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Vorlesung im WS 2007/08Von Oralität zu Literalität(Schrift, Schriftkulturen,Schriftlichkeit, Schriftsprache)Prof. Dr. Jiřina van Leeuwen-TurnovcováMontag, 16.00 - 18.00Nachklänge der Oralität: Odyssee1


Schrift als GedächtnisstützeSkepsis gegenüber der Schriftverwendung (vgl. Platons Kratylos)Konzept des kollektiven und des kulturellen Gedächtnisses (nach M.Halbwachs und J. Assmann) mit den 3 Instanzen:- dem mimetischen Gedächtnis- dem Gedächtnis der Dinge- dem kommunikativen Gedächtnis, die imKULTURELLEN GEDÄCHTNIS zusammengefügt werden und diekonnektive Struktur für Gruppenidentität bilden, aus der sich individuelleIdentitäten speisenJan Assmann (1992: Das kulturelle Gedächtnis) befasst sich dann mit derRolle und der Identität stiftenden Funktion der kanonisierten Texte(der Ägyptischen Tempelschriften, der Erfindung der Religion in Israel,der Semiotisierung von Strafe und Rettung und mit der alphabetischenSchrift und der Disziplinierung des Denkens in der griechischen AntikeSchrift als Text und als Gedächtnisstütze – zwei Beispiele: der VertragWilliam Panns mit den Delawaren (1682),


Was wurde festgehalten?In der Schriftlichen Version der Weißen der Wortlaut des Vertrags:William Penn, der im Jahre 1682 mit den Delaware einen Vertrag aushandelte,in dem es um die Gebiete ging, die später das Territorium des amer.Bundesstaates Pennsylvania („Penns Wälder“) ging, setzte den bestenKonventionen seiner Kultur einen Vertrag auf, der in englischen Sprachegeschrieben war und der Textsorte Vertrag entsprach. Das Schriftstückhatte für die beteiligten Indianer keine Bedeutung, nicht nur, weil sie dasenglische nicht lesen konnten. Es entsprach nicht ihrer Konvention desFesthaltens in Erinnerung. Die Delaware-Indianer fertigten eine eigeneVersion an, in der den Nachkommen das Wesentliche des Abmachungmitgeteilt wurde. Während der Vertragstext der Weißen neben Informationenauch viele Floskeln enthielt, die mit der Sache nichts zu tun hatten,War die Version der Indianer nur auf das Festhalten des WesentlichenBedacht. Das Wesentliche wurde mit Hilfe mehrerer Symbole mitgeteilt:Die Erinnerungsgürtel (WAMPUM) der DelawareWAMPUM = Gürtel, an demovale farbige Muscheln eingezogenwaren); die ANORDNUNG, VERTEI-LUNG und FARBE enthielten folgendeInformationen:1. Vertragspartner = dargestellt, die2. Die geometrischen Motive des 2.Wampum = Berge3. Die geometrischen Motive des 3.Wampum = FlussläufeDie Farbe ROT (= Krieg) wird nichtVerwendet„Die Darstellung von Bergen und Flüssenhatte keineswegs den Sinn, kartographischeDetails festzuhalten. Es ging allein darum,diese Motive als Gedächtnisstütze in dieGürtel aufzunehmen. Von welchen Bergenund Flüssen bei den Vertragsverhandlungenim einzelnen die Rede war, blieb der Erinnerungder Anwesenden anvertraut.“3


Vergleich der Verträge“Sie waren äquivalent, aber keine Übersetzungen der einen in dieandere Version; keine inhaltliche Übertragung. Der Vertrag von W.Penn war bikulturell, nicht bilingual überliefert; der Umfang derInformationen und die Auswahl der Details über den Inhalt und dasEreignis des Vertragsabschlusses waren auf beiden Seiten kulturellanders gelagert. Den Indianern dienten die Wampums alsErinnerungsstütze, um über dieses wichtige Ereignis noch lange anden Lagerfeuern zu erzählen. Was man sich im einzelnen erzählte,und wie man diesen Vertrag im Nachhinein bewerten mochte, diesalles hing davon ab, wie gut oder schlecht diejenigen, die alsAugenzeugen teilgenommen haben, sich daran erinnerten, undauch davon, wie diese Erinnerung von einer Generation an dienächste weitergegeben wurde.“ S. 39- Die Variation der Bildtechnik illustriert die kulturelle Relativität in derInformationsselektion und lässt ein weiteres Problem der Verwendungvon Bildern zur Fixierung von Gedankeninhalten erkennen:die Variationsbreite von Ausdrucksmöglichkeiten => wo kein festerWortlaut festgelegt ist, dort ist auch keine feste Auslegung möglichWeitere Erinnerungsstützen4


Orales Denken und orale MnemotechnikIn der Kulturanthropologie = für das Phänomen die Begriffe- PRÄLOGISCHES/MAGISCHES DENKEN (Lucien Lévy-Bruhl, 1923)- WILDES DENKEN (Claude Lévi-Strauss, 1960) verwendet worden;Heute spricht man vom ORALITÄT und Psychodynamik der Oralität (Walter Ong),die nicht einer abweichenden intellektuellen oder bewusstseinmäßigenAusstattung außereuropäischer Kulturen entspringt, sondern der Abwesenheitder Techniken der Literalität.Nach W. Ong sei das orale Denken:1. eher additiv als subordinierend2. eher aggregativ als analytisch3. eher redundant als nachahmend (im Sinne des schnellen Voranschreitens derInformationen)<strong>4.</strong> Konservativ und traditionalistisch5. Nah am menschlichen Leben und im Konkreten verankert6. Kämpferisch und pralerisch im Ton = symblische Kämpfplätze7. eher einfühlend und teilnehmend (subjektiv) als distanzierend (objektiv)8. Homöostatisch (Homöostase = a) Stabilitätsmechanismen von sozialenOrganisationen angesichts und trotz Veränderungen /und b) Gleichgewichtszustandvon Organismen zur Erhaltung des Daseins/9. eher situativ als abstraktOrale Kulturen pflegen Begriffe in einem situativen undoperativen Bezugsrahmen anzuwenden, der dem Lebendes Menschen sehr nah (und wenig abstrakt) istUntersuchungen der sowj. Psychol. A. R. Lurija, aus den 50er Jahren: vgl. CognitiveDevelopment: Its Curltural and Social Foundations, 1976, russ. 1974:- Studien mit nicht literarisierten/wenig literar. Personen (auf Anregungendes Psychologen Lev Vygotskij) in Usbekistan und Kirgisien- hat e. Katalog von Unterschieden zusammengestellt, die er der„unregulierten individualistischen Ökonomie auf agrikultureller Basis (vorden Anfängen der Kollektivierung)“ zugeschrieben hat, bezog aber auchOralitätsphänomene ein:- Siedelte d.e interv. Persoen auf e. Skala zw. Illiteralität und versch. Stufenmoderater Literalität, die Unterschiede erwiesen sich als bedeutsam- Die Unterschiede zeigten, dass schon ein niedriger Literalitätsgradgenügte, um Denkprozesse erheblich zu verändern (vgl. Ong, 1989: 55)5


Beispiele• Geometrische Figuren (Kreise, Vierecke etc.) zu benennen: benanntwurden nicht die Figuren, sondern Objekte des Alltags, die analoge Formhatten• Zeichnungen von vier Objekten, von denen jeweils nur drei zu gleicherKategorie gehörten; sie sollten Zusammengehöriges mit einem für alle dreigemeinsamen Begriff bezeichnen (Hammer, Säge, Klotz, Beil); die nichtliterarisierten identifizierten nicht Werkzeuge vs. Nicht-Werkzeug, sonderngaben prozessuelle Erklärungen an („alle gehören zusammen, die Sägesägt den Klotz, das Beil zerhackt ihn in Stücke etc.; wenn etwas zuentfernen sei, dann das Beil, weil die Säge praktischer als das Beil sei“)• Man legte logische Sätze und Syllogismen vor (d.h. einfache deduktiveSchlüsse aus zwei Urteilen, die ein drittes Urteil erlauben: Edelmetallerosten nicht. Gold ist ein Edelmetall. Rostet es? Antwort: Edelmetallerosten. Edles Gold rostet, Bauer, 34 Jahre alt); Im hohen Norden, wo esSchnee gibt, sind die Bären weiß. Novaja Zemlja liegt im hohen Nordenund dort ist stets Schnee. Welche Farbe haben Bären? – Antwort: Ich weißnicht. Ich habe einen schwarzen Bären gesehen. Andere kenne ich nicht.Jeder Ort hat seine Tiere;d.h. DOMINANZ DER FAKTISCHEN PRAKTISCHEN ERFAHRUNG ÜBERABSTRAKTION und DEDUKTION; IM PRAKTISCHEN LEBEN DENKTMAN NICHT ÜBER DIE FARBE EINES EISBÄREN; als die Person(Kolchosvorsitzender) zum 2. Mal befragt wurde, arrangierte er sichfolgendermaßen: „Richtet man sich nach ihren Worten, so dürten sie alleweiß sein“: d.h. er hat die formalen Strukturen begriffen und dieVerantwortung dem anderen zugewiesenWeitere Beispiele:- man sollte konkrete Objekte definieren – z.B. Erklären Sie, was ein Baumist; Antwort: „Warum sollte ich? Jeder weiß, was ein Baum ist, das braucheich nicht zu erzählen“ (Ong, S. 58f.)- Ähnliche Ergebnisse bei der Befragung der Bewohner der Plurawat Inselnim Südpazifik: die Seefahrer hier hatten außerord. Fähigkeiten undoffenbar hohe Intelligenz und waren sehr geschickt, wurden aber nichtdeshalb respektiert, weil sie intelligent, sondern weil sie gute Seeleutewaren- Mein Beispiel < McLuhan: Was ein Zentralafrikaner von dem neuenDirektor der Dorfschule halte; Antwort Lass uns sehen, wie er tanzt.(hier Tanz als Ausdruck des Verständnisses des Menschen)d.h. Vorherrschaft der Praxis vor der Theorie; in einer Welt, die sich wehrt, dieFrage was ein Baum sei, zu beantworten, weil es jeder weiß, hatABSTRAKTES KOMBINIEREN, das auf GRAPHISMUS zugeschnitten ist,keine Relevanz6


„Dachstein“ vom Onegasee, aus dem frühen 2. Jht./v.u.Z.Neues Thema: GRAPHISMUS und SCHRIFT- Wie lange werden Inhalte graphisch festgehalten? (35000 – 70000)- Wann, wie und wo sind Schriften erfunden worden? (einmalig?,mehrmalig?)- Wie alt ist die Sprache, seit wann kann der Mensch sprechen? (vor40000 Jahren war sie jedenfalls schon voll ausgebildet)- Wie alt ist das Schreiben im heutigen Sinne? (mind. 3500 + 2000Jahre: die mesopoth. Keilschrift)Frühe Formen des Graphismus: Steinzeitliche Abbildungen in Höhlen vonLescaux in Fr., Altamira in Sp.; vgl. auch das Beispiel der Felsbilderam Dachstein vom Onegasee in Ostkarelien (frühe neolitische Kultur)(vgl. H. Haarmann, 1992, S. 26): die Textdarstellung ist nicht linear, sie istauf einen realen Raum bezogen, nicht an einzelne Worte gebunden;Graphismus zur Wiedergabe von Inhalten verwendet, aber nichtausdrucksbezogen: typisches Merkmal von Ideographien, die sehr vielspäter entstehen und ein Unterschied zu Phonographien7


Kommentar nach A.M. Linevskij, 1939, 1940: Bilder = als Spirale zulesen: die Darstellung sei eine Chronik von Ereignissen d. OnegaleuteOrdnung der Bilder nach dem Kreislauf der Sonne/JahreszeitenÖstliche Zone = Ereignisse des Frühlings (im Frühling werden Wildschwäne vomBoot und aus dem Land mit Schleudern oder Geräten in der Form von Bumerangsgejagt); wenn das Eis auf dem See schmolz, wurden schwimmendeElche gejagt, die Buchten und Flußläufe kreuzten; Jagd auch hier vom Bootoder vom Land ausSüdliche Zone = Ereignisse des Sommers: Fischen und Jagend auf Wasservögel;vom Boot und vom Land ausWestliche Zone = Ereignisse des Herbstes: Fallenstellen, Jagen von Elchen vomBoot und vom Land ausNördliche Zone = Ereignisse des Winters: die wichtigsten Tätigkeiten sind Jagd aufElche und Rotwild, Reparieren und Herstellung von TierfallenBildkomposition als eine Art Wirtschaftschronik; ABER: viele Symbole sind nicht indiesem Sinne interpretierbar, z.B. die beiden radförmigen Sonnensymbole aufbeiden Seiten der Zentralen Komposition, deren Bezug auf andere Symboleungeklärt ist; Vermutung von Haarmann = Die Halbinsel Peri Nos am Ostuferdes Onegasees war ein Zentrum für den Sonnenkult, der Dachstein sein eigentlichesZentrum. Bilderchronik, Kalenderzyklus und mythisch-religiös motivierteBildkompositionen = ein symbiotisches Ganzes: der Dachstein hat nur in dernatürlichen Umgebung einen Sinn: die Sonne beleuchtet die Bilder abwechselnd(sie scheinen sich zu bewegen), die Welt der Felsbilder habe ihre eigeneTechniken, Informationen zu fixieren und für die Nachwelt aufzubewahrenWie kommt der Mensch zurVerwendung materieller Symbolefür mentale Bilder/Gedanken?• Wie kommunizieren Tiere?• Worin bestehen die Unterschiede zurmenschlichen Kommunikation?• Können Menschen zählen?• Können Tiere zählen?8


Wie kommt man aber zur Verwendung von materiellenSymbolen für Gedanken, die ja nicht materiell sind?1. Graphismus und Visualisierung = Charakteristika des Menschen als kult.Species(Tiere kommunizieren, indem sie erschließbare Spuren (Wege, Duftmarkenetc. hinterlassen, vgl. den Informationstanz der Bienen; das Abtasten derAmeisen): sie betätigen sich auch symbolisch, aber sie malen/lesen nicht- ob Tiere zählen, d.h. intuitiv Mengen erfassen, darüber gibt es keine einheitlicheMeinung; vermutlich ja, zumindest soweit, wie auch der Menschintuitiv Mengen als Einzelstücke erfasst : = etwa bis 5; ab 5 ist die Mengenicht mehr auf Anhieb segmentierbarDie Entw. des Graphismus, dessen Vorläufer zahlreiche und praktisch universelleSymbole wie die Spirale, der Kreuz, der Hakenkreuz/Sonnenrad, dieGeschlechtszeichen etc. gehören zur Schrift (ideogr., phonogr.) geht einhermit der Entwicklung der NOTATION für MENGEN einherEntwicklung des Graphismus + Entwicklung der SpracheDie graph. Darstellung von etwas (nicht das Schreiben in unseremSinne), d.h. die räumliche Organisation von Symbolen, die fürGegenstände stehen, hat mit der Entwicklung des VISUELLENDENKENS zu tunOtto Ludwig, 1994: „Geschichte des Schreibens“, HSK, 10,1, 48-60,hält es für wahrscheinlich, dass beide Systeme auf Dauer aufeinandergewirkt haben. Die Visualisierung der Mitteilung hat abernoch lange nichts zu tun mit der Alphabetisierung/Phonologisierungder Mitteilung; Visualisierung ist nicht linear, Bilder als Instrumenteder Mitteilung sind sprachunabhängig; auch Piktographien undIdeographien sind sprachunabhänig/“universell“ (daher diezunehmende Anwendung von Piktogrammen in Gebrauchsanweisungen)Zwischen der Entstehung des Graphismus und der Entwicklung vonpiktographischen bzw. ideographischen Schriften vergingenmindestens 30 000 JahreH.Haarmann hält die sog. Vinca-Kultur (-5000/v.u.Z. auf dem Balkan)für die älteste Schriftzeichen verwendende Kultur in Europa)9


Die Typologie der Schrift nach H. HaarmannLOGOGRAPHIEN:- piktogr. Symbole: Abb.Eines Fußes = „Fuß“- ideograph. Symbole:Abb. Eines Fußes =„Gehen“- abstr. logogr. Symb.:+Zeichen = „und“Bildererzählungen fixieren ganzeGedankensequenzen, Logographienfixieren eizelne Begriffe(Inhalte von Wörern)PHONOGRAPHIEN- Segmentalschrift (Zshg.)- Syllabische Schrift(1 Zeichen für mehr alseine phonol. Einheit)- Asphabetische Schrift(1 Zeichen im Idealfall füreine phonol. Einheit)Phonographien fixieren unterschiedlichgenau die Lautstrukturenvon SprachenSchrifterfindungen (viele = voneinander unabh.)-3500/v.u.Z. = mesopotamische Keilschrift-3000/v.u.Z. = ägyptische Hieroglyphen-1200/v.u.Z. = minoische/mykenische Linear B-Schrift-3000/-2400/v.u.Z.= Industalschrift-1500/v.u.Z.= Chinesische Schrift+50/n.u.Z. = Maya-Schrift+1400/n.u.Z. = Azteken-SchriftWeiter:Schreibutensilien:- Ton, Papyrus, Pergament,- Papier: seit dem 2.Jh. = in China hergestellt, seit dem8.Jh. von den Arabern in Vorderasien verwendet, seit d.12. Jh. in Europa- Druckpresse: im 7.Jh. in China (mit festen Lettern), abdem 15.Jh. in Europa mit beweglichen Lettern10

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