen <strong>de</strong>r Fehlercharakter nie in<strong>de</strong>r übernehmen<strong>de</strong>n Sprachgemeinschaft existiert hat. Daraus ergibt sich einwichtiges <strong>de</strong>finitorisches Kriterium <strong>de</strong>s Fehlers, das von <strong>de</strong>rkommunikativen Didaktik gut akzeptiert wer<strong>de</strong>n kann: Alles, was von <strong>de</strong>ran<strong>de</strong>ren Seite nicht als Fehler wahrgenommen wird, ist kein Fehler. EinFehler, <strong>de</strong>r vom Kommunikationspartner nicht bemerkt wird, existiert nicht,muss auf je<strong>de</strong>n Fall nicht korrigiert wer<strong>de</strong>n. Nicht so vehement wie diekommunikative Didaktik, aber schon in dieselbe Richtung äußerte sichJohansson (1973) zum Thema Fehler:If the ability to communicate in a foreign language is regar<strong>de</strong>d as the primary goal,the first question we have to ask in evaluating an error is not whether it involves ageneral rule or a frequent word or construction but how it affects communication(Johansson zit. nach Presch 1980: 230).Presch kritisiert die zwei Hauptkriterien, die seit längerer Zeit alsDefinition <strong>de</strong>s Fehlers im Fremdsprachenunterricht gelten: die Korrektheitund die Verständlichkeit, in<strong>de</strong>m er auf die „künstliche Homogenisierung <strong>de</strong>rSprache“ (Presch 1980: 229) und auf die nicht-überzeugen<strong>de</strong>n Ergebnisse<strong>de</strong>r Studien von Lin<strong>de</strong>ll (1973) und Olsson (1973) im Sinne <strong>de</strong>rBewertungsmöglichkeiten <strong>de</strong>s kommunikativen Effekts (Presch 1980: 231-232) hinweist.Es stellt sich in diesem Kontext erneut die Frage, ob man falscheFreun<strong>de</strong> zu therapieren versuchen sollte. Und wenn die Antwort auf dieseFrage affirmativ wäre, dann muss sich min<strong>de</strong>stens die Lehrkraft (vielleichtauch <strong>de</strong>r Lexikograf) fragen, welche falschen Freun<strong>de</strong> so gefährlich undschädlich sind, dass man sie unbedingt therapiert und welche man unterUmstän<strong>de</strong>n akzeptieren könnte. Zur Schwere <strong>de</strong>r Fehler vom Typ falscheFreun<strong>de</strong> erlaube ich mir hier keine ausführliche Diskussion, <strong>de</strong>nn diese


Thematik verdient mehr Raum als diese Arbeit bietet. Ich wer<strong>de</strong> für <strong>de</strong>nMoment Bezug auf die Klassifizierung von Breitkreuz (1991 und 1992)nehmen, <strong>de</strong>r eine 4-stufige Strategie beim Umgang mit <strong>de</strong>n falschenFreun<strong>de</strong>n Englisch↔Deutsch vorschlägt: 1. Bewusstmachung <strong>de</strong>s Fehlers,2. Lernen <strong>de</strong>r jeweiligen Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>sFalsche-Freun<strong>de</strong>-Paares zwecks <strong>de</strong>r Korrektur, 3. Fehlertherapie, 4. Testen<strong>de</strong>s Fortschritts (Breitkreuz 1991: 12-17). Aus diesem Ansatz lässt sicherschließen, dass die Fehlertherapie nicht vollkommen außer Acht fallensollte und das einige, wenn nicht alle falschen Freun<strong>de</strong> kuriert wer<strong>de</strong>nsollen. Breitkreuz verdanken wir auch eine praktisch-didaktisch gesinnteKlassifizierung <strong>de</strong>r falschen Freun<strong>de</strong>, die die Schwere <strong>de</strong>s Fehlers o<strong>de</strong>r dasKommunikationsstörungsrisiko wi<strong>de</strong>rspiegelt. So i<strong>de</strong>ntifiziert er leichtereund schwerwiegen<strong>de</strong>re Verwechslungen, die in vier Gruppen einzuteilenseien: easy false friends, not so easy false friends, difficult false friends undparticularly difficult false friends (Breitkreuz 1991: 9), je nach <strong>de</strong>rErkennungswahrscheinlichkeit.Die Strategie von Breitkreuz (1991 und 1992) ist <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utlicheBeweis, dass solche Fehler kontrollierbar sind und im Unterrichtvorweggenommen wer<strong>de</strong>n können. Es reicht nur, wenn die Lehrkraft dieHintergrundinformation „welche Fremdsprachen können bzw. lernen Sienoch?“ hat, so dass eine mögliche Interferenzquelle in Kauf genommenwird. Zusammen mit dieser guten Nachricht kommt aber auch eine wenigergute, die sich eng mit <strong>de</strong>m Fehlerkonzept verbin<strong>de</strong>n lässt: Wenn man alsFehler die Situationen betrachtet, wo eine Abweichung von einemPerformanzmo<strong>de</strong>ll (Rossipal 1973) stattfin<strong>de</strong>t, muss man eine beachtlicheRelativität dieser (fehlerhaften) Situationen akzeptieren. Für <strong>de</strong>n Transfer<strong>de</strong>r lexikalischen Äquivalenzen Deutsch↔Rumänisch gelten mehrerePerformanzmo<strong>de</strong>lle, je nach <strong>de</strong>r Sprachvarietät (Hoch<strong>de</strong>utsch,Österreichisch, Schweizer<strong>de</strong>utsch, Siebenbürgen<strong>de</strong>utsch etc.). So wer<strong>de</strong>n z.B. viele <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n rumänien<strong>de</strong>utschen Muttersprachlern benutztenWortschatzelemente als Fehler gesehen, wenn sie mit <strong>de</strong>m Performanzmo<strong>de</strong>llHoch<strong>de</strong>utsch kontrastiert wer<strong>de</strong>n: r<strong>de</strong>. <strong>de</strong>r Professor („Lehrer“)/<strong>de</strong>.<strong>de</strong>r Professor (aka<strong>de</strong>mischer Titel)/ro. profesor (<strong>de</strong> liceu), r<strong>de</strong>. <strong>de</strong>r Katalog(„Klassenheft“)/<strong>de</strong>. <strong>de</strong>r Katalog („In<strong>de</strong>x, Verzeichnis“)/ro. catalog, r<strong>de</strong>. dieKondition („Bedingung“)/<strong>de</strong>. die Kondition („körperliche Leistungsfähigkeit“)/ro.condiție etc.Das Problem <strong>de</strong>r Sprachvarianten kann natürlich von Fall zu Fallgelöst wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m man ein Performanzmo<strong>de</strong>ll festlegt (so verhasst von<strong>de</strong>r kommunikativen Didaktik es auch sein mag). Für die nicht-271


muttersprachlichen Deutschlernen<strong>de</strong>n in Rumänien ist das Performanzmo<strong>de</strong>llin <strong>de</strong>n meisten Fällen das Hoch<strong>de</strong>utsche. Das sollte das Lehren undLernen von Regionalismen und Sprachvarietäten nicht völlig ausschließen,wenn Lexikonelemente aus diesen Bereichen im Kurs bzw. im Lehrmittelvorkommen. Desto wichtiger ist es dann, <strong>de</strong>n Lernen<strong>de</strong>n klar zu machen,welche die Be<strong>de</strong>utungsstrukturen sind, wo die ähnlichen Wörter sichsemantisch überlappen und wo sie auseinan<strong>de</strong>r gehen. Für einen Rumänensteht z. B. <strong>de</strong>. die Station fonetisch und – er könnte glauben – auchsemantisch <strong>de</strong>m ro. stație sehr nah. Es soll ihm in diesem Fall im Unterrichtklar wer<strong>de</strong>n, dass <strong>de</strong>. die Station in Deutschland an<strong>de</strong>rs als in Österreichgebraucht wird und an<strong>de</strong>re Referenten bezeichnet. Die folgen<strong>de</strong> Tabelleveranschaulicht die Konvergenzen und Divergenzen auf semantischerEbene:<strong>de</strong>. die ös. die ro.Station: Station: stație:„die Haltestelle“ - + +„<strong>de</strong>r Bahnhof“ - + -„Aufenthalts(ort), Rast(platz) (auf einer+Fahrt)“+ -„geweihte Stelle <strong>de</strong>s Kreuzwegs und <strong>de</strong>r+Wallfahrt, an <strong>de</strong>r die Gläubigen verweilen“+ -„wichtiger, markanter Punkt innerhalbeines Zeitablaufs, eines Vorgangs, einer + + -Entwicklung“„Abteilung eines Krankenhauses“ + + -„(Stützpunkt mit einer) Anlage fürwissenschaftliche, militärische o. ä. + + +Beobachtungen und Untersuchungen“„Sen<strong>de</strong>r“ (selten) + + +(EDV) „Workstation“ (selten) + + -Zum SchlussMehrsprachigkeit ist heute vielleicht mehr als je in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>rMenschheit ein immer weiter verbreitetes Phänomen, das Vorteile sowieNachteile für das Lernen <strong>de</strong>r Fremdsprachen mit sich bringt. Auf <strong>de</strong>r einenSeite ist sie eine Hilfe für <strong>de</strong>n Lernen<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren kann sie sich272


unvermutet in ein gefährliches Mahlsandgebiet verwan<strong>de</strong>ln. Mehrsprachigkeitund, im Falle <strong>de</strong>r rumänischen Lernen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r starke Einfluss<strong>de</strong>s Englischen sind unvermeidbare Hintergrundaspekte, die das Wortschatzerlernenbeeinflussen können, folglich dürfen sie nicht ignoriert wer<strong>de</strong>n.Wenn man früher nur auf die Muttersprache im Kontrast zu <strong>de</strong>r gelerntenSprache achtete, scheint es mir heute unumgänglich, die Gefahren <strong>de</strong>rlexikalischen Interferenz mit <strong>de</strong>m Englisch im Deutschunterricht zusignalisieren und gezielt zu therapieren.Ergebnis <strong>de</strong>r Diskussion zu <strong>de</strong>n hier angeführten Beispielen ist auch,dass diese Erscheinungen teilweise vorweggenommen und kontrolliertwer<strong>de</strong>n können. In Abwesenheit eines Wörterbuchs <strong>de</strong>r falschen Freun<strong>de</strong>Deutsch↔Rumänisch bleibt <strong>de</strong>r Lehrkraft die Entscheidung über diegefährlichsten und die häufigsten falschen Freun<strong>de</strong>, die im Unterrichtthematisiert wer<strong>de</strong>n sollen.Liste <strong>de</strong>r AbkürzungenAbkürzungen <strong>de</strong>r Sprachbezeichnungen in <strong>de</strong>n Beispielen: <strong>de</strong>.: <strong>de</strong>utsch, en.:englisch, ös.: österreichisch, ro.: rumänisch, r<strong>de</strong>.: rumänien<strong>de</strong>utsch.LiteraturBiri, Andrew (2004): The Challenges of Eurospeak in ESP. In: Katalin KissVargáne (Hrsg.): ESP in higher education, Györ: Tátvan Kft., 33-38.Bennemann, Heinrich/ Herting, Beate/ Prause, Thomas (1994): TypischeFehler Englisch. 2500 „false friends“ Englisch und Deutsch,Berlin/ Wien: Langenscheidt.Bernstein, Wolf (1979): „Wie kommt die muttersprachliche Interferenz beimErlernen <strong>de</strong>s fremdsprachlichen Wortschatzes zum Ausdruck?“ In:Linguistik und Didaktik 38/10, 142-147.Breitkreuz, Hartmut (1991): False Friends. Stolpersteine <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschenglischenWortschatzes, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.Breitkreuz, Hartmut (1992): More false friends. Tückische Fallen <strong>de</strong>s<strong>de</strong>utsch-englischen Wortschatzes, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.Chamizo Domínguez, Pedro (2008): Semantics and Pragmatics of FalseFriends, New York: Routledge.Cheval, Mireille/ Wagner, Richard (1997): Glossar semantischer Inter-273


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Mathil<strong>de</strong> Hennig/ Robert NiemannGießenDas Konzept <strong>de</strong>s Autors in <strong>de</strong>r Inlands- undAuslands<strong>germanistik</strong>Abstract: The article compares one text in the field of German linguistics written inGermany with one text written in Romania regarding the presence of the author. Thecomparison reveals differences in the way the text is orientated towards the issue and thescientific community as well as in the characteristics of authorial presence. Thesedifferences are being explained by using explanatory approaches of epistemology andcommunication theory.Keywords: Autorpräsenz; Wissenschaftskommunikation; Auslands- und Inlands<strong>germanistik</strong>;Deagentivierung1. EinleitungDer vorliegen<strong>de</strong> Beitrag beleuchtet in einer exemplarischen Analyse diePräsenz <strong>de</strong>s Autors in <strong>de</strong>r Inlands- und Auslands<strong>germanistik</strong>. Je<strong>de</strong>rwissenschaftliche Text wird von einem Autor (o<strong>de</strong>r auch mehreren Autoren)verfasst, <strong>de</strong>r als solcher auch die Verantwortung für die wissenschaftlicheWissensproduktion trägt (Steiner 2009: 11). Der Autor behauptet Wissenund verbin<strong>de</strong>t seinen Geltungsanspruch für das im Text vorgetrageneWissen mit <strong>de</strong>r Hoffnung, „<strong>de</strong>r Anspruch wer<strong>de</strong> auf zustimmen<strong>de</strong>Anerkennung stossen“ (Steiner 2009: 15). Wenngleich also <strong>de</strong>r Autor auf<strong>de</strong>r einen Seite <strong>de</strong>n wissenschaftlichen Text und die damit verbun<strong>de</strong>newissenschaftliche Erkenntnis gestaltet und dadurch überhaupt erst seinenPlatz in <strong>de</strong>r wissenschaftlichen „community“ (Hyland 2009: 46-48)begrün<strong>de</strong>t, verlangen an<strong>de</strong>rerseits konventionalisierte Anfor<strong>de</strong>rungen an dieWissenschaftssprache vom Autor, als han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>s Subjekt in <strong>de</strong>nHintergrund zu treten, um dadurch die vorgetragene wissenschaftlicheErkenntnis als objektiv und intersubjektiv darstellen zu können:Anonymität hat, beson<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>r Wissenschaftssprache, die Funktion, die aneinen Autor gebun<strong>de</strong>ne Subjektivität zu eliminieren und <strong>de</strong>n Wahrheitsgrad sowie277


die Objektivität und mögliche Allgemeingültigkeit <strong>de</strong>r fachbezogenen Aussagenzu verstärken (Oksaar 1998: 397). 1Für <strong>de</strong>n Autor hat das weitreichen<strong>de</strong> Konsequenzen:Thus, starting from the assumption that aca<strong>de</strong>mic discourse should be as objectiveas possible, the author is expected to remain hid<strong>de</strong>n behind the facts, researchresults, tables, figures, formula and the like, to keep his/ her personality asunobtrusive and incospicuous as possible and practically ‘disappear’ from the text(Vassileva 2000: 9).Es ergibt sich folgen<strong>de</strong>s Dilemma: „Wie kann man in einem Text<strong>de</strong>n Platz <strong>de</strong>s forschen<strong>de</strong>n und erkennen<strong>de</strong>n Wissenschaftlers einnehmenund gleichzeitig <strong>de</strong>n Ansprüchen an eine subjektunabhängigeAussagekonsistenz gerecht wer<strong>de</strong>n?“ (Steiner 2009: 15)Für <strong>de</strong>n vorliegen<strong>de</strong>n Aufsatz lässt sich daraus die Frage ableiten, obes Unterschie<strong>de</strong> im Umgang mit diesem Dilemma in <strong>de</strong>r Inlands- undAuslands<strong>germanistik</strong> gibt. Mit Schlömer (2012) liegt eine vergleichen<strong>de</strong>Analyse von Deagentivierungsmitteln (= grammatische Muster agensloserVerfasserreferenz) in in Rumänien und in Deutschland erschienenengermanistischen Aufsätzen aus <strong>de</strong>n Jahren 2007-2009 vor. Die Analyse hatsowohl einen erhöhten Gebrauch von expliziten, agenshaftenVerfasserreferenzen in <strong>de</strong>n inlandsgermanistischen Texten gegenüber <strong>de</strong>nauslandsgermanistischen ergeben als auch einen erhöhten Gebrauch vonDeagentivierungsmitteln. Der Verzicht auf agenshafte Verfasserreferenz in<strong>de</strong>n in Rumänien erschienenen Aufsätzen führt also offenbar nichtautomatisch dazu, dass dann eben <strong>de</strong>m Anonymitätspostulat folgendkompensatorisch <strong>de</strong>agentiviert wird. Vielmehr scheint dieser Befund aufgrundsätzliche Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Autorpräsenz hinzu<strong>de</strong>uten: Insgesamtstehen 59 Vorkommen <strong>de</strong>r agenshaften und nicht agenshaftenVerfasserreferenz (bei Schlömer ‚explizit’ und ‚implizit’) in <strong>de</strong>n1 Steinhoff stellt <strong>de</strong>n Begriff ‚Anonymität’ grundsätzlich in Frage: „Zum einen fehlen inkeiner wissenschaftlichen Publikation Angaben zum Verfasser, zum an<strong>de</strong>ren ist die Instanz<strong>de</strong>s Verfassers für je<strong>de</strong>n geübten Leser wissenschaftlicher Texte auch dann zu erkennen,wenn auf ihn mit Passivkonstruktion o. Ä. angespielt wird. Es geht in diesen Texten nichtdarum die Instanz <strong>de</strong>s Verfassers zu tilgen, son<strong>de</strong>rn sie in <strong>de</strong>n Hintergrund zu rücken.Angestrebt wird nicht Anonymität, son<strong>de</strong>rn Neutralität: Es soll eine unparteiische, ebenneutrale Haltung <strong>de</strong>monstriert wer<strong>de</strong>n“ (2007: 19). Unabhängig davon, ob man nun voneiner angestrebten Anonymität o<strong>de</strong>r Neutralität ausgeht, ergibt sich für bei<strong>de</strong>Anfor<strong>de</strong>rungen die oben skizzierte Diskrepanz zwischen autorschaftlicher Verantwortungund <strong>de</strong>n Ansprüchen an eine subjektunabhängige Aussagekonsistenz.278


auslandsgermanistischen Aufsätzen 102 Belegen in <strong>de</strong>n inlandsgermanistischenTexten gegenüber (Schlömer 2012: 60).Schlömer betrachtet die Ergebnisse <strong>de</strong>r Analyse als so ein<strong>de</strong>utig,„dass nicht davon ausgegangen wer<strong>de</strong>n kann, dass es sich um individuelleSchreibstile <strong>de</strong>r einzelnen Verfasser han<strong>de</strong>lt“ (2012: 61). Sie erklärt ihrenBefund mit Rückgriff auf Breitkopf/ Vassileva (2007) mit <strong>de</strong>r Neigung <strong>de</strong>sosteuropäischen Wissenschaftsstils zu unpersönlicher Ausdrucksweise.2. Exemplarische Analyse eines inlands- und auslandsgermanistischenTextausschnittsDer vorliegen<strong>de</strong> Beitrag möchte <strong>de</strong>r Frage nach <strong>de</strong>r Erklärbarkeit vonSchlömers Befun<strong>de</strong>n durch grundsätzliche Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Autorpräsenznachgehen. Den Gegenstand <strong>de</strong>r Beschäftigung mit dieser Fragebil<strong>de</strong>t eine vergleichen<strong>de</strong> Analyse eines inlands- und eines auslandsgermanistischenTextausschnitts. Es sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen,dass die sich aus dieser qualitativ-exemplarischen Betrachtung ergeben<strong>de</strong>nErgebnisse keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können.Vielmehr können an dieser exemplarischen Analyse eher grundsätzlicheFragen <strong>de</strong>r Autorpräsenz sowie mögliche Erklärungen für diesbezüglicheUnterschie<strong>de</strong> erörtert wer<strong>de</strong>n.Den Gegenstand <strong>de</strong>r Analyse bil<strong>de</strong>n die einleiten<strong>de</strong>n Teile von zweiAufsätzen, die sich bei<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>n doppelten Perfektbildungen beschäftigen:- Markus Hundt: Doppelte Perfektbildungen mit haben und sein.Funktionale Gemeinsamkeiten und paradigmatische Unterschie<strong>de</strong>(2011);- Mihaela Şandor: Zur Grammatikalisierung <strong>de</strong>r doppeltenPerfektformen (2008).Mit einer Textlänge von 527 Wortformen (Hundt) und 462 Wortformen(Şandor) sind die Texte auch in etwa vergleichbar. 2Die Textausschnitte wer<strong>de</strong>n hier vollständig wie<strong>de</strong>rgegeben, da dievergleichen<strong>de</strong> Betrachtung nur so für <strong>de</strong>n Leser nachvollziehbar gestaltetwer<strong>de</strong>n kann:2 Auf eine Angleichung <strong>de</strong>r verglichenen Textlänge durch Kürzung <strong>de</strong>s Textes von Hundtwur<strong>de</strong> verzichtet, da es – wie oben ausgeführt – nicht auf eine genaue quantitativeVergleichbarkeit ankommt, weil statistische Signifikanz in diesem Rahmen ohnehin nichterreicht wer<strong>de</strong>n kann.279


_____________________________________________________________Mihaela ŞandorZur Grammatikalisierung <strong>de</strong>r doppelten Perfektbildungen1. Theoretische GrundlagenDie Grammatikalisierungsforschung ist ein relativ junges Gebiet <strong>de</strong>r Sprachwissenschaft,das sich seit <strong>de</strong>n 80er Jahren <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts geformt und entfaltet hat. Das zentraleAnliegen <strong>de</strong>r Grammatikalisierungsforschung ist die Untersuchung <strong>de</strong>r Entstehunggrammatischer Formen und <strong>de</strong>r Verstärkung bereits existieren<strong>de</strong>r grammatischerSprachzeichen. Dieses Anliegen ist in <strong>de</strong>r linguistischen Forschung nicht neu, es ist schonAufgabe <strong>de</strong>r historischen Sprachwissenschaft, <strong>de</strong>rartige Phänomene zu erforschen. DasSpezifische <strong>de</strong>r neueren Grammatikalisierungsforschung besteht in <strong>de</strong>r Betrachtung <strong>de</strong>rEntstehung immer neuer grammatischer Elemente und <strong>de</strong>r Flexibilität grammatischerSysteme als Grundprinzipien <strong>de</strong>r Sprache, die ins Zentrum <strong>de</strong>r Forschung gerückt wer<strong>de</strong>n.Die Annahme, dass es einen stabilen synchronen Zustand gibt, wird verworfen, dieGrenzen zwischen Synchronie und Diachronie erweisen sich als fließend. Die Grammatik<strong>de</strong>s synchronen Zustands einer Sprache sei, so Hopper (1991), kein <strong>de</strong>utlich abgegrenztes,homogenes und stabiles Regelsystem, son<strong>de</strong>rn eine Anhäufung von „sedimentierten“wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>n Teilen, <strong>de</strong>ren regelhafte Strukturen nie stabil o<strong>de</strong>r vollständig sind,son<strong>de</strong>rn permanent im Sprachgebrauch verän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n (Hopper 1991: 18). So wird ausdieser Perspektive die unaufhörliche Dynamik zum Grundprinzip <strong>de</strong>r Sprache erhoben.Aufgabe <strong>de</strong>r Grammatikalisierungsforschung ist, die mehr o<strong>de</strong>r weniger stabilen undregelhaften Strukturen <strong>de</strong>r Sprache sowie die Kategorialität von Formen zu untersuchen(vgl. Diewald 1997). Um <strong>de</strong>r gestellten Aufgabe gerecht zu wer<strong>de</strong>n, müssen dieSprachzeichen in zwei Klassen eingeteilt wer<strong>de</strong>n: lexikalische Zeichen bil<strong>de</strong>n eine offeneKlasse, ein heterogenes Wortfeld, das nur durch die Wortartenkategorie zusammengehaltenwird. Grammatische Zeichen bil<strong>de</strong>n dagegen eine geschlossene Klasse, <strong>de</strong>ren Mitglie<strong>de</strong>rweitgehend konstant bleiben, sie neigen eher <strong>zur</strong> Paradigmatisierung. Eine einzigeVerän<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>r Klasse <strong>de</strong>r Grammeme kann die Verschiebung und Restrukturierung<strong>de</strong>s gesamten Paradigmas veranlassen. Ein und dasselbe sprachliche Zeichen kannallerdings sowohl in <strong>de</strong>r Klasse <strong>de</strong>r Lexeme als auch in <strong>de</strong>r Klasse <strong>de</strong>r Grammemeauftreten. Die Grammatikalisierung ist ein gradueller Prozess: Der Vorgang <strong>de</strong>rAnreicherung grammatischer Funktionen und <strong>de</strong>r Einglie<strong>de</strong>rung in bestehen<strong>de</strong>grammatische Paradigmen ist mit einem allmählichen Verblassen <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>rbetreffen<strong>de</strong>n Lexeme und <strong>de</strong>m Verlust an prosodischer Autonomie verbun<strong>de</strong>n. Dasgleichzeitige Auftreten in verschie<strong>de</strong>nen Stufen zwischen lexikalischer und grammatischerFunktion stellt <strong>de</strong>n synchronen Aspekt <strong>de</strong>r Grammatikalisierung dar; die Entstehung <strong>de</strong>rgrammatischen Be<strong>de</strong>utung bei einem Zeichen, das zunächst nur eine lexikalischeBe<strong>de</strong>utung hatte, stellt <strong>de</strong>n diachronen Aspekt <strong>de</strong>r Grammatikalisierung dar (vgl. auchLehmann 1985). Es geht also vor allem um Übergänge zwischen Lexikon und Grammatik,zwischen einer Struktur mit lexikalischer und einer an<strong>de</strong>ren mit grammatischer Be<strong>de</strong>utung,zwischen verschie<strong>de</strong>nen linguistischen Ebenen, aber es geht auch um das „Verhältniszwischen historischer Entwicklung und gegenwärtigem System“ (Diewald 1997: 10).280


2. Zielsetzung und HypothesenVorliegen<strong>de</strong> Untersuchung setzt sich zum Ziel, eine Analyse <strong>de</strong>r Grammatikalisierung <strong>de</strong>rdoppelten Perfektbildung zu liefern. Dabei wur<strong>de</strong> von folgen<strong>de</strong>n Hypothesen ausgegangen:(1) Die Grammatikalisierung <strong>de</strong>r hyperperiphrastischen Perfektformen stellt eineWie<strong>de</strong>rholung <strong>de</strong>r Grammatikalisierung <strong>de</strong>r periphrastischen Perfektformenbestehend aus Hilfsverb + Partizip II dar.(2) Die doppelten Perfektformen können als grammatikalisiert betrachtet wer<strong>de</strong>n._____________________________________________________________Markus HundtDoppelte Perfektkonstruktionen mit haben und seinFunktionale Gemeinsamkeiten und paradigmatische Unterschie<strong>de</strong>1. LeitfragenDie Beschäftigung mit <strong>de</strong>m doppelten Perfekt (DPF) erfreute sich in <strong>de</strong>r letzten Zeitmittlerer Beliebtheit. Einerseits sind sehr verdienstvolle Studien wie die von Rö<strong>de</strong>l (2007)zu verzeichnen. An<strong>de</strong>rerseits gehören doppelte Perfektkonstruktionen als randständigeKonstruktionen nicht gera<strong>de</strong> zum Kernbereich <strong>de</strong>s Interesses von Grammatikern.In <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit dieser auf <strong>de</strong>n ersten Blick sperrigen Konstruktion sind mirunterschiedliche und – wie ich fin<strong>de</strong> – durchaus spannen<strong>de</strong> Aspekte am doppelten Perfektaufgefallen. Am doppelten Perfekt lassen sich die grundsätzlichen Aufgaben von Temporagera<strong>de</strong>zu beispielhaft zeigen, diese Konstruktionen können ebenso überzeugend dazuherangezogen wer<strong>de</strong>n, die konzeptionelle Brücke zwischen Aspekt und Tempus zuverstehen (Raumsemantik); genauso sind solche Konstruktionen, wenn man nur einmalgenauer auf die Verteilung <strong>de</strong>r Auxiliare blickt, sehr gute Beispiele, syntaktischeReanalyseprozesse in statu nascendi zu studieren. Doppelte Perfektbildungen stehen wieviele syntaktisch randständige Konstruktionen unter <strong>de</strong>m Verdacht, nicht nur inSüd<strong>de</strong>utschland entstan<strong>de</strong>n zu sein, son<strong>de</strong>rn auch ausschließlich dort verwen<strong>de</strong>t zu wer<strong>de</strong>n;also sind <strong>de</strong>r historische und <strong>de</strong>r areale Aspekt hier interessante Untersuchungsfel<strong>de</strong>r. EineReihe von weiteren Fragestellungen ließe sich hier anschließen. Es ist m. E. längst nochnicht alles zum DPF gesagt. In diesem Beitrag möchte ich mich jedoch aus Platzgrün<strong>de</strong>nauf nur zwei Aspekte beschränken.Methodik: Bei <strong>de</strong>r Untersuchung syntaktisch grenzwertiger Phänomene ist es m. E.unerlässlich, <strong>de</strong>n tatsächlichen Sprachgebrauch in die eigenen Untersuchungenmiteinzubeziehen. Sicherlich ist eine corpus-driven-Analyse nicht gänzlich möglich. Dafürsind einfach die Belegzahlen für diese Art von Konstruktionen zu gering. Ansatzweise wirddas corpus-driven-Verfahren im Vergleich <strong>de</strong>r benutzten Korpora jedoch zu seinem Rechtkommen. Was im Folgen<strong>de</strong>n (Kap. 2) vorgeführt wer<strong>de</strong>n kann, ist vielmehr ein corpusbased-Ansatz,bei <strong>de</strong>m nicht die Korpora und ihre Beleglagen selbst dieHypothesengenerierung steuern, son<strong>de</strong>rn die Hypothesen <strong>de</strong>s Grammatikers durch <strong>de</strong>nRückgriff auf maschinenlesbare Korpora (getaggte und nicht-getaggte) geprüft wer<strong>de</strong>n. DasKorpus dient hier als Prüfinstrument, nicht als Hypothesengenerator. In <strong>de</strong>m methodischen281


Kapitel 2 wird es darum gehen, die Möglichkeiten und Grenzen verschie<strong>de</strong>ner Textkorporabei <strong>de</strong>r Untersuchung von DPF-Konstruktionen zu beleuchten. Zwei Typen von Korporawer<strong>de</strong>n dabei miteinan<strong>de</strong>r verglichen. Erstens die getaggten Korpora <strong>de</strong>s DWDS (hier:Referenzkorpus und ZEIT-Korpus) und zweitens die nicht-getaggten Textkorpora <strong>de</strong>s IDS.Man sollte glauben, dass die Ergebnisse aus bei<strong>de</strong>n Korpora sich nicht son<strong>de</strong>rlichunterschei<strong>de</strong>n sollten. Dies – um es vorweg zu sagen – ist nicht <strong>de</strong>r Fall. An<strong>de</strong>rerseits ist esauch sehr interessant zu sehen, wie im Zusammenspiel <strong>de</strong>r Analysen von getaggten undnicht-getaggten Korpora auch weiterführen<strong>de</strong> Ergebnisse erzielt wer<strong>de</strong>n können.Theorie: Der zweite Analysefokus liegt auf <strong>de</strong>m Untersuchungsgegenstand selbst, auf <strong>de</strong>ndoppelten Perfektkonstruktionen. Nach einem kurzen Blick auf die historische Genesedieser Formen geht es dann um die Funktionen bei<strong>de</strong>r DPF-Typen. Hier wird zunächst auf<strong>de</strong>r Basis einer syntaktisch-funktionalen Analyse untersucht, welche Gemeinsamkeiten undwelche Unterschie<strong>de</strong> zwischen doppelten Perfektformen mit <strong>de</strong>m Auxiliar sein und mit<strong>de</strong>m Auxiliar haben zu verzeichnen sind. Gewöhnlich wer<strong>de</strong>n die doppelten Perfektformengleichrangig behan<strong>de</strong>lt. So wie man vom sein-Perfekt und vom haben-Perfekt spricht, sospricht man eben auch vom sein-DPF und vom haben-DPF. Die These in diesem Beitragist, dass – abgesehen vom Son<strong>de</strong>rstatus <strong>de</strong>s sein-Perfekts – die doppelten Perfektformenmit sein und haben einen systematischen Unterschied aufweisen, d. h. konkret, dass es nurDPFs mit haben gibt, nicht aber mit sein als Auxiliar. Diese These wird mit Blick auf dieKorpusrecherchen überprüft und diskutiert._____________________________________________________________Ein erster Lektüreeindruck ergibt zweifelsohne <strong>de</strong>n Eindruck einespräsenten Autors im inlandsgermanistischen Text und eines Autors imHintergrund im auslandsgermanistischen Pendant. Es soll im Folgen<strong>de</strong>ndarum gehen, zu erläutern, wie dieser Eindruck zustan<strong>de</strong> kommt und wie ersich erklären lässt. Dabei greifen wir zunächst einerseits auf das vonPolenz’sche Konzept <strong>de</strong>r Gruppen- vs. Gegenstandsorientierung undan<strong>de</strong>rerseits auf die von Steiner (2009) postulierten Autorfiguren‚Verantworterfigur’ und ‚Gestalterfigur’ <strong>zur</strong>ück. Zunächst aber soll eineAnalyse <strong>de</strong>r auf Autorpräsenz hin<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n sprachlichen Mittel dieGrundlage für <strong>de</strong>n Vergleich schaffen.Zunächst fallen sicherlich die agenshaften Verfasserreferenzen beiHundt ins Auge, die sich bei Şandor nicht belegen lassen: Hundt verwen<strong>de</strong>tdreimal das Personalpronomen <strong>de</strong>r ersten Person (zweimal im Nominativ,einmal im Dativ) und zweimal explizite Verweise auf die eigene Person mit<strong>de</strong>n „Meinungsausdrücken“ (Steinhoff 2007: 241-249) m. E. Diese fünfBelege für „selbstbenennen<strong>de</strong>“ Verfasserreferenz (Kresta 1995: 64-79)dürften aber noch nicht alleine für <strong>de</strong>n Eindruck eines fundamentalenUnterschieds zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Texten verantwortlich sein. Laut Kresta„hat <strong>de</strong>r Autor eines linguistischen Fachtextes die Wahl zwischen einerexpliziten und einer impliziten Benennung seiner Person“ (1995: 63). Der282


Eindruck von einem fundamentalen Unterschied zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>nTextausschnitten lässt sich also vermutlich damit begrün<strong>de</strong>n, dass Hundtnicht nur von <strong>de</strong>r Möglichkeit <strong>de</strong>r expliziten, son<strong>de</strong>rn auch von <strong>de</strong>rMöglichkeit <strong>de</strong>r impliziten Benennung seiner Person häufiger Gebrauchmacht als Şandor.Als zweite Option <strong>de</strong>r Verfasserreferenz neben <strong>de</strong>r expliziten Selbstbenennungbezeichnet Kresta „die fehlen<strong>de</strong> Selbstbenennung“ (1995: 79).Die in <strong>de</strong>r Wissenschaftskommunikation koventionalisierten sprachlichenMittel <strong>de</strong>r fehlen<strong>de</strong>n Selbstbenennung wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r einschlägigen Literaturin <strong>de</strong>r Regel mit Rückgriff auf von Polenz (1981) als Mittel <strong>de</strong>r‚Deagentivierung’ bezeichnet. Von Polenz erklärt das Phänomenfolgen<strong>de</strong>rmaßen:Die Bezeichnung <strong>de</strong>s AGENTIVs von Handlungsprädikaten kann nun in <strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen wie wohl in <strong>de</strong>n meisten Sprachen in verschie<strong>de</strong>nen Arten und Stufenweggelassen bzw. verschoben wer<strong>de</strong>n. Die Gesamtheit dieser Möglichkeiten heißeDe- o<strong>de</strong>r Entagentivierung von Handlungsprädikaten (von Polenz 1981: 97).Als zentrale grammatische Mittel <strong>de</strong>r Deagentivierung gelten dasPassiv, Partizipialattribute, <strong>de</strong>verbale Nominalisierungen, lassen- undReflexivkonstruktionen, Infinitivkonstruktionen sowie <strong>de</strong>r sogenannteSubjektschub (vgl. Hennig/ Niemann i.Dr.a). Die Deagentivierungsmittelbieten <strong>de</strong>m Autor die Möglichkeit, „in <strong>de</strong>n Hintergrund zu rücken“(Steinhoff 2007: 19, vgl. Fußnote 1). Kresta betont: „Obwohl diestrukturelle Markierung <strong>de</strong>s Verfassers in diesen Fällen fehlt, darf nichtvergessen wer<strong>de</strong>n, daß die Autorenbezogenheit solcher Äußerungen,funktional gesehen, trotz<strong>de</strong>m vorhan<strong>de</strong>n ist“ (1995: 79).Folgen<strong>de</strong> Belege <strong>de</strong>r Deagentivierung lassen sich in Hundts Texti<strong>de</strong>ntifizieren:• lassen-Konstruktionen: Am doppelten Perfekt lassen sich diegrundsätzlichen Aufgaben von Tempora gera<strong>de</strong>zu beispielhaftzeigen; Eine Reihe von weiteren Fragestellungen ließe sich hieranschließen (zwei Belege);• Passiv: diese Konstruktionen können ebenso überzeugend dazuherangezogen wer<strong>de</strong>n; Was im Folgen<strong>de</strong>n (Kap. 2) vorgeführtwer<strong>de</strong>n kann; son<strong>de</strong>rn die Hypothesen <strong>de</strong>s Grammatikers durch <strong>de</strong>nRückgriff auf maschinenlesbare Korpora (getaggte und nichtgetaggte)geprüft wer<strong>de</strong>n; zwei Typen von Korpora wer<strong>de</strong>n dabeimiteinan<strong>de</strong>r verglichen; wie im Zusammenspiel <strong>de</strong>r Analysen von283


getaggten und nicht-getaggten Korpora auch weiterführen<strong>de</strong>Ergebnisse erzielt wer<strong>de</strong>n können; Hier wird zunächst auf <strong>de</strong>r Basiseiner syntaktisch-funktionalen Analyse untersucht; Diese These wirdmit Blick auf die Korpusrecherchen überprüft und diskutiert (achtBelege);• Infinitivkonstruktionen: die konzeptionelle Brücke zwischen Aspektund Tempus zu verstehen; syntaktische Reanalyseprozesse in statunascendi zu studieren; <strong>de</strong>n tatsächlichen Sprachgebrauch in dieeigenen Untersuchungen miteinzubeziehen; die Möglichkeiten undGrenzen verschie<strong>de</strong>ner Textkorpora bei <strong>de</strong>r Untersuchung von DPF-Konstruktionen zu beleuchten (vier Belege);• man: 3 wenn man nur einmal genauer auf die Verteilung <strong>de</strong>rAuxiliare blickt; man sollte glauben (zwei Belege),• Subjektschub: bei <strong>de</strong>m nicht die Korpora und ihre Beleglagen selbstdie Hypothesengenerierung steuern; das Korpus dient hier alsPrüfinstrument, nicht als Hypothesengenerator (zwei Belege);• Halbmodal: welche Unterschie<strong>de</strong> zwischen doppelten Perfektformenmit <strong>de</strong>m Auxiliar sein und mit <strong>de</strong>m Auxiliar haben zu verzeichnensind (ein Beleg);• Partizipialkonstruktion: abgesehen vom Son<strong>de</strong>rstatus <strong>de</strong>s sein-Perfekts (ein Beleg).Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Tatsache, dassmit sprachlichen Mitteln wie <strong>de</strong>n hier erfassten die expliziteSelbstbenennung vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann, nicht automatisch dazu führt,dass aus je<strong>de</strong>m Vorkommen <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong>n Mittel auf eineVermeidung <strong>de</strong>r Selbstbenennung geschlossen wer<strong>de</strong>n kann. So geht esbspw. in <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Passiv- und man-Verwendung bei Hundt nicht umdie Person <strong>de</strong>s Verfassers selbst als Handlungsträger, son<strong>de</strong>rn als han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>Instanz kommt hier die gesamte wissenschaftliche community, die sich mitPhänomenen <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Art beschäftigt, in Frage. Es liegt hier alsoeher eine generische Verwendung von Passiv und man vor:• Gewöhnlich wer<strong>de</strong>n die doppelten Perfektformen gleichrangigbehan<strong>de</strong>lt. So wie man vom sein-Perfekt und vom haben-Perfekt3 Man kann gewissermaßen als zwischen fehlen<strong>de</strong>r und expliziter Selbstbenennung stehendangesehen wer<strong>de</strong>n: Kresta ordnet man <strong>de</strong>r Selbstbenennung zu (1995: 77), in Hennig/Niemann (i.Dr.a) ordnen wir man als Deagentivierungsmittel und somit als fehlen<strong>de</strong>Selbstbenennung ein.284


spricht, so spricht man dann eben auch vom sein-DPF und vomhaben-DPF.In Hennig/ Niemann (i.Dr.a) wird <strong>de</strong>r Unterschied zwischen diesemund <strong>de</strong>n oben aufgeführten Beispielen mit <strong>de</strong>m Terminus ‚origoferne vs.origonahe Deagentivierung’ bezeichnet.Daraus folgt, dass auch in Şandor nicht alle Passivformen alsverfasserreferentiell zu betrachten sind. Verfasserreferentielle, alsoorigonahe Deagentivierungen fin<strong>de</strong>n sich bei Şandor nur im zweitenAbschnitt „Zielsetzung und Hypothesenformulierung“:• Subjektschub: Vorliegen<strong>de</strong> Untersuchung setzt sich zum Ziel (einBeleg);• Infinitivkonstruktion: eine Analyse <strong>de</strong>r doppelten Perfektformen zuliefern (ein Beleg);• Passiv: Dabei wur<strong>de</strong> von folgen<strong>de</strong>n Hypothesen ausgegangen; Diedoppelten Perfektformen können als grammatikalisiert betrachtetwer<strong>de</strong>n (zwei Belege).Trotz <strong>de</strong>r qualitativen und nicht statistisch-quantitativen Ausrichtung dieserAnalyse dürfte <strong>de</strong>utlich gewor<strong>de</strong>n sein, dass1. <strong>de</strong>r Eindruck einer stärkeren Autorpräsenz im inlandsgermanistischenText auch durch <strong>de</strong>n gegenüber <strong>de</strong>m auslandsgermanistischenText <strong>de</strong>utlich intensiveren Gebrauch von origonahenDeagentivierungsmitteln zustan<strong>de</strong> kommt;2. das Nichtvorhan<strong>de</strong>nsein von agenshafter Verfasserreferenz imauslandsgermanistischen Text nicht automatisch zu einerKompensation durch agenslose Verfasserreferenz führt (was <strong>de</strong>nBefund von Schlömer bestätigt).Neben <strong>de</strong>n expliziten und impliziten Verfasserreferenzen dürftenaber noch weitere Faktoren für <strong>de</strong>n Eindruck einer starken Autorpräsenz iminlandsgermanistischen Text verantwortlich sein. So befin<strong>de</strong>n sich im Texteinige feste Wendungen, die sozusagen <strong>de</strong>n engen Rahmen <strong>de</strong>rgrammatischen Bestimmung von Deagentivierungsmustern sprengen, in<strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Autor einerseits Texthandlungen beschreibt bzw. ankündigt (Umes vorweg zu sagen; Nach einem kurzen Blick geht es dann; Die These indiesem Beitrag ist), an<strong>de</strong>rerseits Wertungen vornimmt (Es ist unerlässlich, xzu tun; Es ist interessant zu sehen).Wertungen wer<strong>de</strong>n auch mit einfachen Adjektivattributenvorgenommen (verdienstvolle Studien, spannen<strong>de</strong> Aspekte, sehr guteBeispiele) sowie – wie bereits ange<strong>de</strong>utet – durch explizite Meinungsäußerungen(wie ich fin<strong>de</strong>, m. E.). Aber es fin<strong>de</strong>n sich auch subtilere285


Formen <strong>de</strong>r Bewertung: Wenn <strong>de</strong>r Autor etwa feststellt, genauso sind solcheKonstruktionen, wenn man nur einmal genauer auf die Verteilung <strong>de</strong>rAuxiliare blickt, sehr gute Beispiele, syntaktische Reanalyseprozesse instatu nascendi zu studieren, so kann man wenn man nur einmal genauer aufX schaut lesen als: „Es ist eigentlich verwun<strong>de</strong>rlich, dass die bisherigeForschung dieses Potential <strong>de</strong>s Themas nicht erkannt hat. Folglich möchteich hier eine wichtige Lücke schließen.“ Ähnliches lässt sich sagen zuGewöhnlich wer<strong>de</strong>n die doppelten Perfektformen gleichrangig behan<strong>de</strong>lt.So wie man vom sein-Perfekt und vom haben-Perfekt spricht, so sprichtman eben auch vom sein-DPF und vom haben-DPF. Selbst wenn man diefolgen<strong>de</strong>n Sätze nicht liest, kann man diesen Sätzen bereits entnehmen, dass<strong>de</strong>r Autor sich von dieser Praxis abgrenzen möchte und dadurch eine neue,eigene Position ankündigt.Zur „dargestellten Autorschaft“ (Steiner 2009) können u. E. auchsubtile, diverse Inferenzleistungen erfor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Hinweise auf die Verortung<strong>de</strong>s Autors in seiner scientific community gerechnet wer<strong>de</strong>n. So sprichtHundt beispielsweise davon, dass die Hypothesen <strong>de</strong>s Grammatikers durch<strong>de</strong>n Rückgriff auf maschinenlesbare Korpora (getaggte und nicht-getaggte)geprüft wer<strong>de</strong>n. Durch das Passiv und die generische Form <strong>de</strong>sGrammatikers wird maximale Neutralität suggeriert: Der Autor schil<strong>de</strong>rtzunächst ein in <strong>de</strong>r Korpusgrammatik gängiges Verfahren. Da er damit jaseine eigenen Metho<strong>de</strong>n vorstellt, bezeichnet er <strong>de</strong>nnoch gleichzeitig sichselbst als <strong>de</strong>n Grammatiker und weist sich damit eine Rolle imwissenschaftlichen Diskurs zu. Beson<strong>de</strong>rs interessant sind u. E. aber die indiesem Beispiel und auch an an<strong>de</strong>ren Stellen vorhan<strong>de</strong>nen Hinweise aufkorpusanalytische Verfahren. Hundt spricht hier von maschinenlesbarenKorpora (getaggte und nicht-getaggte), im gleichen Absatz bezieht erStellung zu einschlägigen korpusanalytischen Metho<strong>de</strong>n: Sicherlich ist einecorpus-driven-Analyse nicht gänzlich möglich. Dafür sind einfach dieBelegzahlen für diese Art von Konstruktionen zu gering. Ansatzweise wirddas corpus-driven-Verfahren im Vergleich <strong>de</strong>r benutzten Korpora jedoch zuseinem Recht kommen. Was im Folgen<strong>de</strong>n (Kap. 2) vorgeführt wer<strong>de</strong>n kann,ist vielmehr ein corpus-based-Ansatz. Was unter ‚corpus-driven’, ‚corpusbased’,‚getaggt’ und ‚nicht-getaggt’ zu verstehen ist, wird nicht erklärt.Zwar sind diese Termini in <strong>de</strong>r Tat für mit korpusanalytischen Metho<strong>de</strong>nvertraute Leser nicht erklärungsbedürftig. Allerdings <strong>de</strong>monstriert Hundtmit diesen Verweisen doch sehr <strong>de</strong>utlich seine Kompetenz im Bereich <strong>de</strong>rKorpuslinguistik. Abschließend sei auf die folgen<strong>de</strong> Textstelle verwiesen:Eine Reihe von weiteren Fragestellungen ließe sich hier anschließen. Es ist286


m. E. längst noch nicht alles zum DPF gesagt. In diesem Beitrag möchte ichmich jedoch aus Platzgrün<strong>de</strong>n auf nur zwei Aspekte beschränken. DieseTextstelle lässt die Lesart zu, dass <strong>de</strong>r Autor weit mehr zum Gegenstandausführen könnte und sich nur wegen <strong>de</strong>r Platzbeschränkungen auf nur zweiAspekte konzentriert. Auch hier kann man also einen indirekten Bezug zumAutor erkennen.All diese Mechanismen <strong>de</strong>r inszenierten Autorschaft fehlen beiŞandor völlig. Es ist uns sehr daran gelegen zu betonen, dass wir das nichtals einen Kompetenzunterschied zwischen <strong>de</strong>r Inlands- undAuslands<strong>germanistik</strong> betrachten, son<strong>de</strong>rn als ein Indiz für unterschiedliche‚epistemische Tugen<strong>de</strong>n‘ sowie für unterschiedliche, die Kommunikationbestimmen<strong>de</strong> ‚Kulturprogramme‘ (siehe 3.). Es ist keineswegs <strong>de</strong>r Fall, dasseine maximale Ausbeutung <strong>de</strong>r wissenschaftssprachlichen Möglichkeitenautomatisch mit maximaler Wissenschaftlichkeit korreliert. Bereits 1981warnt Peter von Polenz ja ausdrücklich vor einer „Jargonisierung“ <strong>de</strong>rWissenschaft. 4 Sein kritischer Blick auf die wissenschaftssprachlichenGepflogenheiten basiert auf seiner Unterscheidung zwischen Gruppen- undGegenstandsorientierung in <strong>de</strong>r Wissenschaft: „Man glaubt über Sachen undzum Zwecke von Arbeit o<strong>de</strong>r Information zu re<strong>de</strong>n und weiß nicht (o<strong>de</strong>rwür<strong>de</strong> es womöglich nicht zugeben), daß man damit auch Gruppenstatusund Gruppendynamik signalisiert“ (von Polenz 1981: 87). Von Polenz stehtdiesem Phänomen sprachkritisch gegenüber:Wenn fachsprachliche Kommunikation stark gruppenorientiert und wenigergegenstandsorientiert ist, wenn sie weniger <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung von Arbeits- undLernprozessen als vielmehr <strong>de</strong>r Signalisierung o<strong>de</strong>r symptomatischen Erkennungvon Gruppenzugehörigkeit dient […] geht Fachsprache in Jargon über (von Polenz1981: 87).Mit <strong>de</strong>m Begriffspaar ‚Gegenstands- vs. Gruppenorientierung‘ lässtsich <strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n analysierten Textausschnittentreffend zusammenfassen: Der auslandsgermanistische Text istausschließlich gegenstandsorientiert, <strong>de</strong>r inlandsgermanistische Textausschnittdagegen lässt eine starke Gruppenorientierung erkennen: Der Autorpositioniert sich in seiner wissenschaftlichen community als han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>sSubjekt. Mit <strong>de</strong>r Unterscheidung zwischen Gegenstands- und Gruppenorientierunglassen sich auch die massiven Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r4 Dem hier implizierten sprachkritischen Ansatz von von Polenz schließen wir uns jedochausdrücklich nicht an. Wir verstehen unseren Ansatz als rein <strong>de</strong>skriptiv.287


Autorpräsenz erklären: In einer rein gegenstandsorientierten Darstellungtritt <strong>de</strong>r Autor hinter <strong>de</strong>m Text <strong>zur</strong>ück. Der Gegenstand wird als reinfaktisch präsentiert, was suggeriert, dass je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Autor <strong>de</strong>n Gegenstandin gleicher Weise darstellen könnte. In<strong>de</strong>m Şandor die vorgetragenenGegenstandsbestimmungen durch Zitate <strong>de</strong>n Autoritäten <strong>de</strong>rGrammatikalisierungsforschung zuweist, tritt sie hinter <strong>de</strong>m Gegenstand<strong>zur</strong>ück. Wenn sie auf diese Weise die Verantwortung für <strong>de</strong>n dargestelltenGegenstand von sich schiebt, so geschieht das nicht auf <strong>de</strong>r Basis vonZweifeln an diesem Gegenstand, son<strong>de</strong>rn wohl eher aus Zurückhaltung.Der Zurückhaltung <strong>de</strong>r Auslandsgermanistin steht ein selbstbewusstesAuftreten <strong>de</strong>s Inlandsgermanisten gegenüber. Auf ihn lassen sichalle von Steiner postulierten, <strong>de</strong>n „Rahmen“ <strong>de</strong>s Diskurses bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>nAutorfiguren (2009: 188-204) anwen<strong>de</strong>n: Hundt begegnet uns alsVerantworterfigur, als Gestalterfigur und als Mittlerfigur. Das be<strong>de</strong>utet imEinzelnen:• Verantwortung und Zitierbarkeit: „Die Verantworterfigur ist dieFigur, die zitiert wird und die an<strong>de</strong>re Autorfiguren zitiert“ (Steiner2009: 200). „Die Verantworterfigur hat […] ein Leben vor, im undnach <strong>de</strong>m aktuellen Text. Sie war schon involviert in das Thema,vor <strong>de</strong>m gegebenen Text und bleibt es zumin<strong>de</strong>st als potentiellzitierbare Figur“ (2009: 201). Die Zitierbarkeit scheint uns einwichtiges Indiz für die Annahme von Autorpräsenz zu sein: WennŞandor die Autoritäten <strong>de</strong>s Faches als zitierbare Größen präsentiertund sich nicht in eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit ihren Annahmenbegibt, kann sie nicht unmittelbar damit rechnen, dass ihre hiervorgetragene Gegenstandsbestimmung als solche zitiert wer<strong>de</strong>nwird. Sie muss vielmehr davon ausgehen, dass bei zukünftigenZitationen wie<strong>de</strong>r die Autoritäten herangezogen wer<strong>de</strong>n. Erst in <strong>de</strong>rHypothesenbildung erreicht Şandor Zitierbarkeit. Auffällig daranist, dass die vorgetragenen Hypothesen durch das <strong>de</strong>agentivieren<strong>de</strong>Passiv und <strong>de</strong>n <strong>de</strong>agentivieren<strong>de</strong>n Subjektschub noch alsquasifaktisch daherkommen. Außer<strong>de</strong>m geht ihrer Hypothesenbildungkeine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Forschungsstandvoraus, während Hundt seine Hypothesen auf <strong>de</strong>r Folie einerAbgrenzung vom bisherigen Forschungsstand (gewöhnlich, sospricht man dann eben) entfaltet. Durch das dadurch entstehen<strong>de</strong>Versprechen eines Mehrwerts inszeniert <strong>de</strong>r Autor quasi seineeigene Zitierbarkeit.288


• Spielarten <strong>de</strong>r Verantwortung: Steiner geht von drei Aspekten <strong>de</strong>rVerantworterfigur aus: „Zuerst geht es um die Frage, wie sich einAutor von an<strong>de</strong>ren Autoren innerhalb eines epistemischen Fel<strong>de</strong>sabgrenzt“ (2009: 224). Steiner beleuchtet dabei verschie<strong>de</strong>neKonstellationen von „ICH und die ANDERN“ wie ICH GEGEN undICH MIT/ ICH UND. Bei<strong>de</strong> Konstellationen konnten wir bereits beiHundt belegen: Die Disqualifizierung <strong>de</strong>s Forschungsstan<strong>de</strong>s alsgewöhnlich kann als Beispiel für ICH GEGEN betrachtet wer<strong>de</strong>n,<strong>de</strong>r Anschluss an die als verdienstvoll bewertete Studie von Rö<strong>de</strong>lals ICH UND. Bei Şandor fin<strong>de</strong>n sich dagegen keine Belege fürdiese Selbstpositionierung als Verantworterfigur: Die ANDERENwer<strong>de</strong>n nicht in Beziehung <strong>zur</strong> eigenen Person gesetzt, we<strong>de</strong>r alsGegenspieler noch als Mitstreiter.• Verantworterfigur und wissenschaftliches Selbstbewusstsein: Steinerbeobachtet in <strong>de</strong>n exemplarisch analysierten Texten eines <strong>de</strong>utschenNaturwissenschaftlers aus <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>s beginnen<strong>de</strong>n 19.Jahrhun<strong>de</strong>rts „drei verschie<strong>de</strong>ne Stadien <strong>de</strong>s ‚wissenschaftlichenSelbstbewusstseins‘: ‚Kamikaze-Stadium‘, ‚Show-down-Stadium‘und ‚Konsolidierungsstadium‘“ (2009: 233). Mit ‚Selbstbewusstsein‘meint er einerseits ein „im Text dargestelltesVerhältnis zum Untersuchungsgegenstand […], an<strong>de</strong>rerseits […]eine damit verknüpfte, soziale Beziehung <strong>de</strong>r Verantworterfigur zuihrem disziplinären Umfeld“ (ebd.). Während man Şandor aufgrundihrer Zurückhaltung keinem <strong>de</strong>r drei Selbstbewusstseinsstadienzuordnen kann, trägt <strong>de</strong>r Text von Hundt durchaus Züge <strong>de</strong>s ‚Showdown-Stadiums‘:Mit <strong>de</strong>m einleiten<strong>de</strong>n Abschnitt In <strong>de</strong>rAuseinan<strong>de</strong>rsetzung mit dieser auf <strong>de</strong>n ersten Blick sperrigenKonstruktion sind mir unterschiedliche und – wie ich fin<strong>de</strong> –durchaus spannen<strong>de</strong> Aspekte am doppelten Perfekt aufgefallen. Amdoppelten Perfekt lassen sich die grundsätzlichen Aufgaben vonTempora gera<strong>de</strong>zu beispielhaft zeigen… betont Hundt seinen„Prioritätsanspruch auf das Forschungsthema“ (Steiner 2009: 235)und etabliert damit eine „Konkurrenz auf Augenhöhe“ (Steiner2009: 234).• Die Gestalterfigur: Steiner unterschei<strong>de</strong>t drei Handlungsbereicheund nennt die diesen Bereichen zugeordneten Gestalterfiguren‚Ordner‘, ‚Erklärer‘ und ‚Erzähler‘. Mit ordnen<strong>de</strong>n Handlungen ist<strong>de</strong>r „Bereich <strong>de</strong>r Textorganisation, <strong>de</strong>r Thematisierung, <strong>de</strong>rTextsequenzierung, <strong>de</strong>r Relevanz, bzw. <strong>de</strong>r so genannten289


Leserführung“ gemeint (Steiner 2009: 237). Hier lassen sich beiHundt Beispiele zuordnen wie: In <strong>de</strong>m methodischen Kapitel 2 wir<strong>de</strong>s darum gehen; Nach einem kurzen Blick auf die historischeGenese; Hier wird zunächst auf <strong>de</strong>r Basis einer syntaktischfunktionalenEbene untersucht. Da Şandor im untersuchtenTextabschnitt nur in <strong>de</strong>r eigenen Hypothesenbildung als Autorin inErscheinung tritt, entfällt diese Form <strong>de</strong>r Gestaltung bei ihr. Aberauch eine erklären<strong>de</strong> Gestaltung lässt sich bei ihr nichti<strong>de</strong>ntifizieren, da mit ‚Erklärer‘ bei Steiner nicht die Erklärung einesSachverhalts durch <strong>de</strong>n Autor gemeint ist, son<strong>de</strong>rn es geht vielmehrum auf die eigene Argumentation bezogene Erklärungshandlungen:„Die autorschaftliche Position und die damit einhergehen<strong>de</strong>nGeltungsansprüche wer<strong>de</strong>n metakommunikativ thematisiert“ (2009:241). Als ein Beispiel für ein solches Auftreten als Erklärer lässtsich Hundts Schlussfolgerung also sind <strong>de</strong>r historische und <strong>de</strong>rareale Aspekt hier interessante Untersuchungsfel<strong>de</strong>r benennen. Mit‚Erzähler‘ ist schließlich u. a. das Erzählen eigenerForschungshandlungen gemeint. Solche Erzählhandlungen kommenin Hundts einleiten<strong>de</strong>m Textabschnitt nicht vor, son<strong>de</strong>rn erst imfolgen<strong>de</strong>n (hier nicht diskutierten) Metho<strong>de</strong>nteil. Şandor dagegenpräsentiert im weiteren Verlauf ihres Beitrags selbst die eigenenAnalysen rein faktisch-gegenstandsorientiert.• Die Mittlerfigur schließlich überführt „unsichere Aussagen insichere“:Der dialektische Antagonismus zwischen Einspruch und Reformulierung führtnicht nur im Dialog <strong>de</strong>r am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmen<strong>de</strong>n Autoreneiner Community zum Zuwachs von Wissen, son<strong>de</strong>rn die im Medium <strong>de</strong>r Spracheangelegte Möglichkeit <strong>de</strong>r Selbstdistanzierung erlaubt einen Erkenntniszuwachsauch auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r autorschaftlichen Selbstwi<strong>de</strong>rlegung (Steiner 2009: 204).Bei Hundt fin<strong>de</strong>n wir dafür folgen<strong>de</strong>s Beispiel: Man sollte glauben,dass die Ergebnisse aus bei<strong>de</strong>n Korpora sich nicht son<strong>de</strong>rlichunterschei<strong>de</strong>n sollten. Dies – um es vorweg zu sagen – ist nicht <strong>de</strong>rFall.290


3. Epistemische Tugen<strong>de</strong>n und KulturprogrammeWie sind nun diese Unterschie<strong>de</strong> im Umgang mit <strong>de</strong>r eigenen Person beimwissenschaftlichen Schreiben zu erklären? Für unseren Erklärungsvorschlagmöchten wir die kommunikations- und kulturtheoretischen ÜberlegungenSiegfried J. Schmidts (1994) mit <strong>de</strong>n Überlegungen Lorraine Dastons undPeter Galisons (2007) zu ‚epistemischen Tugen<strong>de</strong>n‘ und <strong>de</strong>ren Potential <strong>zur</strong>Formung eines ‚wissenschaftlichen Selbst‘ verbin<strong>de</strong>n. Wir möchtenvorschlagen, <strong>de</strong>n oben aufgezeigten Unterschied in <strong>de</strong>r Darstellung vonAutorschaft wie folgt zu interpretieren: 1) aus kommunikationstheoretischerPerspektive als Unterschied im jeweiligen ‚Kulturprogramm‘ und 2) auserkenntnistheoretischer Perspektive als Unterschied von ‚epistemischenTugen<strong>de</strong>n‘, <strong>de</strong>nen ein bestimmtes Ethos beim Ausdruck 5 von Erkenntniszugrun<strong>de</strong>liegt.1) Siegfried J. Schmidt versteht Kultur als Programm: Erkonzeptualisiert<strong>de</strong>n Gesamtkomplex […] kulturellen Wissens als einen (historisch und sozialvariablen) generativen Mechanismus […], <strong>de</strong>r es Anwen<strong>de</strong>rn möglich macht, einekomplexe und nicht voraussagbare Menge ‚kultureller Aktivitäten‘ i. w. S. zuerzeugen, die von an<strong>de</strong>ren als ‚zu dieser Kultur gehörig/mit dieser Kulturkompatibel‘ akzeptiert wer<strong>de</strong>n (Schmidt 1994: 242; Hervorhebung M.H./ R.N.).Wissen ist <strong>de</strong>m Schmidt’schen Verständnis zufolge also nicht alsabgespeicherte, kognitive Einheit bzw. als Besitz zu verstehen,son<strong>de</strong>rn als eine Fähigkeit, in konkreten Situationen Wissen im Sinne von Denk-,Kommunikations- und Handlungskompetenz zu produzieren, die sozial akzeptiertwird. Wissen resultiert aus Erfahrungen, die in Handlungen, Interaktionen undKommunikationen gemacht und thematisiert wer<strong>de</strong>n, und es orientiert künftigeHandlungen, Interaktionen und Kommunikation, die ihrerseits wie<strong>de</strong>r das Wissenmodifizieren (Schmidt 1994: 241; Hervorhebungen M.H./ R.N.).Wissen und Kommunikation stehen hiernach in einem reziprokenVerhältnis zueinan<strong>de</strong>r: Wissen steuert künftige Kommunikationen und ist5Der Begriff ‚Ausdruck‘ wird hier mit seinen kommunikativen Implikationen inAnlehnung an Karl Bühler (1933/1968: 195-226) verwen<strong>de</strong>t. Für Bühler ist (im Rahmenseiner Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit Wundt) Ausdruck zu verstehen als „eine kommunikativeHandlung im Rahmen einer sozialen Situation, in <strong>de</strong>r die Äußerung an möglicheAdressaten gerichtet wer<strong>de</strong>n kann“ (Jäger 2010: 8).291


selbst Resultat vorausgehen<strong>de</strong>r Kommunikationen. Zu<strong>de</strong>m sind bei<strong>de</strong> ansoziale Akzeptanz geknüpft.Das Kulturprogramm darf nun aber nicht als ein Gesellschaftenübergeordnetes Programm verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. 6 Vielmehr ist vor <strong>de</strong>mHintergrund zunehmend pluralistischer bzw. „funktional differenzierter“Gesellschaften davon auszugehen, dass sich verschie<strong>de</strong>ne Sozialsysteme mitje eigenen (systemspezifischen) Kulturprogrammen ausdifferenzieren (vgl.Schmidt 1994: 249). Kommunikation, Interaktion und Handlungenunterschei<strong>de</strong>n sich also in Gesellschaften je nach <strong>de</strong>n für ein Sozialsystemspezifischen Kulturprogrammen. Als ein Sozialsystem mitsystemspezifischem Kulturprogramm betrachten wir die Wissenschaft (vgl.Hennig/ Niemann i.Dr.b). Aus dieser Annahme folgt, dass <strong>de</strong>rKommunikation in <strong>de</strong>r Wissenschaft ein spezifisches kulturelles Wissenzugrun<strong>de</strong>liegt. Wie Individuen in <strong>de</strong>r Wissenschaft kommunizieren,(sprachlich) han<strong>de</strong>ln und interagieren, ist also stark abhängig von <strong>de</strong>mjeweiligen kulturellen Wissen, das in <strong>de</strong>r Sozialisation erworben wird und<strong>de</strong>n Individuen sozusagen habituell eingeschrieben ist (vgl. Schmidt 1994:236). Nun ist es aber sicherlich problematisch, von <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>rWissenschaft an sich zu sprechen: Es ist davon auszugehen, dass dasSozialsystem Wissenschaft weiter nach Disziplinen, Schulen (Paradigmen),Regionen (Kultur im traditionellen Sinne) etc. differenziert wer<strong>de</strong>n muss: 7Obwohl wir also bei unserer Textanalyse zwei Texte aus <strong>de</strong>m BereichGermanistik vorliegen haben, kann man annehmen, dass gesellschaftlichregionaleFaktoren dazu führen, dass man bei Inlands- undAuslands<strong>germanistik</strong> von zwei Sozialsystemen mit je spezifischenKulturprogrammen ausgehen kann. Die Wissenschaftler in bei<strong>de</strong>nBereichen haben unterschiedliche sozialisatorische Hintergrün<strong>de</strong> undfolglich Unterschie<strong>de</strong> im kollektiven, kulturellen Wissen. Und obwohl dieWissenschaftler bei<strong>de</strong>r Bereiche in etwa <strong>de</strong>n gleichen Gegenstan<strong>de</strong>rforschen, darf man davon ausgehen, dass ihr Kommunikationsverhaltenaufgrund habitueller Unterschie<strong>de</strong> differiert. In diesem Sinne liefern die6 Es macht „wohl wenig Sinn, von <strong>de</strong>r Kultur einer Gesellschaft zu sprechen, die Re<strong>de</strong> vonKulturen dürfte angemessener sein“ (Schmidt 1994: 245). An an<strong>de</strong>rer Stelle heißt es: „DieKultur hat es wohl nie gegeben“ (Schmidt 1994: 247).7 Hierzu sei auf einschlägige Arbeiten etwa zum disziplinspezifischen (vgl. etwa Lehnen2009) o<strong>de</strong>r kulturspezifischen Schreiben in <strong>de</strong>r Wissenschaft (vgl. etwa Jakobs 1997;Kaiser 2002) sowie zu kulturellen Unterschie<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Wissenschaftssprache (vgl. etwaVassileva 2000; Kresta 1995) verwiesen. Diese Kulturbegriffe unterschei<strong>de</strong>n sichallerdings von <strong>de</strong>m hier vorgestellten (s. o.).292


kommunikationstheoretischen Überlegungen Schmidts uns zunächst einmalArgumente für Erklärungen auf allgemein kommunikativer Ebene. Dochwarum ist gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Umgang mit <strong>de</strong>r eigenen Person beimErkenntnisausdruck so unterschiedlich? Für die Beantwortung dieser Fragescheinen erkenntnistheoretische Überlegungen hilfreich zu sein:2) In ihrer Arbeit über die Geschichte <strong>de</strong>r Objektivität zeigenLorraine Daston und Peter Galison (2007), dass Objektivität ein noch relativjunges Phänomen ist: Objektivität liegt ihnen zufolge erst seit etwa Mitte<strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts <strong>de</strong>m wissenschaftlichen Prozess als möglicheOrientierung zugrun<strong>de</strong> (vgl. auch Daston 2002). Während zuvor im Rahmen<strong>de</strong>r sog. Naturwahrheit <strong>de</strong>r Wissenschaftler selbst sich vernunftgemäßeEingriffe bei <strong>de</strong>r Erkenntnisgewinnung gestattete (bzw. diese Eingriffesogar notwendig erschienen) (vgl. Daston/ Galison 2007: bspw. 79), hatte ervon nun an solche Eingriffe unbedingt zu unterlassen. Der objektiveWissenschaftler hatte „Willen <strong>zur</strong> Willenlosigkeit“ (Daston/ Galison 2007:41) zu zeigen; er musste sich zwingen, seine eigene Person zu unterdrückenund sich sozusagen ‚hinter die Fakten bzw. <strong>de</strong>n Gegenstand zu stellen‘.Dieser neuen Weise <strong>de</strong>s Erkennens ist also eine entsprechen<strong>de</strong> Ethik an dieSeite gestellt, 8 nach <strong>de</strong>r jegliche Form <strong>de</strong>r Subjektivität aus <strong>de</strong>mErkenntnisprozess zu tilgen sei. 9 Das Individuum, <strong>de</strong>r Wissenschaftler,musste von nun an so beschaffen sein, dass er diesem Ethos entsprach (vgl.Daston/ Galison 2007: 206).In diesem Sinne sehen Daston und Galison Objektivität als eine„epistemische Tugend“ an (vgl. 2007: 35) 10 , womit sie Folgen<strong>de</strong>s meinen:„Sie [= epistemische Tugen<strong>de</strong>n; M.H./ R.N.] sind Normen, die ebenso durchBerufung auf ethische Werte wie auf ihre pragmatische Wirksamkeit beimWissensgewinn verinnerlicht und verstärkt wer<strong>de</strong>n“ (Daston/ Galison 2007:43; Hervorhebung M.H./ R.N.). Außer<strong>de</strong>m konstatieren sie: „Der Terminus‚epistemische Tugen<strong>de</strong>n‘ mit seinen ethischen Untertönen ist berechtigt. In8Ein roter Fa<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Argumentation <strong>de</strong>r Autoren ist die Verwobenheit vonErkenntnistheorie und Ethik: „Eine Erkenntnistheorie ohne Ethos mag <strong>de</strong>nkbar sein, aberbegegnet sind wir noch keiner. Solange Erkenntnis einen Erkennen<strong>de</strong>n postuliert undsolange <strong>de</strong>r Erkennen<strong>de</strong> als potentielle Hilfe o<strong>de</strong>r Hür<strong>de</strong> für die Erwerbung von Erkenntnisgilt, wird sein Selbst ein erkenntnistheoretisches Thema sein“ (Daston/ Galison 2007: 43).9 „Ethisch nennen wir Verhaltensnormen, die eine Weise <strong>de</strong>s In-<strong>de</strong>r-Welt-Seins regulieren,ein Ethos im Sinn von Sittlichkeit, <strong>de</strong>r gewohnheitsmäßigen Haltung eines einzelnen o<strong>de</strong>reiner Gruppe“ (Daston/ Galison 2007: 42).10 Als weitere ‚epistemische Tugen<strong>de</strong>n‘ führen sie Wahrheit, Gewissheit, Genauigkeit undWie<strong>de</strong>rholbarkeit auf (vgl. Daston/ Galison 2007: 35). Inwiefern Wahrheit und Objektivitätsich unterschei<strong>de</strong>n, wird pointiert auch in Daston (2002) gezeigt.293


<strong>de</strong>r Suche nach Wahrheit o<strong>de</strong>r Objektivität o<strong>de</strong>r Genauigkeit vermähltensich Ethos und Erkenntnistheorie ausdrücklich“ (Daston/ Galison 2007:215). Durch eine epistemische Tugend wird ein „wissenschaftliches Selbst“(vgl. Daston/ Galison 2007: 37-41) geformt: In sog. „Techniken <strong>de</strong>s Selbst“wird dieses ‚wissenschaftliche Selbst‘ eingeübt und gefestigt (vgl. Daston/Galison 2007: 40). Eng mit diesen Techniken <strong>de</strong>r Selbstprägung verwobensind allgemeine wissenschaftliche Praktiken, weshalb die Autorenannehmen, anhand konkreter wissenschaftlicher Handlungsresultateabstrakte Begriffe wie Objektivität untersuchen zu können (vgl. Daston/Galison 2007: 43-44 und 205). Denn, so die Autoren,wenn man Begriffe durch Handlungen ersetzt und Praktiken statt Be<strong>de</strong>utungenuntersucht, lichtet sich <strong>de</strong>r Nebel, <strong>de</strong>r die Vorstellung von Objektivität umgibt.Dann zerfällt wissenschaftliche Objektivität in die Gesten, Techniken,Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die sich durch Schulung und täglicheWie<strong>de</strong>rholung tief eingeprägt haben (Daston/ Galison 2007: 56).Die Autoren nehmen also an, dass „epistemische Werte Praxis wiePrinzip <strong>de</strong>r Wissenschaften“ (Daston/ Galison 2007: 19; HervorhebungM.H./ R.N.) durchdringen. Demzufolge zeigen sich epistemische Tugen<strong>de</strong>nwie Objektivität in konkreten Handlungen bzw. Handlungsresultaten,weshalb man umgekehrt auch sagen kann, dass sich mit <strong>de</strong>r Untersuchungvon konkreten Handlungen bzw. Handlungsresultaten Rückschlüsse aufzugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong> epistemische Tugen<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>ren inhärente ethischeWerte ziehen lassen. Zu <strong>de</strong>n die Autoren interessieren<strong>de</strong>n Praktikengehörte, daß man die Sinne für die wissenschaftliche Beobachtung schärfte,Protokolle über Laboruntersuchungen führte, Anschauungsbeispiele zeichnete,gewohnheitsmäßig die eigenen Überzeugungen und Hypothesen überwachte, <strong>de</strong>nWillen zum Schweigen brachte und die Aufmerksamkeit kanalisierte. MitFoucault 11 nehmen wir an, daß diese Praktiken ein Selbst nicht nur zum Ausdruckbringen, son<strong>de</strong>rn auch formen und konstituieren. Radikale Unterschie<strong>de</strong> inPraktiken verweisen ein<strong>de</strong>utig auf Unterschie<strong>de</strong> im Selbst“ (Daston/ Galison 2007:209; Hervorhebung M.H./ R.N.).Eine u. E. wesentliche wissenschaftliche Praktik ist außer<strong>de</strong>m daswissenschaftliche Schreiben. 12 Zwar wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>m vorausgehen<strong>de</strong>n Zitat11 In diesem Abschnitt nehmen die Autoren Bezug auf Foucault (2005a, b).12 Daston und Galison untersuchen Abbildungen in wissenschaftlichen Atlanten aus <strong>de</strong>nBereichen Naturwissenschaft und Medizin (vgl. Daston/ Galison 2007: 19-20). DasKonzept <strong>de</strong>r ‚epistemischen Tugend‘ ist u. E. aber nicht auf <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r294


unter Praktiken nur solche subsumiert, die bei <strong>de</strong>r Erkenntnisgewinnungzum Tragen kommen. U. E. liegen darüber hinaus aber auch <strong>de</strong>n Praktiken<strong>de</strong>s Erkenntnisausdrucks, genauer <strong>de</strong>s schriftsprachlichen Ausdrucks (sieheFußnote 5), epistemische Werte zugrun<strong>de</strong>. Man kann <strong>de</strong>mnach sicherlichauch von einer ‚epistemischen Tugend‘ sprechen, wenn bspw. einemöglichst hohe intersubjektive Allgemeingültigkeit beim wissenschaftssprachlichenAusdruck angestrebt wird. Der schreiben<strong>de</strong> Wissenschaftlersoll in diesem Fall suggerieren, dass das Wissen bzw. die Erkenntnisunabhängig von ihm, also allgemeingültig, besteht, obwohl es, genaugenommen, immer dargestelltes Wissen bleibt. Folglich, so unsereVermutung, lassen sich Rückschlüsse vom wissenschaftlichen Sprachgebrauchauf eine zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong> epistemische Tugend und ein damitverbun<strong>de</strong>nes wissenschaftliches Selbst ziehen. 13In Bezug auf <strong>de</strong>n oben angestellten Textvergleich möchten wir also,wie oben bereits ange<strong>de</strong>utet, vorschlagen, die aufgezeigten Unterschie<strong>de</strong> in<strong>de</strong>r Autorpräsenz aus erkenntnistheoretischer Perspektive alsMaterialisierung zweier unterschiedlicher ‚epistemischer Tugen<strong>de</strong>n‘ zuinterpretieren. Die inlandsgermanistische Gruppenorientierung undauslandsgermanistische Gegenstandsorientierung scheinen auf eindifferieren<strong>de</strong>s ‚wissenschaftliches Selbst‘ hinzu<strong>de</strong>uten, <strong>de</strong>m beimErkenntnisausdruck in <strong>de</strong>m einen Fall ein mehr subjektives,selbstinszenieren<strong>de</strong>s und in <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Fall ein objektives, darstellen<strong>de</strong>sEthos zugrun<strong>de</strong>liegt. Die Wissenschaftler sind in diesem Fall also sobeschaffen (s. o.), dass sie <strong>de</strong>m jeweiligen Ethos beim Ausdruck vonErkenntnis folgen.Naturwissenschaften beschränkt, son<strong>de</strong>rn ist durchaus auch auf die Geisteswissenschaftenübertragbar. Dass wir uns hier auf Texte aus <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r Geisteswissenschaftenkonzentrieren, soll nicht be<strong>de</strong>uten, dass unser Vorschlag nur in Bezug auf diesen Bereichangewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n kann.13 Es ist hier allerdings nicht unser Ziel, eine genaue Charakterisierung <strong>de</strong>r ‚epistemischenTugen<strong>de</strong>n‘, wie sie von Daston und Galison bspw. für die ‚Naturwahrheit‘ und die‚mechanische Objektivität‘ vorgenommen wird (vgl. Daston/ Galison 2007: 59-119 und121-200), auch für die Inlands- und Auslands<strong>germanistik</strong> zu konzipieren. Wir verfolgenhier lediglich die Absicht, zu zeigen, dass ‚epistemische Tugen<strong>de</strong>n‘ mit ihrer inhärentenWerteorientierung auch aus wissenschaftssprachlichen Ausdrucksformen ableitbar sind.Der sprachliche Ausdruck lässt u. E. Schlüsse auf das ‚wissenschaftliche Selbst‘ zu. Ganzallgemein verfolgen wir also lediglich das Ziel, das Konzept <strong>de</strong>r ‚epistemischen Tugend‘mit seinem Potential <strong>zur</strong> Formung eines ‚wissenschaftlichen Selbst‘ für die Analysewissenschaftssprachlichen Han<strong>de</strong>lns fruchtbar zu machen.295


4. ZusammenfassungMit <strong>de</strong>m hier vorgestellten exemplarischen Textvergleich eines inlands- undauslandsgermanistischen Textausschnitts wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Versuch unternommen,grundsätzliche Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Autorpräsenz aufzuzeigen und zuerklären. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen,dass wir unseren Ansatz als rein <strong>de</strong>skriptiv verstehen.In <strong>de</strong>r Textanalyse wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>utlich, dass <strong>de</strong>r Umgang mit <strong>de</strong>r eigenenPerson beim wissenschaftlichen Schreiben sich in <strong>de</strong>r Auslands- undInlands<strong>germanistik</strong> unterschei<strong>de</strong>t. Pointiert zusammengefasst kann man mitvon Polenz (1981) sagen: In <strong>de</strong>r Auslands<strong>germanistik</strong> schreibt mangegenstandsorientiert und in <strong>de</strong>r Inlands<strong>germanistik</strong> schreibt mangruppenorientiert. 14 Bei dieser lassen sich bestimmte, einen diskursivenRahmen konstituieren<strong>de</strong> Autorfiguren (Steiner 2009) ausmachen, die beijener so nicht anzutreffen sind.Wie oben bereits erwähnt, kann man laut Schlömer (2012) undBreitkopf/ Vassileva (2007) für <strong>de</strong>n osteuropäischen Wissenschaftssprachstileine gewisse Neigung zum unpersönlichen sprachlichen Ausdruckkonstatieren. Um die von uns aufgezeigten grundsätzlichen Unterschie<strong>de</strong> in<strong>de</strong>r Autorpräsenz und damit einhergehend auch diese Neigung <strong>de</strong>sosteuropäischen Stils erklären zu können, haben wir vorgeschlagen, einesowohl kommunikations- als auch erkenntnistheoretische Perspektiveeinzunehmen: Aus kommunikationstheoretischer Perspektive sehen wir dieunterschiedlichen Handlungs- und Ausdrucksweisen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Texte alsMaterialisierung eines je zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n ‚Kulturprogramms‘. Insofernzeigen sich hier also habitualisierte Kommunikationsweisen, die für dasjeweilige Sozialsystem spezifisch sind: Wie kommuniziert wird, wird vomjeweiligen ‚Kulturprogramm‘ vorgegeben und basiert also auf kollektivem,kulturellem Wissen. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive verstehen wir<strong>de</strong>n Unterschied bei<strong>de</strong>r Textteile als Materialisierung unterschiedlicher‚epistemischer Tugen<strong>de</strong>n‘. In Auslands- und Inlands<strong>germanistik</strong>unterschei<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>mnach das Ethos, das bestimmt, wie Erkenntnisauszudrücken ist und welche Rolle die Person <strong>de</strong>s Wissenschaftlers dabeispielt.14 Der absolute Anschein dieser Feststellung hält wahrscheinlich bei näherer Betrachtung<strong>de</strong>r Realität (wie immer) nicht stand. Man kann hier also sicherlich nicht von einerdichotomisch-bipolaren Gegenüberstellung ausgehen, son<strong>de</strong>rn muss wohl eher ein skalaresVerhältnis annehmen.296


Mit <strong>de</strong>r hier vorgestellten Analyse kann und soll, wie oben bereitsbetont, kein Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben wer<strong>de</strong>n. Dievorgestellten Ergebnisse wären also statistisch zu überprüfen. Darüberhinaus erscheint eine weitere und tiefergehen<strong>de</strong> kultur- und erkenntnistheoretischeBeschäftigung mit <strong>de</strong>m Wissenschaftssprachgebrauch (nichtnur beim Vergleich von Inlands- und Auslands<strong>germanistik</strong>) als ein überausfruchtbarer Bo<strong>de</strong>n nicht nur für die Wissenschaftskommunikationsforschung,son<strong>de</strong>rn auch für die Erforschung <strong>de</strong>r Wissenschaftsgeschichtesowie für die Bereiche <strong>de</strong>r Wissenschaftstheorie und Wissenschaftssoziologie.QuellenHundt, Markus (2011): Doppelte Perfektkonstruktionen mit haben und sein.Funktionale Gemeinsamkeiten und paradigmatische Unterschie<strong>de</strong>. In:Deutsche Sprache 1, 1-24.Şandor, Mihaela (2008): Zur Grammatikalisierung <strong>de</strong>r doppeltenPerfektformen. In: Temeswarer Beiträge <strong>zur</strong> Germanistik 6, 29-45.LiteraturBreitkopf, Anna/ Vassileva, Irena (2007): Osteuropäischer Wissenschaftsstil.In Peter Auer/ Harald Baßler (Hrsg.): Re<strong>de</strong>n und Schreiben in<strong>de</strong>r Wissenschaft, Frankfurt/ New York: Campus, 211-224.Bühler, Karl (1933/1968): Ausdruckstheorie. Das System an <strong>de</strong>rGeschichte aufgezeigt. 2. Aufl., Stuttgart: Fischer.Daston, Lorraine (2002): Eine Geschichte <strong>de</strong>r wissenschaftlichenObjektivität. In: Renate Mayntz (Hrsg.): Akteure – Mechanismen –Mo<strong>de</strong>lle. Zur Theoriefähigkeit makro-sozialer Analysen,Frankfurt/Main: Campus, 44-60.Daston, Lorraine/ Galison, Peter (2007): Objektivität, Frankfurt/Main:Suhrkamp.Foucault, Michel (2005a): Subjektivität und Wahrheit. In: Ders.: Dits etEcrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 258-264.Foucault, Michel (2005b): Über sich selbst schreiben. In: <strong>de</strong>rs.: Dits etEcrits. Schriften. Bd. 4, Frankfurt/Main.: Suhrkamp, 503-521.Hennig, Mathil<strong>de</strong>/ Niemann, Robert (i.Dr.a): Unpersönliches Schreiben in<strong>de</strong>r Wissenschaft. Eine Bestandsaufnahme. Erscheint in: Info DaF.297


Hennig, Mathil<strong>de</strong>/ Niemann, Robert (i.Dr.b): Unpersönliches Schreiben in<strong>de</strong>r Wissenschaft. Kompetenzunterschie<strong>de</strong> im interkulturellenVergleich. Erscheint in: Info DaF.Hyland, Ken (2009): Aca<strong>de</strong>mic discourse. English in a global context,Chennai: Newgen.Jäger, Ludwig (2010): Sprache als Organon. Karl Bühlers Beitrag <strong>zur</strong>Begründung <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Sprachwissenschaft. In: Sprache undLiteratur 105, 3-17.Jakobs, Eva-Maria (1997): Textproduktion als domänen- und kulturspezifischesHan<strong>de</strong>ln. Diskutiert am Beispiel wissenschaftlichenSchreibens. In: Kirsten Adamzik/ Gerd Antos/ Eva-Maria Jakobs(Hrsg.): Domänen- und kulturspezifisches Schreiben, Frankfurt/Main et al.: Lang, 9-30.Kaiser, Dorothee (2002): Wege zum wissenschaftlichen Schreiben. Einekontrastive Untersuchung zu stu<strong>de</strong>ntischen Texten aus Venezuelaund Deutschland, Tübingen: Stauffenburg.Kresta, Ronald (1995): Realisierungsformen <strong>de</strong>r Interpersonalität in vierlinguistischen Fachtextsorten <strong>de</strong>s Englischen und Deutschen,Frankfurt/Main et al.: Lang (Theorie und Vermittlung <strong>de</strong>r Sprache 24).Lehnen, Katrin (2009): Disziplinspezifische Schreibprozesse und ihreDidaktik. In: Lévy-Tödter, Magdalène/ Meer, Dorothee (Hrsg.):Hochschulkommunikation in <strong>de</strong>r Diskussion, Frankfurt/Main:Lang, 281-300.Oksaar, Els (1998): Das Postulat <strong>de</strong>r Anonymität für <strong>de</strong>nFachsprachengebrauch. In: Hartwig Kalverkämper/ Herbert ErnstWiegand (Hrsg.): Fachsprachen. Ein internationales Handbuch <strong>zur</strong>Fachsprachenforschung, Berlin/ New York: <strong>de</strong> Gruyter (Handbücher<strong>zur</strong> Sprach- und Kommunikationswissenschaft 14.1), 397-401.von Polenz, Peter (1981): Über die Jargonisierung von Wissenschaftsspracheund wi<strong>de</strong>r die Deagentivierung. In: Theo Bungarten (Hrsg.):Wissenschaftssprache. Beiträge <strong>zur</strong> Methodologie, theoretischenFundierung und Deskription, München: Fink, 85-110.Schlömer, Anne (2012): Interkulturelle Aspekte <strong>de</strong>r Wissenschaftskommunikationam Beispiel <strong>de</strong>r Textsorte wissenschaftlicher Aufsatz.In: Professional communication and translation studies 5, 48-64.Schmidt, Siegfried J. (1994): Kognitive Autonomie und sozialeOrientierung, Frankfurt/Main: Suhrkamp (suhrkamp taschenbuchwissenschaft 1128).298


Steiner, Felix (2009): Dargestellte Autorschaft. Autorkonzept undAutorsubjekt in wissenschaftlichen Texten, Tübingen: Niemeyer(Reihe Germanistische Linguistik 282).Steinhoff, Torsten (2007): Wissenschaftliche Textkompetenz. Sprachgebrauchund Schreibentwicklung in wissenschaftlichen Textenvon Stu<strong>de</strong>nten und Experten, Tübingen: Niemeyer.Vassileva, Irena (2000): Who ist he author? A contrastive analysis ofauthorial presence in English, German, French, Russian andBulgarian aca<strong>de</strong>mic discourse, Sankt Augustin: Asgard (Sprachenund Sprachenlernen 309).299


RezensionenIoan Lăzărescu, Hermann Scheuringer, Stefan Sienerth (Hrsg.):Beiträge <strong>zur</strong> <strong>de</strong>utschen Mundart- und Fachlexikografie, München: IKGSVerlag, 2011, 249 Seiten, ISBN 978-3-942739-04-7.Die Herausgabe 2011 – unter <strong>de</strong>r Ägi<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Instituts für <strong>de</strong>utsche Kulturund Geschichte Südosteuropas an <strong>de</strong>r Ludwig-Maximilians-Universität(IKGS) München – eines kollektiven Ban<strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>m Titel Beiträge <strong>zur</strong><strong>de</strong>utschen Mundart- und Fachlexikografie stellt einen wahrenMeilenstein im Bereich <strong>de</strong>r gegenwärtigen lexikografischen Untersuchungendar, einerseits dank <strong>de</strong>n internationalen Beiträgern (ausDeutschland, Österreich, Rumänien, Ungarn) und an<strong>de</strong>rerseits durchausschlaggeben<strong>de</strong> und tief greifen<strong>de</strong> Thesen auf <strong>de</strong>m erwähnten Gebiet.Herausgegeben von Ioan Lăzărescu, Hermann Scheuringer und StefanSienerth, versteht sich vorliegen<strong>de</strong>r Band als wegbereiten<strong>de</strong>s Werk, <strong>de</strong>ssenZiel es ist, <strong>zur</strong> Fortentwicklung <strong>de</strong>r Lexikografie beizutragen undabwechslungsreiche Zugänge dabei zu eröffnen.Der erste Teil, Mundartlexikografie, <strong>de</strong>r insgesamt sieben Beiträgezu <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten linguistischen Aspekten <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Mundart inRumänien und Ungarn beinhaltet, ist <strong>de</strong>r eigentliche Sammelband zumwissenschaftlichen Symposium „Lexikografie <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Mundarten inSüdosteuropa“, das vom Institut für <strong>de</strong>utsche Kultur und GeschichteSüdosteuropas an <strong>de</strong>r Ludwig-Maximilians-Universität München inZusammenarbeit mit <strong>de</strong>m Institut für geschichtliche Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> <strong>de</strong>rRheinlan<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Universität Bonn veranstaltet wur<strong>de</strong>.In <strong>de</strong>m einleiten<strong>de</strong>n Beitrag (S. 17-22) bringt Werner Besch, Emeritus <strong>de</strong>rUniversität Bonn und Mitglied <strong>de</strong>s Wissenschaftlichen Beirats, <strong>de</strong>r dieArbeiten am Nordsiebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch begleitet hat,Einzelaspekte <strong>zur</strong> Entstehungsgeschichte <strong>de</strong>s besagten Werkes, daszwischen <strong>de</strong>n Jahren 1986-2006 erschienen ist. Es folgen zwei Beiträge, dieals Hauptthema von beachtlichem Ausmaß das Siebenbürgisch-SächsischeWörterbuch haben: Sigrid Hal<strong>de</strong>nwang (Hermannstadt), die Leiterin <strong>de</strong>rHermannstädter Forschungsstelle, stellt die Entstehungsgeschichte und diejüngsten Etappen in <strong>de</strong>r Ausarbeitung und Erstellung <strong>de</strong>s Standardwörterbuchsvor (S. 23-31), während Stefan Sienerth (München) <strong>de</strong>nbeeindrucken<strong>de</strong>n Beitrag und die vielfache Unterstützung <strong>de</strong>rsiebenbürgischen Literaten, was dieses Riesenprojekt anbelangt, hervorhebt(S. 33-52). Die Sachlage <strong>de</strong>s Projektes Wörterbuch <strong>de</strong>r Banater301


<strong>de</strong>utschen Mundarten wird von Alvina Ivănescu (Temeswar) erörtert (S.53-66), in<strong>de</strong>m sie auf die Makrostruktur, die Mikrostruktur sowie dieMediostruktur <strong>de</strong>s zukünftigen Banater Dialektwörterbuchs eingeht.Auf Einzelheiten über die lexikografische Erfassung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschenMundarten in Ungarn und das künftige Wörterbuch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschenMundarten in Ungarn weist Elisabeth Knipf-Komlósi (Budapest) hin (S.67-79), während Rodica-Cristina Ţurcanu (Baia Mare) <strong>de</strong>n Sprach- undKulturkontakt <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen nationalen Min<strong>de</strong>rheiten in <strong>de</strong>rMaramuresch-Gegend beschreibt und dabei die Historizität vonSprachkontaktelementen sowie die Mehrsprachigkeit und die Sprachkreativitätin <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund stellt (S. 81-104).Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s ersten Teils <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s referiert Kurt Rein(München), jahrelanges Mitglied <strong>de</strong>s Wissenschaftlichen Beirats für dasNordsiebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch, über die Leistungen un<strong>de</strong>rwünschten Bestrebungen bei <strong>de</strong>r lexikografischen Erfassung <strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen Mundarten im südöstlichen Teil Europas (S. 105-110).Der darauffolgen<strong>de</strong> Teil, Fachlexikografie, führt die Ergebnisseeiner ausführlichen lexikografischen Abhandlung aus mannigfaltigenGesichtspunkten an. Die sieben dazugehörigen Beiträge setzen sichschwerpunktmäßig als Ziel, Aspekte <strong>de</strong>s Verfassens von Fachwörterbüchernnäher zu behan<strong>de</strong>ln.Der im Bereich <strong>de</strong>r Sprachvarietät angesie<strong>de</strong>lte Aufsatz vonManfred Michael Glauninger (Wien) eröffnet diese Reihe mit einerÜbersicht über das österreichische Deutsch, <strong>de</strong>ssen beson<strong>de</strong>re Wesenszügeund <strong>de</strong>ssen Gemeinsamkeiten mit <strong>de</strong>m Rumänien<strong>de</strong>utschen vornehmlich auflexikalischer und pragmatischer Ebene (S. 113-132). Hermann Scheuringer(ehemals Wien, <strong>zur</strong>zeit Regensburg) und Ioan Lăzărescu (Bukarest) bietenihr mühsames, <strong>de</strong>mnach preiswürdiges Unterfangen dar, <strong>de</strong>r Leserschaft einösterreichisch-rumänisches Wörterbuch <strong>zur</strong> Verfügung zu stellen, <strong>de</strong>rweilsie beson<strong>de</strong>rs auf inhaltliche Aspekte eingehen (S. 133-149). DieHermannstädter Sprachforscherin Doris Sava legt Desi<strong>de</strong>rata für dieerfolgreiche Erstellung eines phraseologischen Wörterbuchs fest, in<strong>de</strong>m sieauf „Umgestaltungsmöglichkeiten und Aufgabenstellungen <strong>de</strong>r rumänischenphraseografischen Praxis“ (S. 151-171) hinweist. Lanciert wird von ThomasSchares (Bukarest) (S. 173-185) ein wohl durchdachtes Forschungsvorhaben,wie ein Lexikon mit Einträgen aus <strong>de</strong>r Goethe’schen Dichtung zuerstellen ist.Eleonora Boldojar (ebenfalls Bukarest) schlägt in ihrem Beitrag (S.187-196) einen „Entwurf einer <strong>de</strong>utsch-rumänischen Verbdatenbank“ vor,302


wobei sie sich auf die letzten Entwicklungen <strong>de</strong>r computergestütztenLexikografie stützt. Auf eine praxisorientierte lexikografische Untersuchunggeht Ana Iroaie (Bukarest) ein, in<strong>de</strong>m sie Angaben eines vollständigenzweisprachigen Valenzwörterbuchs am Beispiel <strong>de</strong>s Lemmas Vorwurf –reproş vorstellt (S. 197-217).Der letzte Beitrag, unterschrieben von Ioan Lăzărescu und GreteKlaster-Ungureanu (München), berichtet von <strong>de</strong>r Veröffentlichung <strong>de</strong>rdritten Auflage <strong>de</strong>s großen Deutsch-Rumänischen Wörterbuchs <strong>de</strong>rAka<strong>de</strong>mie 2007, das sich als nützliches und nötiges Instrument für je<strong>de</strong>nGermanisten erweist (S. 219-239).Zum Schluss sei erwähnt, dass <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong> Bandbezeichnen<strong>de</strong>rweise als gewagtes, aber zugleich gelungenes Unternehmengilt, einen lange Zeit vernachlässigten Forschungsbereich gründlichauszubeuten, um mannigfaltige Aufgaben <strong>de</strong>r heutigen, zum Teil noch in<strong>de</strong>r Entwicklung begriffenen rumänien<strong>de</strong>utschen Mundart- undFachlexikografie aufzugreifen und zu erläutern. Es bleibt jetzt nur weiteresolche lobenswerten Initiativen zu wünschen.Julianne Thois (Bukarest)Mihai Crudu (Suczawa)303


Wörterbuch <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten. Band I (A – C).Begrün<strong>de</strong>t vom Temeswarer Lehrstuhl für Germanistik, bearbeitet von PeterKottler (A – abends), Ileana Irimescu (abhalten – Alkohol), Alwine Ivănescu(all – Axthaus), Eveline Hâncu (B – Bo<strong>de</strong>ga), Mihaela Şandor (Abendschule– abhalftern, Bo<strong>de</strong>n – Csárdás), München: IKGS Verlag (Literatur undSprachgeschichte Band 128), 2013, CXXXV, 348 Seiten, 5 Karten, ISBN:978-3-942739-07-8.Das Wörterbuch <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten. Band I (A – C) ist<strong>de</strong>r erste Band eines Wörterbuchs, das auf einem langjährigen Projekt <strong>de</strong>sTemeswarer Lehrstuhls für Germanistik fußt. Die bereits 1957 – ein Jahrnach <strong>de</strong>r Gründung <strong>de</strong>s Lehrstuhls – ins Leben gerufene zentrale Sammelstellewidmete sich von Anfang an <strong>de</strong>r „Erhebung von Daten aus allenBanater Ortschaften“ (S. XI) mit <strong>de</strong>m Ziel, die <strong>de</strong>utschen Mundarten <strong>de</strong>sBanats zu erforschen. Erst „ab 1968 rückte immer stärker das Ziel, einWörterbuch <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten zu erstellen, in <strong>de</strong>nVor<strong>de</strong>rgrund“ (S. XV). Das Wörterbuch versteht sich als „Wörterbuch <strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen Mundarten <strong>de</strong>s rumänischen Banats, das in großem Maße einehistorische Etappe <strong>de</strong>s Dialektgebrauchs <strong>de</strong>r 60er und 70er Jahre <strong>de</strong>s 20.Jh.s wie<strong>de</strong>rgibt“ (S. XXVIII). Es setzt sich zum Ziel, „<strong>de</strong>n Sprachschatzeiner in unaufhaltsamem Rückgang befindlichen Sprachinsel in seinerlautlichen, grammatischen und be<strong>de</strong>utungsmäßigen Eigenart zu erfassen undnach wissenschaftlichen Grundsätzen darzustellen“ (S. VII).Die ausführliche Einleitung gibt Auskunft über die Erforschung <strong>de</strong>rBanater <strong>de</strong>utschen Mundarten und die Entstehung <strong>de</strong>s Wörterbuchs sowieüber die Einteilung und Kennzeichnung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Mundarten <strong>de</strong>s rumänischenBanats (dazu auch zwei Karten, S. LIX und LX). Ebenfalls in <strong>de</strong>rEinleitung enthalten sind die Hinweise <strong>zur</strong> Benutzung <strong>de</strong>s Wörterbuchs, einVerzeichnis <strong>de</strong>r Abkürzungen, <strong>de</strong>r zitierten Quellen und Wörterbüchersowie ein Verzeichnis <strong>de</strong>r als Quellen dienen<strong>de</strong>n unveröffentlichtenDiplomarbeiten über <strong>de</strong>utsche Mundarten <strong>de</strong>s Banats, ein Verzeichnis <strong>de</strong>rLiteratur zu <strong>de</strong>n Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten und mehrere Ortsverzeichnisse(nach <strong>de</strong>utschen Ortsnamen, nach rumänischen Ortsnamenund nach Dialektzugehörigkeit).Aus <strong>de</strong>r Einleitung erfährt man, dass das Ortsnetz <strong>de</strong>s Wörterbuchs<strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten 158 Ortschaften mit <strong>de</strong>utschsprachigemBevölkerungsanteil aus <strong>de</strong>n Kreisen Temesch, Arad undKarasch-Severin umfasst. Die umfangreiche Materialgrundlage entstand imLaufe <strong>de</strong>r Jahre (seit 1957) zum größten Teil durch direkte Aufnahmen in305


<strong>de</strong>n Banater Dörfern mit <strong>de</strong>utschem Bevölkerungsanteil, an <strong>de</strong>nen sichLehren<strong>de</strong> und Studieren<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Germanistik beteiligten. „Die zuverlässigstenQuellen sind dabei die über 200 Diplomarbeiten, von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>ren Verfasser<strong>de</strong>r Sammelstelle je ein Exemplar überließen“ (S. XX). Einen weiteren Teil<strong>de</strong>s Korpus machen Exzerpte aus <strong>de</strong>r Mundartliteratur und <strong>de</strong>mMundartschrifttum aus.Die Hinweise <strong>zur</strong> Benutzung <strong>de</strong>s Wörterbuchs helfen <strong>de</strong>m Leser, dieim Wörterbuch enthaltenen Informationen zu entschlüsseln. Sie gebenAuskunft über die Struktur <strong>de</strong>s Wörterbuchs und über die Prinzipien, die <strong>de</strong>rBearbeitung <strong>de</strong>s Mundartmaterials zugrun<strong>de</strong> liegen. Die Lemmata sind striktalphabetisch angeordnet, was eine leichte Auffindbarkeit und Orientierunggewährleistet. Homonyme sind durch hochgestellte arabische Zahlen vor<strong>de</strong>m Lemma gekennzeichnet; so z.B.: 1 aufpicken ‚mit <strong>de</strong>m Schnabelpickend aufnehmen‘ und 2 aufpicken ‚aufkleben‘.Die Struktur <strong>de</strong>r Wortartikel enthält folgen<strong>de</strong> Informationspositionen:Lemma, Angaben <strong>zur</strong> Wortart, Lautkopf, Be<strong>de</strong>utungsangaben,lexikografische Beispiele, onomasiologische Angaben, etymologischeAngaben, Verweise auf Dialektwörterbücher <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Sprachraumsund <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprachinseln in Rumänien, auf Sprachatlanten,Monografien und Fachliteratur. Die Informationspositionen sind optischdurch die eingesetzten grafischen Mittel (Fettdruck, Kursivschrift, Trennung<strong>de</strong>r einzelnen Positionen durch einen Spiegelstrich) gut zu unterschei<strong>de</strong>n.Die Hinweise <strong>zur</strong> Benutzung <strong>de</strong>s Wörterbuchs enthalten Erläuterungen zu<strong>de</strong>n einzelnen Positionen und zu ihrer Darstellung im Wörterbuch.Als Lemma ist bei Wörtern, die eine standardsprachliche Entsprechunghaben, die schriftsprachliche Form angesetzt. Bei Wörtern, die keinestandardsprachliche Entsprechung haben, wur<strong>de</strong>n entwe<strong>de</strong>r die Dialektwörterbücher<strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Sprachraums herangezogen o<strong>de</strong>r es wur<strong>de</strong> –falls die entsprechen<strong>de</strong>n Lemmata dort nicht verzeichnet sind – eine <strong>de</strong>rStandardsprache angepasste Schreibweise verwen<strong>de</strong>t, z.B.: anfremmen‚anfertigen lassen‘. Auch Entlehnungen aus <strong>de</strong>n Kontaktsprachen Rumänisch,Ungarisch und Serbokroatisch haben Eingang ins Wörterbuchgefun<strong>de</strong>n. Diese wur<strong>de</strong>n in ihrer mundartlichen Form angesetzt, z.B.Bolunsije ‚Narretei, Blödsinn‘ aus rum. bolânzie ‚Narretei, Blödsinn‘;asʹischgo¸lajat (Ausdruck <strong>de</strong>s Unwillens, <strong>de</strong>r Verärgerung o<strong>de</strong>r auch leichteDrohung) aus ungar. az iskoláját ‚seine Schule‘. Bei Lemmata, die in allenMundarten an<strong>de</strong>rs betont wer<strong>de</strong>n als in <strong>de</strong>r Standardsprache, ist dieBetonung durch ein Akzentzeichen beim Lemma markiert. Dort, wo es306


Varianten gibt, erscheint neben <strong>de</strong>m Hauptlemma auch ein Nebenlemma,z.B. Ast, Nast.Nach <strong>de</strong>m Lemma stehen die Angaben <strong>zur</strong> Wortart und – wo es <strong>de</strong>rFall ist – <strong>zur</strong> Syntax, z.B. aufdonnern schw., refl. Falls ein Substantivverschie<strong>de</strong>ne Genera aufweist, steht die seltenere Form in run<strong>de</strong>nKlammern, z.B.: Ast, Nast m., (n). Dasselbe Prinzip gilt auch bei <strong>de</strong>rKonjugation <strong>de</strong>r Verben, z.B.: abbremsen schw., (st.).Auf die grammatischen Angaben folgt <strong>de</strong>r Lautkopf. Die Beson<strong>de</strong>rheit<strong>de</strong>s Banater <strong>de</strong>utschen Mundartwörterbuchs gegenüber an<strong>de</strong>ren Dialektwörterbüchernbesteht darin, dass es die verschie<strong>de</strong>nen, im Banatnebeneinan<strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Dialekttypen gemeinsam behan<strong>de</strong>lt, weshalb <strong>de</strong>rLautkopf primär nach Dialektgruppen (R – Rheinfränkisch, A –Alemannisch, O – Ost- und Südfränkisch, B – Bairisch und B-F – Bairisch-Fränkisch) und sekundär, innerhalb je<strong>de</strong>r Gruppe, nach Lautformen geglie<strong>de</strong>rtist. Die Lautformen sind in einer <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Rechtschreibungangepassten Schreibweise wie<strong>de</strong>rgegeben und mit Verbreitungsangabenversehen: Belegorte o<strong>de</strong>r Häufigkeitsangaben. Erklärungen <strong>zur</strong> Schreibweise<strong>de</strong>r Lautformen und <strong>zur</strong> phonetischen Umschrift, die bei manchenBelegen eingesetzt wird, fin<strong>de</strong>n sich ebenfalls in <strong>de</strong>n Hinweisen <strong>zur</strong>Benutzung <strong>de</strong>s Wörterbuchs.Auf <strong>de</strong>n Lautkopf folgen die Be<strong>de</strong>utungsangaben, die grafisch durcheine Raute (♦) hervorgehoben sind. Zu je<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung wer<strong>de</strong>n inKursivschrift lexikografische Beispiele aus <strong>de</strong>n Belegorten o<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>mMundartschrifttum gebracht: Syntagmen, Sätze, Re<strong>de</strong>nsarten, Sprichwörter,Bauernregeln, Volksglaube und -medizin, Rätsel und Reime.Dort, wo es das Material erlaubt, wer<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>n Einzelbe<strong>de</strong>utungenSynonyme bzw. Heteronyme angegeben. Grafisch ist diese onomasiologischeVernetzung durch einen senkrechten Pfeil (↑) und durchSperrdruck markiert. Gefolgt wer<strong>de</strong>n die onomasiologischen Angaben beiMundartwörtern, „die schon im mitgebrachten dialektalen Erbgut aus <strong>de</strong>mFranzösischen, Italienischen usw. entlehnt waren und für die sich kein<strong>de</strong>utsches Etymon nachweisen lässt“ (S. LXIX), und bei Entlehnungen aus<strong>de</strong>m Rumänischen, Ungarischen und Serbokroatischen von Informationen<strong>zur</strong> Etymologie. Bei Mundartwörtern, bei <strong>de</strong>nen die Verwandtschaft mit<strong>de</strong>m Neuhoch<strong>de</strong>utschen nicht erkennbar ist, wird auf das Mittel- o<strong>de</strong>rAlthoch<strong>de</strong>utsche verwiesen.Am En<strong>de</strong> eines je<strong>de</strong>n Wörterbuchartikels fin<strong>de</strong>n sich weiterführen<strong>de</strong>Verweise auf Dialektwörterbücher, Sprachatlanten, Fachliteratur o<strong>de</strong>rMonografien. Bei Wörtern, die lautliche o<strong>de</strong>r morphologische Beson<strong>de</strong>r-307


heiten aufweisen, wer<strong>de</strong>n die Wörterbuchartikel durch Punktsymbolkartenergänzt. Im vorliegen<strong>de</strong>n Band I (A – C) ist dies <strong>de</strong>r Fall bei <strong>de</strong>n LemmataAmeise (Karte 1, S. 69), breit (Karte 2, S. 288) und Brombeere (Karte 3, S.302).Die Struktur <strong>de</strong>r Wortartikel ist – trotz <strong>de</strong>r Berücksichtigung aller imBanat vertretenen Mundartgruppen – sehr übersichtlich. Durch dieTrennung <strong>de</strong>r einzelnen Informationspositionen mithilfe <strong>de</strong>s Spiegelstrichsund durch <strong>de</strong>n Einsatz bestimmter Hilfsmittel und Symbole, die Wichtigeshervorheben (Lemma und Mundartgruppen – Fettdruck, Lautformen undlexikografische Beispiele – Kursivschrift, Be<strong>de</strong>utungsabgaben – Raute,Synonyme – Pfeil und Sperrdruck) sind wichtige Informationen optischhervorgehoben. Die Verwendung einer an die <strong>de</strong>utsche Rechtschreibungangepassten Populärumschrift <strong>de</strong>r Lautformen und <strong>de</strong>r lexikografischenBeispiele gibt auch Nichtmundartsprechern die Möglichkeit, <strong>de</strong>m Text dieAussprache <strong>de</strong>r mundartlichen Form zu entnehmen. Durch die zusätzlicheVerwendung phonetischer Zeichen (z.B. å, đ, ǝ, ẹ, ọ, hochgestellte Zeichenfür reduzierte Laute) bzw. durch die bei Bedarf eingesetzte phonetischeTranskription gelingt es, die mundartlichen Formen lautgetreu, aber leichtlesbar wie<strong>de</strong>rzugeben.Die Fertigstellung <strong>de</strong>s ersten Ban<strong>de</strong>s <strong>de</strong>s Wörterbuchs <strong>de</strong>r Banater<strong>de</strong>utschen Mundarten markiert keinesfalls das En<strong>de</strong> langjähriger SammelundDokumentationstätigkeiten. Es ist ein lang ersehnter und vielversprechen<strong>de</strong>rBeginn <strong>de</strong>r Publikation eines Wörterbuchs, das bisher in <strong>de</strong>r<strong>de</strong>utschen Dialektwörterbuchlandschaft gefehlt hat. Das Wörterbuch <strong>de</strong>rBanater <strong>de</strong>utschen Mundarten ist ein wertvolles Nachschlagewerk, dassowohl für Fachleute als auch für Laien eine reiche Informationsquelledarstellt. Es gibt Aufschluss über Mischungs- und Ausgleichsprozesse in<strong>de</strong>n Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten, über <strong>de</strong>ren Ergebnisse sowie über dievielfältigen Kontakte <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Bevölkerung zu an<strong>de</strong>ren BanaterSprachgemeinschaften (Rumänen, Ungarn, Serben, Slowaken, Bulgaren u.a.). So wie diese in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Mundarten <strong>de</strong>s Banats ihre Spurenhinterlassen haben, haben die Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten ihrerseits dieregionalen Varietäten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Sprachen beeinflusst, sodass dasWörterbuch <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten auch für die rumänische,ungarische und serbische Sprachforschung eine reiche Quelle anInformationen darstellt.Marianne Marki (Temeswar)308


Alwine Ivănescu: Zur lexikografischen Theorie und Empirie einesSprachinselwörterbuchs. Vorstudien zu einem Banater <strong>de</strong>utschenWörterbuch, Hamburg: Verlag Dr. Kovač (Philologia – SprachwissenschaftlicheForschungsergebnisse 175), 2013, 196 Seiten, ISSN: 1435-6570,ISBN: 978-3-8300-6868-6.In <strong>de</strong>r gekürzten Fassung ihrer Dissertation Zur lexikografischen Theorieund Empirie eines Sprachinselwörterbuchs. Vorstudien zu einemBanater <strong>de</strong>utschen Wörterbuch setzt sich Alwine Ivănescu, die seit 1997am Forschungsprojekt <strong>de</strong>s Germanistiklehrstuhls Temeswar „Wörterbuch<strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten“ beteiligt ist, mit <strong>de</strong>n komplexenProzessen <strong>de</strong>r Wörterbuchberarbeitung und -schreibung auseinan<strong>de</strong>r. Ihrerklärtes Ziel ist es, eine „Grundkonzeption für ein Banater <strong>de</strong>utschesDialektwörterbuch“ (S. 13) zu erarbeiten, die sowohl <strong>de</strong>r Theorie als auch<strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>r Lexikografie gerecht wird, zugleich aber auch <strong>de</strong>nBeson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Sprachinsel Rechnung trägt. Hierbeistützt sich die Verfasserin auf die Erkenntnisse <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschenDialektlexikografie innerhalb <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Sprachraums und in <strong>de</strong>n<strong>de</strong>utschen Sprachinseln Südosteuropas.Angesichts dieses Untersuchungsgegenstan<strong>de</strong>s leistet AlwineIvănescus Dissertation einen wesentlichen Beitrag für <strong>de</strong>n aktuellenForschungsstand, da sie erstmals Grundprinzipien <strong>zur</strong> Erarbeitung einesBanater <strong>de</strong>utschen Dialektwörterbuchs formuliert, die <strong>de</strong>ssen Makro-,Mikro- und Mediostruktur standardisieren und dadurch das Banater<strong>de</strong>utsche Wörterbuch zu einem komplexen und anspruchsvollenDialektwörterbuch machen können.Die Untersuchung lässt sich in vier Teile glie<strong>de</strong>rn, wobei sie imersten Teil (Kapitel 2-3) die <strong>de</strong>r Arbeit zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n Informationenüber die Banater <strong>de</strong>utsche Sprachinsel liefert, im zweiten Teil (Kapitel 4)eine metalexikografische Analyse ausgewählter Dialektwörterbücher <strong>de</strong>s<strong>de</strong>utschen Sprachraums und <strong>de</strong>utscher Sprachinseln in Südosteuropadurchführt, im dritten Teil (Kapitel 5) aufgrund <strong>de</strong>r gewonnenenErkenntnisse eigene Darstellungsprinzipien für ein Banater <strong>de</strong>utschesDialektwörterbuch ausarbeitet, während im vierten – empirischen – Teil(Kapitel 6) diese Prinzipien auf einige Wortstrecken exemplarischangewandt wer<strong>de</strong>n. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung <strong>de</strong>rErgebnisse und einer allgemeinen Schlussbetrachtung (Kapitel 7) ab. Fernerenthalten sind ein Abkürzungsverzeichnis und ein Literaturverzeichnis.309


Nach einer allgemeinen Einleitung in Kapitel 1, die die Zielsetzung<strong>de</strong>r Untersuchung und die Vorgehensweise darlegt, folgen in Kapitel 2, ZurAnsiedlung <strong>de</strong>r Deutschen im Banat, geschichtliche Informationen <strong>zur</strong>Entstehung <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Sprachinsel sowie <strong>zur</strong> Herkunft <strong>de</strong>r imBanat angesie<strong>de</strong>lten Deutschen. Kapitel 3, Deutsche Dialekte im Banat, gehtauf die aufgrund <strong>de</strong>r bunten Herkunft <strong>de</strong>r Siedler durch Mischung undAusgleich geprägte Sprachentwicklung im Banat ein. Einem Überblick überdie Erforschung <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten (Kapitel 3.2) schließtsich die Beschreibung folgen<strong>de</strong>r im Banat gesprochener Mundarttypen an:1. rhein- und moselfränkische Mundarten, 2. ost- und südfränkischeMundarten, 3. die alemannische Mundart von Sa<strong>de</strong>rlach, 4. die bairischenMundarten und die bairisch-österreichische Umgangssprache. Dabei wirdbetont, „dass es sich im Banat, aufgrund <strong>de</strong>r Mischung verschie<strong>de</strong>nerDialekte, nicht um gewachsene, einheitliche, son<strong>de</strong>rn um Mischmundartenhan<strong>de</strong>lt.“ (S. 31). Der Beschreibung <strong>de</strong>r Mundarttypen folgt dieGruppierung <strong>de</strong>r einzelnen Ortschaften nach ihrer mundartlichenZugehörigkeit.Kapitel 4, Lexikografie <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Dialekte, geht auf diespezifischen Aspekte <strong>de</strong>r Dialektlexikografie ein, wie z.B. Typologie undBenutzer, und widmet sich danach <strong>de</strong>r Beschreibung ausgewählterDialektwörterbücher <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Sprachraums im Hinblick auf dasBanater <strong>de</strong>utsche Dialektwörterbuch. Dabei han<strong>de</strong>lt es sich um dieDialektwörterbücher jener Gebiete, <strong>de</strong>nen die Banater Deutschenentstammen: das Pfälzische Wörterbuch, das Rheinische Wörterbuch,das Luxemburger Wörterbuch, das Wörterbuch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschlothringischenMundarten, das Wörterbuch <strong>de</strong>r elsässischenMundarten, das Badische Wörterbuch, das Wörterbuch <strong>de</strong>r bairischenMundarten in Österreich, das Bayerische Wörterbuch. DasSensler<strong>de</strong>utsche Wörterbuch, auf das im Banater <strong>de</strong>utschen Wörterbuchkein Bezug genommen wird, da es „im Gebiet <strong>de</strong>s SchweizerischenIdiotikons liegt“ (S. 69), wird wegen <strong>de</strong>r „neuen Wege <strong>de</strong>rInformationsdarstellung“ (S. 69) – z.B. Vernetzung durch ein gut angelegtesVerweissystem, Darstellung <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utungsbeziehungen durch Hyper- undHyponymie, Strukturanzeiger, Verwendung verschie<strong>de</strong>ner Schriftarten und -größen, Verweissymbole – in die Analyse einbezogen. Um auch dieBeson<strong>de</strong>rheiten <strong>de</strong>r lexikografischen Darstellung von Sprachinselmundartenzu berücksichtigen und daraus Erkenntnisse für das Banater <strong>de</strong>utscheDialektwörterbuch zu gewinnen, wer<strong>de</strong>n auch die Dialektwörterbücherdreier <strong>de</strong>utscher Sprachinseln Südosteuropas hinsichtlich ihrer Makro-,Mikro- und Mediostruktur analysiert: das Siebenbürgisch-sächsischeWörterbuch, das Nordsiebenbürgisch-sächsische Wörterbuch und das310


Wörterbuch <strong>de</strong>r Gottscheer Mundart. Der Analyse folgt zusammenfassen<strong>de</strong>ine vergleichen<strong>de</strong> Betrachtung <strong>de</strong>r untersuchten Dialektwörterbücher,die Ähnlichkeiten und Unterschie<strong>de</strong> hinsichtlich <strong>de</strong>r Materialgrundlage,<strong>de</strong>r Makrostruktur, <strong>de</strong>s Lemmaansatzes, <strong>de</strong>r Informationsklassen<strong>de</strong>r Mikrostruktur – grammatische Angaben, Lautkopf, semantischeInformationen (Be<strong>de</strong>utungsangaben, Beispielbelege, Sach- und Volkskundliches),onomasiologische Vernetzung, etymologische Angaben,Verweise auf Dialektwörterbücher und Fachliteratur, Karten undAbbildungen – aufzeigt.Ausgehend von <strong>de</strong>n theoretischen Grundlagen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschsprachigenLexikografie und <strong>de</strong>r in Kapitel 4 durchgeführten Analyse <strong>de</strong>r für das Banatrelevanten <strong>de</strong>utschen Dialektwörterbücher legt die Verfasserin in Kapitel 5die Grundlagen <strong>zur</strong> Erarbeitung eines Banater <strong>de</strong>utschen Wörterbuchs fest,nach<strong>de</strong>m sie über die Materialgrundlage, <strong>de</strong>n Bearbeitungsstand und dieWortartikelkonzeption seit En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 1970er Jahre berichtet. Dabei hebt siehervor, dass „die mehrmaligen Än<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Wortartikelstruktur“anfangs aus fehlen<strong>de</strong>r lexikografischer Erfahrung und aus Mangel anFachliteratur, später mit <strong>de</strong>m Ziel, „die Informationen zu <strong>de</strong>n einzelnenLemmata vollständig, übersichtlich und benutzerfreundlich darzustellen“ (S.93), die Veröffentlichung <strong>de</strong>s Banater <strong>de</strong>utschen Dialektwörterbuchs immerwie<strong>de</strong>r verzögert haben. So wur<strong>de</strong> z.B. die Lesbarkeit <strong>de</strong>r Wortartikel inspäteren Wortartikelkonzeptionen erleichtert, in<strong>de</strong>m von <strong>de</strong>r anfangs sowohlim Lautkopf als auch in <strong>de</strong>n Beispielbelegen verwen<strong>de</strong>ten phonetischenTranskription abgesehen wur<strong>de</strong> und nur dann darauf <strong>zur</strong>ückgegriffen wird,wenn die Aussprache eines Wortes aus <strong>de</strong>r populären Umschrift nicht<strong>de</strong>utlich hervorgeht. Der Vorstellung unterschiedlicher Wortartikelkonzeptionenim Laufe <strong>de</strong>r Zeit folgen Ausführungen über dieZielvorstellungen, <strong>de</strong>n Gegenstand und die Benutzer <strong>de</strong>s Banater <strong>de</strong>utschenWörterbuchs, die für das Ausarbeiten <strong>de</strong>r Darstellungsprinzipien wesentlichsind. Kapitel 5.5 stellt eine <strong>de</strong>taillierte Konzeption für die Bearbeitung <strong>de</strong>sWörterbuchs <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten vor <strong>de</strong>m Hintergrund<strong>de</strong>r Spezifik von Sprachinselwörterbüchern vor. Im Unterschied zu <strong>de</strong>nMundartwörterbüchern <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Sprachraums, hat das Banater<strong>de</strong>utsche Dialektwörterbuch als Sprachinselwörterbuch die Aufgabe,unterschiedliche Ausgangsmundarten, Ausgleichserscheinungen undInterferenzen zwischen Varietäten <strong>de</strong>utscher Herkunft und zwischen <strong>de</strong>nBanater <strong>de</strong>utschen Mundarten und <strong>de</strong>n Kontaktsprachen Ungarisch,Rumänisch und Serbisch zu erfassen. Was die Makrostruktur betrifft, soerachtet die Verfasserin eine strikt alphabetische Anordnung <strong>de</strong>r Lemmata311


als angemessen, da so die leichte Auffindbarkeit <strong>de</strong>r Lemmata erfolgt, undsie legt flexionsmorphologische, lautliche und grammatische Prinzipien fürdas Ansetzen <strong>de</strong>r Lemmata fest (z.B. Anfangsgroß- vor Anfangskleinschreibungbei homografen Lemmata, Nichtumlaut vor Umlaut,Substantiv vor Adjektiv vor Adverb etc.). Es wird die Arbeit mit mehrerenLemmatypen (Haupt-, Neben- und Verweislemmata), die ein<strong>de</strong>utigeKennzeichnung <strong>de</strong>r direkten Entlehnungen aus <strong>de</strong>n Kontaktsprachen und dieVerwendung von Wort- und Verweisartikel vorgeschlagen. Was dieMikrostruktur betrifft, so wer<strong>de</strong>n die Informationspositionen beschriebenund ihre Reihenfolge wird festgelegt. Alwine Ivănescus Wortartikelkonzeptionsieht vor, dass die erste Position nach <strong>de</strong>m Lemma <strong>de</strong>rWortartangabe zukommt. Für <strong>de</strong>n Lautkopf behält sie die im Wörterbuchbereits verwen<strong>de</strong>te Glie<strong>de</strong>rung nach Dialektgruppen (rheinfränkisch,alemannisch, ost- und südfränkisch, bairisch und bairisch-fränkisch) bei,wobei innerhalb dieser Dialektgruppen die Lautformen in Populärumschriftmit Belegort angegeben wer<strong>de</strong>n, und zwar zuerst alle Singularformen,worauf die Pluralformen und evtl. Diminutivformen folgen (ähnlichePrinzipien wer<strong>de</strong>n auch für Adjektive und Verben aufgestellt). Gleichzeitigwer<strong>de</strong>n Umschriftkonventionen festgelegt, wodurch <strong>de</strong>r Lautkopfvereinfacht und übersichtlich wird. Dem Lautkopf folgt <strong>de</strong>r semantischeTeil, mit Be<strong>de</strong>utungsangaben, gegebenenfalls sach- und volkskundlichenInformationen, diatopisch gekennzeichneten Belegsätzen, Re<strong>de</strong>nsarten,Reimen etc. Als onomasiologische Angaben sollen Synonyme undHeteronyme fungieren, die <strong>de</strong>n inhaltlichen Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>nstrikt alphabetisch angeführten Lexemen erhellen können. Zusätzlichempfiehlt die Verfasserin das Anlegen eines Synonymenregisters, wasallerdings nur nach Bearbeitung <strong>de</strong>s gesamten Wörterbuchs erfolgen soll.Die nächste Position innerhalb <strong>de</strong>s Wortartikels wird <strong>de</strong>n etymologischenAngaben zugewiesen. Wo es notwendig ist, sollen auch Be<strong>de</strong>utungs- undSprachkarten sowie Abbildungen zum Einsatz kommen. Die letzte Positioninnerhalb <strong>de</strong>s Wortartikels wird <strong>de</strong>n Verweisen auf die besprochenen, fürdas Banat relevanten Dialektwörterbücher zugewiesen. Die Vernetzung <strong>de</strong>rim Wörterbuch vorhan<strong>de</strong>nen Informationen miteinan<strong>de</strong>r (Mediostruktur)soll mittels Verweisartikel, Karten- und Abbildungsverweisen, lexikalsemantischenVerweisen, Verweisen <strong>zur</strong> Wortbildung und Etymologieerfolgen. Ergänzt wer<strong>de</strong>n sollen diese durch wörterbuchexterne Verweiseauf Dialektwörterbücher, Quellen und Fachliteratur. Formale Mittel <strong>zur</strong>Artikelglie<strong>de</strong>rung und Textverdichtung sollen <strong>zur</strong> Übersichtlichkeit undschnellen Auffindbarkeit <strong>de</strong>r Informationen beitragen.312


Die in Kapitel 5 erarbeiteten Grundprinzipien wer<strong>de</strong>n in Kapitel 6,Empirischer Teil – Anwendung <strong>de</strong>r gewonnenen Prinzipien auf eineWortstrecke aus <strong>de</strong>m Corpus <strong>de</strong>s Banater <strong>de</strong>utschen Wörterbuchs,exemplarisch auf die Wortstrecken alla – anbelangen, Apfel – apfeltänzig,Aragas – Aragassparherd angewandt. Den bearbeiteten Wortstrecken gehenOrtsverzeichnisse nach Ortsnamen (<strong>de</strong>utsch und rumänisch), nachDialektzugehörigkeit sowie Verzeichnisse <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Wortstrecken zitiertenQuellen und <strong>de</strong>r eingesetzten Karten voraus. Durch die praktischeAnwendung <strong>de</strong>r theoretisch formulierten Prinzipien auf die bearbeitetenWortstrecken weist die Verfasserin einerseits die Validität <strong>de</strong>r Prinzipienund an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>ren Praxisnähe nach.Aufgrund <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utsamkeit und ihrer sprachlichen Verständlichkeitstellt Alwine Ivănescus Untersuchung sowohl für interessierte Studieren<strong>de</strong>und Laien, die sich einen Überblick über das Gebiet <strong>de</strong>r Dialektlexikografieund die Spezifika <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Sprachinsel verschaffen wollen, alsauch für Forschen<strong>de</strong> eine brauchbare und empfehlenswerte Lektüre dar. Dasgrößte Verdienst hat sich diese Untersuchung um das Banater Wörterbucherworben, als erste Arbeit, die sich theoretisch und empirisch <strong>de</strong>n Prinzipien<strong>zur</strong> Erarbeitung dieses Wörterbuchs widmet. Durch die Erarbeitung einerKonzeption für das Banater <strong>de</strong>utsche Dialektwörterbuch hat AlwineIvănescu die Arbeit am Wörterbuch <strong>de</strong>r Banater <strong>de</strong>utschen Mundarteneinen be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Schritt weiter und <strong>de</strong>r Veröffentlichung wesentlich nähergebracht.Mihaela Şandor (Temeswar)313


Grazziella Predoiu und Beate Petra Kory (Hrsg.): Streifzüge durchLiteratur und Sprache. Festschrift für Roxana Nubert, Temeswar: MirtonVerlag, 2013, 276 Seiten, ISBN 978-973-52-1299-5.Anlässlich <strong>de</strong>s 60. Geburtstags von Professor Dr. Roxana Nubert,langjähriger Leiterin <strong>de</strong>s Germanistik-Lehrstuhls an <strong>de</strong>r West-UniversitätTemeswar, haben Grazziella Predoiu und Beate Petra Kory, Lektorinnenebenda, eine Festschrift herausgegeben. Der Band mit <strong>de</strong>m Titel Streifzügedurch Literatur und Sprache ist Anfang 2013 im Temeswarer MirtonVerlag erschienen und umfasst 18 Beiträge aus <strong>de</strong>n BereichenLiteraturwissenschaft (zehn Aufsätze), Linguistik (sechs) und Publizistikforschung(zwei). Einem <strong>de</strong>r großen Forschungsschwerpunkte <strong>de</strong>rGeehrten gemäß, befassen sich die literaturwissenschaftlichen Aufsätze mitFragestellungen <strong>zur</strong> rumänien<strong>de</strong>utschen Literatur. Auch die an<strong>de</strong>renBeiträge sind großteils <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache in Rumänien und ihremGebrauch gewidmet.Zwei Beiträge setzten sich mit siebenbürgischen Autorenauseinan<strong>de</strong>r, dazu fin<strong>de</strong>t sich eine Übersetzung von Wolf AichelburgsGedicht „Die Sternenwolke“ von Bianca Bican (Klausenburg). Maria Sass(Hermannstadt) untersucht Joachim Wittstocks Reisebeschreibungen aufhybri<strong>de</strong> Aspekte. Die Autorin legt dar, wie Wittstock in diesen Texteneinerseits Fakten und Fiktion ineinan<strong>de</strong>r fließen, an<strong>de</strong>rerseits durchMontagetechnik und Leitmotivik die Grenzen zwischen Frem<strong>de</strong>m undEigenem verwischen lässt. Der Aufsatz von Mariana-Virginia Lăzărescu(Bukarest) beschäftigt sich mit <strong>de</strong>r Lyrik Hellmut Seilers. Lăzărescuzeichnet zuerst die Rezeption <strong>de</strong>r ersten Gedichtbän<strong>de</strong> Seilers durch dierumänien<strong>de</strong>utsche Literaturkritik (Nikolaus Berwanger) und Schriftstellerkollegen(Richard Wagner, William Totok) nach, um darananknüpfend Charakteristika von Seilers Gedichten – beispielsweise diehäufige Verwendung <strong>de</strong>s Wortspiels, wie in <strong>de</strong>n Versen, die <strong>de</strong>m Beitragseinen Titel geben: „Kurz will ich mich fassen, bin jedoch/ Alles an<strong>de</strong>re alsgefasst; und will mich/ Auch nicht fassen lassen“ (50) – herauszuarbeiten.Einen Vergleich zwischen Die Tatarin von Oscar Walter Cisek undKyra Kyralina von Panait Istrati stellt Gabriela Şandor (Temeswar) an.Şandor beleuchtet <strong>de</strong>n Entstehungskontext <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Texte aus <strong>de</strong>n 1920erJahren vor <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>s kulturellen Grenzgängertums ihrerVerfasser und ermittelt anschließend Gemeinsamkeiten und Unterschie<strong>de</strong> in<strong>de</strong>r Darstellung <strong>de</strong>ren orientalischer Protagonistinnen sowie <strong>de</strong>renLebensräume.315


Wie die Herausgeberinnen in ihrem Vorwort betonen, hat sichRoxana Nubert insbeson<strong>de</strong>re um die wissenschaftliche Würdigung jener<strong>de</strong>utschsprachigen Autoren verdient gemacht, die aus <strong>de</strong>m Banat stammen.Konsequenterweise bil<strong>de</strong>t die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit banat<strong>de</strong>utscherLiteratur daher einen Schwerpunkt innerhalb <strong>de</strong>r literaturwissenschaftlichenSektion <strong>de</strong>r Festschrift. Vier dieser Beiträge befassen sich mit Herta Müller,was insofern passend ist, als auch die Banater Nobelpreisträgerin im Jahr2013 ihren 60. Geburtstag feiert. Grazziella Predoiu analysiert in ihremAufsatz Einflüsse <strong>de</strong>s Rumänischen sowie die Verwendung <strong>de</strong>r utilitärenSprache <strong>de</strong>s banatschwäbischen Dorfes in Müllers Texten. Die Verfasserinzeigt auf, dass Müller bis zu ihrem jüngsten Roman Atemschaukel und<strong>de</strong>m 2011 erschienenen Essayband Immer <strong>de</strong>rselbe Schnee und immer<strong>de</strong>rselbe Onkel das Rumänische als „Sprach- und Bildreservoir“ (60) fürihre, im Deutschen oft ungewöhnlich wirken<strong>de</strong>, Metaphorik nutzt. Auch diezweite Herausgeberin beschäftigt sich in ihrem originellen Aufsatz mitAtemschaukel. Beate Petra Kory argumentiert, dass das durch dieLagererfahrung ausgelöste Trauma <strong>de</strong>s Protagonisten als Mahnmal zu sehensei. Sie bezieht dabei Konzepte <strong>de</strong>r psychologischen Traumaforschung auf<strong>de</strong>n Roman und legt dar, wie Müller charakteristische Aspekte <strong>de</strong>s Traumasnicht nur schil<strong>de</strong>rt, son<strong>de</strong>rn auch auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Erzähltechnikumzusetzen versucht. Die Beiträge von Cosmin Dragoste (Craiova) undAnna Lindner (Wien/ Temeswar) behan<strong>de</strong>ln Herta Müllers Collage-Gedichte. Dragoste stellt insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>ren sprachspielerischeKomponente in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund und setzt Müllers „Lyrische Strategien <strong>de</strong>rKonventionssprengung“ (110) mit verschie<strong>de</strong>nen Sprachtheorien, wie etwavon Wittgenstein, aber auch <strong>de</strong>r Wiener Gruppe, in Beziehung, umanschließend <strong>de</strong>n neuesten Band Vater telefoniert mit <strong>de</strong>n Fliegenthematisch zu analysieren. Lindner untersucht die visuelle Komponente <strong>de</strong>rCollage-Gedichte und versucht <strong>de</strong>ren Vorlagen aufzu<strong>de</strong>cken.Mit einem weiteren Banater Schriftsteller, Richard Wagner,beschäftigt sich Maria Stângă (Temeswar). In <strong>de</strong>ssen Roman Die Murenvon Wien gerät <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Banat stammen<strong>de</strong>, in München leben<strong>de</strong>Protagonist Benda in eine I<strong>de</strong>ntitätskrise. Stângă beleuchtet diese und ihreÜberwindung durch eine Reise nach Wien vor <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r„Aussiedleri<strong>de</strong>ntität“ (128) <strong>de</strong>s Protagonisten. Zwar keinerumänien<strong>de</strong>utsche Autorin im engeren Sinne, aber aus <strong>de</strong>m Banat gebürtigund mittlerweile auf Deutsch schreibend, ist Carmen-Francesca Banciu.Ihrem Roman Das Lied <strong>de</strong>r traurigen Mutter ist <strong>de</strong>r Aufsatz von LauraCheie (Temeswar) gewidmet. Cheie legt <strong>de</strong>n eher aus <strong>de</strong>r bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kunst,316


aus Philosophie o<strong>de</strong>r Psychologie geläufigen Begriff <strong>de</strong>r „Kippfigur“ auf<strong>de</strong>n literarischen Text um. Anhand <strong>de</strong>s ‚Gebets‘ „Mutter unser“ aus BanciusRoman (vgl. 150) legt sie überzeugend dar, dass die literarische Kippfigur,also ambivalente Deutungsmöglichkeiten, insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Struktur einesTextes, als spezifische Form <strong>de</strong>r Intertextualität gelten kann.Mit sprachlichen Interferenzen, Co<strong>de</strong>-Switching und an<strong>de</strong>renPhänomenen <strong>de</strong>s „Schul<strong>de</strong>utschs“ im heutigen Rumänien beschäftigt sich<strong>de</strong>r – informative, wie unterhaltsame – erste Beitrag <strong>de</strong>r linguistischenSektion <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s. Ioan Lăzărescu (Bukarest) kommt darin zum Schluss,dass an <strong>de</strong>utschsprachigen Schulen in Rumänien spezifische Gruppensprachenentstehen, wobei „die kommunikativ gewichtigen Wörter und dieschulische Fachterminologie <strong>de</strong>utsch, die Satzstruktur und die Form- undFunktionswörter hingegen rumänisch sind“ (180, unterstrichen i.O.).Drei <strong>de</strong>r sprachwissenschaftlichen Aufsätze behan<strong>de</strong>ln Eigenarten<strong>de</strong>s Deutschen im Banat. Karin Dittrich zeigt in ihrem Beitrag u.a., dass dasTemeswarer Deutsch hinsichtlich <strong>de</strong>r Nominativflexion, <strong>de</strong>s Genus, <strong>de</strong>rPlural- und Diminutivbildung große Ähnlichkeiten mit <strong>de</strong>m Österreichischenbzw. Wienerischen aufweist. Alwine Ivănescu (Temeswar) untersuchtdie Entwicklung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Mundart von Perjamosch. Die Autorin legtdar, dass sich, obwohl die <strong>de</strong>utschsprachigen Perjamoscher großteilsursprünglich aus <strong>de</strong>m moselfränkischen Gebiet stammen, in <strong>de</strong>m Ort einerheinfränkische Mischmundart durchgesetzt hat. Mihaela Şandor(Temeswar) nimmt die Banater <strong>de</strong>utschen Mundarten im Allgemeinen in<strong>de</strong>n Blick. Anhand eines umfangreichen Korpus analysiert sie dasinteressante grammatische Phänomen <strong>de</strong>r doppelten Perfektbildung inNeben- und Hauptsätzen.Marianne Marki und Karla Lupşan (Temeswar) vergleichen dieGenuszuweisung französischer und englischer Lehnwörter im Deutschen,wobei sie <strong>zur</strong> Conclusio gelangen, dass aus <strong>de</strong>m Französischen entlehnteWörter eher nach formalen, aus <strong>de</strong>m Englischen eher nach semantischenKriterien ihr grammatikalisches Geschlecht im Deutschen erhalten. Imumfangreichsten Beitrag <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s erörtert Alina Olenici-Crăciunescu(Temeswar) Problemschwerpunkte <strong>de</strong>r seit 1996 umgesetzten NeuenRechtschreibung und jener Verän<strong>de</strong>rungen, die in <strong>de</strong>n Jahren 2004 und2006 an ihr vorgenommen wur<strong>de</strong>n.Mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschsprachigen Presse in <strong>de</strong>n heute rumänischenGebieten <strong>de</strong>r ehemaligen Habsburgermonarchie befassen sich zweiBeiträge. George Guţu (Bukarest) beleuchtet die in nur zwei Ausgaben imJahr 1932 erschienene Czernowitzer Zeitschrift Wandlung. Diese317


marxistisch ausgerichtete Publikation mit <strong>de</strong>m Untertitel „WissenschaftlichliterarischeMonatsschrift“ analysiert Guţu hinsichtlich ihres sozialpolitischenInhalts und Hintergrunds sowie ihres publizistischen Kontextesund sieht sie als Beleg für die Notwendigkeit einer Revision eines nochimmer mythisieren<strong>de</strong>n Bukowina-Bil<strong>de</strong>s an. Kinga Gáll (Temeswar)zeichnet die Geschichte <strong>de</strong>r Temesvarer Zeitung, die ab 1852 ein knappesJahrhun<strong>de</strong>rt lang erschien, nach. Wie die Autorin feststellt, war das Blatt,das nach <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg die auflagenstärkste <strong>de</strong>utschsprachigeZeitung Rumäniens war, bis zu seiner Einstellung einer toleranten Haltungverpflichtet und ließ sich politisch nicht vereinnahmen.Zwar primär nicht wissenschaftlich relevant, aber nicht ohnewissenschafts- und kulturpolitische Be<strong>de</strong>utung ist, dass die FestschriftStreifzüge durch Literatur und Sprache auch Grußworte von zweidiplomatischen Wür<strong>de</strong>nträgern enthält: Klaus-Christian Olasz, Konsul <strong>de</strong>rBun<strong>de</strong>srepublik Deutschland in Temeswar, und Martin Eichtinger,ehemaliger österreichischer Botschafter in Rumänien und Leiter <strong>de</strong>rkulturpolitischen Sektion <strong>de</strong>s österreichischen Außenministeriums,würdigen die Jubilarin für ihre Verdienste um die <strong>de</strong>utschsprachige KulturRumäniens und ihre kulturelle Vermittlungsarbeit.Anna Lindner (Wien)318


Horst Samson: Kein Schweigen bleibt ungehört. Gedichte, Ludwigsburg:POP 2013, 161 Seiten, ISBN 978-3-86356-055-3.Der neueste Gedichtband von Horst Samson enthält – seinem Verfasserzufolge – „Kriegsgedichte“. Der Krieg wird dabei auf <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nstenFronten geführt: Es sind sowohl die vergangenen und gegenwärtigen Kriege<strong>de</strong>r Weltgeschichte, als auch die Kriege <strong>de</strong>s Einzelnen gegen ein repressivesSystem, <strong>de</strong>r täglich geführte Krieg mit <strong>de</strong>m Alltag und seinen Problemen,<strong>de</strong>r Kampf um zwischenmenschliche Beziehungen, das Ringen mit <strong>de</strong>rSprache um <strong>de</strong>n poetischen Ausdruck. Die Waffe in all diesen Kriegen istdie Sprache selbst, das Wort.Die mit wenigen Ausnahmen bisher unveröffentlichten Gedichtestammen aus <strong>de</strong>r Zeit vor und nach <strong>de</strong>r Emigration ihres Verfassers 1987und sind we<strong>de</strong>r chronologisch noch thematisch geglie<strong>de</strong>rt. Samson selbstweist in seinem Nachwort Von <strong>de</strong>n Quellen darauf hin, dass dieses„Durcheinan<strong>de</strong>r“ kein zufälliges ist, son<strong>de</strong>rn die eigenen Erlebnisse,Erfahrungen und Empfindungen jener Zeit wi<strong>de</strong>rspiegelt: „Ich war mal da,mal dort, mal da, manchmal mehr dort als mehr da, o<strong>de</strong>r genau umgekehrt,verkehrt vielleicht, vielleicht irgendwo im Nirgendwo o<strong>de</strong>r nirgendwo imIrgendso!“ (S. 153). Bezeichnend für dieses Unzugehörigkeitsgefühl heißtes im ersten, 1987 entstan<strong>de</strong>nen und Exil betitelten Gedicht <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s:„Die Frem<strong>de</strong> rast durchs Hirn, das Nichts/ Zwischen zwei Sprachen/ Auf<strong>de</strong>m gespannten Fa<strong>de</strong>n. Wo willst du hin?/ Zu wem?“ (S. 7). Das Exilbezieht sich nicht nur auf die Auswan<strong>de</strong>rung nach Deutschland. Isolation,Introspektion und Schweigen trotz Zweisprachigkeit gelten schon imGedicht Autoporträt I von 1982 als charakteristische Wesenszüge <strong>de</strong>sDichters: „Im Gedächtnis/ Die stumme Mehrheit,/ Der Kopf,/ EinAufnahmestudio für Selbstgespräche,/ Die Zunge belastet/ Vom Schweigen/Zweisprachig“ (S. 27).Viele Gedichte thematisieren das Schreiben. In <strong>de</strong>r Diktatur be<strong>de</strong>utetDichten eine Bedrohung für <strong>de</strong>n Staat, <strong>de</strong>r durch Zensur eingreift: „DerZensor streicht Gedichte,/ Er blickt mich schief an. Waffen sagt er,/ Sindverboten, die Wucht/ <strong>de</strong>r Liebe, Ironie. Ich rüste auf./ Seitfünfuhrfünfundvierzig/ Wird <strong>zur</strong>ückgedichtet“ (Kriegserklärung, S. 48).319


Leitmotivisch erscheinen die Schubla<strong>de</strong> – das Schreibverbot (Corampublico, S. 44; Morgengrauen, S. 52), sowie die Abhörgeräte – die„Wanzen“ (S. 33, 52, 63, 69, 73, 122, 133) und die Verfolgung durch die„Beamten vom Sicherheitsdienst“ (Sommergarten in T., S. 102). Schreibenwird zum „Stehen mit einem Fuß in <strong>de</strong>r Stille“, wie es ein Gedichttiteltreffend ausdrückt (S. 34). Das Gefühl <strong>de</strong>r Machtlosigkeit und Erstarrungbeherrscht auch das Dichten: „In je<strong>de</strong>r Zeile, die ich schreibe,/ Friert dieTinte, erstarren die Wörter,/ Die Sätze, die Finger“ (Über <strong>de</strong>n Schnee,S. 86); „Es ist kalt gewor<strong>de</strong>n/ Im Gedicht/ Die Stille rumort/ Hinter <strong>de</strong>rStirn“ (Poem II).Nach <strong>de</strong>r Auswan<strong>de</strong>rung 1987 entkommt <strong>de</strong>r Dichter <strong>de</strong>r Zensur un<strong>de</strong>rhält seine Waffe – das Wort, die Möglichkeit, sich frei zu äußern –<strong>zur</strong>ück, muss sich jedoch gegen das Schweigen durchsetzen. DerSchreibprozess wird zu einem blutigen Kampf: „Es wütet die Stille, Verse,/Flüchten. Ich jage/ Mit <strong>de</strong>r Spitze/ Des Bleistiftes: Sätze/ Straucheln,Buchstaben suchen/ Das Weite, Wörter/ Fallen auf/ die Nase, Vergleiche/Stürzen ab, verröcheln“ (Treibjagd, S. 37) und gleicht <strong>de</strong>m Schauplatz einesGewaltverbrechens: „Sätze liegen zerbrochen herum/ Im Raum, zerknüllteBlätter, aufgeschlitzte/ Wörter, blutleer. Was hat hier/ Stattgefun<strong>de</strong>n? Unddas/ Tatmotiv?“ (Tatort, S. 41).Der Verlust <strong>de</strong>r Heimat kann nur durch das Schreiben kompensiertwer<strong>de</strong>n. Ähnlich wie in Rose Auslän<strong>de</strong>rs Gedicht Mutterland („MeinVaterland ist tot/ sie haben es begraben/ im Feuer/ Ich lebe in meinemMutterland/ Wort“) heißt es bei Samson: „Gedichte/ sind ein Zuhause/ Füralle/ Die keins haben“ (Nachricht I, S. 126).Eine beachtliche Anzahl von Gedichten widmet sich <strong>de</strong>rAuswan<strong>de</strong>rung (Grenzbahnhof Curtici, S. 77; Fahrwind, S. 78) und <strong>de</strong>nersten Eindrücken im Westen, im „Übergangswohnheim für Aussiedler“(S. 79) in Nürnberg und Hei<strong>de</strong>lberg (Weihnachten im Westen, S. 17; 1987 –Erster Ausgang, S. 38; Nürnberg im März, S. 39; Kofferlie<strong>de</strong>r, S. 79;Wegwerfzeit, S. 109; Morgenstun<strong>de</strong> im Lager, S. 112; Mittendrin im Freien,S. 116). Gedichte wie Anfang einer Reise (S. 72) beschreiben das „Lebenauf einem neuen Blatt“. Die Auswan<strong>de</strong>rung ist jedoch keine „Stun<strong>de</strong> Null“,da <strong>de</strong>r Emigrant immer wie<strong>de</strong>r an seine Vergangenheit erinnert wird: „Und320


am Morgen weiter, wirft die CIA/ Mit Fragen umher“ (S. 72). Die „Briefe“– Brief an die Zurückgebliebenen (S. 40) und Dritter Brief nach Hause(S. 43) – machen <strong>de</strong>utlich, dass „zu Hause“ nicht das Land ist, aus <strong>de</strong>m manflieht, son<strong>de</strong>rn die Menschen, die immer noch dort leben; dass die neueHeimat einerseits das gelobte Land mit Mangos, Kiwis und Bananen (S. 39,43), an<strong>de</strong>rerseits eine hektische, pragmatische und profitorientierte Welt ist:„Ich bin uralt gewor<strong>de</strong>n in einem Jahr,/ Schreibe über hormonverseuchtesKalbsfleisch,/ Über ölige Er<strong>de</strong> und die Invasion <strong>de</strong>s Mülls in Form/ Vonbunten Schachteln, schreibe über Pfer<strong>de</strong>markt und/ Politik, Altklei<strong>de</strong>rsammlungen,mit <strong>de</strong>m Computer/ Um das nackte Geld“ (S. 40). DerEmigrant fühlt sich wie ein Clown (S. 59) aus einem für diese Welt exotischanmuten<strong>de</strong>n Staatszirkus (S. 108), wie „ein mü<strong>de</strong>r/ Krieger von Amt zuAmt“ (Von Hei<strong>de</strong>lberg zu Hei<strong>de</strong>lberg. Ein Verhältnis, S. 119), <strong>de</strong>r gegenganz neue Probleme zu kämpfen hat: Bürokratie, Arbeitslosigkeit, Schreibblocka<strong>de</strong>,Überleben (Reiner Fall <strong>de</strong>r arbeitslosen Vernunft, S. 96; In <strong>de</strong>rStatistik, S. 118).Einige Gedichte beschwören die politische Wen<strong>de</strong> von 1989 inRumänien herauf. Es sind Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Schreckens, Bil<strong>de</strong>r von Leichen, <strong>de</strong>renFüße mit Draht zusammengebun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n, Bil<strong>de</strong>r von unbestraften Tätern(Unvollen<strong>de</strong>ter Dezember, S. 35; Kreuzzeit, S. 80).Epigrammatisch kurz und – in <strong>de</strong>r Nachfolge Bertolt Brechts o<strong>de</strong>rErich Frieds – auf die politische Pointe zentriert sind Gedichte wieDezember 1989: „Durch die Schneenacht stürmen/ Die Toten./ Keinergehorcht!“ (S. 19) o<strong>de</strong>r Deutscher Soldat 1941: „Sein junges zerschossenesHerz,/ Sagen alle im Dorf, hatte er/ Auf <strong>de</strong>m rechten Fleck.“ (S. 12)Eine beson<strong>de</strong>re Rolle spielt das mit <strong>de</strong>r Widmung „für Vater“versehene Gedicht Pünktlicher Lebenslauf (S. 100): „Nachts setzt sichVater/ Den Stahlhelm auf, / steckt sein Gebetbuch/ In seine Brusttasche /Und fährt mit einer schwarzen NSU/ Durch das Minenfeld bei Narwa/ InRichtung Leningrad./ Morgens um fünf/ Ist er wie<strong>de</strong>r da.“ DieEntstehungsgeschichte wird im Exkurs über die Endlosschleife (S. 145-150)erläutert, <strong>de</strong>r eine sehr einfühlsame Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>rnationalsozialistischen Vergangenheit <strong>de</strong>r Vätergeneration und <strong>de</strong>r eigenenFamiliengeschichte ist. Horst Samson tritt als einziger Zeuge <strong>de</strong>r321


Verteidigung auf und unterstreicht die Tatsache, dass die Soldaten – seinVater inbegriffen – im Krieg und vor allem danach „lebenslänglich“ „Täterund Opfer in einer Person“ (S. 146) waren. Ausgangspunkt <strong>de</strong>s 1981entstan<strong>de</strong>nen Gedichts ist – so Samson – ein Foto Martin Samsons aus <strong>de</strong>mZweiten Weltkrieg, das ihn als Motorradkurier an <strong>de</strong>r Ostfront zeigt und dassowohl auf <strong>de</strong>m Buchumschlag, als auch im Gedichtband selbst (S. 145)abgedruckt ist. Durch das Gedicht Pünktlicher Lebenslauf, das bereits inSamsons Gedichtband Reibfläche von 1982 und in verschie<strong>de</strong>nenSammelbän<strong>de</strong>n erschienen war, bekennt sich <strong>de</strong>r Dichter zu seinem Vater:„Es hat auf mich eine gera<strong>de</strong>zu magische Wirkung, es lässt mich nicht losund es verbin<strong>de</strong>t mich bis heute wie eine imaginäre Nabelschnur mitmeinem Vater und seiner Geschichte, mit meiner Geschichte. [...] Ich liebteihn. Und wie. Das Gedicht ist ... mein Zeuge“ (S. 150).Sehr persönlich und einfühlsam sind auch die Gedichte, die an<strong>de</strong>renFamilienmitglie<strong>de</strong>rn (<strong>de</strong>r Ehefrau Edda, <strong>de</strong>m Sohn Elvis), Freun<strong>de</strong>n undBekannten gewidmet sind. Der brutale Alltag mit seiner Hektik undSensationslust bricht immer wie<strong>de</strong>r durch (Tagesschau, S. 21; Opus vomTage, S. 26; Sperrstun<strong>de</strong>nvögel, S. 95), sodass sogar die Liebe auf ihrekörperliche Komponente reduziert (In freier Natur, S. 98) und <strong>zur</strong> Ware<strong>de</strong>gradiert wird („Pigalle“, S. 46; Liebe. Eine Verfolgung, S. 134). Brutalist auch die Erinnerung an <strong>de</strong>n Alltag – die Schweineschlacht – im BanaterDorf: „Der Oberschlachter/ Kniet sich auf <strong>de</strong>n schreien<strong>de</strong>n Hals,/ Zieht seinSchlachtmesser aus <strong>de</strong>m Schaft <strong>de</strong>s Gummistiefels,/ Sticht zu. Blut spritzt,tagelang noch/ Zappelt und schreit im Schnee das Schwein“ (Dezembermorgenin Albrechtsflor, S. 125).An einigen Stellen – z. B. in Falschgeld (S. 62), Karpaten (S. 92)o<strong>de</strong>r Die halbe Harzreise (S. 93) lassen sich intertextuelle Verweiseermitteln. Samson erweist sich als Meister <strong>de</strong>s Sprachspiels – <strong>de</strong>rKatachrese – nicht nur im gleichnamigen Gedicht: „Der Zahn <strong>de</strong>r Zeit istguter Hoffnung,/ Trocknet manche Träne, holt in <strong>de</strong>r Höhle/ Des Löwen diegebratenen Tauben aus/ Dem Feuer [...] (Katachrese, S. 68), son<strong>de</strong>rn z. B.auch in Fallen („die Nachbarn/ haben in aller Früh schon/ Silber im Mund.Die/ Morgenstun<strong>de</strong> schlägt dir/ Die Zähne aus“, S. 69), Geometrie („Der322


längste/ Weg/ Zwischen zwei/ Punkten/ Ist die/ Gera<strong>de</strong>.“, S. 91) o<strong>de</strong>rNachtstücke. Hei<strong>de</strong>lberger Gespräche („Der Rest ist Schreiben.“, S. 121).Der Titel <strong>de</strong>s gesamten Ban<strong>de</strong>s, „Kein Schweigen bleibt ungehört“,stammt aus <strong>de</strong>m Gedicht Entrinnerung, in <strong>de</strong>m eigentlich dieAbhörtechniken <strong>de</strong>r Securitate im kommunistischen Rumänien thematisiertwer<strong>de</strong>n: eine Erinnerung an das Unentrinnbare, in <strong>de</strong>m es keineGeheimnisse mehr gibt, in <strong>de</strong>m Gebete zwar ungehört bleiben, dasSchweigen jedoch nicht. Es bietet keinen Schutz mehr und wird <strong>de</strong>mSchweigen<strong>de</strong>n zum Verhängnis. Der Dichter kämpft gegen diesesSchweigen. Doch manchmal schweigt selbst er in <strong>de</strong>r Gewissheit, dass keinSchweigen vom Leser ungehört bleibt. – „Der Rest ist Schreiben“.Gabriela Şandor (Temeswar)323


Adressen <strong>de</strong>r Verfasserinnen und Verfasser <strong>de</strong>r in diesemHeft enthalten<strong>de</strong>n Beiträge:Hans Bergel: Wallbergstraße 14c, D-82194 Grabenzell bei MünchenBianca Barbu: biancabarbu@yahoo.comLaura Cheie: laura.cheie@gmail.comMihai Crudu: mihai_crd@yahoo.comAna-Maria Dascălu-Romițan: ana_romitan@yahoo.<strong>de</strong>Filomena Viana Guarda: fvguarda@fl.ul.ptMathil<strong>de</strong> Hennig: Mathil<strong>de</strong>.Hennig@<strong>germanistik</strong>.uni-giessen.<strong>de</strong>Thilo Herberholz: thilo.herberholz@web.<strong>de</strong>Johann Holzner: johann.holzner@uibk.ac.atAdriana Ionescu: anana12003@yahoo.comBeate Petra Kory: bpetrakory@yahoo.<strong>de</strong>Anna Lindner: anna.lindner@gmail.comKarla Lupşan: lupsan_karla@yahoo.comMarianne Marki: Universitatea <strong>de</strong> Vest din Timișoara, Bd. V. Pârvan 4,300223 TimișoaraRobert Niemann: robert.niemann@aol.comRoxana Nubert: ana@litere.uvt.roGrazziella Predoiu: grazziella_predoiu@yahoo.<strong>de</strong>Andreea Ruthner: arruth2002@yahoo.comSigurd Paul Scheichl: Sigurd.P.Scheichl@uibk.ac.atGabriela Șandor: gabriela_sandor80@yahoo.<strong>de</strong>Mihaela Șandor: mihaela_sandor77@yahoo.<strong>de</strong>Maria Stângă: maria_stanga@yahoo.comJulianne Thois: juli4ro@rdslink.r325


Dank an externe Gutachterinnen und Gutachter <strong>de</strong>r TBGWir danken an dieser Stelle <strong>de</strong>n Kolleginnen und Kollegen, die dieTemeswarer Beiträge <strong>zur</strong> Germanistik mit ihrer Sachkompetenz bei <strong>de</strong>rBegutachtung eingereichter Manuskripte unterstützt haben.Die Redaktion327


Hinweise für Autorinnen und Autoren <strong>de</strong>r TBGDie TBG verstehen sich als wissenschaftliches Forum für GermanistischeLinguistik und Literaturwissenschaft. Auch Beiträge <strong>zur</strong> Didaktik sowieinterdisziplinär ausgerichtete Untersuchungen wer<strong>de</strong>n begrüßt und sollen<strong>de</strong>n aktuellen Erkenntnisstand im Fach wi<strong>de</strong>rspiegeln und einenpersönlichen Beitrag <strong>zur</strong> Forschungsdiskussion leisten.Der Beitrag sollte mit Anmerkungen und Literaturverzeichnis 20Druckseiten (ca. 56.000 Zeichen) nicht überschreiten. Rezensionen sind auf<strong>de</strong>n Umfang von 6 Druckseiten (ca. 17.000 Zeichen) begrenzt.Die Beiträge sind gemäß <strong>de</strong>r reformierten Orthographie (vgl. DUDEN,25 2009) zu verfassen.Die Korrespon<strong>de</strong>nz mit <strong>de</strong>n Autorinnen und Autoren <strong>de</strong>r TBG wird von <strong>de</strong>rHerausgeberin geführt. Anfragen aller Art, Manuskripte und druckfertigeBeiträge wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>shalb an die Adresse <strong>de</strong>r Herausgeberin erbeten.Bei <strong>de</strong>n Aufsätzen wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Text ein englisches Abstract und dieKeywords vorangestellt.Je<strong>de</strong> Verfasserin und je<strong>de</strong>r Verfasser erhält ein Freiexemplar <strong>de</strong>s seinenBeitrag enthalten<strong>de</strong>n Heftes.Typografische TextgestaltungFür eine optimale Gestaltung <strong>de</strong>r Temeswarer Beiträge <strong>zur</strong> Germanistikist eine Vorbereitung <strong>de</strong>s Manuskripts (WORD-Datei) sehr hilfreich. WennSon<strong>de</strong>rzeichen (auch IPA-Zeichen) o<strong>de</strong>r Abbildungen im Manuskriptvorkommen, sind eine PDF-Datei und die Schriftarten erfor<strong>de</strong>rlich. Wer<strong>de</strong>nim Text Son<strong>de</strong>rzeichen bzw. spezielle Schriftarten (Fonts) verwen<strong>de</strong>t, somögen diese <strong>de</strong>r Herausgeberin <strong>zur</strong> Verfügung gestellt wer<strong>de</strong>n. Fürunverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen.Wichtig ist vor allem, dass möglichst keine manuellen Formatierungenvorgenommen wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn alles auf automatischer Basis (Formatvorlagen)<strong>de</strong>finiert wird.329


Der Name und <strong>de</strong>r Herkunftsort <strong>de</strong>r Verfasserin/<strong>de</strong>s Verfassers stehen über<strong>de</strong>r Hauptschrift. Überschriften haben keinen Punkt.Absätze wer<strong>de</strong>n mit Einzug gekennzeichnet.Hervorhebungen können in Kursivschrift vorgenommen wer<strong>de</strong>n.Einklammerungen stehen innerhalb von run<strong>de</strong>n Klammern ( ).Auslassungen in Zitaten wer<strong>de</strong>n durch eckige Klammern [...]gekennzeichnet.Im Text wer<strong>de</strong>n alle Titel von Werken fett und Titel von Kapiteln kursivwie<strong>de</strong>rgegeben. Zeitungs- bzw. Zeitschriftenaufsätze benötigen Anführungszeichen.Schriften und Schriftgrößen• Formatvorlage STANDARD: Times New Roman, 12 Punkte,Zeilenabstand 1, Blocksatz• Formatvorlage ZITAT: Times New Roman, 10 Punkte,Zeilenabstand 1, BlocksatzVers- und Prosazitate (Primär- und Sekundärliteratur) von vier o<strong>de</strong>rmehr Zeilen wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Regel durch Einrückung und Leerzeilevor und nach <strong>de</strong>m Zitat-Block hervorgehoben. Anführungzeichenentfallen dann.Zitate wer<strong>de</strong>n im Text durch „Anführungszeichen“ kenntlichgemacht (Formatvorlage STANDARD).Zitate in Zitaten wer<strong>de</strong>n durch einfache Anführungszeichen (‚‘)wie<strong>de</strong>rgegeben.Bitte keine Endnoten verwen<strong>de</strong>n! Quellenverweise sind im laufen<strong>de</strong>n Textals Textnoten anzugeben. Eventuelle Bemerkungen können als Fußnotenangeführt wer<strong>de</strong>n.• Formatvorlage FUßNOTEN: Times New Roman, 10 Punkte,Zeilenabstand 1, Blocksatz330


• Formatvorlage ÜBERSCHRIFT 1: Times New Roman, 14 Punkte,fett, Zeilenabstand 1, zentriert• Formatvorlage ÜBERSCHRIFT 2: Times New Roman, 12 Punkte,fett, Zeilenabstand 1, linksbündigAllgemeinesBitte beachten Sie bei <strong>de</strong>r Gestaltung Ihres Manuskripts auch folgen<strong>de</strong>Aspekte:• Gedankenstriche:Achten Sie bitte darauf, dass Gedankenstriche (–) nicht dieselbeLänge haben wie Bin<strong>de</strong>striche (-).Bei Seitenangaben und Jahreszahlen (S. 12-14; 1985-1997) sind diekürzeren Bin<strong>de</strong>striche zu verwen<strong>de</strong>n, nicht die Gedankenstriche!• Anführungszeichen:Bitte beachten Sie, dass typografische Anführungszeichen zumEinsatz kommen, das sind: „...“ (im Gegensatz zu "..."). Dasöffnen<strong>de</strong> Anführungszeichen soll dieses sein: „ – das schließen<strong>de</strong>sieht so aus: “.QuellennachweiseAllgemeine bibliografische Begriffe wer<strong>de</strong>n abgekürzt (z.B.: Bd., Diss.,Hrsg., Jg., H., Nr., Zs. usw.).Quellenverweise sind im laufen<strong>de</strong>n Text in Klammern als Textnotenanzugeben (Autor Jahr: Seite) – z.B. (Kaser 1990: 45).Abkürzungen von Seitenangaben in Form von f. und ff. sind zu vermei<strong>de</strong>n.Statt S. 45f. bzw. S. 45 ff. wer<strong>de</strong>n S. 45-46 bzw. S. 45-47 angegeben.Die vollständigen Quellenangaben sind im Literaturverzeichnis zuvermerken:331


• Monographie:Kaser, Karl (1990): Südosteuropäische Geschichte undGeschichtswissenschaft, Wien/Köln: Böhlau.• Aufsatz in Sammelband:Baumgartner, Gerd (2002): Geboren in Czernowitz: Walther Ro<strong>de</strong>.In: Cécile Cordon/ Helmut Kusdat (Hrsg.): An <strong>de</strong>r Zeiten Rän<strong>de</strong>r:Czernowitz und die Bukowina – Geschichte, Literatur,Verfolgung, Exil, Wien: Theodor Kramer Gesellschaft, 59-70.• Aufsatz in Periodikum:Marschang, Eva (1997): „Johann Lippet – ein rumänien<strong>de</strong>utscherAutor”. In: Südost<strong>de</strong>utsche Vierteljahresblätter, 2/1997, 147-151.• Quelle im Internet:Car, Milka: Unheimliche Nachbarschaften. Der österreichischeEinfluß auf die Entwicklung <strong>de</strong>s kroatischen Theaters 1840-1918.Internet-Plattform Kakanien revisited. http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/ MCar1.pdf [9.11.2005].D r u c k :332IMPRIMERIA MIRTONRO-Temeswar, Samuil Micu straße. 7Tel.: 0256-225684, 272926; Fax: 0256-208924;E-mail: mirton@mirton.rowww.mirton.ro


ISSN: 1453-7621

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