moritzTitelHintergrundFreizügigkeit als Grundrecht des ArbeitnehmersMit dem Beitritt in die Europäische Union (EU) eröffnet sichfür die Bewohner der Mitgliedsstaaten eine neue Möglichkeit:Durch die ‚Arbeitnehmerfreizügigkeit’ können sie ohnebürokratischen Mehraufwand in allen EU-Staaten arbeitengehen. Als am 1. Mai 2004 viele mittel- und osteuropäischeStaaten beitraten, befürchteten insbesondere Deutschlandund Österreich eine erhöhte Zuwanderung aus diesen Ländern.Durch Übergangsregelungen von maximal siebenJahren, die Deutschland voll ausgeschöpft hat, sollten dieAuswirkungen auf den Arbeitsmarkt entschärft werden. DieRegelung endete am 1. Mai 2011, was von der NPD genutztwurde, um die Angst vor einer „Fremdarbeiterinvasion“ zuschüren. Besonders für grenznahe Gebiete in Vorpommernwurde nicht mit Schreckensszenarien gespart. Außer Achtgelassen werden dabei vor allem zwei Punkte: Zum einenprofitieren Länder wie Großbritannien oder Irland massivvon einer frühen Öffnung ihrer Arbeitsmärkte. Deutschlandhat hier möglicherweise die Zeichen der Zeit nicht erkanntund bei der Suche nach Fachkräften nun das Nachsehen.Zum zweiten zählt Deutschland wirtschaftlich gesehen zuden größten Nutznießern des EU-Binnenmarkts und des liberalisiertenArbeitsmarktes. Hier eine protektionistischeAbschottung aufrechtzuerhalten, wäre schlicht vermessenund politisch nicht umsetzbar. Dennoch besteht besondersim Niedriglohnsektor die Gefahr des Lohndumping. Hier istnun die Politik gefragt , mit der lange hinausgezögrten Situationrichtig umzugehen und die Ängste der Menschen ernstzu nehmen.KommentarSchein und SeinDer NPD-Aufmarsch am ersten Mai in <strong>Greifswald</strong> wurde <strong>blockiert</strong>- soweit, so gut.An den Problemen ändert dies freilich nichts. Rechtsextremismusin Mecklenburg-Vorpommern ist kein neuesProblem. Umso unverständlicher, dass sich der öffentlicheund politische Diskurs in immer gleichen, festgefahrenenDenkschemata bewegen. Wahlerfolge der NPD sowie derenflächendeckende Präsenz sind nicht irgendwann vom Himmelgefallen, sondern das Produkt jahrzehntelang verpassterReformen. Die selbsternannten „nationalen Aktivisten“leisten in weiten Teilen der strukturschwachen Regionen dieBasisarbeit, die andere nicht mehr leisten wollen oder können.Verunsicherte Menschen so zu instrumentalisieren, istebenso hinterhältig wie smart. Deswegen muss genau hierder nachhaltige Widerstand gegen die vermeintlichen Heilsbringeransetzen. Die Nazis müssen zuallererst raus aus denKöpfen, denn nur dann werden sie dauerhaft von den Straßenverschwinden. Wir müssen endlich die Realität sehen, anstattnur einmal im Jahr ein Demokratiefest zu feiern. <strong>Greifswald</strong>ist eine Insel der Glückseligen inmitten existenzieller Strukturarmut,ohne die NPD-Demo hätte der Großteil von unsdie Problematik längst vergessen. Demonstrationen dieserArt gehören nicht verboten, sie erinnern uns auf erschreckendeArt und Weise an unsere Versäumnisse. Deren Veranstaltermüssen realpolitisch entzaubert werden. Anstatt auf Bürgerfestengroße Reden zu schwingen, sollte sich die Politik,ebenso wie wir alle, auf die Ursachen statt auf die Symptomekonzentrieren.4 Ole SchwabeSeifenblasen gegen RechtsKrawalle, Kämpfe mit der Polizei- keine Seltenheit, wennLinks auf Rechts trifft. Nur gelegentlich hört man von friedlichenDemonstrationen wie der von der Stadt organisiertenGegendemonstration am 1. Mai. Doch gerade diese Aktionensollten verstärkt eingesetzt werden, um dem Klischee von gewaltgeladenenProtesten entgegen zu wirken.Nicht nur junge Erwachsene wollen sich engagieren, auch ältereMitbürger und Familien wollen ein Zeichen setzen, ohnedabei ihr Leben oder das ihrer Kinder in Gefahr zu bringen.Wenn man jedoch ständig das Bild vor Augen gehalten bekommt,dass jede Nazidemo in einer Straßenschlacht ausartet,verlässt man sein Haus an solchen Tagen nicht mehr. Unddamit fehlen der Protestaktion wertvolle Teilnehmer. Genaudeswegen waren die Gegendemonstration der Stadt und dasanschließende Demokratiefest mit den Spielmöglichkeitenfür Kinder wunderbare Aktionen, denn sie bewiesen, dassProtest auch friedvoll verlaufen kann. Damit spricht manmehr Bürger an, die eine direkte Konfrontation mit den Nazisvermeiden, sich aber dennoch engagieren wollen. So holtman auch mehr Bewohner von ihren Balkonen auf die Straßenherunter. Und der früh gewählte Zeitpunkt der Demonstrationgab genug Gelegenheit, sich nach dem Zug durch dieStadt doch noch nach Schönwalde zu den Blockaden zu begeben.Freilich ist eine solche Demonstration für energiegeladeneMenschen, die in dem Augenblick des Protests etwas erreichenwollen, weniger reizvoll. Es muss aber nicht immer heißen:Auge um Auge, Zahn um Zahn.4 Katrin Haubold28 | GreifsWelt v
moritzTitelProletarier aller Ländervereinigt euch!Die einen freuen sich über einen zusätzlichen freien Tag, die anderen werfen Steine.Woher kommt der 1. Mai, wie entwickelte er sich in Deutschland und warumfeiern wir diesen Tag? Ein kurzer Überblick über den Tag der Arbeit.Bericht: Luise RöpkeLabor Day, Vappu, mee dee, Ngay Quoc Te Lao Dong,Fête du Travail, Emek ve Dayanisma Günü – der Tagder Arbeit wird international gefeiert. Wer heutean den 1. Mai denkt, hat sofort Bilder von Steine werfendenChaoten vor Augen. Historisch ging es bei den Demonstrationendarum, den Acht-Stunden-Arbeitstag zu erzwingen.Auf dem Haymarket Square in Chicago kam es 1886zu dreitägigen Auseinandersetzungen, die als „HaymarketAffair“ in die Geschichte eingingen. Im darauf folgenden Gerichtsprozesswurden vier Demonstranten ohne eindeutigenSchuldbeweis gehängt. In Gedenken an die Opfer wurde aufdem Gründungskongress der Zweiten Internationalen 1889der 1. Mai als „Kampftag der Arbeiterbewegung“ ausgerufen.Die ersten Massendemonstrationen fanden am 1. Mai1890 in vielen Ländern statt. Auch in Deutschland gingendie Menschen auf die Straßen, obwohl die Arbeitgeber mitEntlassungen und Schwarzen Listen gedroht hatten. An dembesagten Tag waren es knapp 100 000 Menschen. Durch denErsten Weltkrieg wurde jedoch die anfängliche Begeisterungzerschlagen. Erst im April 1919 wurde der 1. Mai durch dieNationalversammlung zum gesetzlichen Feiertag ernannt,dieser Beschluss bezog sich jedoch nur auf dieses eine Jahr.Negative Schlagzeilen machte der 1. Mai 1929. Die Aggressionenund Konflikte zwischen der SozialdemokratischenPartei Deutschlands (SPD) und der Kommunistischen ParteiDeutschlands (KPD) fanden an diesem Tag ihren blutigstenAusdruck: der Berliner Polizeipräsident verhängte ausAngst vor Ausschreitungen ein Demonstrationsverbot. DieKPD protestierte trotzdem. Es kam zu einer Schießerei, beider 28 Menschen getötet wurden. Nachdem die NationalsozialistischeDeutsche Arbeiterpartei unter Hitler die Machtin Deutschland übernommen hatte, erhielt auch der 1. Maieine neue Färbung: die Gewerkschaftsvertreter wurden in die„nationalistische Volksgemeinschaft“ eingegliedert, um dieBasis der Arbeitnehmervertreter kontrollieren zu können.Am 1. Mai 1933 rief Propagandaminister Goebbels zu einergroßen Demonstration auf, um den „deutschen Volkswillen“zu präsentieren. Einen Tag danach wurden die Gewerkschaftshäuserbesetzt, die Arbeitnehmervertretung verhaftetund gleichgeschaltet. Zum „Feiertag der nationalen Arbeit“ernannte Hitler den 1. Mai im April 1934. „Das ganze Vermögender Arbeiterbewegung wurde beschlagnahmt und damitso genannte „Deutsche Arbeitsfront und Kraft durch Freude“finanziert, berichtet Thomas Stamm-Kuhlmann, Lehrstuhlinhaberder Neuesten Geschichte. Nach 12 Jahren fanden, nochvor der Kapitulation der Wehrmacht, die ersten freien Maifeiernstatt. Ein Jahr später bestätigte der alliierte Kontrollratden 1. Mai als Feiertag mit Auflagen. Die Entwicklung desFeiertages verlief in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich:während im Westen die SPD eigene Demonstrationenorganisierte, wurde im Osten der Tag der Arbeit ein in derVerfassung festgeschriebener Feiertag und daraufhin jedesJahr von der Sozialistische Einheitspartei Deutschlands in dieWege geleitet. Zum 100. Jahrestag des 1. Mai 1990 hielt derdamalige Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundeseine Rede vor gesamtdeutschem Publikum. Der Tag der Arbeitist noch immer als Feiertag in jedem Kalender enthalten,doch ist er schon lange nicht mehr das, für was er einst gegründetwurde. Braucht unsere Gesellschaft überhaupt nochden 1. Mai? „Die Menschen brauchen nach wie vor einenTag, an dem sie ihre Unzufriedenheit mit einzelnen sozialenBedingungen ausdrücken können“, meint Stamm-Kuhlmann,„das gilt, auch wenn sich das kulturelle Milieu der Arbeiterbewegungstark aufgelöst hat.“v GreifsWelt | 29