Buchbesprechungen 1994 bis 2011 - Thomas Noack

Buchbesprechungen 1994 bis 2011 - Thomas Noack Buchbesprechungen 1994 bis 2011 - Thomas Noack

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<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong> <strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong>


ISBN 978-3-85927-070-1Swedenborg Verlag | Zürich 2013


Inhaltsverzeichnis Michael Frensch Lust an der Erkenntnis ............................................................................ 7 John C. Eccles Wie das Selbst sein Gehirn steuert ....................................................... 11 Ursula Früchtel Mit der Bibel Symbole entdecken ........................................................ 14 Joshua R. Porter Das große Buch der Bibel ...................................................................... 16 Georg und Richard Precht Das Schiff im Noor ................................................................................ 17 Klaus Berger / Christiane Nord Das Neue Testament und frühchristliche Schriften .............................. 19 Hans Magnus Enzensberger Wo warst du, Robert? ........................................................................... 21 Klaas Huizing Das Ding an sich .................................................................................... 23 Horst Reller u.a. Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen ............ 25 Franz Josef Czernin Apfelessen mit Swedenborg ................................................................. 27 Otto Betz Des Lebens innere Stimme ................................................................... 28 Antoine Faivre Esoterik im Überblick ............................................................................. 29 Ernst Benz Emanuel Swedenborg: Visionary Savant in the Age of Reason ............ 41


Guntram Spindler Glauben und Erkennen ......................................................................... 45 Harro Maltzahn Emanuel Swedenborg: Hellseher – Naturforscher – Visionär ............... 47 Walter Ackermann »Flug mit Elisabeth« und andere Aviatica ............................................. 50 Herbert Ullrich Schädel-­‐Schicksale historischer Persönlichkeiten ................................. 53 Klaus Berger Jesus ...................................................................................................... 55 Emanuel Swedenborg Himmel und Hölle nach Gesehenem und Gehörtem ............................ 58 Sabine Holtz u.a. Mathesis, Naturphilosophie und Arkanwissenschaft im Umkreis Friedrich Christoph Oetingers (1702–1782) ...................... 62 Hannelore Sachs u.a. Wörterbuch der christlichen Ikonographie ........................................... 66 Bernard Jakoby Wir sterben nie ..................................................................................... 70 Bernd Roling Emanuel Swedenborg, Paracelsus und die esoterischen Traditionen des Judentums in Schweden ................................................................. 74 Dava Sobel und William J. H. Andrewes Längengrad: Die illustrierte Ausgabe ..................................................... 79


Vorwort Dieses Büchlein vereint meine in den Zeitschriften des Swe-­denborg Verlags veröffentlichten <strong>Buchbesprechungen</strong> der Jahre <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong>. Das Erscheinungsbild der Texte wurde im Interesse eines einheitlichen Layouts vereinheitlicht. Die Zahlen hinter den Zitaten sind Seitenangaben. Bestimmte damals eingenommene Standpunkte vertrete ich heute nicht mehr. Das gilt insbesondere für die Einordnung Swedenborgs in dem Zusammenhang der Esoterik. Friede-­mann Stengels Habilitationsschrift »Aufklärung <strong>bis</strong> zum Him-­mel«1 hat zu einer Revision geführt: Swedenborg gehört tra-­ditionsgeschichtlich in den Kontext des Rationalismus. <strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong> im Dezember 2013 1 Friedemann Stengel. Aufklärung <strong>bis</strong> zum Himmel. Tübingen <strong>2011</strong>.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 7Offene Tore 5 (<strong>1994</strong>) 218–220Michael Frensch (Hg.). Lust an der Erkenntnis: Esoterik von der Antike <strong>bis</strong> zur Gegenwart. München 1991 I n den letzten Jahren verstärkter Sinnsuche im Angesicht gefährdeten Lebens und zerstörter Natur erlebt Esoterik einen ungeahnten Aufschwung – freilich allzu oft in den Spielarten von Scharlatanerie und Bauernfängerei. Das Lese-­buch von Michael Frensch will dazu beitragen, zwischen se-­riöser und populärer Esoterik unterscheiden zu lernen. Es macht mit der esoterischen Tradition der letzten drei Jahr-­tausende bekannt und enthält nicht nur Beispiele aus der griechischen Philosophie, der antiken Hermetik, des Neupla-­tonismus, der Gnosis und des Sufismus, sondern auch Schrif-­ten der Kirchenväter, des mittelalterlichen Platonismus, der italienischen Renaissance, der deutschen und der spanischen Mystik, des Rosenkreuzertums und verschiedener neuzeitli-­cher esoterischer Strömungen. Der Herausgeber, geboren 1948 in Marburg, ist Chefredakteur der Kulturzeitschrift »Novalis« in der Schweiz; außerdem veröffentlichte er zahl-­reiche esoterische Werke. Wenn ich als Swedenborgianer den esoterischen Markt beobachte, dann fällt mir auf, daß das Qualitätsbewußtsein nur mangelhaft entwickelt ist. Si-­cherlich, es ist ein erfreulicher Trend unserer Zeit, daß die Sinnfrage verstärkt Gehör findet, aber der seelisch ausgehun-­gerte Mensch hält zunächst leider alles für eine Speise. Um mich näher zu informieren besuchte ich im vergangenen Sommersemester ein Esoterik-­‐Seminar an der Universität Zürich. Dabei stellte sich auch die Frage nach der Wissen-­schaftlichkeit der Esoterik. Dr. theol. Georg Schmid, der das Seminar leitete, hat nicht unrecht, wenn er feststellt: »Müh-­‐


8<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>sam wird Esoterik immer dort, wo sie das holistische (ganz-­heitliche) Denken als Wissenschaft ausgibt. Wenn die Esote-­rik sagen würde, sie sei ein wunderbares, modernes Mär-­chen, das darum so erfolgreich sei, weil es auf archaischen Erfahrungen aufbaue, dann hätte ich weniger Probleme mit ihr. Die moderne Esoterik würde sehr viel profitieren, wenn sie sich das Stichwort ›Wissenschaft‹ schlicht abschminken würde«. Diesem Seminar verdanke ich den Hinweis auf Frenschs Lesebuch. »In den letzten Jahren« so Frensch, »ist eine Flut von Büchern, Zeitschriften, Vorträgen, Kursen, Therapien etc. an das Licht der Öffentlichkeit getreten, die sich auf die Esoterik als Quelle berufen. Die Esoterikwelle hat sich insbesondere auch in religiösen Kreisen und bei Akade-­mikern ausgebreitet, weil sie einem wirklichen Bedürfnis unserer Zeit entgegenkommt, denn eine wachsende Anzahl von nach dem Sinn ihres Lebens suchenden Menschen findet in den Erkenntnissen und Erklärungen der akademischen Wissenschaften und in den Glaubensartikeln und Traditionen der großen Konfessionen keine befriedigende Antwort.« (11). Die Esoterik beanspruche nicht mehr und nicht weni-­ger, »als da zu wissen und dort zu erkennen, wo die Wissen-­schaften resignieren und wo die Konfessionen in Dogmatis-­mus verharren, in Abstraktionen flüchten, oder in Anpassung ihr Heil suchen … Die Mittelstellung zwischen Religion und Wissenschaft ist die Berufung der Esoterik und zugleich ihre Gefahr.« (12). Das ist die These von Frensch: Esoterik zwi-­schen Religion und Wissenschaft. Unlängst veröffentlichte »Bild der Wissenschaft« (Juni <strong>1994</strong>) einen Artikel. Über-­schrift: »Esoterik – Kampfansage an die Wissenschaft«. Dort ist zu lesen, »was ›bild der wissenschaft‹ zum ganz und gar ungeistigen Feldzug der Esoterik sagt«. Auch »Psychologie Heute« setzt sich zur Zeit mit der Esoterik auseinander, denn die gibt sich ja nicht nur wissenschaftlich, sondern auch psy-­‐


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 9chologisch. In dieser notwendigen Diskussion sollte die Eso-­terik allerdings nicht nur auf der Anklagebank Platz nehmen müssen. Bücher wie das von Michael Frensch können zu ei-­nem differenzierten Urteil beitragen. Seit langem bin ich überzeugt, daß sich in Swedenborgs Schicksal das Schicksal unserer Zeit verdichtet hat: Vom Wissenschaftler zum Visio-­när. Die Religion der Zukunft, die wir mit Swedenborg er-­warten, wird nicht mehr in das vorwissenschaftliche Denken zurückfallen können. Andererseits ist Religion aber keines-­wegs die höhere Potenz der Wissenschaft. Religion ist, wie Swedenborg lehrt, ein anderer Grad der Wirklichkeitserfah-­rung, der sich jedenfalls nicht durch zunehmende Verfeine-­rung der wissenschaftlichen Methoden erreichen läßt. Aber Swedenborg erkannte auch, daß das äußere Wissen ein Ge-­fäß des inneren Wissens sein kann. Deswegen bin ich immer hellhörig, wenn sich wieder einmal ein Gespräch über Wis-­senschaft und Religion anbahnt. Frensch beteuert: »Es exis-­tiert in der Tat eine echte Esoterik und eine authentische esoterische Tradition, die sich zu vielem, was heute in das öffentliche Bewußtsein tritt, wie das Licht zum Schatten ver-­hält, oder wie das Original zur schlechten Kopie. Und was heute von konfessioneller und aufklärerischer Seite zurecht angeprangert wird, betrifft zum sehr viel größeren Teil jene Pseudoesoterik, die sich freilich viel auffälliger ins Licht zu rücken weiß, als ihr seriöses Original und den Widerspruch von ernsthaften Geistern geradezu herausfordert.« (13). Er-­freulich für uns, daß Frensch bei seinem Streifzug durch die seriöse Esoterik auch auf Emanuel Swedenborg gestoßen ist. Dem Leser wird »Der himmlische und der natürliche Mensch« vorgestellt. Da dieses Kapitel ausschließlich Swe-­denborg selbst zu Wort kommen läßt (Lesebuch!), muß ich es hier nicht zusammenfassen. Einleitend bemerkt Frensch: »Einen anderen Versuch, die Synthese von Naturwissen-­‐


10<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>schaft, Kosmologie und Religion zu erreichen, stellt das eso-­terische Werk des Emmanuel [sic!] Swedenborg dar, der als hochgeachteter Naturwissenschaftler in der zweiten Hälfte seines Lebens seine übersinnlichen Schauungen und deren Ergebnisse schriftlich niederlegte, welche den deutschen Philosophen Immanuel Kant zu der spöttischen Bemerkung veranlaßten, es handle sich dabei um ›Träume eines Geister-­sehers‹. Swedenborg hatte auf die französischen Martinisten und Freimaurer, die deutschen Romantiker und den Pfarrer Oberlin von Waldersbach einen enormen Einfluß. Gleichwohl blieb auch seine Vision der großen Synthese ein vorerst un-­erfüllter Traum und die zu bewältigende Aufgabe der neu-­zeitlichen Esoterik.« (283f.). Ob es dem Herausgeber in allen Fällen gelungen ist, die »echte Esoterik« und die »authenti-­sche esoterische Tradition« vorzustellen, mag der Leser selbst entscheiden. Aber zweifelsohne liegt hier eine Auf-­gabe, der sich auch die Anhänger Swedenborgs annehmen sollten. Dann wären sie eine Vorhut der »neuen Kirche« denn die kann nur im Gespräch mit den geistigen Strömungen un-­serer Zeit entstehen.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 11Offene Tore 6 (<strong>1994</strong>) 263–264John C. Eccles. Wie das Selbst sein Gehirn steuert. Mün-­chen <strong>1994</strong> J ohn C. Eccles, geboren 1903 in Melbourne, erhielt 1963 den Nobelpreis für Medizin. Sein Buch »How the Self con-­trols its Brain«, so der Originaltitel, ist nicht das erste, in dem er sich mit dem Gehirn-­‐Geist-­‐Problem beschäftigt. Eccles vollzieht aber in diesem Buch »den lange vorbereite-­ten, folgenreichen letzten Schritt in seiner Arbeit« an diesem Problem. »Während die materialistisch orientierten Natur-­wissenschaften zum Dogma erheben, daß das Gehirn unein-­geschränkter Herrscher über den Geist sei, führt Eccles hier zum erstenmal den neorophysiologischen Nachweis: Es gibt ein Selbst (ein Bewußtsein, einen Geist, eine Seele), das nicht identisch ist mit der Materie der Gehirnmasse, das – frei und unabhängig – über das Gehirn verfügt.« Diese Botschaft macht das Buch auch für uns interessant, obwohl es neurolo-­gisches Fachwissen voraussetzt und daher nicht leicht zu lesen ist (ein Glossar erklärt freilich die wichtigsten Begrif-­fe). Bekanntlich hatte schon Swedenborg über die Geheim-­nisse des Gehirns nachgedacht; nach seiner Überzeugung ist das Gehirn nur das leibliche Instrument der »mens« (meist mit »Gemüt« übersetzt). Eccles ist nun einer der Wissen-­schaftler, die sich aus der materialistischen Einheitsfront zu lösen wagen. Der Nobelpreisträger schreibt: »Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben dieses Buches, den Materialismus herauszufordern, vom Thron zu stoßen und das geistige Selbst als Herrscher im Gehirn wiedereinzusetzen.« Der Ma-­terialismus war die eigentliche Revolution des 19. Jahrhun-­derts und bildet das schwerste Erbe, das zu bewältigen noch


12<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>große Anstrengungen erfordern wird. Eccles selbst ist Anhä-­nger des dualistischen Interaktionismus. »Ich war mit einer religionsfeindlichen Philosophie des monistischen Materia-­lismus konfrontiert worden, die ich nicht anerkennen konnte … Meine dualistisch-­‐interaktionistische Philosophie war wie ein Leuchtturm, dessen Licht mich durch die Wirrnisse mei-­nes neurowissenschaftlichen Studiums geleitete.« Diese hier nur angedeuteten Grundüberzeugungen führten Eccles zur Anerkennung des »naiven« Glaubens unserer Kindheit: »Die Hypothese, daß das Selbst das Gehirn wirksam in seinen Ab-­sichten und Aufmerksamkeiten kontrollieren kann, eröffnet die Aussicht auf ein Selbst, das sein Gehirn beherrscht, wie es für jeden von uns als Kleinkind, in der Kindheit und im Verlauf eines naiven Erwachsenenlebens selbstverständlich war. Und doch leugnen die führenden materialistischen Phi-­losophen diese Tatsache. Somit stellt dieses Buch eine Her-­ausforderung dar, der sich die Materialisten stellen müssen.« Eccles legt zum ersten Mal eine Hypothese vor, »wie die mentale Kontrolle des Gehirns funktionieren könnte, ohne gegen die Gesetze der Physik zu verstoßen. Der Autor zitiert überzeugende Beweise dafür, daß das Selbst mit reiner Vor-­stellungskraft bestimmte Regionen des cerebralen Cortex bewußt durch Aufmerksamkeit aktiviert … Der Hirnforscher erklärt darüber hinaus, wie der Einfluß des Selbst im Lauf des Lebens immer mehr zunimmt, wie er durch lebenslan-­ges, aktives Lernen wächst. Das Baby lernt, willentlich die Hand zu bewegen, und seine Aufmerksamkeit bestimmt, welche Teile des Neocortex aktiviert werden. Im Laufe des Lebens lernt das Selbst buchstäblich mit jedem Teil des Ne-­ocortex zu ›spielen‹.« Gegen Ende seines Buches nähert sich Eccles religiösen Grundüberzeugungen: »Da materialistische Lösungen darin versagen, unsere erfahrene Einzigartigkeit zu erklären, bin ich gezwungen, die Einzigartigkeit des Selbst


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 13oder der Seele auf eine übernatürliche, spirituelle Schöpfung zurückzuführen … Es ist die Gewißheit des inneren Kerns einer einzigartigen Individualität, die keine andere Lösung als eine ›göttliche Schöpfung‹ zuläßt. Ich gestehe ein, daß keine andere Erklärung haltbar ist; weder die genetische Einzigartigkeit mit ihrer phantastischen und unmöglichen Lotterie noch abweichende Umwelten, anhand derer unsere Einzigartigkeit nicht bestimmt, sondern nur modifiziert wird. Diese Schlußfolgerung ist von unschätzbarer theologi-­scher Bedeutung. Sie unterstützt entschieden unseren Glau-­ben an die menschliche Seele und ihren wunderbaren Ur-­sprung in einer göttlichen Schöpfung. Sie enthält nicht nur das Bekenntnis des transzendenten Gottes, Schöpfers des Alls – des Gottes, an den Einstein glaubte –‚ sondern auch des immanent wirkenden Gottes, dem wir unser Dasein verdan-­ken.«


14<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>Offene Tore 5 (1996) 216Ursula Früchtel. Mit der Bibel Symbole entdecken. Göt-­tingen <strong>1994</strong> D ie Lehre von den Entsprechungen gehört zum Kern der Theologie Swedenborgs. Das Buch von Frau Früchtel zeigt, daß sich das symbolische Verständnis der Bibel zu-­nehmend neben der bloß historischen Exegese etabliert. Es ist aus der Tagungsarbeit mit Religionspädagogen und Theologen über biblische Symbole erwachsen. Obwohl es für den religionspädagogischen Praktiker geschrieben ist – und daher auch Arbeitsblätter enthält –‚ ist es für jeden, der einen leicht lesbaren und fundierten Zugang zur Symbolwelt sucht, eine empfehlenswerte Lektüre. In 21 Kapiteln werden die folgenden Symbole behandelt: Leere und Pulle, Licht und Finsternis, Höhe und Tiefe, Stern, Fuß, Hand, Auge, Ohr, Mund, Rücken, Angesicht, Herz, Weg, Feuer, Brunnen, Haus, Garten, Weinberg, Brot, Kleidung und Schiff. Auf Einzelhei-­ten kann ich nicht eingehen, aber die Lektüre ist anregend und bietet neue Einsichten. Man nimmt es der Autorin ab, wenn sie schreibt: »Obwohl ich mich bemüht habe, jede Eu-­phorie und jedes Pathos zu vermeiden, kann ich nicht ver-­hehlen, daß die Freude von Kapitel zu Kapitel gewachsen ist« (11). Dabei schöpft die Autorin nicht aus dem tiefenpsychologi-­schen Vorwissen der jungschen Schule, sondern macht die unbeachteten Möglichkeiten der Alltagssprache fruchtbar: »Neben der Erschließung biblischer Texte unter symboli-­schen Aspekten war von vornherein breiter Raum dem Be-­wußtmachen jener Teile unserer Umgangssprache gewidmet, die – oft achtlos benutzt – geladen sind mit Bildern und über-­‐


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 15tragenen Bedeutungen. Sie erweisen sich als eine zuverlässi-­ge Brücke, die – einmal betreten – den Weg zur Symbolhaf-­tigkeit biblischer Texte bahnten.« (11). Das Buch ist, wie gesagt, für den Praktiker geschrieben; doch vereinzelt fand ich grundsätzliche Überlegungen zur Herme-­neutik der Bilder: »Die klassische Exegese … legt die Texte gewissermaßen unter das Mikroskop und zerlegt sie in ihre Teile. Sie überlegt und forscht, welche dieser kleinsten Teile historisch wahrscheinlich sind und welche nicht. Die symbo-­lische Exegese geht davon aus, daß irgendwann einmal aus diesen vielen Einzelteilen ein Ganzes geschaffen wurde und als Ganzes auf uns gekommen ist. Sie ist nicht vorrangig an der Frage interessiert: Was ist historisch? Sondern: Was macht Sinn? Sie geht davon aus, daß es in den Kapiteln und Büchern einen ›roten Faden‹ gibt; daß Verknüpfungen ge-­schaffen wurden, <strong>bis</strong> ein Erzählnetz gewoben war. Bei die-­sem erzählenden Gestalten spielen Symbole eine nicht weg-­zudenkende Rolle.« (399). Natürlich muß man auch sagen: Swedenborg hat nicht ohne Grund den Begriff »Entsprechungen« eingeführt. Das Sym-­bolverständnis von Frau Früchtel weicht in einigen Punkten von unserem Verständnis ab. Doch das beeinträchtigt den Wert des Buches nicht. Es ist eine Entdeckungsreise durch die Symbolwelt der Bibel.


16<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>Neukirchenblatt 6 (1996) 7J. R. Porter. Das große Buch der Bibel. Stuttgart: Kreuz Verlag, 1996. 288 Seiten. J oshua R. Porter war Professor für Theologie an der Uni-­versität von Exeter, England, davor Dozent am Oriel Col-­lege, Oxford. Zwanzig Jahre lang war er Mitglied der General-­synode der Church of England. Das Buch ist wissenschaftlich fundiert und dabei allgemein verständlich; über 300 Fotos, Gemälde und Landkarten erleichtern und bereichern das Verständnis. Der Inhalt der Bibel, die ja eigentlich eine ganze Bibliothek von Schriften aus verschiedenen Epochen ist, wird in Porters Buch in über hundert Artikeln zusammengefaßt. Der Leser findet hier die wichtigsten geschichtlichen Epo-­chen und Schauplätze sowie die herausragenden Charaktere und Ereignisse. Die Einteilung gibt Auskunft über die Entste-­hung der einzelnen biblischen Schriften und wie sie von Ge-­neration zu Generation überliefert worden sind. Porter zeigt uns den historischen und geographischen Kontext der bibli-­schen Ereignisse und stellt Vergleiche an zu den Mythen und Kulten der antiken Religionen. Schaukästen und Hinter-­grundinformationen über wichtige Motive und Symbole, wie z.B. die Taube oder die Lilie ergänzen den Text. Ein ideales Nachschlagewerk für alle Bibelfreunde, die sich nicht durch wissenschaftliche Spezialliteratur mühsam hindurcharbeiten wollen oder können und dennoch vom Reichtum der hoch-­spezialisierten historischen Forschung unserer Tage profitie-­ren wollen.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 174.10.1999 | Offene Tore 4 (1999) 206–207Georg Precht, Richard Precht. Das Schiff im Noor. Mün-­chen 1999 R ichard Precht fiel uns durch ein Swedenborg-­‐Feature im Deutschlandfunk und einen Artikel in der Wochenzeit-­schrift »Die Zeit« auf. Nun ist ein Detektivroman der Brüder Georg und Richard Precht erschienen, der auf sehr unge-­wöhnliche Weise auf Swedenborg aufmerksam macht. Richard Precht schrieb uns: »Bei dem vom Verlag betriebe-­nen Werbeaufwand steht zu vermuten, daß nun noch mehr Leser auf Swedenborg aufmerksam werden – auch wenn ich zugeben muß, daß Swedenborg in unserem Buch schon ein klein wenig ›mißbraucht‹ wird. Gleichwohl wünsche ich Ihnen das beste Vergnügen bei der Lektüre und hoffe, daß sich die Waagschale zwischen Vergnügen und Kritik am Ende zum ersteren senken möge.« So vorgewarnt wagten wir uns an die Lektüre, – und hatten unsere Freude. Worum geht es? Für einen Sommer wird der Kriminalassis-­tent Jorgensen im Rahmen einer Schulungsmaßnahme von Kopenhagen auf die beschauliche Insel Lilleo geschickt. Auch wenn sein Vorgesetzter Malte Hansen nicht müde wird, zu versichern, daß auf dem Eiland seit 200 Jahren kein Verbre-­chen mehr vorgefallen ist, vermutet Ansgar Jorgensen, daß Lilleo neben seiner berauschend sommerlichen Landschaft und ihren gemütlichen Bewohnern doch einige Geheimnisse birgt. Woran zum Beispiel starb der Schafbauer Hans Larsen, der ausgerechnet bei Jorgensens Ankunft auf der Insel beer-­digt wird? Warum spricht ein anonymer Anrufer, der sich an die kleine Polizeistation wendet, von Mord, während der Arzt einen Herzschlag bescheinigt hat? Und was für eine Be-­‐


18<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>wandtnis hat es mit den Noor, einer zu Beginn dieses Jahr-­hunderts trockengelegten Meeresbucht, in der wiederum vor noch längerer Zeit ein mysteriöses Schiff in Seenot geraten war? Unter dem Spott von Malte Hansen und dem wachsen-­den Mißtrauen der Inselbewohner stellt der liebenswert-­skurrile Jorgensen Zusammenhänge her, in die sich ein Sex-­tant aus Larsens Nachlaß und die Erfindungen des Geisterse-­hers Swedenborg paßgenau einbeziehen lassen. Die fixe Idee des Kriminalassistenten, auf Lilleo einen Mordfall aufklären zu wollen, erscheint gar nicht mehr so absurd … Von der lieblichen Idylle weißgekälkter Dorfkirchen <strong>bis</strong> zum Jüngsten Gericht, vom Zauber einer kleinen Bibliothek <strong>bis</strong> zu den Wirren des Napoleonischen Krieges verknüpft dieser Detektivroman seine Fäden zu einem Teppich des Lebens, in dem sich am Ende alles zu einem überraschenden Finale zu-­sammenfügt: Ein Buch über die Ordnung der Welt, die Macht der Phantasie, den mystischen Funken der Natur und die Tragikomik allen Daseins.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 1922.4.2000 | Offene Tore 2 (2000) 98Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Über-­setzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord. Frankfurt am Main und Leipzig 1999 D ie vorliegende Übersetzung der ältesten Schriften des Christentums ist in mehrfacher Hinsicht neuartig, in den Übersetzungsprinzipien, in der Kommentierung und im Umfang und der Anordnung der Schriften. Nach Swedenborg sind im Neuen Testament nur die vier Evangelien und die Offenbarung im eigentlichen Sinne Gottes Wort (siehe HG 10325). Das Neue Testament dürfte daher nur aus diesen fünf Büchern bestehen. Die Apostelgeschichte und die Briefe könnten aus neukirchlicher Sicht in einem Ergänzungsband »Frühchristliche Schriften« erscheinen. Und das genau ist der Grund, warum wir auf die Übersetzung von Berger / Nord hinweisen. Denn hier werden nicht nur die kanoni-­schen Schriften des Neuen Testaments geboten, sondern auch all die anderen, die <strong>bis</strong> zum Jahr 200 nach Christus ent-­standen sind. Diese Fülle frühchristlicher Schriften findet man in keiner anderen Ausgabe. Als evangelischer Theologe kann Berger selbstverständlich Paulus und die anderen Brie-­fe nicht aus dem Kanon entfernen, aber er relativiert diese Sammlung, indem er auch andere frühchristliche Schriften aufnimmt. Die Reihenfolge orientiert sich am Entstehungsda-­tum der Texte. Diese historische Einordnung ist <strong>bis</strong>her nir-­gends konsequent vollzogen. Nur am Rande sei bemerkt, dass Berger das Johannesevangelium auf die Zeit gegen Ende der sechziger Jahre des 1. Jahrhunderts datiert, womit er nach unserer Überzeugung goldrichtig liegt. Die Übersetzung will das Verständnis der Texte erleichtern, ohne ihre Her-­‐


20<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>kunft aus einer anderen Kultur und Zeit, zu verleugnen. Den einzelnen Texten sind Kommentare vorangestellt, die die Entstehungsgeschichte, die theologiegeschichtliche Bedeu-­tung und die Wirkungsgeschichte erläutern. In den Fußnoten werden Sacherläuterungen und Übersetzungsalternativen gegeben.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 2124.7.2000 | Offene Tore 4 (2000) 197Hans Magnus Enzensberger. Wo warst Du, Robert? Mün-­chen, Wien 1998 E nzensberger wurde 1929 in Kaufbeuren geboren. Er studierte Germanistik und Philosophie und begann 1957 seine schriftstellerische Karriere mit zeitkritischer Lyrik. In den Sechzigern veröffentlichte er vor allem politik-­‐ und me-­dienkritische Essays. In den Siebzigern widmete er sich do-­kumentarischen Arbeiten. Daneben war er auch Herausgeber verschiedener Zeitschriften. Mehrere Auszeichnungen, wie der Georg-­‐Büchner-­‐Preis oder der Heinrich-­‐Heine-­‐Preis, eh-­ren sein Werk. Enzensberger spielt mit Zeit und Raum. Ein Roman für junge Menschen und solche, die es geblieben sind. Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, als Robert verschwindet. Er sitzt in der Küche und sieht fern. Da wird er plötzlich in die gerade über den Bildschirm flimmernde Szene katapultiert und findet sich an einem fremden Ort, in einer fremden Zeit wieder. Für Robert beginnt eine Zeitreise durch fast vier Jahrhunderte. Jedesmal springt er von einem historischen Schauplatz zum anderen und erlebt hautnah spannende Abendteuer. Enzensbergers Kunst ist die Beiläufigkeit, die lockere, unan-­gestrengte Erzählweise, mit der er Robert und uns – ganz beiläufig – auch mit dem Dorflehrer Emanuel Tidemand be-­kannt macht. Er »trug stets den gleichen schwarzen, abge-­schabten Anzug. Man sah ihm an, daß er ein ewiger Jungge-­selle war. Und dann die Augen! Blind war er nicht; er merkte alles. Aber dieser helle, silberne Glanz in seinen Pupillen – solche Augen hatte Robert nur einmal zu Gesicht bekommen, bei einer blinden Nachbarin …« (154). Und dieser Tidemand


22<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>mit den seltsamen Augen kennt den Geisterseher, kennt Emanuel Swedenborg. Er »ist der Kolumbus der Geisterwelt und der Entdecker der himmlischen Wissenschaften. Er ver-­stand die Geheimsprache der Engel, und so manchen schrecklichen Streit hat er mit den Dämonen ausgetragen, die ihm das Leben schwermachten.« (157). Ein Prolog und ein Epilog, dazwischen sieben Zeitreisen und ein <strong>bis</strong>schen Swedenborg, ein schönes Jugendbuch über die Zeit. Was ist sie? »Ein Tag«, so Gottfried Keller, »kann eine Perle sein. Und ein Jahrhundert nichts.« Und von den Zeitge-­nossen einer Epoche erlebt jeder eine andere Zeit, – seine Zeit.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 23Offene Tore 4 (2000) 198–199Klaas Huizing. Das Ding an sich: Ein Kant-­‐Roman. Mün-­chen 2000 K ant und die Folgen, ein in unseren Kreisen nicht un-­bekanntes Thema. Da mag es interessieren, was Klaas Huizing (geboren 1958), Ordinarius am Lehrstuhl für Sys-­tematische Theologie der Universität Würzburg, über das »Ding an sich« zu erzählen weiß. Der Philosoph Johann Georg Hamann (1730–1788) erhält un-­ter mysteriösen Umständen eine Scherbe mit dem Abdruck einer menschlichen Hand, wobei ihm berichtet wird, der Abdruck zeige Adams Hand, mit der er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe. Hamann zeigt dieses Stück seinem Freund-­‐Feind Kant, und man beschließt, sie zu untersuchen. Die Scherbe widersetzt sich jedoch ersten Versuchen, ihr Material zu erkunden. So wird denn der Diener Kants, Martin Lampe, zu verschiedenen Koryphäen der Zeit entsandt – zu dem Naturforscher Prokop Divisch (1696–1765), der mit Elektrizität experimentiert, zu den Physikern Denis Papin (1647–1712) und Tiberio Cavallo, die sich mit Hitze und Dampf bzw. Kälte und Eis befassen, und schließlich zu dem Mediziner Franz Anton Mesmer (1734–1815), dem Begrün-­der der Lehre vom tierischen Magnetismus. Aber alle scheitern daran, das Geheimnis der Scherbe zu enthüllen; sie bleibt unzerstörbar und wird Kant bei seinem Tode mit ins Grab gegeben. Huizing gelingt es, Philosophie in das Gewand eines amüsan-­ten und intelligenten Romans zu verpacken. Die mysteriöse Scherbe, sie ist das Ding an sich, verblüfft, verunsichert den großen Philosophen: »Ist dieses Ding hier die absolute und


24<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>unzerstörbare Realität? Das kann und darf nicht sein! Darf nicht! Das Ding an sich ist unerkennbar und wird auf ewig unerkennbar bleiben ... Ist unsere Vernunft nur fähig, diese Wirklichkeit zu erkennen? Das kann und will ich nicht glau-­ben.« (167). Und damit tönt das eigentliche Ziel des Romans an; es ist eine Kritik, der »Kritik der reinen Vernunft«. Der Alleszermalmer, Eingeweihte erkennen darin den kantigen Verstand, kann eben doch nicht alles zermalmen. Seine letz-­ten Worte auf dem Sterbebett sollen gewesen sein: »Nicht alles läßt sich zermalmen.« Und Huizing fügt hinzu: »Bisher allerdings hat keiner der Biographen und Interpreten diese Worte richtig gedeutet.« (229). Und wo es in Gestalt einer unscheinbaren Scherbe so sehr um die den Sinnen und dem Verstand unzugängliche Realität geht, da kann auch ein gewisser Geisterseher nicht allzu ferne sein …


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 25Offene Tore 4 (2000) 199Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschau-­ungen. Herausgegeben von Horst Reller, Hans Krech und Matthias Kleiminger. Gütersloh 2000 D as Handbuch »Religiöse Gemeinschaften und Weltan-­schauungen« ist im August 2000 in 5. völlig neu bear-­beiteter und erweiterter Auflage auf den Büchermarkt ge-­kommen. Herausgeben wird es im Auftrag der Kirchenlei-­tung der Vereinigten Evangelisch-­‐Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) von dem von der VELKD und dem Deutschen Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes (DNK/LWB) getragenen »Arbeitskreis Religiöse Gemein-­schaften«. In den evangelischen Kirchen, im Religionsun-­terricht und darüber hinaus gilt dieses Handbuch, das nun-­mehr auch als CD-­‐ROM verfügbar ist, als Standardwerk. Die Stellungnahmen sind von den geltenden Ordnungen des kirchlichen Lebens der Evangelisch-­‐lutherischen Kirche her entwickelt worden. Sie geben eine Orientierung im Umgang mit den religiösen Gemeinschaften, tragen aber keinen kir-­chenrechtlichen Charakter. Im Unterschied zur 4. Auflage 1993 ist die Neue Kirche in die Gruppe der Sondergemeinschaften aufgenommen worden. Darunter versteht der Arbeitskreis »Gemeinschaften, die teilweise Beziehungen zu den Kirchen haben, aber Sonder-­lehren vertreten, die in einigen Fällen auch sektiererische Züge tragen; bei einigen dieser Gemeinschaften sind die Mit-­glieder zugleich Glieder der Landeskirche«. In der 4. Auflage gehörte die Neue Kirche noch zu den Sekten, das heißt zu den »Gemeinschaften, die mit christlichen Überlieferungen wesentliche außerbiblische Wahrheits-­‐ und Offenbarungs-­‐


26<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>quellen verbinden und in der Regel ökumenische Beziehun-­gen ablehnen«. Der Artikel über die Neue Kirche ist sehr sachlich und kenntnisreich verfaßt.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 27Offene Tore 2 (2001) 100Franz Josef Czernin. Apfelessen mit Swedenborg: Essays zur Literatur. Düsseldorf 2000 D er Schriftsteller Franz Josef Czernin sagt von sich: »... da ich die Tätigkeit des Dichtens ernst nehme, interessie-­ren mich nicht irgendwelche, sondern die extremen Versu-­che, sich dichtend auszusprechen.« 1952 in Wien geboren, hat er seit 1978 Gedichte, Prosa, Theaterstücke, Essays und Aphorismen publiziert. Seit 1980 arbeitet er an dem Projekt »Kunst des Dichtens«, einem enzyklopädischen Versuch, For-­men, Verfahren und Themata lyrischen Schreibens in einem Werk zu integrieren. In seinem in vergangenen Jahr veröf-­fentlichten Band »Apfelessen mit Swedenborg« versammelt Czernin Essays über Literatur und ihre inneren und äußeren Probleme. Der Swedenborg betreffende, 9-­‐seitige Essay hat die Form eines Dialogs zwischen einem Dichter und Sweden-­borg. Wie schon bei Lagercrantz geht es auch hier um die Frage, ob die Welt der Geister Dichtung oder Wahrheit oder auch beides sei. Czernin schreibt einleitend: »Ich war zwan-­zig Jahre, als ich in London in einer Kiste mit ausgemusterten antiquarischen Büchern zwei Bände seiner Werke in engli-­scher Übersetzung gefunden und um wenige Shilling erwor-­ben habe. Seither bin ich Swedenborg wieder und wieder begegnet, und unser Gespräch hat vielleicht nie aufgehört.« (42).


28<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>Offene Tore 2 (2001) 100Otto Betz. Des Lebens innere Stimme: Weisheit in Symbo-­len. Freiburg im Breisgau 2001. D es Lebens innere Stimme: Weisheit in Symbolen, – so betitelt Otto Betz die soeben erschienene Neuausgabe seiner Annäherung an die höhere Sprachform der Entspre-­chungen. Der Autor war Professor für Allgemeine Erzie-­hungswissenschaft und Religionspädagogik an der Universi-­tät Hamburg. Ihm gelingt ein allgemeinverständlicher Ein-­stieg in die symbolische Ausdrucksweise. »›Geheimnisse sind Nahrungsmittel‹, heißt es bei Novalis. In symbolischer Ge-­stalt kommen sie zu uns und stärken uns auf unserer Lebens-­reise. Aber wir müssen auch unsere leiblichen und geistigen Sinne dafür schärfen, um sie aufzunehmen und ›verdauen‹ zu können. Dann bereichern sie unser Leben und erschließen uns die größere Wirklichkeit – über alle Grenzen hinweg.« (32). Eine inspirierende Entdeckungsreise in die Bedeutung elementarer und religiöser Symbole.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 294.7.2002 | Offene Tore 3 (2002) 131–140Antoine Faivre. Esoterik im Überblick: Geheime Geschich-­te des abendländischen Denkens. Freiburg im Breisgau 2001. War Swedenborg ein Esoteriker? E soterik im Überblick: Geheime Geschichte des abendlän-­dischen Denkens, – so lautet der Titel eines Buches von Antoine Faivre, 2001 im Verlag Herder erschienen. Der Au-­tor ist Professor für Geschichte der esoterischen und mysti-­schen Bewegungen der Neuzeit am Religionswissenschaftli-­chen Institut der Sorbonne in Paris. Neben diesem Lehrstuhl besteht seit 1999 ein zweiter vergleichbarer an der Staatli-­chen Universität Amsterdam. Der französische Religionswis-­senschaftler bietet eine solide Einführung in die Geschichte der Esoterik. Im Hinblick auf die oben gestellte Frage sind zwei Abschnitte seines Buches interessant. Erstens seine Analyse der Komponenten der esoterischen Denkform und zweitens seine Darstellung des Theosophen Swedenborg. Die Komponenten der esoterischen Denkform Nach Faivre ist Esoterik eine Denkform. Ebenso wie Denk-­formen wissenschaftlicher, mystischer, theologischer oder utopischer Art existieren, gebe es eben auch eine esoterische Denkform. »Die Besonderheit einer jeden besteht in der si-­multanen Präsenz einer bestimmten Anzahl von Grundele-­menten oder Komponenten« (33). Faivre analysiert vier (bzw. sechs) Elemente des esoterischen Denkens, die unab-­hängig von den doktrinalen Inhalten dessen Form bilden. Sie sind mit »Auffangbecken« vergleichbar, »in denen Erfahrun-­gen und Vorstellungen verschiedener Art sich niederschlagen


30<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>können.« (34). Finden sich die vier wesentlichen Komponen-­ten der esoterischen Denkform auch bei Swedenborg? Wenn wir diese Frage bejahen können, dann denkt Swedenborg esoterisch (zumindest im Sinne Faivres). Antoine Faivre über die Komponenten der esoterischen Denkform: »Im Abendland bezeichnen wir als ›Esoterik‹ eine Denkform, die durch das Auftreten von sechs Eigenschaften oder Komponenten zu bestimmen ist, welche in unterschied-­lichster ›Dosierung‹ innerhalb ihres weiten historischen und real greifbaren Kontextes nachzuweisen sind. Vier davon sind ›wesentlich‹, und zwar in dem Sinn, daß ihr gleichzeiti-­ges Auftreten eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür darstellt, daß ein gegebenes Untersuchungsmaterial zur Esoterik zu rechnen ist … Zu diesen vier kommen zwei weitere hinzu, die wir als sekundär, d.h. als nicht grundle-­gend bezeichnen; ihr Vorkommen im Verein mit den vier anderen ist allerdings häufig. Die vier grundlegenden Elemente sind die folgenden: 1. Die Entsprechungen. Man geht davon aus, daß zwischen allen Teilen des sichtbaren und des unsichtbaren Univer-­sums … symbolische und reale Entsprechungen bestehen (›Wie oben, so unten; wie unten, so oben‹). Man findet hier die uralte Idee des Mikrokosmos und des Makrokosmos wie-­der oder, wenn man so will, das Prinzip der universalen Wechselbeziehungen. Man hält dafür, daß diese Korrespon-­denzen auf den ersten Blick mehr oder weniger verborgen bleiben und folglich dazu bestimmt sind, gelesen und entzif-­fert zu werden. Das gesamte Universum ist ein einziger gro-­ßer Schauplatz der wechselseitigen Abspiegelung, eine Welt von Hieroglyphen, die uns zur Entschlüsselung aufgegeben sind. Alles ist Zeichen, nichts gibt es, das nicht ein Mysterium in sich beschlösse oder eine Vorahnung davon erweckte. Ein jeder Gegenstand birgt ein Geheimnis in sich. Die Prinzipien


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 31der Widerspruchsfreiheit und des ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) sowie der kausalen Linearität werden hier verdrängt durch die einer dritten Möglichkeit und des Synchronismus. Es lassen sich zwei Arten von Entsprechun-­gen unterscheiden. Jene zunächst, die in der sichtbaren oder der unsichtbaren Natur bestehen, beispielsweise zwischen den sieben Metallen und den sieben Planeten, zwischen den Planeten und den Teilen des menschlichen Körpers oder dem Charakter – oder auch der Gesellschaft (es ist dies die Grund-­lage der Astrologie); zwischen der natürlichen Welt und den unsichtbaren Sphären der Welt in und über den Himmeln und so weiter. Sodann die Entsprechungen zwischen der Natur (dem Kosmos) – oder gar der Geschichte – und den offenbarten Texten. Man findet sie in der jüdischen oder der christlichen Kabbalistik und bei verschiedenen Spielarten der physica sacra: Folgt man dieser Form eines inspirierten Systems der Übereinstimmungen, so ist zu ›sehen‹, daß die Schrift (die Bibel zum Beispiel) und die Natur notwendiger-­weise in harmonischer Verbindung miteinander stehen, wo-­bei die Kenntnis der einen zur Kenntnis der anderen bei-­trägt. Letzten Endes ist die Bühne der Welt ein sprachliches Phänomen. Aber die Entsprechungen oder die Überein-­stimmungen sind deshalb noch keine Esoterik; sie begegnen auch in vielen philosophischen oder religiösen Strömungen, und eine jede von ihnen steckt mehr oder wenig die Natur ihrer eigenen Bezugssysteme der Analogie oder der Ähnlich-­keit ab. Dasselbe Prinzip ist auch in den Techniken der Wahrsagung, in der Poesie, in der Zauberei am Werk – und diese sind ja deswegen noch keineswegs mit Esoterik in eins zu setzen. 2. Die lebende Natur. Der Kosmos ist komplex, vielgestaltig und in Hierarchien unterteilt – wir haben dies gerade bei der Vorstellung der Entsprechung gesehen. Von daher nimmt die


32<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>Natur hier einen entscheidenden Platz ein. Sie soll wie ein Buch gelesen werden, in dem man beliebig blättern kann und das voller Enthüllungen der verschiedensten Art steckt. Das Wort magia, das in der Vorstellungswelt der Renaissance eine so große Rolle spielt, ruft deutlich diese Idee einer Na-­tur auf, die in all ihren Teilen als wesentlich lebendig ange-­sehen, erkannt und erfahren wird. Sie wird oft von einem Licht oder einem verborgenen Feuer beseelt, das in ihr kreist und von dem sie durchflossen wird. So verstanden ist Magie gleichzeitig die Kenntnis des Gewebes aus Sympathien und Antipathien, welches die Naturdinge untereinander verbin-­det, und die praktische Konkretisierung dieser Kenntnisse … Wesentlicher Bestandteil dieser Perspektive ist die paracel-­sische Tradition. Sie stellt eine breite Strömung mit vielen Verzweigungen dar, ausgehend vom tierischen Magnetismus über sämtliche Formen der magia naturalis (ein komplexer Begriff an der Schwelle von Magie und Wissenschaft) <strong>bis</strong> hin zur Homöopathie. Noch mehr als die Praktiken im eigentli-­chen Sinn scheint die Erkenntnis oder Einsicht – im Sinne von ›Gnosis‹ – zur Begründung des Begriffes einer esoteri-­schen Haltung beizutragen; die Erkenntnis, wie Goethe sie offenbar versteht, wenn er seinem Faust, der vor Verlangen danach brennt, die Worte in den Mund legt: ›Daß ich erken-­ne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält / Schau alle Wirkenskraft und Samen‹ (382–384). Dazu kommt die Aus-­legung einer Lehre des hl. Paulus (Römer 8,19–22), die die größten Konsequenzen für die Alchemie und für eine esote-­risch geprägte Naturphilosophie hat und der zufolge die lei-­dende Natur im Zustand des Exils und der Eitelkeit (creatura … vanitati subjecta est) gleichermaßen ihrer Erlösung harrt. Auf diese Weise wird eine Wissenschaft von der Natur be-­gründet, eine von soteriologischen Elementen erfüllte Gno-­sis, eine Theosophie, die das Dreieck Gott-­‐Mensch-­‐Natur


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 33bearbeitet, aus welchem der Theosoph Korrespondenzen dramaturgischer Art hervortreibt, die stets wieder neu sind und miteinander in einem Verhältnis der Komplementarität stehen … 3. Imagination und Mediation. Die beiden Begriffe sind mitei-­nander verbunden; sie ergänzen sich gegenseitig. Die Idee der Entsprechung setzt bereits eine Form von Imagination voraus, die dazu tendiert, Vermittlungen aller Art aufzuspü-­ren und anzuwenden wie z. B. Rituale, symbolische Bilder, Mandalas, vermittelnde Geister. Hieraus ergibt sich die Be-­deutung der Lehre von den Engeln, aber auch der Gestalt des ›Mittlers‹ im Sinne von ›Initiator‹, von ›Guru‹ … Vielleicht ist es vor allem dieser Begriff der Mediation oder Vermittlung, der den Unterschied begründet zwischen dem Mystischen und dem Esoterischen. Etwas vereinfachend ließe sich sagen, daß der Mystiker – im klassischen Sinn die mehr oder weni-­ger vollständige Beseitigung der Bilder und der Vermittler anstrebt, denn sie werden für ihn zu Hindernissen auf sei-­nem Weg zur Vereinigung mit Gott. Der Esoteriker dagegen scheint sich mehr für die Vermittler zu interessieren, die kraft seiner schöpferischen Einbildungskraft seinem inneren Auge offenbart wurden, als daß er im eigentlichen Sinne nach der Vereinigung mit dem Göttlichen strebt. Anstatt dar-­über hinaus zu gehen, zieht er es vor, auf der Jakobsleiter zu verweilen, dort, wo die Engel (und vielleicht auch andere Wesenheiten) auf-­‐ und niedersteigen. Die Unterscheidung hat lediglich einen praktischen Wert, denn es gibt <strong>bis</strong>weilen viel Esoterisches bei den Mystikern (Hildegard von Bingen z.B.), und bei so manchem Esoteriker ist ein ausgeprägter Hang zum Mystischen zu beobachten (z.B. Louis-­‐Claude de Saint-­‐Martin). Es ist die Imagination oder Einbildungskraft, die es erlaubt, diese Mittler, Symbole und Bilder zum Zwecke der Erkennt-­‐


34<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>nis (Gnosis) zu verwenden, die Hieroglyphen der Natur zu entschlüsseln, die Theorie der Entsprechungen in konkrete Praxis umzusetzen und die zwischen der göttlichen Welt und der Natur vermittelnden Wesenheiten zu entdecken, zu schauen und zu erkennen. Aufschlußreich wäre eine noch zu schreibende Geschichte der Einbildungskraft im Abendland, d.h. eine Geschichte der Rolle, die sie jeweils einnimmt. Sie würde Licht werfen auf die Bedeutung eben der Imagination, mit der wir uns hier befassen. Es ist dies nicht ein einfaches Seelenvermögen, das wie bei Kant zwischen die Wahrneh-­mung und den Begriff gezwängt wird, nicht die ›Irre im Haus‹, die Verantwortliche für Irrtum und Falschheit, der all jene zum Opfer fallen, die der Welt entfliehen und im Kerker ihrer eigenen inneren Welt gefangen bleiben. Es handelt sich vielmehr um eine Art Seelenorgan, mit dessen Hilfe der Mensch eine kognitive und visionäre Verbindung zu einer Zwischenwelt, einem Mesokosmos, herzustellen vermag – Henry Corbin schlug vor, hier von mundus imaginalis zu sprechen. Der ara<strong>bis</strong>che Einfluß (Avicenna, Sohravardhi, Ibn Arabi) hat möglicherweise im Abendland eine Rolle gespielt, aber auch ohne diesen Umweg hat Paracelsus zu sehr ver-­gleichbaren Kategorien gefunden. Vor allem die Wiederent-­deckung des Corpus Hermeticum gegen Ende des 15. Jahr-­hunderts führte dazu, daß Erinnerung und Einbildungskraft miteinander verschmolzen wurden, und zwar so weitgehend, daß sie ununterscheidbar wurden; denn ein Teil der Lehre des Hermes Trismegistos läuft darauf hinaus, die Welt in unserem mens zu ›verinnerlichen‹. Von hier aus sind auch jene ›Gedächtniskünste‹ zu verstehen, die unter magischem Vorzeichen während und nach der Renaissance gepflegt wurden. Die so verstandene Einbildungskraft (imaginatio ist mit magnet, magia, imago verwandt) ist das Werkzeug zur Er-­‐


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 35kenntnis seiner selbst, der Welt und des Mythos, wobei das Feuerauge die Hülle des äußeren Scheins durchdringt, um Bedeutungen und ›Bezüge‹ aufscheinen zu lassen, um das Unsichtbare sichtbar zu machen, jenen mundus imaginalis, zu dem das körperliche Auge allein keinen Zugang zu erhal-­ten weiß, um von dort einen Schatz einzuholen, der zur Er-­weiterung unser prosaischen Anschauung beiträgt. Die Beto-­nung liegt dabei eher auf der Vision und der Gewißheit als auf der Zuversicht und dem Glauben. Diese Einbildungskraft begründet eine visionäre Philosophie. Vor allen Dingen be-­lebt und speist sie den theosophischen Diskurs, in dem sie sich – ausgehend von Meditationen über die Verse der offen-­barten Schrift – realisieren und entfalten kann, so etwa an Hand des Zohar in der jüdischen Kabbala oder in der großen Strömung der abendländischen Theosophie, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Deutschland ihren Ausgang nimmt. 4. Die Erfahrung der Transmutation. Wenn man die Erfah-­rung der Transmutation nicht als eine der wesentlichen Komponenten betrachtete, so würde all das hier Erwähnte kaum über die Grenzen einer spekulativen Spiritualität hin-­ausgehen. Man kennt nun aber die Bedeutung des Initiati-­schen sogar bei dem, was im ganz alltäglichen und gängigen Sinne unter Begriffen wie ›Esoterik‹, ›Gnosis‹ und ›Alchemie‹ vorgestellt wird. ›Verwandlung‹ wäre hier kein adäquater Terminus, denn er bezeichnet nicht unbedingt den Übergang von einer Ebene zu einer anderen und auch nicht die Verän-­derung des Subjekts in der ihm eigenen Wesensart. Der Be-­griff ›Transmutation‹, der in unserem Zusammenhang der Alchemie entlehnt ist, erscheint angemessener. Es ist darun-­ter auch eine ›Metamorphose‹ zu verstehen. Dabei darf nun aber keineswegs die Erkenntnis (Gnosis) von der inneren Erfahrung oder die geistige Tätigkeit von der wirkenden Ein-­bildungskraft abgesondert werden, wenn man möchte, daß


36<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>das Blei zum Silber und das Silber zum Gold wird. Was man in den modernen esoterischen Strömungen des Abendlandes oft – im allgemeinen und modernen Sinn des Wortes – ›Gno-­sis‹ nennt, ist jene erleuchtete Erkenntnis, die die ›zweite Geburt‹ befördert ein Begriff, der hier entscheidend ist, zu-­mal in der Theosophie. Offenbar hat ein großer Teil des al-­chemistischen Corpus, insbesondere seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts, weniger die Beschreibung von Experimenten im Laboratorium zum Gegenstand als vielmehr die figurative Darstellung dieser Transmutation gemäß eines im vorhinein festgelegten und abgesteckten Weges: nigredo (Tod, Ent-­hauptung / Auseinanderlegen der Urmaterie oder des alten Menschen), albedo (Weißung), rubedo (Rötung, Stein der Weisen). Man hat darin eine Nähe zu den drei Phasen des traditionellen mystischen Weges sehen wollen: Läuterung, Erleuchtung, Vereinigung. In einem derartigen Kontext wird dabei oft stillschweigend vorausgesetzt, daß die Transmuta-­tion genausogut die eines Teiles der Natur sein kann wie die des Experimentators selbst.« (24 <strong>bis</strong> 30). Zu diesen vier grundlegenden Konstanten gesellen sich zwei weitere hinzu, »die nur von ›relativer‹ Bedeutung sind, in dem Sinne, daß sie nicht als unabdingbare Bestandteile der Definition gelten können … Es handelt sich einerseits um das, was man als die Konkordanzbildung bezeichnen könnte, an-­dererseits um die Transmission.« (30f). Die Tendenz zur Konkordanzbildung »zeichnet sich dadurch aus, daß sie ge-­meinsame Nenner zwischen zwei, drei oder mehr, ja zwi-­schen sämtlichen Traditionen überhaupt finden möchte, in der Hoffnung, eine Erleuchtung oder eine Gnosis höheren Ranges zu erreichen.« (31). Und mit dem sechsten Element der Transmission oder Übermittlung ist gemeint, »daß eine esoterische Lehre auf einem von vornherein vorgezeichneten Weg und unter Einhaltung bestimmter vorgeschriebener


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 37Stadien vom Meister an den Schüler weitergegeben werden kann oder muß.« (32). Wer bei Esoterik nur an das Geschwätz so mancher Zeitge-­nossen denkt, dem wird es schwer fallen, in Swedenborg einen Esoteriker zu erkennen. Doch orientieren wir uns an Antoine Faivre! Die vier wesentlichen Komponenten der eso-­terischen Denkform lassen sich auch bei Swedenborg erken-­nen. Bei der ersten Komponente, den Entsprechungen, dürf-­te sich der Nachweis erübrigen. Und die zweite Komponente? Auch für Swedenborg ist die Natur ein Buch, in dem er die Signatur der Dinge liest. Für ihn ist die Natur ein »theatrum repraesentativum«: »Die ganze Natur ist eine Schaubühne von Vorbildungen, die das Reich des Herrn in den Himmeln darstellen …« (HG 3518). Im hierarchischen Graddenken Swedenborgs ist die Natur der unterste Grundlagengrad, und insofern der entscheidende Ort im Universum (im Ganzen der Schöpfung), den hier entscheided sich unser ewiges Schicksal. Die Natur lebt zwar nicht aus sich, aber sie ist vom Lebenshauch der Ewigkeit erfüllt. Sie ist Erlösungsanstalt, Pflanzschule der Kinder Gottes. Die Natur strebt zum Men-­schen, und der Mensch zu Gott. Die dritte Komponente, die vermittelnde Macht der Bilder, der Imagination, ist beim Visionär Swedenborg selbstverständlich auch ein wesentli-­ches Formmerkmal seiner Denkwelt. Das Wort der heiligen Schrift ist das »medium conjunctionis« (WCR 235), das Mittel der Verbindung von Himmel und Erde. Durch das Wort soll sich der Betrachtende des göttlich Wahren die Bilder der Ewigkeit einbilden (imaginieren) lassen. Die Vorstellungen aus dem Wort sind die lichten Wolken der Wiederkunft Christi. Die vierte Komponente, die Erfahrung der Transmu-­tation, taucht bei Swedenborg in Gestalt der Wiedergeburt (regeneratio) auf. Man wird Swedenborg also einen Esoteri-­ker nennen dürfen.


38<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>Nur am Rande sei bemerkt, daß es auch andere Definitionen von Esoterik gibt. Zwei Bedeutungen dieses Wortes werden immer wieder genannt. Erstens, Esoterik als Sammelbe-­zeichnung für die Geheimlehren einer Arkandisziplin, für das Wissen der Eingeweihten; zweitens, Esoterik als innerer Weg (von griechisch eso = nach innen). Auch vor diesem Hinter-­grund läßt sich Swedenborg als Esoteriker interpretieren. Er hat den inneren (= esoterischen) Sinn der äußeren (= exote-­rischen) Überlieferungen enthüllt. So wurden die himmli-­schen Arkana zwar zugänglich und verloren den Charakter eines geheimen Wissens, andererseits aber bleibt das eigent-­liche Wesen der Korrespondenzen als das innere Gespräch der Eingeweihten (= Wiedergeborenen) mit Gott und seinen Engeln erhalten. Swedenborg gab uns in seinem Hauptwerk, Arcana coelestia, »vom Allgemeinsten nur eine allgemeine Vorstellung« (HG 771). Niemand soll meinen, daß sich die himmlischen Arkana vollständig in eine exoterische Form umgießen lassen. Der Weg nach innen, der Weg der Wieder-­geburt, bleibt auch nach der Gnade des neuen Wortes die Voraussetzung für die Initiation in die Arkana der geistigen und himmlischen Welt. Der Theosoph Swedenborg Swedenborg begegnet uns in Faivres Buch an mehreren Stel-­len, vor allem aber im dritten Kapitel, »Die Esoterik im Schatten der Aufklärung«; dort finden wir ihn in einem Ab-­schnitt über »Die großen Theosophen«. Der Begriff Theoso-­phie hat zwei Bedeutungen, von denen nur die erste auf Swedenborg zutrifft. Unter Theosophie versteht man »eine Form der Hermeneutik (das heißt von Auslegung), die sich mit prophetischen oder offenbarten Texten, mit Gründungs-­mythen (wie zum Beispiel der Schöpfungsgeschichte) oder mit Visionen befaßt. Die Theosophie ergründet die Mysterien


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 39der Gottheit … und die des Universums (hier spricht man manchmal von Pansophie). Die Theosophie ist keine abstrak-­te Untersuchung; durch die tätige Einbildungskraft und die Erfahrung des Symbols, die ein neues Erfassen der mythi-­schen Erfahrung gewährleisten, soll sie zur Verwandlung dessen führen, der sie ausübt.« (42f). Außerdem wird mit Theosophie »auch eine bestimmte Gesellschaft bezeichnet, die 1875 gegründete Theosophical Society (Theosophische Gesellschaft), oder die von ihr verbreitete Lehre.« (43). Antoine Faivre über Swedenborg: »Nach einer Reihe von Träumen, die urplötzlich sein ganzes Innenleben umwan-­deln, unterbricht 1745 der schwedische Naturforscher und bekannte Erfinder Emanuel Swedenborg (1688–1772) seine im eigentlichen Sinne wissenschaftliche Tätigkeit. Er vertieft sich in das Studium der Heiligen Schrift und verfaßt seine Arcana coelestia (1747/1758), denen zahlreiche weitere Werke folgen. Swedenborg stellt darin seine Visionen in der Form von Bildern und Figuren dar, die eine Art von deskrip-­tiver, ja realistischer Geographie der himmlischen Sphären und der spirituellen Welten begründen sollen. Sein Werk trägt viel dazu bei, die Vorstellung von den universalen Ent-­sprechungen, die als eine ununterbrochene Folge von Zwi-­schenstufen von der Natur zum Menschen und vom Men-­schen zu Gott fortgehen, zum Gemeingut eines breiten Publi-­kums werden zu lassen: In der natürlichen Welt ›entspricht‹ jeder Gegenstand, und sei er noch so klein, einem Element der spirituellen Welt, ohne daß je ein Bruch zwischen diesen Ebenen entsteht. Sein zwar farbenreicher, aber durchweg seichter Stil stößt so manchen Leser ab (in seiner Abhand-­lung Träume eines Geistersehers, 1776, trägt Kant seine phi-­losophische Kritik an Swedenborg vor), aber kein anderer Theosoph hat auf die Literatur des 19. Jahrhunderts einen so nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Der Siegeszug seiner Schrif-­‐


40<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>ten beginnt in den siebziger Jahren in Form von Übersetzun-­gen und Abrissen. Die meisten anderen großen Theosophen schätzen Swedenborg kaum. Seine Christologie kommt ihnen zweifelhaft vor, und seine Kosmologie räumt der Natur nur einen minimalen Platz ein. Trotzdem beeinflußt seine Lehre die Freimaurerriten und regt im Jahre 1787 Geistliche der anglikanischen Kirche dazu an, eine neue religiöse Gemein-­schaft zu gründen, die auch heute noch florierende ›New Church‹ (Neue Kirche).« (83).


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 414.7.2002 | Offene Tore 3 (2002) 153–156Ernst Benz. Emanuel Swedenborg: Visionary Savant in the Age of Reason. Introduced and Translated by Nicholas Goodrick-­‐Clarke. West Chester 2002 Die Benzbiographie in englischer Übersetzung U nter dem Titel »Emanuel Swedenborg: Visionary Savant in the Age of Reason« ist die Swedenborgmonographie von Ernst Benz nun auch in englischer Sprache erschienen. Der nachstehende Text wurde aus Auszügen der Einleitung von Nicholas Goodrick-­‐Clarke zusammengestelt: »Die Biographie, die Sie jetzt in Händen halten, wurde vor mehr als fünfzig Jahren vom bedeutenden deutschen Theolo-­gen und Kirchenhistoriker Ernst Benz geschrieben. Benz' Werk ist nicht überholt – im Gegenteil seine Veröffentlichung in Englisch ist aktueller denn je. Benz hat einen wesentlichen Beitrag für die Bedeutung Swedenborgs für das europäische religiöse Denken geleistet. Als Nicht-­‐Swedenborgianer ver-­wandte Benz seine umfangreiche religionshistorische For-­schungsarbeit darauf, Swedenborg fest in der Hauptströ-­mung der westlichen esoterischen Tradition und der Ge-­schichte der christlichen Seher zu verankern. Benz begann sein postgraduales Studium in protestantischer Theologie mit Schwerpunkt auf Gottfried Arnold und die Mystik des achtzehnten Jahrhunderts, was ihn auf dem direk-­ten Weg zu seinen wichtigsten Büchern über Jacob Böhme und Emanuel Swedenborg einschliesslich dieses Werks führ-­te.Die Studienbibliographie von Ernst Benz ist eindrucksvoll umfassend und enthält Hunderte von gelehrten Artikeln und


42<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>etwa fünfzig Bücher von Studien über die östlich orthodoxen Kirchen und asiatischen Religionen <strong>bis</strong> hin zu Biographien von Friederich Wilhelm Joseph Schelling, dem deutschen romantischen und neo-­‐platonischen Philosophen, sowie Franz Anton Mesmer, dem Begründer des tierischen Magne-­tismus. Als Schüler von Rudolf Otto bedauerte Benz den Pro-­zess der Säkularisierung und den Verlust der Transzendenz in der westlichen Gesellschaft und zählte zu seinen engen Studienfreunden Leopold Ziegler, den Jünger René Guenons, und den bedeutenden Theologen Pierre Teilhard de Chardin. Zusammen mit Hans-­‐Joachim Schoeps, dem bekannten intel-­lektuellen Historiker, gründete Benz in den späten 40er-­‐Jahren die hoch geachtete ›Zeitschrift für Religions-­‐ und Geis-­tesgeschichte‹. 1953 nahm er an der Eranos-­‐Konferenz in Ascona teil, einem seit 1933 bestehenden, herausragenden Forum für Religion und Philosophie, zu dessen regelmässi-­gen Teilnehmern Martin Buber, Carl Gustav Jung, Karl Kerényi, Giles Quispel, Henry Corbin, Gershom Scholem, Mircea Eliade und Daisetz Suzuki gehörten. Benz widmet sich der zentralen Frage, zu der jedes Studium von Swedenborg einlädt. Wie und warum wandelte sich die-­ser musterhafte Wissenschaftler in den berühmten Mystiker und Seher? Während einige Kommentatoren für Sweden-­borgs Wandel psychologische Erklärungen in Form einer Lebenskrise und Psychose herbeizogen, machte Benz mit solchen herabsetzenden Bemühungen kurzen Prozeß. Swe-­denborgs eigener Geisteszustand ist nicht wesentlicher für die Bedeutung und den Einfluß seiner Ideen auf das europäi-­sche Denken als, sagen wir, ein psychiatrischer Bericht über St. Augustine oder St. Ignatius Loyola eine Bewertung ihrer Wirkung auf die Geschichte der Christenheit und des Wes-­tens darstellen würde. In bester historischer Tradition, je-­nem Vermächtnis der deutschen Schule des zwanzigsten


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 43Jahrhunderts, bringt Benz Swedenborgs Leben und die Ent-­wicklung seiner Gedanken mit dem Naturel seiner Zeit, den intellektuellen und religiösen Strömungen, den Herausforde-­rungen und Hoffnungen des Zeitalters der Vernunft, in Ver-­bindung.… Am Zenit seiner Kräfte als angesehene Persönlichkeit der europäischen Wissenschaft und Mitglied der Schwedischen Akademie der Wissenschaften, änderte sich Swedenborgs Leben im Frühjahr 1744 für immer. Anlässlich einer Reise durch Holland am Osterwochenende durchlebte Swedenborg eine emotionale Krise, die in einer nächtlichen Vision Christi gipfelte. Er fiel aus seinem Bett und fand sich auf der Brust Jesu ruhen und fühlte eine tiefe göttliche Berufung zu einer besonderen Aufgabe. Ich den folgenden Monaten suchte Swedenborg Führung und Hin-­wendung auf sein neues religiöses Gefühl. Er führte ein of-­fenbarendes Traumtagebuch und schrieb ›De cultu et amore Dei‹ (Von der Anbetung und Liebe Gottes), eine herausra-­gende Mischung von Mythologie und Wissenschaft. Dann im Frühjahr 1745 hatte er während seines Aufenthalts in Lon-­don seine erste Vision der geistigen Welt und ihrer Bewoh-­ner. Gott der Herr erschien Swedenborg und sagte ihm, daß es seine Mission sei ›den Menschen die geistige Bedeutung der Schrift zu erklären‹. Von nun an besaß Swedenborg die Sehergabe für die geistige Welt und bezog beständige Inspirationen für seine neue Be-­rufung. 1748 begann er mit der Arbeit an ›Arcana Coelestia‹ (Himmlische Geheimnisse), sein achtbändiges seherisches Hauptwerk, das eine ganze Flut von Werken, die der Theolo-­gie und der Bibelauslegung gewidmet waren, ankündigte, darunter ›Von den Erdkörpern im Weltall‹, ›Vom Neuen Jeru-­salem und seiner himmlischen Lehre‹ und sein berühmtestes Buch ›Himmel und Hölle‹, die alle 1758 erschienen. In den


44<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>60er-­‐Jahren des achtzehnten Jahrhunderts schuf er weitere bedeutende Werke, die alle auf der Interpretationen der Schrift beruhten, welche ihm die Engel in geistigen Visionen in Palästen und Pärken, in Vorlesungssälen, Kollegien und Konferenzen in wundervollen oder bedrohlichen Landschaf-­ten erläuterten. Swedenborgs seherische Fähigkeit war ein-­malig. Statt Verzückung, mystischer Einheit und erhöhenden Erfahrungen, die den berühmten englischen, deutschen und spanischen Mystikern vom Mittelalter <strong>bis</strong> ins achtzehnte Jahrhundert gemein waren, hatten Swedenborgs Visionen immer einen Bezug zur Bedeutung der Schrift, was seinen Schriften eine erstaunliche Sachlichkeit verlieh. Wir lesen einen prosaischen, ja unwiderstehlichen Bericht von Begeg-­nungen mit Geistern, die ausführliche Informationen über Gott, Himmel und Erde, Ziel der Menschheit, das Letzte Ge-­richt und das kommende Leben offenbaren. Niemals zuvor hatte ein christlicher Seher mit so einem geschulten Verstand und den Kenntnissen eines führenden europäischen Wissen-­schaftlers geschrieben.« Antoine Faivre, der in dieser Nummer der Offenen Tore mit seinen Gedanken zur Esoterik ausführlich zu Wort kam, meint zur englischen Übersetzung der Swedenborgmonogra-­phie: »Das Buch von Ernst Benz gewährt noch immer den besten Zugang zu Swedenborgs Gedanken. Die gründliche Kenntnis der Geschichte der philosophischen, spirituellen (nicht zuletzt esoterischen) und wissenschaftlichen Ideen in der westlichen Welt befähigte Benz, einen »Swedenborg-­‐im-­‐Kontext« zu präsentieren. Diese Übersetzung wird vielen Studenten, besonders diejenigen der abendländischen esote-­rischen Traditionen, gute Dienste leisten. Die bemerkens-­werte Einführung von Nicholas Goodrick-­‐Clarke ist schlicht der beste und umfassendste Kurztext über Swedenborg, den ich je gelesen habe.«


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 454.7.2002 | Offene Tore 3 (2002) 156Guntram Spindler (Hg.). Glauben und Erkennen. Die Heili-­ge Philosophie von Friedrich Christoph Oetinger. Studien zum 300. Geburtstag. Metzingen 2002 Z um 300. Geburtstag von Friedrich Christoph Oetinger am 2. Mai 2002 ist ein Aufsatzband erschienen, der die-­sen bemerkenswerten, originellen Geist wieder lebendiger werden läßt. In manchen seiner Anliegen war er seiner Zeit weit voraus – und unserer erstaunlich nahe. Auf der Suche nach Wahrheit hat er sich in langen Jahren in der Welt umgeschaut. Er war Pfarrer in Hirsau, in Schnaitheim und in Walddorf, Dekan in Weinsberg und Her-­renberg, zuletzt <strong>bis</strong> zu seinem Tod im Jahr 1782 Prälat in Murrhardt und damit zugleich Mitglied des württembergi-­schen Landtags. Oetinger stand in lebendiger Auseinandersetzung mit For-­schung und Wissenschaft seiner Zeit: geradezu hellsichtig erscheint seine Kritik an einer nur berechnenden, rationalen und zweckbestimmten Naturbetrachtung; aktuell sein allum-­fassender, interdisziplinärer Ansatz, zukunftsweisend seine ganzheitliche Theologie. Weil Gott in allem wirkt, machte er sich kundig in Psychologie, Jurisprudenz und in allen Natur-­wissenschaften.Es galt Wege zu öffnen, damit die Menschen aus der gesam-­ten Lebenswirklichkeit Gott erkennen können. Sein Hinweis auf Christus als das Heil der Natur deutet eine theologische Ökologie, eine Spiritualität der Leiblichkeit an. Er erkannte bei allen Menschen ein von Gott in die Schöpfung gelegtes allgemeines Wahrheitsgefühl; letzte Norm war ihm


46<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>jedoch die Bibel. In dieser Spannung gestaltete er seine Lehre und Praxis von Predigt, Unterricht und Seelsorge. Der Aufsatzband enthält auch den Beitrag von Eberhard Gu-­tekunst über Swedenborg und Friedrich Christoph Oetinger, der zuerst im Begleitbuch zur Swedenborg-­‐Ausstellung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart von 1988 erschienen ist.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 47Offene Tore 4 (2002) 208–210Harro Maltzahn. Emanuel Swedenborg. Hellseher – Na-­turforscher – Visionär. Lebensgeschichte und Werk des großen europäischen Hellsehers mit einem Nachwort von Walter Hasenclever, Herausgeber des Buches »Himmel – Hölle – Geisterwelt«. Greiz 2002 Aus alt mach neu D ie Mediengruppe König des thüringischen Unterneh-­mers Gerd Elmar König hat, auf der Suche nach selte-­nen, vergriffenen Werken des 18. Jahrhunderts, Swedenborg ausgegraben. Aus einem 1939 erschienenen Büchlein von Harro Maltzahn und der Nachdichtung »Himmel, Hölle, Geis-­terwelt« aus dem Jahre 1925 von Walter Hasenclever fertigte die Greizer Bücherschmiede »Emanuel Swedenborg: Hellse-­her, Naturforscher, Visionär. Lebensgeschichte und Werk des großen europäischen Hellsehers«. Als Autor wird dem unkundigen Käufer jedoch nur Harro Maltzahn genannt, ob-­wohl mehr als zwei Drittel des Buches eigentlich von Walter Hasenclever stammen. Auch die aus alten Gestaltungsele-­menten (sie sind dem Büchlein von 1939 entnommen) zu-­sammengestellte Titelseite verrät, daß man hier ohne großen Aufwand, möglichst kostengünstig ein Buch für ein bestimm-­tes Marktsegment produzieren wollte. Trotz dieser Nachläs-­sigkeiten sind die Texte emfehlenswert. Das nun wieder erhältliche Skript von Maltzahn beschäftigt sich überwiegend mit der Sehergabe Swedenborgs. Das hängt mit der Entstehungsgeschichte zusammen, über die Adolf Ludwig Goerwitz 1939 zu berichten wußte: »Harro Maltzahn ist an der Bühne tätig. Er ward, da er mit Rednerta-­‐


48<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>lent begabt ist, von einer okkultistischen Gesellschaft einge-­laden, über Swedenborg zu sprechen, weswegen er jene Be-­gebenheiten in Swedenborgs Leben in den Vordergrund stell-­te, die den Interessen jener Gesellschaft besonders entspre-­chen mußten. Von dem Vorhandensein einer mit Sweden-­borgs Offenbarungen zusammenhängenden kirchlichen Kör-­perschaft wußte er nichts, obwohl er ganz in der Nähe des Saales der Berliner Gemeinde wohnt und oft dort vorüber-­kam; erst durch diesen Vortrag kam er in Berührung mit der-­selben und ist nun ihr Mitglied geworden. Er ward nach sei-­nem Vortrag von dem Verlag Hummel aus ersucht, denselben drucken zu lassen, was ihn veranlaßte, ihn etwas zu erwei-­tern, woraus nun die erwähnte Broschüre entstand. Wir ver-­stehen nun aus diesem Hergang, warum der den okkulten Interessen entgegenkommende Teil so im Vordergrund steht und wissen das darüber hinaus Hinzugefügte umsomehr zu würdigen.« 2 Walter Hasenclever ist 1890 in Aachen geboren worden und hat sich 1940 beim Einmarsch der Deutschen in Frankreich, wo er als politischer Flüchtling in einem Lager lebte, das Le-­ben genommen. Bekannt ist er durch seine expressionisti-­schen Theaterstücke geworden. Wahrscheinlich über Honoré de Balzac, dessen »Buch der Mystik« 1910 in Deutschland erschienen war, wohl auch über Goethe, den er liebte, und über August Strindberg gelangte er zu Swedenborg. Im Janu-­ar 1922 begann er mit der mühevollen Übersetzungsarbeit der in schwer verständlichem, scholastischem Latein ge-­schriebenen Schriften des Geistersehers. Als Grundlage dien-­ten ihm »Himmel und Hölle« und »Die Himmlischen Geheim-­nisse«, aus deren sinnvoller Verbindung seine in klare Sätze gegossene, tief empfundene Nachdichtung »Himmel, Höller, 2 Die Neue Kirche, Jg. 56, 1939, S. 51.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 49Geisterwelt« erwuchs. 1925 wurde sie veröffentlicht und ist heute im Swedenborg Verlag erhältlich. Beide Texte sind nun im oben genannten Taschenbuch der Mediengruppe König vereint und im Buchhandel für EUR 19,80 erhältlich. Nachdem es der Rowohlt Verlag abgelehnt hat, Swedenborg in die Reihe der Bildmonographien aufzu-­nehmen, erfreut es, daß ein findiger Unternehmer etwas für den von Gerüchten und Anekdoten umgebenen Swedenborg tut, auch wenn dies in der Sparte Kuriositäten der Geistesge-­schichte geschieht.


50<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>14.10.2002 | Offene Tore 4 (2002) 210–212Walter Ackermann. »Flug mit Elisabeth« und andere Avia-­tica. Mit einem biographischen Nachwort herausgegeben von Charles Linsmayer. Frauenfeld, Stuttgart, Wien 1999 Walter Ackermann, Pilot und Schriftsteller A m 19. April 1903 wurde Walter Ackermann in Zürich geboren. Da seine Eltern Swedenborgianer waren, wur-­de er am 9. August von Pfarrer Fedor Goerwitz im Haus »Zum Frieden« (Sonneggstr. 10), das der Neuen Kirche 58 Jahre lang diente, getauft. Hier wohnte er zudem die längste Zeit seines kurzen Lebens. Über eine längere Phase der Gleichgültigkeit hinweg hielt er der Neuen Kirche am Ende doch die Treue. 1927 erwarb er das Militärpilotenbrevet und flog in einer Jagdstaffel die Dewoitine D-­‐27. Mit diesem Hochdecker gewann er am Internationalen Flugmeeting 1927 in Zürich die Nationale Akrobatik-­‐Konkurrenz. Acker-­mann, auch als begeisterter Segelflieger aktiv, wählte 1927 den Beruf eines Verkehrsfliegers. Als 1931 durch Fusion die nationale Swissair entstand, war er von Anfang an dabei. In den sieben Jahren seiner Zugehörigkeit steuerte er die DC-­‐2 und DC-­‐3, den Lockheed Orion und die mit Schweröl betrie-­bene Junkers JU-­‐86, mit der er in der Nähe von Konstanz am 20. Juli 1939 zu Tode stürzte. Pfarrer Adolf Ludwig Goerwitz hielt die Abdankungsrede. Seit 1924 war Ackermann Chefredaktor der Zeitschrift »Mo-­tor«. Er verband die Berufe Pilot, Journalist und Schriftsteller auf originelle Weise miteinander und schuf neben weitver-­breiteten, vor allem für Jugendliche bestimmten Flugsachbü-­chern (»Bordbuch eines Verkehrsfliegers«, 1934; »Fliegt mit! Erlebnis und Technik des Fliegens«, 1937) den Roman »Flug


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 51mit Elisabeth« (1936), eine poetische, aus Briefen zusam-­mengestellte Liebesgeschichte zwischen einem welterfahre-­nen Flugkapitän und einem verträumten jungen Mädchen. Das Buch hält eine Epoche der Luftfahrt lebendig, die mit ihrem Pioniergeist bereits sehr abenteuerlich anmutet, ge-­nügt mit der zartfühlenden Gestaltung der sich langsam an-­bahnenden, von Anfang an eng mit dem Tod verknüpften Liebesbeziehung aber auch höheren literarischen Ansprü-­chen.Dieser Roman ist nun zusammen mit anderen aviatischen Texten Ackermanns im Verlag Huber neu erschienen. Wert-­voll ist auch das reichillustrierte biographische Nachwort des Herausgebers Charles Linsmayer, das die von Ackermann mitgeprägte Epoche der Schweizer Luftfahrt protokolliert, seinen Lebensspuren nachgeht und die Liebesgeschichte nachzeichnet, die das Modell zu »Flug mit Elisabeth« bildete. Denn was den Roman zusätzlich denkwürdig macht, sind die Parallelen zu Ackermanns Biographie. Am Schluß des Buches befindet sich der Flugkapitän Werner Rickenbach auf dem Heimflug in die Schweiz, wo er bald Hochzeit halten wird: »Ich bin auf dem Heimweg – ich komme zu Dir – Elisabeth! Du <strong>bis</strong>t die Erde und die Heimat und die Ewigkeit.« Dann folgen Conrad Ferdinand Meyers Verse vom Glockengeläut, das über den See schallt und nicht vom Tod, sondern vom Hochzeitmachen kündet. Am 8. August 1939 wollte auch Ackermann selbst Hochzeit halten: mit der bildhübschen Erna Fisch, dem Urbild seiner Elisabeth. Und auch er befand sich am 20. Juli 1939, als er den Kursflug Wien-­‐Zürich allen düsteren Wettervorhersagen zum Trotz riskierte, auf dem Heimweg zu seiner Braut – am Air-­‐Terminal erwartete sie ihn mit Einkäufen für den neuen Hausstand. Da zwang ihn das Wetter, den Bodensee rechts zu umfliegen. Über Fried-­richshafen setzte einer der beiden Motoren aus, und um 17


52<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>Uhr stürzte die JU-­‐86 beim Einkurven zu einer Notlandung kurz vor dem Flugfeld Konstanz aus 50 Metern Höhe senk-­recht zu Boden – ein Aufprall, den niemand überlebte. Sie habe, darauf besteht Erna Fisch noch heute, der Swissair nie abgenommen, daß die Maschine in Ordnung war. Immerhin zählte Walter Ackermann mit 1.350.000 Flugkilometern zu den erfahrensten Piloten des damaligen Luftverkehrs. Ob menschliches oder technisches Versagen: die Glocken jeden-­falls, mit denen der schreibende Flugkapitän 1936 seinen Liebesroman hatte ausklingen lassen, kündigten ihm selbst den Tod, und nicht die Hochzeit, an. In manchen Sätzen nimmt die individuelle Erfahrung des Piloten von 1933 in geglückter Formulierung Erkenntnisse vorwegnimmt, wie sie auch heute noch aktueller nicht sein könnten: »Das ist die Tragik unseres Lebens zwischen Ort und Ort. Überall sind wir nur ein paar Stunden, überall sind wir nur zu Gast. Nirgends schlagen wir Wurzel. Nirgends bauen wir auf. Und wir sehen so viel, daß wir überhaupt nichts mehr sehen. Vielleicht ist unser Dasein ein Gleichnis der heutigen Zeit. Vielleicht ist dieses immer schnellere Um-­herrasen nur ein Davonlaufen vor uns selbst. Schau Dir das Weltgeschehen an – dann sage mir, wo ist bei allem äusseren Fortschritt die innere Entwicklung, wo ist bei aller Wunder-­technik der Gedanke dahinter?« (203).


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 5315.4.2005 | Offene Tore 2 (2005) 108–109Herbert Ullrich. Schädel-­‐Schicksale historischer Persön-­lichkeiten. München 2004 Große Köpfe einmal anders A ls Swedenborgianer glauben wir ja immer, Swedenborg werde nicht genügend beachtet. Da mag es Balsam für unsere Seelen sein, daß dieser größte Kopf des 18. Jahr-­hunderts, dem die Stanford University den unglaublichen Intelligenzquotienten von »über 200« 3 zuschrieb, endlich einmal in einer Reihe mit René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz und Immanuel Kant genannt wird. Allerdings gilt die Beachtung genau genommen nicht dem Kopf, sondern nur dem Schädel, – post mortem. Und derjeni-­ge, der Swedenborg solche Beachtung schenkt, heißt Herbert Ullrich und ist weder Theologe noch Philosoph, wohl aber ein international bekannter Anthropologe an der Berliner Humboldt-­‐Universität. In seinem Sachbuch beschreibt er in 66 ausgewählten Kapiteln besonders interessante und über-­aus wechselvolle »Schädel-­‐Schicksale« von Komponisten und Malern, Dichtern und Denkern, Philosophen und Gelehrten, Heiligen und Geistlichen, Rittern und Hoffräuleins, Feldher-­ren und Admiralen, Adeligen und Bürgern, Fürsten und Gra-­fen, Kaisern und Königen sowie von Großfürsten und Zaren. Der Geisterseher, der schon zu seinen Lebzeiten auf Erden viel unterwegs war, ging auch post mortem noch einmal auf Reisen. 1908 wurden seine Gebeine ehrenvoll auf der schwedischen Fregatte Fulgia von England nach Schweden 3 Guiness-­‐Buch der Weltrekorde, amerikanische Ausgabe von 1976, Seite 50.


54<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>überführt. Die Feierlichkeit hatte allerdings einen Haken, denn der Schädel des berühmten Mannes blieb in London zurück, – in einem Regal. Nachdem nämlich der aus Schwa-­ben stammende Mediziner Franz Joseph Gall (1758–1828) die Phrenologie (Schädellehre) begründet und bekannt ge-­macht hatte, setzte Anfang des 19. Jahrhunderts eine regel-­rechte Jagd auf Menschenschädel ein, die auch vor Leichen-­schändung nicht zurückschreckte. Der Schädel des Dichters William Schakespeare wurde 1794 aus der Gruft auf dem St. Trinitatis-­‐Friedhof in London gestohlen. Den Schädel von Wolfgang Amadeus Mozart hat wahrscheinlich der Totengrä-­ber 1801 bei der Umräumung des mehretagigen Schachtgra-­bes an sich genommen. Joseph Haydns Leichnam ist 1809 nur wenige Tage nach der Bestattung von einem Gall-­‐Adepten der Kopf im Grabe abgetrennt worden. Als 1818/19 der Sarkophag von René Descartes in das Panthéon in Paris überführt wurde, fehlte der Schädel. Dieses Geschick ereilte auch Swedenborgs Schädel. 1816 wurde er von dem Phreno-­logen John Didrik Holm, einem in London lebenden, wohlha-­benden schwedischen Seekapitän, aus dem Sarg entwendet und gegen einen anderen ausgetauscht. Seitdem existierten zwei Swedenborg-­‐Schädel; der falsche reiste nach Schweden und der echte blieb in England. Erst am 3. Mai 1978 konnte in der Kathedrale von Uppsala Swedenborgs echter Schädel im Beisein von Vertretern der Swedenborg-­‐Familie, des Mi-­nisteriums für Erziehung und Kultur sowie der Königlichen Akademie der Wissenschaften nach mehr als 160 Jahren wieder in das Grab gelegt und mit dem Körperskelett Swe-­denborgs vereint werden. Herbert Ullrich erzählt diese und andere Geschichten sehr ausführlich. So ist ein spannend geschriebenes und wissen-­schaftlich fundiertes Buch entstanden, das auf seine Weise beleuchtet, was einem post mortem alles passieren kann.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 5514.7.2005 | Offene Tore 3 (2005) 164–165Klaus Berger. Jesus. München 2004 »Jesus« postmodern Eine Rezension des neuen Jesusbuches von Klaus Berger K atholisch erzogen, wollte er zunächst Priester werden, vertrat allerdings in seiner ersten Doktorarbeit eine These, die ihm den Zugang zur Priesterweihe unmöglich ge-­macht habe. 24 Jahre später sei diese These akzeptiert und sogar in den Weltkatechismus aufgenommen worden. »Wer zu früh kommt«, meint er, »den bestraft die Kirche«. Als Ka-­tholik wurde er Professor für Neues Testament an der evan-­gelischen Fakultät der Universität Heidelberg, er heiratete eine evangelische Kollegin und pflegt sehr enge Beziehung zu einem Zisterzienserkloster, zu dem er gehöre wie ein »Novi-­ze im Außendienst«. Die Rede ist von Klaus Berger. Er will »postmoderne Theologie« treiben. Denn »der Satz Ru-­dolf Bultmanns ›Ich kann nicht gleichzeitig einen elektri-­schen Schalter benutzen und an die Himmelfahrt Jesu glau-­ben‹, der seinerzeit ob seiner ›Modernität‹ schockierte, (ist) heute nicht nur altbacken, versnobt und überholt, sondern unsinnig.« (24). Die wissenschaftliche Diät hat uns ausge-­hungert. Wir wollen wieder glauben! Man fühlt sich an das Psalmwort erinnert: »Wie ein Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.« (Ps 42,2f.). Theologie darf heute wieder eine Zumutung sein. »Das Bild von Jesus, das ich hier zeichne«, schreibt Berger, »bedeutet eine Wende. Für Außenstehende mag es verwunderlich sein, aber es gibt in der Theologie derzeit ein doppeltes Jesusver-­bot. Das erste Verbot sprechen historisch-­‐kritische Exegeten


56<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>aus, die Jesus klein machen, das zweite die Ideologen und Schwätzer, die ihnen auf den Fuß folgen und ›Jesus‹ mit Be-­deutungen befrachten, über die er sich vermutlich gewun-­dert hätte – die ihn politisch vereinnahmen oder zur psycho-­logischen Sphinx umdeuten.« (13). Die meisten Jesusbücher, ob wissenschaftlich oder populär, wurzeln tief im 19. Jahrhundert: Johannes wird ausgegrenzt, die synoptische Christologie, das Christusverständnis von Markus, Matthäus, Lukas, ausgefiltert, alles, was mit Kirche zu tun hat, aussortiert. Wunder hat es nie gegeben. Die Re-­den, die Streitgespräche, die Gleichnisse – sie werden zu-­rechtgestutzt auf einige wenige »ureigene Worte« und Ideen, die ins Bild passen: wie es den Interpreten plausibel er-­scheint. Das Ergebnis hat Albert Schweitzer für seine Zeit nüchtern konstatiert: Dem Subjektivismus werden Tür und Tor geöffnet. Der »historische Jesus« ist eine Leiche, die mühsam wiederbelebt werden muß, indem man ihr eine ide-­alistische Ethik andichtet, die Jesus nie gelehrt hat, eine spi-­rituelle Energie einhaucht, die Jesus nie gespürt hat, und eine kulturelle Kraft zuspricht, die Jesus nie interessiert hat. Berger bricht mit dieser Art der Jesusforschung. Er will end-­lich wieder auf das Wort hören: »wenn man fragt, wer ist Gott, dann muss man so lange auf sein Wort hören, <strong>bis</strong> er selbst zu sprechen beginnt.« (29). Das wollten allerdings alle Exegeten schon immer und irgendwie. Man ist vorsichtig geworden gegenüber dem Bekenntnis, daß jemand nur auf das Wort hören will. Denn nach Gadamer »gehört« der Leser notwendig »mit zu dem Text, den er versteht«. Den Leser gibt es nicht, der »einfach liest, was dasteht« 4 . Daher bringt natürlich auch Berger sich in sein Jesusbild ein. Er outet sich als Sympathisant der Zisterzienser. Er bekennt, den Kruzifi-­‐4 Hans-­‐Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 1975, S. 323.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 57xen seiner Heimatstadt Goslar mehr zu verdanken als seinem Studium und im Gregorianischen Choral Jesus näher zu sein als in den Debatten der Bibelwissenschaft. Und so findet man bei Berger auch nicht den wahren Jesus, wohl aber den Jesus, der unsere Glaubensbereitschaft wieder etwas mehr bean-­sprucht. Das ist das Intereressante an diesem Jesusbuch: es zeigt uns, was heute sagbar, es ist ein Indikator für das Je-­susgefühl und die Jesusmystik der Postmoderne.


58<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>23.1.2006 | Offene Tore 1 (2006) 42–44Emanuel Swedenborg. Himmel und Hölle nach Gesehe-­nem und Gehörtem. Herausgegeben und umfangreich kommentiert von Hans-­‐J. Hube. Wiesbaden: Marix Verlag, 2005. »Himmel und Hölle« im marixverlag Ü berrascht und erfreut haben wir zur Kenntnis genom-­men, dass endlich einmal wieder ein Werk Swedenborgs außerhalb des Swedenborg Verlags veröffentlicht worden ist. Und es ist wieder einmal »Himmel und Hölle«, der Klassiker des »Geistersehers«. 1924 erschien dieses populärste Werk Swedenborgs im Verlag Richard Halbeck, Berlin, damals mit einem Vorwort von F. A. Brecht. Und im Jahr darauf, 1925 erschien erschien Walter Hasenclevers Nachdichtung »Him-­mel, Hölle, Geisterwelt« im Verlag Die Schmiede, ebenfalls in Berlin. Gerne würde ich der Frage nachgehen, ob ein Zu-­sammenhang zwischen einem vermehrten Interesse am Jen-­seits in der Öffentlichkeit und den herrschenden Zeitum-­ständen erkennbar ist. Doch ich will mich nicht allzu sehr auf Spekulationen einlassen. Aber die seinerzeitigen Veröffent-­lichungen von »Himmel und Hölle« fielen in die Zeit der in-­stabilen Weimarer Republik. Auch heute ist der Glaube an die Sicherheit der äußeren Lebensverhältnisse erschüttert, und der Glaube an Engel und eine jenseitige Welt ist nicht mehr abwegig. Die Herausgabe von »Himmel und Hölle« im marixverlag scheint ein weiterer Indikator dieser Entwick-­lung zu sein. Wenden wir uns dem Buch zu! Herausgegeben und kommen-­tiert wurde es von Hans-­‐Jürgen Hube (geb. 1933). Er studier-­‐


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 59te Germanistik, Nordistik und Altphilologie. Von 1974 <strong>bis</strong> 1998 war er am Nordeuropainstitut der Humboldt-­‐Univesität Berlin tätig. Von ihm stammen Veröffentlichungen zur skan-­dinavischen Sprachwissenschaft und Literaturgeschichte sowie literarische Übersetzungen. Außerdem gab er Über-­setzungen nordischer Märchen, Sagen und Mythen heraus. »Himmel und Hölle« wird dem Leser »in einer bearbeiteten Übersetzung von J. F. J. Tafel« (gemeint ist J. F. I. Tafel) (15) dargeboten. Bearbeitung meint in diesem Zusammenhang eine eher zurückhaltende sprachliche Auffrischung eines schon etwas altertümlichen Textes aus dem 19. Jahrhundert. Eine Stichprobe (mehr kann es nicht sein) möge das geringe Ausmaß der Bearbeitung etwas veranschaulichen. Bei Tafel heißt es: »Die Geisterwelt ist nicht der Himmel, und ist auch nicht die Hölle, sondern ein Mittelort oder Mittelzustand zwischen beiden; denn dahin kommt der Mensch nach dem Tode zuerst, und dann nach vollbrachter Zeit wird er gemäß seinem Leben in der Welt entweder in den Himmel erhoben, oder in die Hölle geworfen.« (HH 421). Der Text in der Bear-­beitung von Hube lautet: »Die Geisterwelt ist nicht der Him-­mel und ist auch nicht die Hölle, sondern ein Mittelort oder Mittelzustand zwischen beiden; denn dahin kommt der Mensch nach dem Tode zuerst, und dann – nach vollbrachter Zeit – wird er entsprechend seinem Leben auf Erden entwe-­der in den Himmel erhoben oder in die Hölle geworfen.« (HH 421). Hube avanciert also nicht zum ersten Swe-­denborgübersetzer des 21. Jahrhunderts, sondern greift auf die Altvorderen zurück, deren Frack (= sprachliches Ge-­wand) ein wenig der neueren Mode angepasst wird. Die Besonderheit dieser Neuausgabe ist daher weniger die Übersetzung, sondern eher schon die Kommentierung des Werkes in 157 Anmerkungen, einer 7seitigen, im wesentli-­chen biografischen Einführung, einem 12seitigen Nachwort


60<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>und einem 6seitigen Literaturverzeichnis. Die Anmerkungen bieten vielfach zusätzliche Informationen zum Denken Swe-­denborgs (tlw. gestützt auf Swedenborgs eigenen Anmer-­kungen), gelegentlich werden auch Brücken zum zeitgenös-­sischen Denken geschlagen. So lesen wir in der Anmerkung 125: »Ohnmacht. Viele zeitgenössische Werke des 18. Jahr-­hunderts enthalten Beschreibungen von Ohnmachtsgefühlen, gerade die Bewegung des Sturm und Drang lebte auch vom Gefühlsüberschwang; auch Swedenborg lebte im ›Zeitalter der Empfindsamkeit‹.« Für den der Swedenborgs Denken kennt, stellen vielleicht diese Ausflüge in das zeitgenössische Umfeld den interessantesten Teil der Kommentierung dar. Seitdem Olof Lagercrantz Swedenborg zum Dichter hat schrumpfen lassen, ist diese These wohl diejenige mit der unsere Zeit zum Ausdruck bringen kann, dass sie Sweden-­borg nicht zum Spinner erklären möchte, dass sie sein Jen-­seits aber auch nicht einfach so als Wahrheit annehmen möchte. Im Nachwort schreibt Hube: »Man muss … Sweden-­borgs Werke als große Dichtungen eines genialen Geistes auffassen. Wir verstehen, dass seine Engel und Geister, gute wie böse, eigentlich seine Geschöpfe sind, zu Papier gebracht von einem, der durch sein großes Wissen über die biblischen Dinge, über die Kultur des alten Orients, über die Geschichte des alten Europa zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen ist. Im selben Jahrhundert, in dem Swedenborg seine wun-­derbaren Phantasien formulierte, gab es viele andere Auto-­ren, die utopische oder religiöse Schriften veröffentlichten, und nicht selten waren es große Geister, die – auf der Suche nach der ›besten aller Welten‹ – zu abenteuerlichsten und realitätsfernen Darstellungen Zuflucht nahmen, um – etwa in einem allegorischen Gewand – versteckte Kritik an heimi-­schen Zuständen zu üben. ›Gullivers Reisen‹ zu den Liliputa-­nern von Jonathan Swift ist so ein Werk, das im ›Märchen‹


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 61über Zwergmenschen und Riesen die Verhältnisse der Ge-­genwart kritisch beleuchtet.« (397). Ist das Jenseits Dichtung oder Wahrheit, – oder in einer geheimnisvollen coincidentia oppositorum beides zugleich? Wenn der Himmel in uns ist, wenn er unsere Schöpfung ist, dann ist er wohl beides zu-­gleich: unsere Dichtung und unsere Wahrheit, die uns in sich hineinzieht. Wir sollten uns nicht in Alternativen verstricken lassen, die womöglich gar keine sind. Das Buch trägt den Titel: Emanuel Swedenborg, Himmel und Hölle nach Gesehenem und Gehörtem, herausgegeben und umfangreich kommentiert von Hans-­‐J. Hube, Wiesbaden: marixverlag 2005. Interessanterweise ist damit der Urtitel falsch wiedergegeben, denn nach Swedenborg müsste es heißen: nach Gehörtem und Gesehenem (»ex auditis et vi-­sis«). Ich vermag nicht zu beurteilen, ob diese Umstellung beabsichtigt ist oder ein Versehen darstellt. Vermutlich ist hier die verbreitete Vorstellung vom »Geisterseher« Swe-­denborg durchgeschlagen. Das Buch ist nicht beim Sweden-­borg Verlag erhältlich, dafür aber leicht beim Buchhandel oder im Internet.


62<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>15.12.2005 | Offene Tore 1 (2006) 45–47Sabine Holtz, Gerhard Betsch, Eberhard Zwink (Hrsg.). Ma-­thesis, Naturphilosophie und Arkanwissenschaft im Um-­kreis Friedrich Christoph Oetingers (1702–1782). (Contu-­bernium, Band 63). Stuttgart 2005 Das Buch zur Jubiläumstagung über Oetinger A nlässlich des 300. Geburtstages von Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) fand im Oktober 2002 eine In-­ternationale Fachtagung im Großen Senat der Universität Tübingen statt. Während frühere Tagungen über Oetinger bei seinen zentralen Ideen einsetzten und möglichst viele zentrale Aspekte seines Denkens beleuchteten, konzentrierte sich diese Tagung auf das wissenschaftliche Umfeld. Es wur-­de gefragt, welche Ausbildung Oetinger an der Universität Tübingen genoss und was er von seinen akademischen Leh-­rern übernehmen konnte. Und es wurde der Stand der Wis-­senschaften skizziert, mit denen sich Oetinger besonders auseinandersetzte: der Mathesis, der Naturphilosophie und den Arkanwissenschaften. Die Beiträge liegen jetzt in einem Tagungsband vor. Unsere Leser dürfte vor allem der Beitrag von Eberhard Zwink interessieren, weil Swedenborg darin eine zentrale Rolle spielt. Daher sei nur am Rande erwähnt, dass in dem Tagungsband insgesamt 15 Autorinnen und Autoren zu Wort kommen. Mit unseren persönlichen Fragestellungen berühr-­ten sich am meisten die Ausführungen von Eva Johanna Schauer über »Friedrich Christoph Oetinger und die kabba-­listische Lehrtafel der württembergischen Prinzessin Antonia in Teinach« und Pierre Daghaye über »Oetinger und Böhme,


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 63von der verborgenen Gottheit <strong>bis</strong> zum offenbaren Gott«. Im Mittelpunkt aber stand für uns natürlich der Beitrag von Eberhard Zwink. Er betreut in der Württembergischen Lan-­desbibliothek Stuttgart unter anderem die Swedenborg-­‐Sammlung und ist durch mehrere, ambitionierte Arbeiten über den schwedischen Gelehrten und seine Rezeption publi-­zistisch in Erscheinung getreten. »›Schrauben-­‐förmige Bewegung ist in allem‹ – Oetinger lenkt den Blick auf Swedenborgs ›irrdische Philosophie‹«, so lautet Zwinks Thema. Worum geht es? Um historische Wissen-­schaft! Während bei vielen Swedenborgianern eine Vorliebe für die Wirkungsgeschichte ihres Meisters zu erkennen ist, ist es Zwink, der gerne betont, dass er keiner Neuen Kirche angehört, eine Freude, in die andere Richtung zu gehen, das heißt traditionsgeschichtliche Studien zu betreiben. So geht er hier beispielsweise der Frage nach, welche Einflüsse zu Swedenborgs »Principia rerum naturalium« von 1734 ge-­führt haben. Und damit sind wir en passant schon bei einem weiteren Punkt, auf dem wir unsere an dem Theosophen Swedenborg interessierten Leser hinweisen müssen. Zwink wendet sich nämlich dem Naturphilosophen Swedenborg zu, über den »<strong>bis</strong> heute« Oetinger »am ausführlichsten … publi-­ziert hat.« (197). Das war in den 60er Jahren des 18. Jahr-­hunderts! Wenn sich so selten die Gelegenheit bietet, auf die unterbelichteten Seiten eines großen Geistes hingewiesen zu werden, dann sollte man sie ergreifen, wenn sie sich endlich einmal wieder bietet. In dem Beitrag von Eberhard Zwink stößt der Leser immer wieder auf neue Informationen und Hinweise. Mitunter sind es nur Details. Mitunter aber auch Thesen, die der Sweden-­borgforschung neue Impulse geben. Im Rahmen dieser Re-­zension möchte ich einen Punkt herausgreifen, der dem Au-­tor und auch mir wichtig ist, die gedankliche Verbindung


64<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>Swedenborgs mit der Kabbala. Zwink formuliert seine These so: »Es ist … offensichtlich, dass Swedenborgs späteres theo-­sophisches System ohne die Emanationsvorstellungen der Kabbala nicht denkbar wäre.« (216). Diese Sicht dürfte nicht unwesentlich durch die Historikerin Marsha Keith Schuchard angeregt worden sein. Sie hielt 1988, anläßlich eines Sympo-­sions zum 300. Geburtstag Swedenborgs, einen Vortrag un-­ter dem Titel »Swedenborg, Jacobitism, and Freemasonry« (deutsche Übersetzung siehe OT 4 (2002) 168–192). Swe-­denborgs Beitrag zur Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts bestand nach Schuchard unter anderem in seiner Absicht, »seltene Lehren der jüdischen Kabbala bekannt zu machen«. Im deutschsprachigen Raum hat sich seitdem vor allem Zwink dieser Spur angenommen. Und tatsächlich gelingen ihm beachtenswerte Entdeckungen. So spricht Swedenborg in der Kosmogonie seiner »Principia« nicht nur vom natürli-­chen Punkt, sondern bringt diesen auch etwas geheimnisvoll mit dem Begriff des Samens in Verbindung (Princ. II,7). In seinem Beitrag für die Oetingertagung weist Zwink nun da-­rauf hin, dass der Zohar, die Hauptquelle der Kabbala, »in den ersten Auslegungen zu Gen 1 auch einen Zusammenhang zwischen Punkt … und Same …« bringt. Solche Beobachtun-­gen dienen der Untermauerung der These durch das Quellen-­studium. Einige Hinweise deuten darauf, dass Swedenborg von der historischen Forschung seit einiger Zeit vermehrt wahrgenommen wird. Wir sind sehr gespannt, wie sich die Diskussion der traditionsgeschichtlichen Einordnung Swe-­denborgs weiterentwickeln wird. Der Beitrag von Eberhard Zwink enthält noch weitere Be-­obachtungen. Wer nur den Theosophen Swedenborg kennt, wird den Ausführungen des Autors manchmal nur mit Mühe folgen können, aber wenn er diese nicht scheut, wird er mit


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 65einer näheren Bekanntschaft mit dem Naturphilosophen Swedenborg belohnt.


66<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>7.12.2005 | Offene Tore 1 (2006) 48–50Hannelore Sachs, Ernst Badstübner, Helga Neumann. Wör-­terbuch der christlichen Ikonographie. Regensburg 2004. Christliche Ikonographie D as »Wörterbuch der christlichen Ikonographie« wendet sich zwar im wesentlichen an »Studenten der Kunstge-­schichte und der Theologie sowie interessierte Laien«, den-­noch möchte ich es gerade auch unseren Lesern vorstellen. »Interessierte Laien« sind sicher unter ihnen. Aber das ist nicht der eigentliche Grund meines Hinweises auf dieses Wörterbuch. Was dann? Emanuel Swedenborg stellte be-­kanntlich das Bild in den Mittelpunkt des Christentums. Denn es spricht tiefere Schichten des Seelenlebens an als der unanschauliche Begriff. Während der Begriff oder Terminus begrenzt (terminare = begrenzen), öffnet das Bild ein Tor in die geistige Welt. Die Ostkirche weiß das seit jeher, denn sie versteht die Ikone als ein Fenster zwischen der irdischen und der himmlische Welt. Daher halte ich die Ikonographie für eine Hilfswissenschaft der Entsprechungskunde. Und damit sind wir im Zentrum unseres Anliegens, was den Hinweis auf dieses Wörterbuch mehr als rechtfertigt. Das »Wörterbuch der christlichen Ikonographie« liegt bereits in der 8. Auflage vor. Die knappen, gut lesbaren und allge-­mein verständlichen Texte vermitteln die Kenntnisse, die zum Verständnis christlich geprägter Kunst aus allen Epo-­chen nötig sind. Biblische Themen kommen ebenso zu Wort wie Heiligendarstellungen, theologisch-­‐liturgische Begriffe ebenso wie symbolisch-­‐typologische. Die geistige Welt des Christentums prägte über Jahrhunderte die Kunst in Europa und dies weit über den engeren Bereich des Kultes hinaus.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 67Im Zuge der Moderne mit der zunehmenden Säkularisierung des Lebens ging das Wissen um religiöse Inhalte, Zeichen und Symbole weitgehend verloren. Damit fehlt ein wesentli-­cher Schlüssel zu einem umfassenden Verständnis großer Teile der abendländischen Kunst aller Gattungen: Architek-­tur, bildende Kunst und Kunsthandwerk. Das Ziel dieses Handbuchs ist es, dem Leser diesen Schlüssel wieder in die Hand zu geben. Es stützt sich in der Beschreibung und Deu-­tung der religiösen Grundlagen künstlerischen Gestaltens auf die biblischen Bücher des Alten und Neuen Testaments, die Apokryphen, die christliche Legendenliteratur, die Kirchen-­väter, Viten von Heiligen und Ordensgründern sowie auf Schriften bedeutender Gestalten der Kirchengeschichte. Der Schwerpunkt liegt in der Kunst Mittel-­‐ und Westeuropas, wobei Vergleiche mit Werken aus dem ostkirchlichen Be-­reich zu vertiefter Kenntnis beitragen. Rund 50 Holzschnitt-­zeichnungen dienen der Veranschaulichung. Bibliographi-­sche Angaben regen zum weitergehenden Studium an. Als Kostprobe drucken wir den Artikel »Makrokosmos und Mikrokosmos« ab. Denn dieses Begriffspaar spielt bei Swe-­denborg eine zentrale Rolle: »Makrokosmos und Mikrokos-­mos (griech., lat.: mundus major und mundus minor), Vor-­stellung von der Abbildung des Weltalls (Makrokosmos) im Körper des Menschen (Mikrokosmos). Ursprung dieser Vor-­stellung sind oriental. Schöpfungsmythen und die späthelle-­nist. Astrologie. Erste Rezeptionen finden sich in der westeu-­rop. Kunst des 11. Jh. in Tierkreis-­‐Darst., auf denen inschrift-­lich die einzelnen Tierkreiszeichen mit Teilen des menschl. Körpers in Beziehung gesetzt werden. Daraus entstehen spä-­ter die Bilder von Menschen, in die die Tierkreiszeichen ein-­gezeichnet sind (siehe Tierkreis). Die bedeutendste ma. Ver-­arbeitung des Themas ist die Miniatur im Luccheser Liber divinorum operum der Hildegard von Bingen aus dem 13.


68<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>Jh.: Der Mikrokosmos als nackter Mensch steht im Luftkreis, der die Erde umgibt, und reicht mit den Gliedmaßen an den Kreis der vielfachen Sphären, der seinerseits vom Makro-­kosmos (doppelköpfig: Gottvater + Christus?) mit ausgebrei-­teten Armen umfaßt wird. Die Figur eines Menschen als Mik-­rokosmos in einer Prüfeninger Handschrift des 12. Jh. be-­weist durch Beischriften ebenfalls die Kenntnis einer orien-­tal. (pers.) Schöpfungsmythe: Die Füße bedeuten die Erde, die Knochen die Steine, die Nägel die Bäume, die Haare das Gras, der Bauch das Meer, die Brust die Luft, der Kopf den Himmel, seine sieben Öffnungen die Planeten. Dieser Bildty-­pus wird <strong>bis</strong> ins 14. Jh. kopiert. Der Liber floridus kennt die Antithese von M. und M. mehr in einer von Augustinus beein-­flußten Fassung: In zwei dekorativen Kreiskompositionen stehen sich Mundus maior (ein bärtiger Mann, Annus oder Chronos vergleichbar, mit den Symbolen der Zeit, Tag und Nacht in den Händen, umgeben von den sechs Tagen der Schöpfung [Sechstagewerk] und den sechs Weltaltern) und Mundus minor (bartlose Gestalt, umgeben von den vier Ele-­menten, den Jahreszeiten und den sechs Lebensaltern) ge-­genüber. Im 15. Jh. treten die Planeten stärker zum Thema hinzu: Der menschl. Körper wird zum Träger der sieben Himmelskörper, der Kopf entspricht dabei der Sonne (Para-­celsus: »Im Menschen sind Sonne, Mond und alle Planeten«). Mikrokosmos-­‐Darst. sind umgeben von den Bahnen der Pla-­neten in ihren sieben Firmamenten und vom Tierkreis. Schließlich kann auch der Kopf eines Menschen, der nach den oriental. Schöpfungsmythen den Himmel abbildet, allein von den Planeten umkreist wiedergegeben werden. Plane-­tenkinderbilder, die kosm. Einwirkung der Gestirne auf menschl. Charaktere, Schicksale und Tätigkeiten darstellen, gehören ebenfalls in diesen astrolog. Vorstellungskomplex. Eine Übertragung des Themas in die Monumentalkunst kann


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 69in der Figur eines Menschen gesehen werden, der mit seinen Gliedmaßen entsprechend dem Verlauf der Diagonalrippen eines Kreuzgewölbes angelegt ist (Vorhalle der sog. Ritter-­kapelle, 15. Jh., Haßfurt; ältere Beispiele in Mainz nicht er-­halten).Lit.: H. v. Einem: Der Mainzer Kopf mit der Binde. Köln und Opladen 1955. – F. Saxl: Macrocosm and Microcosm in Medi-­eval Pictures (1927/28). In: Lectures I. London 1957. – A. J. Gurjewitsch: M. u. M. In: Das Weltbild des ma. Menschen. Dresden 1978.«


70<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>27.8.2007 | Offene Tore 1 (2008) 49–51Bernard Jakoby. Wir sterben nie: Was wir heute über das Jenseits wissen können. München 2007 Die Sterbeforschung Zum neuen Buch von Bernard Jakoby E s gibt ein Leben nach dem Tod. Und das Leben vor dem Tod ist eine Schule für das Leben nach dem Tod. Diese Grundaussage Swedenborgs wird längst nicht mehr nur von Swedenborgianern verbreitet. Seit mehreren Jahren hat sich der Sterbeforscher Bernard Jakoby dieser Botschaft ange-­nommen. Jüngst ist sein neuestes Buch »Wir sterben nie: Was wir heute über das Jenseits wissen können« erschienen, das uns Anlass zu dem folgenden Bericht gibt. Bernard Jakoby (geb. 1957) war bereits dreimal im Sweden-­borg Zentrum Zürich, wo er Vorträge und Seminare anbot. Außerdem wird er 2008 unser Gastredner auf der Sweden-­borgtagung sein und dort über das Thema seines neuen Bu-­ches sprechen. Jakoby ist überzeugt, dass Bewusstsein unabhängig vom Ge-­hirn existiert: »Als Sterbeforscher, der sich über 20 Jahre mit dem Phänomen der Nahtoderfahrungen und dem Sterbepro-­zess beschäftigt hat, weiß ich, dass das Bewusstsein des Menschen unabhängig vom Körper existiert und nach seinem Tod fortbesteht.« (162). Die Indizien, »welche die Sterbefor-­schung der vergangenen 40 Jahre für ein Leben nach dem Tod akri<strong>bis</strong>ch zusammengetragen hat,« sind »bei Weitem den Annahmen überlegen«, »dass mit dem Tod alles aus ist.« (9f.)


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 71In dem Buch von Bernard Jakoby stoßen wir immer wieder auf Aussagen, die uns durch die Jenseitslehren Emanuel Swedenborgs und Jakob Lorbers bestens vertraut sind. Die bekannte Einsicht beispielsweise, dass das Jenseits keine objektive Welt, sondern die Schöpfung oder Innenwelt unse-­res eigenen Geistes ist, liest sich bei Jakoby so: »Das Jenseits ist eine Welt der Gedanken. Die Seele erkennt sofort, was ihr Denken bewirkt. Während des Erdenlebens muss der Mensch an das, was er tun will, denken und dann körperlich aktiv werden, um einen Gedanken umzusetzen. Wenn ich ein Konzert besuchen will, muss ich zunächst eine Karte kaufen und dann dorthin fahren. Im Jenseits reicht der Gedanke aus, und im gleichen Augenblick ist man dort. Geist und Denken sind eins und wirken zusammen. Das Leben dort besteht ausschließlich aus unseren Gedanken.« (175f.). »Die Welt des Jenseits besteht also aus Gedankenformen … Die Seele ist buchstäblich das, was sie denkt.« (176). Swedenborg formu-­lierte diese Einsicht bereits im 18. Jahrhundert so: »In keiner Weise kann man sagen, der Himmel sei außerhalb von je-­mandem; er ist vielmehr innerhalb; denn jeder Engel nimmt den Himmel außerhalb seiner selbst gemäß dem Himmel in sich auf.« (HH 54). Und bei Jakob Lorber hieß es ein Jahr-­hundert später: »Denn niemand kommt weder in die Hölle noch in den Himmel, sondern ein jeder trägt beides in sich … Denn es gibt nirgends einen Ort, der Himmel oder Hölle heißt, sondern alles das ist ein jeder Mensch selbst; und nie-­mand wird je in einen andern Himmel oder in eine andere Hölle gelangen, als die er in sich trägt.« (GS II,118,10 und 12). Es würde zu weit führen, die Ergebnisse der modernen Sterbeforschung Punkt für Punkt mit dem Jenseitswissen der neuen Offenbarungen zu vergleichen. Stattdessen soll nicht unerwähnt bleiben, dass Bernard Jako-­by auch auf Emanuel Swedenborg hinweist. Jakoby schreibt:


72<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>Swedenborgs »Darstellungen über das Leben nach dem Tod stimmen in Vielem verblüffend mit dem überein, was wir aus den Nahtoderfahrungen wissen.« (136). Er meint aber auch: »Das Werk von Swedenborg enthält viele Informationen über geistige Zustände der Seele nach dem Tod. Es wäre aber dringend erforderlich, seine Erkenntnisse in eine heutige Sprache zu übersetzen und mit den vorliegenden For-­schungsergebnissen abzugleichen. Dann erst wird sich der wahre geistige Wert seiner Visionen erschließen.« (138). Diese Außenperspektive auf Swedenborg ist interessant. Zum einen werden die Gemeinsamkeiten der Auditionen und Visionen Swedenborgs mit den Erkenntnissen der modernen Sterbeforschung anerkannt, zum anderen bekommen wir aber auch unsere Aufgabe in der Gegenwart genannt. Es reicht nicht mehr aus, Swedenborgs Einsichten aus dem 18. Jahrhundert einfach ins 21. Jahrhundert hineinzurufen. Der Swedenborgianismus muss sich offenbar vorher mit den seither gewonnenen Forschungsergebnissen auseinander-­setzen, insoweit diese für ihn relevant sind. Die einflussreichen Gegenpositionen zum Jenseitsglauben erwähnt Bernard Jakoby nur am Rande. Unter den Hirnfor-­schern gibt es nicht nur den Nobelpreisträger John Eccles (1903–1997), der unserer Auffassung nahe steht, sondern auch den Nobelpreisträger Francis Crick (1916–2004), der in seinem Buch »Was die Seele wirklich ist« (<strong>1994</strong>) postulier-­te, dass es sich dabei »nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekü-­len« handele. Und die Kirchen sind derzeit auch nicht gerade Befürworter der neuen Jenseitslehren. Wir werden also wei-­ter beobachten müssen, wie der weltanschauliche Kampf zwischen dem Materialismus und seinem Diesseitsglauben und dem Spiritualismus und seinem Jenseitsglauben verlau-­fen wird.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 73Die Sterbeforschung jedenfalls ist ein wichtiger Verbündeter. Dabei ist zugleich hervorzuheben, dass das Jenseitswissen auch eine eminent praktische Bedeutung für das Leben vor dem Tod hat. Bernard Jakoby geht auch auf diesen Aspekt ein: »Dieses Wissen hat eine ungeheure praktische Relevanz für unser Leben. Wir erschaffen unser eigenes Schicksal durch unsere Gedanken. Wir wissen, dass wir mit den Aus-­wirkungen unserer Taten konfrontiert werden. Was hindert uns eigentlich, die vielen verdrängten, unerledigten Dinge des Lebens im Hier und Jetzt in Angriff zu nehmen, um uns von ihrem erdrückenden Ballast zu befreien? Warum halten wir an alten Verletzungen oder Beziehungen fest, die der Vergangenheit angehören? Warum können wir Angst, Wut, Hass oder Schuldprojektionen, die ganze Bandbreite negati-­ver Emotionen, nicht loslassen? Wenn dieses Wissen umge-­setzt würde, könnten wir uns von viel Leid und Schmerz be-­freien.« (242). Das Jenseits beginnt im Hier und Jetzt. Räume auf, reinige das Land deiner Seele!


74<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>Offene Tore 4 (2008) 177–180Bernd Roling. Emanuel Swedenborg, Paracelsus und die esoterischen Traditionen des Judentums in Schweden. In: Offene Tore 4 (2008) 181–228 Zum Beitrag von Dr. Bernd Roling D r. Bernd Roling hielt am 19. Januar 2008 im Sweden-­borg Zentrum Zürich einen Vortrag zum Thema »Swe-­denborg und die esoterischen Traditionen des Judentums in Schweden«. Diesen Vortrag können wir nun in einer vom Autor selbst überarbeiteten Form in den Offenen Toren ver-­öffentlichen. Um unseren Lesern die zusammenhängende Lektüre dieses wertvollen Beitrags zu ermöglichen, drucken wir ihn in einer einzigen Nummer unserer Zeitschrift ab. Der Beitrag, der nun den Titel »Emanuel Swedenborg, Para-­celsus und die esoterischen Traditionen des Judentums in Schweden« trägt, steht im Zusammenhang aktueller Fragen der historisch-­‐wissenschaftlichen Swedenborgforschung. Sie untersucht derzeit Swedenborgs Stellung in den esoterischen und kabbalistischen Diskursen seiner Zeit. Der Beitrag von Dr. Roling in der Zeitschrift der Swedenborgianer lässt uns, die wir Swedenborg mehrheitlich als Glaubende lesen, haut-­nah am gegenwärtigen, wissenschaftlichen Gespräch teilha-­ben. Meine Vorbemerkungen heben einige wichtige Aussagen des Beitrags hervor und wollen auf diese Weise dessen Lek-­türe erleichtern. Dr. Roling fragt nach der historischen Einordnung bzw. mög-­lichen Quellen des theologisch-­‐visionären Werks Sweden-­borgs. Erfreulicherweise gibt er uns zu verstehen, dass er den historischen Ansatz nicht als Mittel zur Auflösung des


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 75visionären Charakters der Erlebnisse Swedenborgs versteht. Swedenborg nahm wie jeder Mensch Einflüsse seiner intel-­lektuellen Umgebung auf, doch diese an sich selbstverständ-­liche Entdeckung hebt den andererseits visionären Ursprung seiner Schriften nicht auf. Dr. Roling kommt am Ende seiner Ausführungen zu dem Ergebnis: »In der Tat gibt es also guten Grund, die Kabbalah für einen wichtigen Faktor in der Ge-­dankenwelt Swedenborgs zu halten, ohne dabei den funda-­mentalen Fehler machen zu wollen, zu glauben, Swedenborgs Weltbild würde sich in der Rezeption dieser Theorien auch nur ansatzweise ausschöpfen lassen.« Die Kabbalah ist in den letzten Jahren mehrfach als eine Tra-­dition genannt worden, die einen Einfluss auf Swedenborg ausgeübt hat, zum Teil geschah dies mit einer Spitze gegen den christlichen Theologen Swedenborg. In dieser Diskussi-­on hat man »vor allem auf mögliche Kontakte Swedenborgs zu Kabbalisten seiner Zeit in London oder Amsterdam hin-­gewiesen«. Das Neue des Beitrags von Dr. Roling besteht da-­rin, dass er die Aufmerksamkeit der Forschung auf die Ver-­hältnisse in Schweden lenkt. Daher geht er im ersten Hauptteil seines Beitrags auf »Swe-­denborgs Milieu« ein. Vier Elemente werden benannt: 1. »Der homo angelicus in der christlichen Kabbalah«. Die jüdische Kabbalah lehrt »einen angelischen Makrokosmos«, das heißt »einen ersten absoluten Adam, den Adam qadmon, der wie der Engelmensch Swedenborgs den ganzen Kosmos erfüllt.« Diese Vorstellung der jüdischen Esoterik wird seit dem 16. Jahrhundert von der christlichen Kabbalah christlich ausge-­legt. 2. »Paracelsus, die Welt des Geistes und der mediale spiritus«. An den Universitäten Schwedens florierte der Pa-­racelsismus. Er unterscheidet die Dreiheit von Seele, Geist und Körper. Der Cartesianismus ließ dagegen nur Körper und Seele zu. Bei Swedenborg finden wir ebenfalls die Dreiheit


76<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>von Seele (anima), Geist (mens) und Körper (corpus). 3. »Die hebraica veritas in Schweden«. Getragen von der Bewegung des Rudbeckianismus herrschte in Schweden ein ausgepräg-­tes Interesse an orientalischen Themen und der hebräischen Sprache. 4. »Die Kabbalah an den schwedischen Universitä-­ten«. Das Interesse an der Kabbalah war weit verbreitet. Swedenborg kam mit Vertretern der jüdischen Kabbalah in Schweden unmittelbar in Berührung, namentlich mit Johann Kemper, einem zum Christentum konvertierten Juden, der an der Universität Uppsala lehrte. Außerdem stieß »die wich-­tigste lateinische Sammlung der kabbalistischen Literatur der Neuzeit«, die »Cabala denudata«, in Schweden auf außer-­ordentliche Resonanz. Im zweiten Hauptteil unter der Überschrift »Swedenborg, Paracelsus und die Kabbalah« wird die Beschreibung des intellektuellen Milieus im Hinblick auf Swedenborg ausge-­wertet. Dr. Roling nennt vier Motive aus der »Cabala denuda-­ta«, die einen Einfluss auf Swedenborgs System ausgeübt haben: 1. Swedenborgs universaler Engelmensch, der homo maximus, ist die augenfälligste Parallele zwischen den Wer-­ken Swedenborgs und der Überlieferung der Kabbalah. 2. Ähnlichkeiten zwischen Swedenborg und der Kabbalah be-­stehen ferner in der Theologie des Sündenfalls. Den natürli-­chen Grad bezeichnet Swedenborg wie die Kabbalah als »fundamentum« (Grundlage) der höheren Grade. So dient er als Aufnahmegefäß für den Einfluss (Bernd Roling spricht von Ausfluss = Effluxus) der höheren Welten in die untere. Der Sündenfall besteht darin, dass der Mensch sich gegen-­über diesem Einfluss verschließt. Der natürliche Grad bei Swedenborg ähnelt der untersten Sefirah Malchut, der soge-­nannten Shechinah. Swedenborgs Theologie des Sündenfalls bringt Dr. Roling außerdem mit dem »Bruch der Schalen (o-­der Gefäße)« in der lurianischen Kabbalah in Verbindung. 3.


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 77Das kabbalistische Leitmotiv der geschlechtlichen Polarität, der Parzufim, bringt Dr. Roling mit Swedenborgs Idee eines »aequilibrium« (Gleichgewicht) zwischen Himmel und Hölle bzw. dem Guten und dem Bösen in Verbindung. Mir kam beim Stichwort »geschlechtliche Polarität« jedoch spontan die für Swedenborgs Denken grundlegende Idee einer Ehe des Guten und Wahren in den Sinn. 4. Swedenborgs geistige Sonne ist mit der Sefirah Tipheret als zentraler Sefirah in der Kabbalah vergleichbar. Die christliche Kabbalah hatte den inkarnierten Christus und die Sefirah Tipheret miteinander indentifiziert und für Christus ebenfalls das Sonnensymbol geltend gemacht. Der Beitrag von Bernd Roling ist reichhaltiger als es meine Skizze wiedergeben kann. Einige Abschnitte habe ich im In-­teresse der Konzentration auf die Hauptlinie der Gedanken-­führung ausgelassen. Ich beschließe meine Vorbemerkungen mit zwei eigenen Fragestellungen, die mir in der Auseinan-­dersetzung mit der neueren traditionsgeschichtlichen Ein-­ordnung Swedenborg wichtig sind: 1. Der Beitrag von Dr. Roling zeigt erneut eindrucksvoll, dass es sich lohnt, das Ver-­hältnis Swedenborgs zur Kabbalah zu untersuchen. Diese Erkenntnis ist freilich nicht neu. Mein Vorgänger als Pfarrer der neuen Kirche, Friedemann Horn, hatte als Swedenborgi-­aner eine geistige Verwandtschaft mit Friedrich Weinreb gespürt, der aus der jüdischen Überlieferung schöpfte. Neben der Entdeckung wesentlicher Gemeinsamkeiten muss jedoch auch nach dem eigenen Profil Swedenborgs in der Auseinan-­dersetzung mit den Einflüssen aus seiner Umwelt gefragt werden, denn nach meiner Überzeugung bzw. meiner er-­kenntnisleitenden Anfangsvermutung war Swedenborg kein Eklektiker, sondern ein schöpferischer Geist. Gerade die deutlichere Wahrnehmung der geistigen Umwelt Sweden-­borgs gibt der Frage nach der Eigenleistung neue Möglichkei-­‐


78<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>ten an die Hand. 2. Wir sehen traditionsgeschichtliche Zu-­sammenhänge mit der jüdischen, christlich interpretierten Kabbalah und mit dem Paracelsismus. Damit stellt sich die Frage nach der Christlichkeit bzw. dem Christentumsver-­ständnis Swedenborgs. Wieso konnte und wollte Sweden-­borg eine »Vera christiana religio« schreiben? Und in wel-­chen Sinne ist die neue Kirche die Vollendung der christli-­chen Kirche? Der für Swedenborg offensichtlich problemlose Einbezug kabbalistischer Einsichten in sein System gemahnt uns, Swedenborgs Christentum nicht ungeprüft mit dem be-­kannten Kirchentum zu identifizieren. In welchem Sinne war Swedenborg also ein christlicher Theologe?


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 79Offene Tore 1 (<strong>2011</strong>) 54–56Dava Sobel und William J. H. Andrewes. Längengrad. Die illustrierte Ausgabe. Die wahre Geschichte eines einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste. Berlin 2007 Längengrad: Der Bestseller von Dava Sobel S wedenborg beteiligte sich bekanntlich auch an dem drängendsten Problem seiner Zeit, der Suche nach einer praktikablen Lösung zur Bestimmung des Längengrades. Er setzte ganz und gar auf den astronomischen Ansatz, das Problem mit Hilfe des Mondes zu lösen. Seine Methode veröf-­fentlichte er erstmals 1716 im Daedalus Hyperboreus, der ersten wissenschaftlichen Zeitschrift Schwedens, die er selbst und auf eigene Kosten herausgab. Weitere Veröffentli-­chungen folgten in den Jahren 1718, 1721, 1727, 1754 und 1766. Man kann also sagen, dass er sich 50 Jahre lang an der Suche nach einer Lösung beteiligte, und zwar auch noch in seiner Zeit als Seher geistiger Welten. Deswegen wird unsere Leser Dava Sobels Buch »Längen-­grad« interessieren, das Swedenborg zwar nicht erwähnt, aber eine fesselnde Behandlung der Thematik ist, die auch ihn beschäftigte. 1995 zum ersten Mal veröffentlicht und inzwischen in der 10. Auflage vorliegend, ist es ein Muster-­beispiel für die anglo-­‐amerikanische Art und Weise Bücher zu schreiben. Lässig im Ton, doch niemals den Ernst des Themas aus den Augen verlierend. Informativ, doch niemals den Leser mit überbordendem Fachwissen erschlagend. Worum geht es? Sobel erzählt vom Leben und Werk des all-­gemein unbekannten schottischen Uhrmachers John Harri-­‐


80<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>son, dem es gelang mit Hilfe seiner Uhren das Problem des Längengrades zu lösen und damit der Seefahrt zu einer ge-­naueren Navigation zu verhelfen. Bis zum 18. Jahrhundert war die Navigation auf den Weltmeeren weitgehend dem Zufall überlassen. Nur die Erfahrung der Kapitäne und der Navigatoren war es zu verdanken, dass die Schife ihren Be-­stimmungsort erreichten. Damals war zwar der Breitengrad bekannt, jedoch nicht der Längengrad. Konnte die Breite anhand der Position der Son-­ne ermittelt werden, so musste jeder Kapitän passsen, wenn es um die Bestimmung des Längengrades ging. Zu seiner Er-­mittlung wäre es notwendig gewesen, die genaue Uhrzeit des Heimathafens zu kennen, um anhand dessen die Position bestimmen zu können. Selbst Christopher Columbus segelte bei seiner Entdeckung Amerikas immer am Breitengrad ent-­lang.Während die Astronomen die Lösung dieses Problems in der Aufstellung von Sterntabellen suchten, beschritt John Harri-­son einen anderen Weg. Als im Jahr 1714 das englische Par-­lament eine Belohung von 20000 Pfund (heute wären das mehrere Millionen Euro) für denjenigen aussetzte, dem es zuerst gelang den Längengrad korrekt zu ermitteln, konstru-­ierte Harrison eine Uhr, die auch an Bord eines Schiffes und in verschiedenen klimatischen Zonen präzise die Zeit anzei-­gen sollte. Dava Sobel beschreibt diese Bemühungen, aber auch die Int-­rigen mit denen Harrison zu kämpfen hatte. Die volle Belo-­hung bekam er nie und erst nach einer persönlichen Petition bei König Georg III. wurde ihm eine Entschädigung zugewie-­sen. Sein Weg der Bestimmung des Längengrades mit Hilfe einer korrekten Zeitmessung erwies sich als der beste. Viele Kapitäne seiner Zeit kauften sich auf eigene Kosten eine ge-­nau gehende Uhr um besser navigieren zu können. Dem spä-­‐


<strong>Buchbesprechungen</strong> <strong>1994</strong> <strong>bis</strong> <strong>2011</strong> 81ten Swedenborg war Harrison übrigens bekannt. Sweden-­borg schrieb: Lord Morton »informierte mich außerdem, dass sich die Län-­gengradbehörde am 24. desselben Monats (24.6.1766) bei der Admiralität treffen würde, um zu einer Entscheidung bezüglich der Uhr zu kommen, die Mr. Harrison zum Zweck der Auffindung des Längengrads zur See eingeführt hat. An dem festgesetzten Tag stellte auch ich mich mit zehn Ausga-­ben meiner Methode vor, die der Sekretär erhalten hatte. Sie wurde den Mitgliedern des Ausschusses gezeigt und lag auf dem Tisch. Aber da sie unter dem Eindruck standen, dass keine Methode realisierbar sei, die den Längengrad mittels des Mondes findet, beschlossen sie am selben Tag, am 24. Mai, dass Mr. Harrison den versprochenen Lohn erhalten sollte.« 5 5 Swedenborg an die Königliche Akademie der Wissenschaften in Stockholm, Doc 203, S. 591f.


82<strong>Thomas</strong> <strong>Noack</strong>

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