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Ethisch Handeln lernen (SS 2004, Prof. Simon, von ... - vaticarsten.de

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<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 6<strong>Ethisch</strong>e Erziehung hat <strong>de</strong>shalb eine weltanschauliche Komponente 2 : Sievermittelt die Sicht einer Welt, in <strong>de</strong>r glücken<strong>de</strong>s Leben möglich ist und erschließt damiteinen Sinnhorizont.<strong>Ethisch</strong>e Erziehung ist mehr als eine Einweisung in normengerechtesVerhalten, sie ist vielmehr eine Erziehung zur Autonomie. Normen wer<strong>de</strong>n dann alsWervorzugsregeln für konkrete Situationen verstan<strong>de</strong>n, die aber <strong>de</strong>m geschichtlichenWan<strong>de</strong>l unterliegen. Normen müssen <strong>de</strong>shalb immer wie<strong>de</strong>r neu gefun<strong>de</strong>n undbegrün<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, es han<strong>de</strong>lt sich um einen lebendigen Lernprozeß.Alfons Auer nennt in diesem Zusammenhang drei Kriterien <strong>de</strong>rNormenfindung:1. Kenntnis <strong>de</strong>r Sachverhalte und ihrer Eigengesetzlichkeit: „Sachgerechtigkeitgegenüber <strong>de</strong>n Realitäten in <strong>de</strong>n Dingen und Liebe zu <strong>de</strong>n Menschen“.2. Sinnhaftigkeit: Über die Sachgerechtigkeit hinaus muß <strong>de</strong>r Horizont glücken<strong>de</strong>nund mißlingen<strong>de</strong>n Lebens gekannt wer<strong>de</strong>n. Daher ist eine (vorläufige) Antwortauf die Frage nötig, was gutes Leben ist.3. Glaubenshorizont: Hierbei geht es um die theologische Ethik: Was dürfen wirhoffen über das Menschenmögliche hinaus? Was gibt uns Mut, Trost undZuversicht? Hier liegt die Antwort auf die Frage: Warum sollen wir ethischhan<strong>de</strong>ln?1.2. Thematische Schwerpunkte <strong>de</strong>r Vorlesung1. Aspekte <strong>de</strong>r theologischen Ethik, insofern sie für die Pädagogik relevant sindEs geht darum, wie auf das ethische <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> reflektiert wird: Wie gelangen wirdin die Einsicht <strong>de</strong>s sittlich gesollten? Dabei spielen J. S. Brun<strong>de</strong>r und J. Schwabeine beson<strong>de</strong>re Rolle, die die Struktur <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Disziplin auf dasethische Lernen in <strong>de</strong>r Schule angewandt und in <strong>de</strong>n Lehrplan aufgenommenhaben.2. Mo<strong>de</strong>lle ethischer ErziehungEinzelne Mo<strong>de</strong>lle ethischer Erziehung sollen einer theologischen undpädagogischen Reflexion unterzogen wer<strong>de</strong>n, was zu einem differenziertenProblembewußtsein führt.3. <strong>Ethisch</strong>es <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> im Wer<strong>de</strong>n2 vgl. Langer: Handbuch <strong>de</strong>r religionspädagogischen Grundbegriffe, ###


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 11Dieser Sinnhorizont <strong>von</strong> Schöpfung, Erlösung und Vollendung, wie ihn dasEvangelium ver<strong>de</strong>utlicht, beeinflußt die sittliche Handlungsfindung in zweiRichtungen: Erstens wer<strong>de</strong>n Glaube, Hoffnung, Liebe, Dankbarkeit und Wachsamkeit zuGrundhaltungen, d.h. zu theologischen Tugen<strong>de</strong>n, die im Gegensatz zu sittlichenTugen<strong>de</strong>n nicht erworben, son<strong>de</strong>rn geschenkt wer<strong>de</strong>n. Sie sind nicht machbar, son<strong>de</strong>rneine Frucht, eine Konsequenz <strong>de</strong>s Glaubens, er in ihnen erst Gestalt gewinnt. Zweitenslassen sich im Licht <strong>de</strong>s Evangeliums drei Effekte für <strong>de</strong>n Prozeß <strong>de</strong>r sittlichenNormenfindung feststellen:1. integrieren<strong>de</strong> Funktion:Die christliche Botschaft ordnet alle Bemühungen auf ein letztes Ziel hin. Esgeht um theologisch fundierte Autonomie, welcher eine eigene Verbindlichkeitinnewohnt. Sittliche Weisungen gewinnen so erst ihren Sinn. Allerdings bestehtdie Gefahr <strong>de</strong>r Verabsolutierung.2. kritisieren<strong>de</strong> Funktion:Die sittliche Urteilsfindung im Kontext <strong>de</strong>s christlichen Glaubens kannIrrwege auf<strong>de</strong>cken. Falsche Verabsolutierungen partikulärer Einzelwerte wer<strong>de</strong>nhier in Frage gestellt. Gemäß <strong>de</strong>r jüdischen Wurzeln kann die Universalität <strong>de</strong>seigenen ethischen Anspruchs <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Religion her in Erinnerung gebrachtwer<strong>de</strong>n. Glauben hat hier eine i<strong>de</strong>ologiekritische Funktion3. stimulieren<strong>de</strong> Funktion:Es geht um sittliches Wachstum zur ethischen Gestaltung <strong>de</strong>s Menschseins,wie es z.B. in <strong>de</strong>r Bergpredigt Jesu <strong>de</strong>utlich wird. Eine letzte Dringlichkeit wirddabei ebenso betont wie eine letzte Gelassenheit: Es besteht eine Notwendigkeit<strong>de</strong>s <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s, aber man muß auch um die Grenzen <strong>de</strong>s Tun-Könnens wissen.Das Reich Gottes ist eben nicht eine Leistung unseres sittlichen Engagements,trotz<strong>de</strong>m soll und muß sich unser sittliches <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> an <strong>de</strong>r künftigen basileiaorientieren.vgl. Mat I: Zusammenfassung <strong>de</strong>r Position Auers2.2 Kritische Anfragen und Weiterführung2.2.1 Zum Autonomieverständnis <strong>de</strong>r autonomen MoralAn <strong>de</strong>r metaphysisch begrün<strong>de</strong>ten, d.h. <strong>de</strong>duzieren<strong>de</strong>n Ethik wur<strong>de</strong> seit Beginn<strong>de</strong>r Neuzeit Kritik geübt. Die Wen<strong>de</strong> zum Subjekt führte zu einem neuen


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 12Wirklichkeitsverständnis. Statt <strong>de</strong>r transzen<strong>de</strong>nten stand nun die transzen<strong>de</strong>ntaleFragestellung nach <strong>de</strong>n Möglichkeitsbedingungen menschlichen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s (auch imsittlichen Bereich) im Vor<strong>de</strong>rgrund. Daraus folgte ein doppeltes Verständnis <strong>von</strong>Autonomie: zum einen die Autonomie <strong>de</strong>r Vernunft (mit Rationalität als Kriterium <strong>de</strong>sSittlichen) und zum zweiten die Autonomie <strong>de</strong>s freien Willens zur sittlichenSelbstbestimmung, wie sie Immanuel Kant konstatiert hat 3 . Kant führte drei Postulatean, d.h. praktische Überzeugungen, die für die praktische Vernunft geschlossenGültigkeit beanspruchen können. Diese Postulate sind: Freiheit <strong>de</strong>s sittlichen Tuns,Unsterblichkeit, Gott als Bürge und Garant <strong>de</strong>r Sittlichkeit <strong>de</strong>r Person. Auf diesenPostulaten fußte <strong>de</strong>r kategorische Imperativ, das berühmte Sittengesetz Kants: Gut istmenschliches <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> nur aufgrund <strong>de</strong>s an das Sittengesetz gebun<strong>de</strong>nen Willens.Hierbei han<strong>de</strong>lt es sich um eine transzen<strong>de</strong>ntale Begründung <strong>de</strong>r Sittlichkeit, die beiKant als Kompetenz <strong>de</strong>s Subjekts zur freien Selbstbestimmung verstan<strong>de</strong>n wird.Autonomie muß davor bewahrt bleiben, auf individualistische Freiheit reduziertzu wer<strong>de</strong>n, da sich daraus Defizite im gemeinschaftlichen Zusammenleben ergeben.Freiheit wird auch immer geschichtlich und gesellschaftlich bestimmt. Die I<strong>de</strong>aleabsoluter Autonomie und Vernünftigkeit sind <strong>de</strong>shalb Postulate, die nicht real seinkönnen. Sittliche Freiheit ist immer vernünftiger (!) Gehorsam gegenüber <strong>de</strong>mSittengesetz.2.2.2 Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Sinnhorizonts <strong>de</strong>s christlichen Glaubens für das gelebte EthosDie Ethik kann die Frage nach <strong>de</strong>m Warum ethischen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s nichtbeantworten. Deshalb braucht es immer eine extrinsische Motivation, einenBeweggrund, damit ethisches <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> als dringlich und sinnvoll erfahren wird. DieFrage ist, ob die Motivation nicht nur formale, son<strong>de</strong>rn auch materiale Be<strong>de</strong>utung für dieEntfaltung <strong>de</strong>s sittlichen hat. Günther R. Schmitt 4 differenziert <strong>de</strong>n ethischenBegründungszusammenhang <strong>de</strong>shalb nach vier Ebenen:1. Sinnenebene2. Grundwerte, allgemeine Höchstwerte3. konkrete Werte, Normen4. Anweisungen für konkrete SituationenIm Bereich <strong>de</strong>r allgemeinen Höchstwerte besteht eine Konvergenz, z.B. inBezug auf das Menschenrechtsethos.3 1785: Grundlegung zur Metaphysik <strong>de</strong>r Sitten, 1788: Kritik <strong>de</strong>r praktischen Vernunft.4 ###


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 16Bei Sokrates wird also das Wahrheitsstreben <strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong>n alsAusgangspunkt akzentuiert. Ziel ist die Wahrheitsfindung als Vernunfteinsicht.In <strong>de</strong>r Pädagogik hatte dieses Mo<strong>de</strong>ll großen Einfluß, auch in <strong>de</strong>r Katechese.Unterricht soll fragend-dialogisch stattfin<strong>de</strong>n und beim Problem ansetzen, damit eineinnere Beziehung <strong>de</strong>s Lösungswegs zum Subjekt entsteht: „Der Sokratiker soll <strong>de</strong>mKind nichts geben, son<strong>de</strong>rn alles aus ihm herausholen“.Vor allem in <strong>de</strong>r Aufklärungspädagogik <strong>de</strong>s 18. Jh. ist diese I<strong>de</strong>e wie<strong>de</strong>raufgetaucht, z.B. bei Bernhard Basedow (1724-1790), Friedrich Eberhard Rochow(1734-1805) und Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811), die alle zum Dassauer Kreis<strong>de</strong>r Philanthropen gehörten Der evangelische Religionspädagoge Gustav FriedrichDinter hat die Sokratik als Unterrichtsmetho<strong>de</strong> für die Oberstufe propagiert 6 . Im 19. Jh.war es v.a. F. A. Diesterweg (1790-1866), <strong>de</strong>r in seinem „Wegweiser zur Bildung<strong>de</strong>utscher Lehrer“ (1835) die klassische Mäeutik mit <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>alen <strong>von</strong> Humanität undTugend rezipierte.3.2. Johann Amos Comenius: Sittliches <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> als sachgerechtes Mitwirkenan <strong>de</strong>r Schöpfung GottesComenius wur<strong>de</strong> 1592 in Mähren (Tschechien) geboren und starb 1670 inAmsterdam. Er war Theologe und Pädagoge und Bischof <strong>de</strong>r hussistischen Gemein<strong>de</strong>.Wegen <strong>de</strong>s 30jährigen Krieges floh er nach Polen, danach nach England. Er gilt alserster großer Theoretiker einer umfassen<strong>de</strong>n Pädagogik als Erziehungs- undBildungslehre und markiert somit <strong>de</strong>n Höhepunkt <strong>de</strong>r Barockpädagogik. SeineSchriften sind die „Didaktika magna“ und die „Pampedia“ 7 .Comenius’ pädagogischer Ansatz muß im Kontext seiner Weltanschauunggesehen wer<strong>de</strong>n, die u.a. <strong>von</strong> <strong>de</strong>r neuplatonisch-christlichen Pansophie(Verständnislehre) geprägt war. Diese versprach weise Einsichten in dieZusammenhänge <strong>de</strong>r Welt 8 , <strong>de</strong>r zufolge <strong>de</strong>r Mensch als Mikrokosmos die Struktur<strong>de</strong>s Makrokosmos in sich hat und sie wi<strong>de</strong>rspiegelt. Die Welt selbst vollzieht sich alscreatio continua. Der Mensch als Teil dieser Schöpfung bemüht sich um das rechteVerhalten zu allen Dingen, was eine Korrespon<strong>de</strong>nz <strong>von</strong> Mikrokosmos undMakrokosmos zur Folge hat. Der Mensch ist das Werkzeug Gottes für dieInstandsetzung <strong>de</strong>r Welt.6 1800: „Die vorzüglichen Regeln <strong>de</strong>r Katechetik“7 = das Ganze <strong>de</strong>r Erziehung betreffend8 weiterer Vertreter: Jakob Böhm


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 17Ziel <strong>de</strong>r Erziehung ist <strong>de</strong>shalb nicht nur das Wissen, son<strong>de</strong>rn eine umfassen<strong>de</strong>Weisheit, die durch Unterricht und Lernen ausgebil<strong>de</strong>t und angestrebt wird. Dabei istAllen alles in einer vollständigen Weise zu lehren: „Omnia omnes omnio docere.“ Dabei<strong>de</strong>nkt Comenius altersstufenbezogen. Es geht um die Einheit <strong>von</strong> rechtem Wissen,sittlicher Tugend und religiöser Frömmigkeit.Gott und Welt (Mensch) bil<strong>de</strong>n eine dynamische Einheit, sind immer aufeinan<strong>de</strong>rbezogen. Der Mensch als imago <strong>de</strong>i hat die Aufgabe, die Welt zu ihrerursprünglichen Bestimmung zu führen. Dies ist sein Anteil am Schöpfungswerk. DerMensch muß an <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rherstellung <strong>de</strong>r Welt mitwirken, <strong>de</strong>nn so, wie sie jetzt ist, istsie nicht in ihrer gottgewollten, ursprünglichen Bestimmung. Eine vernünftige Einsichtin die ursprünglichen Zweckbestimmungen <strong>de</strong>r Dinge ist Voraussetzung für diesesMitwirken. Sie soll <strong>de</strong>n Menschen beim <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> leiten.Der Mensch muß sich also in einer sog. cognitio i<strong>de</strong>ativa befin<strong>de</strong>n, d.h. er hatEinsicht in die ursprüngliche I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Dinge, in die gottgewollte Vollkommenheit.Danach soll er die Dinge recht gebrauchen (verus usus) und sie zu ihrem Ziel und ihrerVollendung bringen. Diese Überlegung hat didaktische Konsequenzen. Bildung hatnach Comenius drei Kernaufgaben:1. Einübung in <strong>de</strong>n rechten Gebrauch <strong>de</strong>r Vernunft (eruditio)2. Einübung in das rechte <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> und <strong>de</strong>n rechten Gebrauch <strong>de</strong>r Dinge (mores)3. Einweisung in die Teilhabe am Schöpfungswerk Gottes (religio)Der Mensch soll also als vernünftiges, rechtschaffenes und frommes Wesen amSchöpfungswerk teilnehmen. Daraus ergeben sich zwei didaktische Prinzipien für <strong>de</strong>nUnterricht: 1. autopsia (Anschauung) und 2. autopragmasia (Selbsttätigkeit, Umgang,konkrete Erfahrung). Der Erkenntnisweg ist also induktiv: Ausgangspunkt ist dieeigene sinnliche Erfahrung (Anschauung), <strong>von</strong> <strong>de</strong>r her gelernt wer<strong>de</strong>n soll, nicht dasWort. Erfahrungen sind ursprünglicher als Worte 9 . Die Erfahrungen können alsVorstellung erinnert wer<strong>de</strong>n, darüber gelangt <strong>de</strong>r Lernen<strong>de</strong> dann zum Verstehen undzum Urteil. Dieser Vorgang entspricht nach Comenius <strong>de</strong>n Stufen <strong>de</strong>r Erziehung, auch<strong>de</strong>r sittlichen.Nach Comenius wird sittliches <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> durch sittliches Tun gelernt, es geht alsoum ein „learning by doing“. Deshalb wer<strong>de</strong>n die Begriffe <strong>de</strong>s Umgangs, <strong>de</strong>r Zucht(Pflegen und Wachsenlassen) und <strong>de</strong>s Vorbilds betont, die eine hohe Be<strong>de</strong>utung zurAusbildung <strong>de</strong>r klassischen Kardinaltugen<strong>de</strong>n haben. Die Prinzipien gelten für <strong>de</strong>n9 Deshalb sind in <strong>von</strong> Comenius entwickelten Schulbüchern auch viele Bil<strong>de</strong>r.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 18Bereich <strong>de</strong>s ethischen Lernens, wo ein sachbezogenes, rechtes <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> eingeübt wer<strong>de</strong>nsoll.Das sittliche <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> und die sittliche Erziehung sind bei Comenius eingebettetin einen weltanschaulichen Kontext. Alle Kräfte <strong>de</strong>s Lernen<strong>de</strong>n sollen angesprochenwer<strong>de</strong>n.Es han<strong>de</strong>lt sich um einen differenzierten Ansatz, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Blick für die ethischeErziehung geweitet und die Geschichte <strong>de</strong>r Pädagogik positiv und vorbildlich beeinflußthat.3.3. August Hermann Francke: Brechung <strong>de</strong>s bösen Willens und Einübung inein gottgefälliges LebenFrancke lebte <strong>von</strong> 1663 bis 1724. Er baute in Halle die sog. „FränckischenStiftungen“ auf. Dabei han<strong>de</strong>lte es sich um einen Gebäu<strong>de</strong>komplex mit Armenschule,Waisenhaus, Wirtschaftsbetrieben, Apotheke, Handwerksbetrieben und einem Ort fürdie Lehrerausbildung. Die Stiftungen sollten <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn nach <strong>de</strong>r Verwüstung <strong>de</strong>s30jährigen Krieges zugute kommen, als viel Kriminalität und Elend herrschte.Franckes pädagogisches Werk gilt als das be<strong>de</strong>utendste <strong>de</strong>s Pietismus 10 . Seintheologischer Hintergrund ähnelte <strong>de</strong>m <strong>von</strong> Comenius, er zog jedoch an<strong>de</strong>reKonsequenzen.Als theologische Prämisse galt ihm diejenige Tradition <strong>de</strong>r Anthropologie, die imWesentlichen <strong>von</strong> Augustinus beeinflußt war. Er betonte häufig die Konsequenz <strong>de</strong>raugustinischen Erbsün<strong>de</strong>nlehre und verfocht die Ansicht, <strong>de</strong>r menschliche Wille seidurch die Erbsün<strong>de</strong> korrumpiert. Es gebe <strong>de</strong>shalb eine „natürliche“ Neigung zumBösen, <strong>de</strong>r Mensch könne <strong>von</strong> Natur aus nicht Gutes wollen. Schon <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>sKin<strong>de</strong>s zeige eine „natürliche“ Neigung zur Bosheit. Die Rechtfertigung erführe <strong>de</strong>rSün<strong>de</strong>r aber allein im Glauben (sola fi<strong>de</strong>s) und im Vertrauen auf die Gna<strong>de</strong> Gottes (solagratia).Durch die „natürliche“ Neigung im Menschen sind <strong>de</strong>r Erziehung Grenzengesetzt. Erziehung kann für das Wirken <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> zwar disponieren, kann sie aber nichtbewirken o<strong>de</strong>r garantieren. Sie kann höchstens helfen, sich zu einem gottgefälligenLeben zu bekehren.Das Bekehrungserlebnis hat für <strong>de</strong>n Pietismus eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung:erfährt <strong>de</strong>r Mensch eine Bekehrung, wird er gleichsam wie<strong>de</strong>rgeboren. Das in <strong>de</strong>r10 1702: „Kurzer und einfältiger Unterricht“; 1713: „Instruktion für die Praeceptoren [Lehrer], was sie bei<strong>de</strong>r Disziplin wohl zu beachten haben“ (o.ä.)


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 19Bekehrung Erlangte soll sich dann in einem gottgefügigen Leben <strong>de</strong>r Heiligungbewähren, was ein Leben <strong>de</strong>r Liebe zur Folge hat. Deshalb zeigt sich ein lebendigerGlaube in einer praxis pietatis: Durch innerweltliche Askese und ein Ethos <strong>de</strong>r Arbeitwird <strong>de</strong>r lebendige Glaube in tätiger Nächstenliebe realisiert. Sozial drängen<strong>de</strong> Problemefor<strong>de</strong>rn Engagement.Für die Erziehung hat das folgen<strong>de</strong> Konsequenzen:1. Erziehung kann gewisse Dispositionen schaffen und <strong>de</strong>n Heranwachsen<strong>de</strong>nfür die Gna<strong>de</strong> Gottes öffnen, ihn dafür aufmerksam zu machen, ihnermutigen.2. Die Erziehung muß <strong>de</strong>n „natürlichen“ bösen Willen brechen und in dieOrdnung <strong>de</strong>s Willens Gottes einführen und einüben. Der böse Wille bestehtallerdings auch danach noch fort als „Versuchung“, weshalb <strong>de</strong>rHeranwachsen<strong>de</strong> in institutio (innere und äußere Lebensordnung) gestelltwer<strong>de</strong>n muß, in <strong>de</strong>r es um drei Dinge geht:a) äußere Aufsichtb) Zucht und Übung (Disziplin)c) „Erweckung <strong>de</strong>r Herzen“, d.h. innere Vorbereitung auf dasBekehrungserlebnis; Pflege <strong>de</strong>s Gemüts und Übung <strong>de</strong>s eigenen Willensam Willen Gottes. Das Gewissen soll schließlich ausgebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n.Ziel <strong>de</strong>r Erziehung ist nach Francke die Ehre Gottes und die Nützlichkeit für<strong>de</strong>n Nächsten. Äußere und innere Aufsicht (Selbstreflexion) sollen sich zur Erreichungdieses Zieles gegenseitig stützen. Erzieherische Mittel dazu sind das Vorbild, dieDisziplin und die Bestrafung <strong>de</strong>s Bösen, allerdings erst nach innerer Einsicht <strong>de</strong>rBerechtigung <strong>de</strong>r Strafe (d.h. niemals willkürlich). Die Ausrichtung <strong>de</strong>s Willens zeigtsich dann in innerem und äußerem Gehorsam. Wichtig ist dabei das Gebet, <strong>de</strong>rgleichmäßige Wechsel <strong>von</strong> Arbeit und Erholung und die Einübung in eine umfassen<strong>de</strong>Lebensordnung (sittliche Erziehung), die ihre Motivation aus <strong>de</strong>m Glauben bzw.Bekehrungserlebnis zieht. Es geht also um ein praktisch ausgerichtetesTatchristentum.Die Wirkungsgeschichte <strong>de</strong>s pädagogischen Ansatzes <strong>von</strong> Francke erreichte impreußischen Erziehungssystem seit Beginn <strong>de</strong>s 19. Jh. ihren Höhepunkt.Der anthropologische Pessimismus führte jedoch zu einer Verkürzung <strong>de</strong>rAnthropologie. Positiv war sicherlich, daß das Gesollte <strong>de</strong>m inneren Wollen


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 20entsprechen sollte, es ging also um eine Herzensbildung durch Religion im Kern <strong>de</strong>sMenschen. Das Gesollte sollte durch sittliche Vorbil<strong>de</strong>r geschaut, eingeübt und gefestigtwer<strong>de</strong>n.3.4. Jean-Jaques Rousseau: Negative Erziehung in Bindung an die natürlicheEntwicklung <strong>de</strong>s Heranwachsen<strong>de</strong>nRousseau lebte <strong>von</strong> 1712-1778. Er führte ein ruheloses und wi<strong>de</strong>rspruchvollesLeben 11 . Zunächst arbeitete er als Kulturkritiker. Seine „Confessiones“ schrieb er nochvor <strong>de</strong>r Französischen Revolution. Sein pädagogisches Hauptwerk ist ohne Frage„Emile, o<strong>de</strong>r: Von <strong>de</strong>r Erziehung“. Sein Gesellschaftsvertrag <strong>von</strong> 1762 hattestaatsphilosophisch eine große Wirkung. In zwei Preisschriften ging er zwei Fragennach:1. (1750) Hat <strong>de</strong>r Fortschritt <strong>de</strong>r Künste und Wissenschaften zur Reinigung <strong>de</strong>rSitten beigetragen?2. (1753) Was ist <strong>de</strong>r Grund für die Ungleichheiten unter <strong>de</strong>n Menschen?Seine Antwort auf die erste Frage lautete: Nein. Seine Beantwortung <strong>de</strong>r zweitenFrage hängt damit zusammen und ver<strong>de</strong>utlicht seinen naturalistischen Ansatz: DieKultur und Gesellschaft haben die Sitten korrumpiert, die Menschen einan<strong>de</strong>r entfrem<strong>de</strong>tund ungleich gemacht. Deshalb gilt es, zur Natur zurückzukehren: „Retour à lanature!“. Dies ist das Hauptziel <strong>de</strong>r Erziehung nach Rousseau. Die Erziehung zurSittlichkeit muß <strong>de</strong>m Gang <strong>de</strong>r Natur folgen, wie es in „Emile“ beschrieben wird.Rousseau geht <strong>von</strong> <strong>de</strong>r ursprünglichen Gutheit <strong>de</strong>s Menschen aus, Bosheit und Übelsind Folgen <strong>de</strong>r Sozialisation <strong>de</strong>s Menschen.Rousseau ist <strong>de</strong>shalb Verfechter <strong>de</strong>r sog. „indirekten Erziehung“ für Kin<strong>de</strong>r bis12 Jahre („metho<strong>de</strong> inaktive“, passive Metho<strong>de</strong>). Der Erzieher soll hierbei dieUmgebung so arrangieren, daß sie die Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s anregen kann. Das Kin<strong>de</strong>ntwickelt in <strong>de</strong>r Begegnung mit <strong>de</strong>n Dingen seine Interessen, Bedürfnisse undFähigkeiten völlig selbsttätig, da es im Umgang mit <strong>de</strong>n Sachen Erfahrungen macht: eslernt, was nützlich und was schädlich ist. In diesem Stadium verfolgt das Kind einevormoralischen Utilitarismus: die natürlichen Folgen <strong>de</strong>s sittlichen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s wirkensich als Belohnung o<strong>de</strong>r Bestrafung aus. Für <strong>de</strong>n Erzieher besteht die schwersteHerausfor<strong>de</strong>rung wohl darin, die Kin<strong>de</strong>r durch sein Nicht-Einwirken zu erziehen.11 Er gab z.B. die eigenen Kin<strong>de</strong>r ins Heim…


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 21Das Lernen ist bei Rousseau gekennzeichnet <strong>von</strong> Experimentieren undschöpferischen Tätigsein. Die Kin<strong>de</strong>sphase besitzt ihr eigenes Recht: „Die Natur will,daß die Kin<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r seien, bevor sie Menschen wer<strong>de</strong>n“. Es gehört also zurnatürlichen Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, daß es durch Eigenanschauung lernt. Es soll sichfrei entwickeln in aktiver Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Natur und <strong>de</strong>r Welt – undzwar ohne <strong>de</strong>n Einfluß einer Autorität. Die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung geschieht somit a-sozialund natürlich.Rousseau war <strong>de</strong>r Meinung, daß ab <strong>de</strong>m 12. Lebensjahr die Vernunft, und ab<strong>de</strong>m 15. „das Gefühl“ erwache. Dieser natürlichen Erziehung muß erzieherischbegleitend entsprochen wer<strong>de</strong>n. Es geht <strong>de</strong>shalb nicht um eine Erziehung <strong>de</strong>s laissézfaire, son<strong>de</strong>rn es soll , v.a. in <strong>de</strong>r pubertären Phase, eine „Kultur <strong>de</strong>r Gefühle“aufgebaut und in die Begriffe <strong>de</strong>s jeweiligen Lebensalters eingeführt wer<strong>de</strong>n. Dievormoralischen Erfahrungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s sollen weitergeführt wer<strong>de</strong>n zu einembegrifflichen Erfassen <strong>de</strong>s Sittlichen.Die Liebe zwischen Erzieher und Kind gilt Rousseau als die Basis <strong>de</strong>r Erziehung,es herrscht keine emotionale Gleichgültigkeit. Sobald <strong>de</strong>r Erzieher spürt, daß im KindVernunft o<strong>de</strong>r Gefühl erwacht, ist es seine Aufgabe, zum Reifen beizutragen, in<strong>de</strong>m ersich als Gesprächspartner einschaltet.Im Prozeß <strong>de</strong>s Reifens kommt <strong>de</strong>r Jugendliche auch mit Religion in Kontakt, undzwar zunächst mit <strong>de</strong>r „natürlichen“ Religion. Diese besteht in <strong>de</strong>r Erfahrung <strong>de</strong>sGetragenseins <strong>von</strong> einem göttlichen Wesen, das alle Vernunft durchdringt. DieStimme dieses göttlichen Wesens wird im Gewissen hörbar; es han<strong>de</strong>lt sich dabei um<strong>de</strong>n Anspruch <strong>de</strong>s Wissens Gottes. Es kommt zu einem theologisch motiviertensittlichen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>. Rousseau spricht vom Gewissen auch als vom „Gefühl <strong>de</strong>sHerzens“. Es geht also um eine vorrationale Bindung, die ursprünglicher ist als je<strong>de</strong>r<strong>von</strong> außen herangetragene sittliche Anspruch (wie er z.B. im Über-Ich <strong>de</strong>utlich wird).Das Gefühl <strong>de</strong>s Herzens weist auf eine ihm immanente Sittlichkeit, auf seineGrundbedürfnisse hin.Durch seine Erfahrungen gelangt ein Kind schließlich zu Begriffen <strong>von</strong> Gut undBöse, <strong>von</strong> Liebe und Gerechtigkeit. Die sittliche Erziehung wird also frei vom äußerenZwang <strong>de</strong>r Sitte, Autorität, gesellschaftlichen Normen usw. vollzogen. Rousseau siehtdie Auswirkung <strong>de</strong>r menschlichen Gesellschaft auf die Entwicklung <strong>de</strong>s Menschengrundsätzlich negativ. Deshalb steht für ihn die Autarkie <strong>de</strong>s jungen Menschen imVor<strong>de</strong>rgrund. Voraussetzung dafür ist eine Entsprechung <strong>von</strong> Natur und Vernunft


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 22bzw. göttlichem Willen 12 . Das Ziel <strong>de</strong>r ethischen Erziehung ist, daß <strong>de</strong>r Mensch„d’accor ordre <strong>de</strong> la nature et avec hui-meîne“ (in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>r Natur undmit sich selbst), d.h. i<strong>de</strong>ntisch, vernunftgemäß, naturgemäß lebt.3.5. Johann Heinrich Pestalozzi: Sittliche ElementarerziehungPestalozzi wur<strong>de</strong> 1746 in Zürich geboren und starb 1827 in Bern. Er warPädagoge in einer Zeit <strong>de</strong>s Umbruchs: Französische Revolution, Restaurationszeit. Erleitete Waisenanstalten und Armenschulen. Seine frühen Werke sind „Lienhaard undGertrud“ (1781), 1801 folgt „Wie Gertrud ihre Kin<strong>de</strong>r lehrt“. Es han<strong>de</strong>lte sich dabei umvolkspädagogische Schriften. Nach einer Zäsur entfaltete er sein Konzept einer sittlichenErziehung im „Brief aus Stans“ (1799). 1797 erscheint „Meine Nachforschungen über<strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r Natur in <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s Mesnchengeschlechts“.Pestalozzi greift Rousseaus Überlegungen kritisch auf, entwickelt dannpraxisbezogen einen eigenen Ansatz zur sittlichen Elementarerziehung, <strong>de</strong>r bis heuteprägend ist.Die anthropologische Grundlagen <strong>de</strong>s Ansatzes klingen zunächst sehroptimistisch, sind später dann auch mit Skepsis verbun<strong>de</strong>n. Der Mensch gilt Pestalozzials Werka) <strong>de</strong>r Natur,(Der Mensch ist bestimmt durch einen natürlichen Egoismus, <strong>de</strong>rauch als „Tierzustand“ <strong>de</strong>s Menschen bezeichnet wer<strong>de</strong>n kann.)b) <strong>de</strong>r Gesellschaft,(Der Mensch ist bestimmt durch gesellschaftliche Determinanten,Milieus, Umstän<strong>de</strong> [Milieu-Pädagogik], d.h. das Verhältnis zwischenEinzelnem und <strong>de</strong>r Gesellschaft wird dialektisch gesehen.)c) seiner eigenen Erziehung.(Der Mensch ist Werk seiner selbst und seinem Streben nachVollendung, die einen unabgeschlossenen Zielpunkt darstellt.)Pestalozzi geht da<strong>von</strong> aus, daß je<strong>de</strong>r Mensch das „Menschtum“ repräsentiert. DerMensch wird als ethisches Projekt verstan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r <strong>von</strong> Anomie über Heteronomie zuAutonomie gelangt. Sittlichkeit entsteht also in einem steten Streben und Bemühen.Sie ist das Ziel bzw. I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s Menschen. Die pädagogische Aufgabe besteht <strong>de</strong>shalbdarin, das Streben <strong>de</strong>s Menschen zu vere<strong>de</strong>ln bzw. sein Gewissen zu bil<strong>de</strong>n. Das Ziel12 = aufklärerisches I<strong>de</strong>al


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 23ist dabei, einen Zustand innerer und äußerer Harmonie zu erlangen. Es han<strong>de</strong>lt sichhierbei um einen inneren, gegebenen „L’ordre <strong>de</strong> <strong>de</strong>iu“ 13 , um eine <strong>von</strong> Gott gegebenenatürliche Bestimmung <strong>de</strong>s Menschen zur Liebe.Liebe wird nach Pestalozzi konkret erworben, nicht nur abstrakt gedacht. Sie ist<strong>de</strong>r „göttliche Funke im Herzen“. Grundlage für die Fähigkeit zu lieben ist die Liebe <strong>de</strong>rEltern, also eine sozial vermittelte Liebe, die erfahren wur<strong>de</strong>. Dankbarkeit undVertrauen sind die Wurzeln <strong>de</strong>s eigenen Liebenkönnens. Es han<strong>de</strong>lt sich also um einereligiöse Begründung <strong>de</strong>r Sittlichkeit, <strong>de</strong>nn sie bedarf einer gläubigen Liebe <strong>de</strong>sMenschen.Aus diesen Vorüberlegungen lassen sich Folgerungen für eine sittlicheElementarerziehung ziehen: Es soll elementar, d.h. <strong>von</strong> grundlegen<strong>de</strong>n Bausteinen her,gelernt wer<strong>de</strong>n, auch in Bezug auf die sittliche Erziehung: Es geht um die Erschließunggrundlegen<strong>de</strong>r Muster <strong>de</strong>s sittlich han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Subjekts.Pestalozzi geht <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>r Lebenskreise aus, die sich in einemkonzentrischen Mo<strong>de</strong>ll darstellen läßt.1 2 3 4Die Theorie besagt, daß ein junger Mensch in Lebenskreisen seiner Umwelt lebtund lernt. Der innerste Kreis (1) ist die Familie (Wohnstube), <strong>de</strong>r nächste (2) die Schule(gewissermaßen als Weiterführung <strong>de</strong>r Wohnstube), <strong>de</strong>r dritte Kreis (3) stellt <strong>de</strong>n Berufund die Stan<strong>de</strong>swelt <strong>de</strong>s handwerklichen Schaffens dar, <strong>de</strong>r äußerste (4) <strong>de</strong>n Staat alsLebensgemeinschaft <strong>de</strong>s Volkes, das Vaterland.Dahinter steht die Theorie <strong>de</strong>s ganzheitlichen Lernens: Der Mensch soll durchdie Erziehung zur wahren Menschheit und zu seiner Bestimmung gelangen, alle seineKräfte sollen zu ihrer Entfaltung gebracht wer<strong>de</strong>n können. Diese lassen sich in <strong>de</strong>rberühmt gewor<strong>de</strong>nen Trias <strong>von</strong> Kopf, Herz und Hand zusammenfassen. Dabei steht<strong>de</strong>r Kopf für das Wissen und Verstehen <strong>de</strong>s Menschen und betrifft damit die13 vgl. Rousseau „Ordre <strong>de</strong> la nature“


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 24intellektuelle Erziehung. Das Herz umschreibt das Wollen <strong>de</strong>s Menschen, das einersittlichen Erziehung bedarf. Mit <strong>de</strong>r Hand ist das Können gemeint, das körperlicherzogen wer<strong>de</strong>n kann.Daraus ergeben sich verschie<strong>de</strong>ne Erziehungswege o<strong>de</strong>r –mittel:a) Übung: gelernt wird durch Gebrauch und Praxisb) Anschauung: Fundament aller Erkenntnis gemäß <strong>de</strong>raristotelischen Erkenntnistheoriec) Selbsttätigkeit: Grundmovens <strong>de</strong>s sittlichen Lernens, außer<strong>de</strong>mVoraussetzung für selbständiges <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>Ziel <strong>de</strong>r Erziehung ist die Bildung <strong>de</strong>s Gewissens und die Entwicklung einergläubigen Liebe, die sich in Vertrauen und Hingabe zeigt. Es geht also um eineumfassen<strong>de</strong> „Herzensbildung“.Das Stufenmo<strong>de</strong>ll sittlicher Elementarbildung betont vor allem drei Momente:1. Erziehung durch GefühleDer gelebte Umgang mit an<strong>de</strong>ren Menschen, die sittlich gebun<strong>de</strong>nenBesorgungen <strong>de</strong>s Alltags, sollen Vertrauen, Liebe und Weitherzigkeit weckenals sittliche Grundstimmungen.2. Sittliche Übungen durch Selbstüberwindung und AnstrengungDie sittlichen Handlungserfahrungen führen zu einer Zuwendung zu an<strong>de</strong>renaus Liebe und Weitherzigkeit, die weiteres erfahrungsbezogenes Lernen undTun ermöglichen.3. Sittliche Einsicht durch VergleichenDie Reflexionsstufe <strong>de</strong>r begrifflichen Einsicht und Erkenntnis bezieht sichauf die vorgängigen Handlungserfahrungen. Es sollen möglichst große undumfassen<strong>de</strong> Begriffe gewonnen wer<strong>de</strong>n.Bei Pestalozzi entspricht die sittliche Bildung einem gestuften Lernprozeß, <strong>de</strong>raus Disposition, Aktion und Reflexion besteht. Innerhalb dieses Lernprozesses soll diegläubige Liebe als Voraussetzung und Ziel <strong>de</strong>r Erfahrung entfaltet wer<strong>de</strong>n. Um dies zuerreichen, bedarf es sowohl einer gewissen Nüchternheit als auch einer Zuversicht. DerMensch neigt zwar zu Destruktion und Zerstörung <strong>von</strong> Natur aus, doch gilt es, dieseNatur zu vere<strong>de</strong>ln durch die Hingabe zum Wohl <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 25Die Wirkungsgeschichte <strong>de</strong>r sittlichen Elementarerziehung <strong>von</strong> Pestalozzi istweitreichend: Das Konzept <strong>de</strong>r Volksschulbildung knüpfte an seine Theorien an,ebenso wie das preußische Schulwesen. Friedrich Fröbel (1782-1852), Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rKin<strong>de</strong>rgartenerziehung im <strong>de</strong>utschen Raum, orientiert sich am „Wohnstubenmo<strong>de</strong>ll“Pestalozzis. Gustav Friedrich Dinter (1760-1833) verwen<strong>de</strong>t Pestalozzis Ansatz für <strong>de</strong>nevangelischen Religionsunterricht und für die Unterstufe <strong>de</strong>r Volksschule. FriedrichAdolf Wilhelm Diesterweg (1790-1866) entfaltet das Prinzip <strong>de</strong>r Anschauung undSelbsttätigkeit in seiner Didaktik <strong>de</strong>r Volksschule, um eine Erziehung mündigerStaatsbürger zu erreichen.3.6. Friedrich David Ernst Schleiermacher: Sittliche Erziehung als dialektischeEinführung in <strong>de</strong>n sozialkulturellen LebenszusammenhangSchleiermacher wur<strong>de</strong> 1768 in Breslau geboren und starb 1834 in Berlin. Er warTheologie und Philosoph und maßgeblich an <strong>de</strong>r preußischen Bildungsreform beteiligt.Seine Vorlesungen sind erst postum erschienen.Schleiermacher sieht die pädagogische Aufgabe als Konsequenz <strong>de</strong>r ethischenAufgabe, <strong>de</strong>shalb lautet seine Grundfrage: Wie erkennen wir das sittlich Gute? SeinerMeinung nach ist die gesellschaftlich-kulturelle Praxis vorgängig und entschei<strong>de</strong>nd,<strong>de</strong>nn in ihr erkennen wir das lebendige Ethos faktisch gelebter sittlicherÜberzeugungen.Die Existenz populärer ethischer Begriffe erklärt er sich durch dasvorwissenschaftliche Verstehen, die vorwissenschaftliche Einsicht in die Sittlichkeit, die<strong>de</strong>m Menschen innewohnt.Ethik hingegen ist die wissenschaftliche Reflexion, die Strukturanalyse <strong>de</strong>rgeschichtlichen Wirklichkeit. Erziehung wird <strong>von</strong> ihm als Teilgebiet <strong>de</strong>r Ethikverstan<strong>de</strong>n, also auch als ethische Aufgabe, die sich als Prozeß <strong>von</strong> Generation zuGeneration auswirkt.Ziel <strong>de</strong>r Erziehung ist, daß das Gesamtleben erhalten und verbessert(„versittlicht“) wird. Die Dialektik dieses Zusammenhangs ist allerdings zu beachten.Die Erziehung ist also dann been<strong>de</strong>t, wenn die Selbsttätigkeit <strong>de</strong>n Einflüssen an<strong>de</strong>rervorgeordnet wird.Eine dialektische Beziehung besteht bei Schleiermacher auch zwischenIndividualität und Sozialität in <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r Jugendlichen, zwischen Realitätund I<strong>de</strong>alität und zwischen Gegenwarts- und Zukunftsbezug. Im Laufe <strong>de</strong>r


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 26Entwicklung geschieht eine Vergeistigung <strong>de</strong>r Natur, es zeigt sich ein edukativausgelegter Fortschrittsoptimismus. Der Heranwachsen<strong>de</strong> soll einen Bezug sowohl zurZukunft, aber auch zur Gegenwart aufbauen.Erziehung ist eine Einführung und Einübung in die Lebensgemeinschaft,aber Erziehung ist auch dafür verantwortlich, daß <strong>de</strong>r Zögling zu einer freien,mündigen Person wer<strong>de</strong>n kann. Dafür konstatiert Schleiermacher drei Grundaufgaben<strong>de</strong>r Erziehung: Behütung, Unterstützung und Gegensteuerung. Behütet soll <strong>de</strong>rHeranwachsen<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n vor Überfor<strong>de</strong>rung, Gefahren und Schä<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nen er selbstnicht gewachsen ist. Man muß ihm aber auch einen Raum geben, <strong>de</strong>r ihm selbsttätiges<strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> sichert und ermöglicht. Unterstützt wer<strong>de</strong>n soll das Gute im Jugendlichen.Seine Zuversicht soll geweckt und gestärkt wer<strong>de</strong>n, die ihn immer handlungsfähigermacht. Die Gegensteuerung bezieht sich auf das Böse und Schädliche, das <strong>de</strong>m Sinn<strong>de</strong>r Erziehung entgegenstehen kann.Die ethische Erziehung darf nicht nach einer Seite, Gesellschaft o<strong>de</strong>r Zögling,hin aufgelöst wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r unauflöslichen Dialektik muß auch hier Rechnung getragenwer<strong>de</strong>n.Schleiermachers Mo<strong>de</strong>ll beeinflußte viele Pädagogen sowohl <strong>de</strong>r Weimarer Zeitals auch solche nach 1945, z.B. Wilhelm Dilthey (1833-1911) o<strong>de</strong>r Wolfgang Klafki.3.7. Johann Friedrich Herbart: Didaktik als Lehre vom erziehen<strong>de</strong>n UnterrichtHerbart wur<strong>de</strong> 1776 in Ol<strong>de</strong>nburg geboren und starb 1841 in Göttingen. SeineLehre steht in Kantscher Nachfolge. 1806 schrieb er seine „Allgemeine Pädagogik aus<strong>de</strong>m Zwecke <strong>de</strong>r Erziehung abgeleitet“. Herbart war Philosoph und Pädagoge.Ausgangspunkt ist bei Herbart die Bildsamkeit <strong>de</strong>s Zöglings. Als Ziel <strong>de</strong>rErziehung sieht er die Selbstfindung <strong>de</strong>s Zöglings an, die darin besteht, das Gute zuwählen und das Schlechte zu verwerfen. Dadurch entstehe Charakterbildung undTugend.Dabei han<strong>de</strong>lt es sich um eine realistische psychologische Position: Die Weltsteht uns objektiv gegenüber und ist in ihren Gesetzen prinzipiell erkennbar. Die Seeleals ein Gefüge <strong>von</strong> Vorstellungen enthält auch <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>s Menschen. Dieser Willeist über solche Vorstellungen an die Wirklichkeit gebun<strong>de</strong>n. Die Vorstellungen wer<strong>de</strong>nreflektierend bearbeitet und gelangen dann zu Klarheit und Ordnung, zu einergeordneten Bewußtheit. So kommt es zur Ausbildung eines Gedankenkreises 14 , <strong>de</strong>r14 ???


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 27Motivationsgrund eines vom Willen geleiteten <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s ist. Die Wirklichkeit <strong>de</strong>r Weltwird in Gedanken gleichsam nachkonstruiert.Herbart zufolge ist Unterricht immer erziehen<strong>de</strong>r Unterricht, Erziehungimpliziert immer auch Unterricht. Die Bildung <strong>de</strong>s Gedankenkreises ist für ihn einwesentliches Ziel <strong>de</strong>r Erziehung, die <strong>de</strong>m Heranwachsen<strong>de</strong>n Moralität, Charakterstärkeund Tugend vermitteln soll.Sittliches <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> soll aufgrund <strong>von</strong> Einsichten geschehen, die durchWahrnehmung <strong>von</strong> Gutem und Schönem gewonnen wer<strong>de</strong>n (ästhetischer Zugang zurSittlichkeit). Es geht um die Bestimmung und Weiterführung <strong>de</strong>s Interesses am sittlichen<strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>. Die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>r Vernunft, nämlich innere Freiheit, Vollkommenheit,Wohlwollen, Recht und Billigkeit sollen in <strong>de</strong>m Unterricht, welcher zur sittlichenCharakterstärke beiträgt, geför<strong>de</strong>rt und gestärkt wer<strong>de</strong>n, so Herbart. Er nennt zu diesemZweck drei Mittel <strong>de</strong>r Erziehung:1. Regierung: Hierbei geht es um die Bestimmung und Ordnung <strong>de</strong>s äußerenVerhaltens <strong>de</strong>s Lernen<strong>de</strong>n. Disziplin ist die Voraussetzung <strong>de</strong>s Lernens.2. Zucht: Hier soll die innere Haltung <strong>de</strong>s Lernen<strong>de</strong>n, die Bildung <strong>de</strong>s Willensund <strong>de</strong>r Einsicht mit pädagogischem Takt und Autorität gestärkt wer<strong>de</strong>n(Gesinnungsbildung, Ermutigung).3. Unterricht: Ziel <strong>de</strong>s Unterrichts ist es, <strong>de</strong>n Gedankenkreis klären, weiten,för<strong>de</strong>rn und ordnen zu helfen, und zwar im Rückgriff auf die Erfahrungen <strong>de</strong>rSchüler.Herbart konstatiert vor diesem Hintergrund drei Formen <strong>von</strong> Unterricht: a)darstellen<strong>de</strong>n Unterricht (neue Erfahrungen wer<strong>de</strong>n vorgestellt), b) analytischenUnterricht (vorliegen<strong>de</strong> Erfahrungen wer<strong>de</strong>n analysiert), c) synthetischen Unterricht (dievorliegen<strong>de</strong>n Erfahrungen wer<strong>de</strong>n geklärt, geordnet, zusammengeführt). In allen Fällenist es wichtig, daß <strong>de</strong>r Unterricht geglie<strong>de</strong>rt abläuft.Das sog. Herbartsche Stufenschema, das sich an Schemata <strong>de</strong>r Psychologieorientiert, spricht <strong>von</strong> vier verschie<strong>de</strong>nen Elemente <strong>de</strong>r Unterrichtsartikulation:1. Klarheit <strong>de</strong>s EinzelnenIn dieser Phase <strong>de</strong>r Wahrnehmung geht es um die Analyse <strong>de</strong>r Situationdurch <strong>de</strong>n Lehrer, mit <strong>de</strong>m Ziel, Klarheit zu schaffen. Der Lehrer muß sichdabei an <strong>de</strong>m orientieren, was <strong>de</strong>r Schüler schon weiß und was er sichvorstellen kann. Die Vorstellungen wer<strong>de</strong>n dann in ihrer je gegeben Lageerkannt und erlernt.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 282. Assoziation <strong>de</strong>s VielenNeu gewonnene Vorstellungen wer<strong>de</strong>n eingeführt und mit <strong>de</strong>n schongegebenen Vorstellungen assoziiert. Der Lehrer muß dabei ein entwickeln<strong>de</strong>sGespräch anleiten.3. Ordnen <strong>de</strong>s Assoziierten: SystemDas Assoziierte wird mit <strong>de</strong>n zuvor geklärten Vorstellungen zusammengesetzt (Integration) und auf eine Regel, ein Ergebnis, einen Begriff gebracht.4. Übung im Fortschreiten: Metho<strong>de</strong>Das gewonnene Ergebnis wird auf neue Fälle und Aufgaben angewen<strong>de</strong>t. Esgeht hierbei um <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> über <strong>de</strong>n Begriff hinaus, um Übung.Es wird <strong>de</strong>utlich, daß das Lernen nach Herbart einem rhythmisieren<strong>de</strong>nVerlauf folgt. Die sittliche Erziehung bleibt auf die Erfahrung und <strong>de</strong>n Umgang mitWelt rückbezogen. Erzieherischer Unterricht ordnet <strong>de</strong>n Gedankenkreis.Wirkungsgeschichtlich war die Position <strong>von</strong> Herbart vor allem im 19. Jh.be<strong>de</strong>utsam. Herbartianer dieser Zeit sind z.B. Tuiskon Ziller (1817-1882), WilhelmRein (1847-1929) und Otto Willmann (1839-1920). Sie verfolgten <strong>de</strong>n methodischenAnsatz <strong>de</strong>r Formalstufen, <strong>de</strong>mzufolge je<strong>de</strong> Stun<strong>de</strong> in fünf Schritten verläuft:Vorbereitung, Darbietung, Verknüpfung, Zusammenfassung und Anwendung.Diese Theorie wur<strong>de</strong> im Rückgriff auf die sog. Kulturstufentheorie entwickelt, in <strong>de</strong>r esum die Entwicklung <strong>von</strong> Geschichten, Mythen und Sagen geht. Unverkennbar ist auchdie Anlehnung an <strong>de</strong>n Herbartschen Ansatz, allerdings wird <strong>de</strong>ssen I<strong>de</strong>e hier verengt undformalisiert wie<strong>de</strong>rgegeben. Auch Josef Göttler greift in seinem Katechismusunterrichtauf Herbart zurück, in<strong>de</strong>m er Lebenserfahrung als Ausgangspunkt <strong>de</strong>r religiösenKatechese propagiert.3.8. John Dewey: Sittliches Lernen auf <strong>de</strong>r Grundlage gemeinsamerErfahrungenDewey lebte <strong>von</strong> 1895 bis 1952 und war <strong>Prof</strong>essor in Chicago und New York.Sein breites pädagogisches Wirken hat er an Versuchs- und Laborschulen ausgebil<strong>de</strong>t,wo er seinen Ansatz entwickelt und erprobt hat. Von seinen Werken ist das Buch „Howto think“ zu nennen, das 1910 in englischer, 1952 in <strong>de</strong>utscher Sprache erschienen ist.1915 erschien „Democrathy and education“, das 1930, zur Zeit <strong>de</strong>r Reformpädagogik,auch in <strong>de</strong>utscher Übersetzung auf <strong>de</strong>n Markt gebracht wur<strong>de</strong>.Deweys Grundorientierung ist auf zwei Begriffe zu bringen:


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 29a) pragmatische Orientierung: relevantes, sinnvolles Lernengeschieht in Zusammenhang <strong>von</strong> rechtem Denken und <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>b) Orientierung am <strong>de</strong>mokratischen Ethos: Demokratie ist fürDewey eine Lebensform mit einem speziellen Ethos, keineHerrschaftsformDiese I<strong>de</strong>en stehen im Kontext <strong>de</strong>s amerikanischen Pragmatismus, <strong>de</strong>r besagt,daß sich erst im <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>s Denkens zeigt. Maßgeblich in dieser Richtungwar Ch. S. Peirce (1839-1914) mit seinem Werk „How to make our i<strong>de</strong>as clear“ (1878),wo er seine pragmatische Maxime formuliert: „Überlege, welche Wirkungen, die<strong>de</strong>nkbarer Weise praktische Relevanz haben könnten, wir <strong>de</strong>m Gegenstand einesBegriffenen in unserer Vorstellung zuschreiben...“. Biblisch gesprochen: „An ihrenFrüchten sollt ihr sie erkennen.“ (Mt 7,16).Wahrheit wird hier verstan<strong>de</strong>n entsprechend <strong>de</strong>r Konsenstheorie: Einebegriffliche Einsicht wird durch <strong>de</strong>n Konsens vertieft; die Wahrheit <strong>de</strong>s Denkenserweist sich erst in seiner Bewährung. Angestrebt wird ein i<strong>de</strong>aler Konsens, <strong>de</strong>r zeitlosGültigkeit hat. William James (1842-1910) hat es so auf <strong>de</strong>n Punkt gebracht: „Wahr ist,was Erfolg hat“. Das ist allerdings nicht das, was Peirce gemeint hat, <strong>de</strong>r betonen wollte,daß man die Konsequenzen seiner Handlungen berücksichtigen sollte.Deweys Position ist, daß das Denken als Instrument gebraucht wer<strong>de</strong>n kann,mit <strong>de</strong>ssen Hilfe die Probleme <strong>de</strong>s Lebens gelöst wer<strong>de</strong>n können. Die pädagogischeKonsequenz daraus ist, daß am Besten im Medium <strong>de</strong>s Tuns gelernt wer<strong>de</strong>n kann:learning by doing. Damit ist nicht bloßes Tätigsein gemeint, son<strong>de</strong>rn dasproblemorientierte, pragmatische Lernen, das auf Sammeln <strong>von</strong> Erfahrungen zielt.Denken und Lernen fin<strong>de</strong>t so immer wirklichkeitsbezogen statt. Im Lösen <strong>von</strong>Problemen zeigt sich dann die Relevanz, die Wahrheit <strong>de</strong>s Denkens.Erziehung soll nach Dewey in das Ethos und die Lebensform einer Demokratievorbereiten und einüben. Eine Schulreform ist <strong>de</strong>shalb auch immer ein Moment <strong>de</strong>rGesellschaftsreform. Die Schule selbst muß diese Verän<strong>de</strong>rungen berücksichtigen und<strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratischen Lebensform entsprechen, d.h. folgen<strong>de</strong> Grundwerte undStrukturen vertreten: Selbstverantwortung, Selbstbestimmung und Mitbestimmung,Kooperation und Verständigung, gemeinsame Verantwortung für gemeinsameAufgaben. Diese Werte sollen in <strong>de</strong>n Unterricht eingebettet sein, <strong>de</strong>r auf diese Weise zurethosbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kommunikation wird.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 30Im Unterricht soll sich nach Dewey eine starke Akzentuierung <strong>de</strong>sproblemlösen<strong>de</strong>n Denkens zeigen, das experimentelles Forschen beinhaltet. Es gehtnicht um die Vermittlung abgeschlossener Wissensbestän<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn darum zu <strong>lernen</strong>,wie man Wissen erwirbt. Ausgegangen wird dabei <strong>von</strong> „echten“ Problemen und Fragenim Lebens- und Erfahrungskontext <strong>de</strong>r Schüler, die man dort abzuholen versucht, wosie stehen. Lernen geschieht mit gemeinsamer Arbeitsplanung und gemeinsamenAbsprachen zum inhaltlichen und methodischen Vorgehen. Unterrichtliches Arbeitenvollzieht sich vorwiegend in Selbstorganisation und Selbstkontrolle.Dewey verficht in diesem Zusammenhang das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Projektunterrichts,<strong>de</strong>r allein an die Autorität <strong>de</strong>s gesetzten Lernziels gebun<strong>de</strong>n ist. Hier verständigt mansich über ein gemeinsames Ziel, erprobt verschie<strong>de</strong>ne Wege, bis man schließlich zurLösung fin<strong>de</strong>t. Auch die anschließen<strong>de</strong> Evaluation über Ziel, Inhalt und Metho<strong>de</strong>geschieht gemeinsam. Schule wird dadurch zum Lebensraum, zu einem Ort <strong>de</strong>ssozialen Lernens, Schulgemeinschaft und Schulleben wer<strong>de</strong>n positiv beeinflußt. DasI<strong>de</strong>al eines sozialen und <strong>de</strong>mokratischen Humanismus tritt hier beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlichhervor.Die Ziele <strong>de</strong>s (Projekt-)Unterrichts sind das Personwer<strong>de</strong>n durchIndividualisierung und Differenzierung, das Sozialwer<strong>de</strong>n durch Kooperation undVerständigung und die Mündigkeit zur Mit- und Selbstbestimmung durch Mit- undSelbstverantwortung.Die Wirkungsgeschichte <strong>de</strong>s Ansatzes <strong>von</strong> Dewey ist bis heute ungebrochen.W. Patrick entwickelte die Projektmetho<strong>de</strong> weiter. In <strong>de</strong>r Weimarer Zeit war v.a. GeorgKerschensteiner (1854-1932) einflußreich, <strong>de</strong>r die Arbeitsschulbewegung (manuelleArbeitsschulen, berufsbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Schulen) ins Leben rief. Dieser Bewegung schloß sichHugo Gandig (1860-1923) für <strong>de</strong>n gymnasialen Bereich an. Er setzte sich dafür ein, dasfreie geistige Arbeiten als „Schularbeit“ anzuerkennen. Weitere Vertreter sind PeterPetersen und Adolf Reichwein.3.9. Zusammenfassung in sechs Punkten1. <strong>Ethisch</strong>e Erziehung erfolgt im Kontext <strong>de</strong>s ihr vorgängigen Lebens. Es ist<strong>de</strong>shalb auf <strong>de</strong>n Umgang zu achten, in <strong>de</strong>m die Kin<strong>de</strong>r stehen (mit Menschenund Dingen). Vor aller Erziehung han<strong>de</strong>ln wir. Deshalb ist ethischeErziehung vorgängig zur ethischen Reflexion, die die Wertorientierungbegrifflich in Maximen faßt und so ins Bewußtsein hebt, prüfend kritisiert


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 31und vorantreibt. Vorgängig ist auch die Anschauung vorbildlichen<strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s. <strong>Ethisch</strong>e Erziehung hat die Aufgabe einer lebensbegleiten<strong>de</strong>nFör<strong>de</strong>rung und Begleitung 15 .2. <strong>Ethisch</strong>e Erziehung geht vom <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> in einem konkretenLebenszusammenhang aus und zielt auch darauf. Es geht darum, Kompetenzfür das <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> in <strong>de</strong>n „Lebenskrisen“ (Schleiermacher) zu vermitteln.Die vorgefun<strong>de</strong>ne Gesellschaft kann dann weitergeführt wer<strong>de</strong>n. In Kindheitund Jugend fin<strong>de</strong>t noch eine Entlastung vom Ernst <strong>de</strong>s Lebens statt. DieSchule ist zwar ein Ort <strong>de</strong>s Lebens, aber nicht <strong>de</strong>s Lebens insgesamt. <strong>de</strong>shalbmuß ethische Erziehung in Werte eingebun<strong>de</strong>n sein, die auch das spätereLeben bestimmen können (Einübung in die Praxis <strong>de</strong>s <strong>de</strong>mokratischenEthos).3. <strong>Ethisch</strong>e Erziehung ist immer geleitet vom „Bild“ <strong>de</strong>s Menschen, seinerWirklichkeiten und Möglichkeiten (Anthropologie). Sie geht also <strong>von</strong> einerAntwort auf die Frage aus, was <strong>de</strong>r Mensch ist und sein kann o<strong>de</strong>r soll. Sie<strong>de</strong>ckt gewissermaßen seine wahre personale, sozial-kulturelle, natürliche,transzen<strong>de</strong>nte Bestimmung auf. Sittlichkeit meint eben nicht nur instinktives<strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> o<strong>de</strong>r gesellschaftliche Anpassung, son<strong>de</strong>rn eine innovativeWeiterentwicklung zur Versittlichung <strong>de</strong>r Gesellschaft.4. Die Religion bzw. Weltanschauung spielt in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Ansätzenzur ethischen Erziehung eine verschie<strong>de</strong>n gewichtige Rolle. Für Sokrates istdas konkrete Gewissensurteil die Stimme Gottes in uns. Comenius ist <strong>von</strong>einer transzen<strong>de</strong>nten Verwiesenheit <strong>de</strong>s Menschen ausgegangen, währenddiese für Francke gestört erschien: <strong>de</strong>r Böse Eigenwille <strong>de</strong>s Menschen mußteerst gebrochen wer<strong>de</strong>n. Bei Rousseau hat die Natur <strong>de</strong>s Menschentranszen<strong>de</strong>nte Qualität und gilt als Ort <strong>de</strong>r Offenbarung Gottes i<strong>de</strong>ntifiziert.Für Pestalozzi ist die Religion die eigentliche Motivation sittlichen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s,da <strong>de</strong>r Mensch transzen<strong>de</strong>ntal zur gläubigen Liebe bestimmt ist. SpätereAnsätze verzichten auf die transzen<strong>de</strong>nte Begründung <strong>de</strong>r Sittlichkeit. Siesehen die Erziehungswissenschaft dann als Geistes- o<strong>de</strong>r empirischeWissenschaft.5. Alle Mo<strong>de</strong>lle beschreiben Mittel und Wege ethischer Erziehung inunterschiedlicher Akzentsetzung. Die Be<strong>de</strong>utung <strong>von</strong> Anschauung und15 vgl. drei Aufgaben <strong>de</strong>r Erziehung bei Schleiermacher: Behütung, Beschützung, Verantwortung


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 32Vorstellungskraft wird bei allen Vertretern hervorgehoben, ebenso wie dieBe<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Übens und <strong>de</strong>r Praxis im <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> als frei verantwortlichesTun. Durch die Einsicht in Voraussetzungen und Folgen kann ethisch gelerntwer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Intuition kommt dabei eine ebensolche Be<strong>de</strong>utung zu wie <strong>de</strong>mGewissen. Der ethische Anspruch wird personalisiert, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r ganzeMensch nimmt <strong>de</strong>n ethischen Anspruch auf und versucht, ihm durch seinPersonwer<strong>de</strong>n gerecht zu wer<strong>de</strong>n.6. Erziehung (Mündigkeit), Bildung (subjektive Weltaneignung) undUnterricht (Mittel <strong>de</strong>r Bildung und Erziehung) sind dialektischaufeinan<strong>de</strong>r bezogen. Der Gedankenkreis <strong>de</strong>r Schüler soll geordnet undgeweitet wer<strong>de</strong>n, das Lernen ist immer kulturell kontextiert.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 334. <strong>Ethisch</strong>es <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> im Wer<strong>de</strong>n – Die entwicklungspsychologischePerspektive (SCHWERPUNKTKAPITEL!!!)Konkretes <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> ist nie nur situationsbedingt, son<strong>de</strong>rn hängt auch <strong>von</strong>situationsübergreifen<strong>de</strong>n Einstellungen ab, die Ergebnis personalen Reifens und sozialenLernen sind.4.1. Zum Begriff <strong>de</strong>r EntwicklungSCHWERPUNKT!!!Literatur:Ralf Oerter: Entwicklung, in: Dieter Lenzen / Klaus Mollenhauer (Hg.): Theorien und Grundbegriffe <strong>de</strong>rErziehung und Bildung. (= Enzyklopädie <strong>de</strong>r Erziehungswissenschaften 1) Stuttgart 1983,379-382.Im Laufe <strong>de</strong>r Lebensgeschichte geschieht eine fortschreiten<strong>de</strong> Differenzierung<strong>von</strong> Wirklichkeit und Möglichkeit. Die menschliche Entwicklung geschieht in <strong>de</strong>r Zeit.Durch <strong>de</strong>n Zeitbezug <strong>de</strong>r Erziehung geschieht auch ein Erfahrungsbezug, <strong>de</strong>r dasganze Leben mit einbezieht. Der Lernprozeß <strong>de</strong>r Entwicklung en<strong>de</strong>t nie, auch wennbeson<strong>de</strong>re Ereignisse o<strong>de</strong>r Einschnitte beson<strong>de</strong>rs ausschlaggebend o<strong>de</strong>r prägend sind.Das Verständnis dieser Entwicklung ist immer personenvermittelt, <strong>de</strong>shalb gibtes verschie<strong>de</strong>ne Mo<strong>de</strong>lle zur menschlichen Entwicklung.a) Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s organischen WachstumsDie Lebensgeschichte wird als organisches Wachstum verstan<strong>de</strong>n, alszweck- und zielgerichtetes Geschehen, in <strong>de</strong>ssen Verlauf es zurEntfaltung <strong>de</strong>r Vollgestalt kommen soll (z.B. Aristoteles).b) Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r tabula rasaEntwicklung geschieht durch Lernen und Erfahrung. Die Entwicklungwird <strong>von</strong> außen angestoßen, vorher ist das Kind ein „unbeschriebenesBlatt“c) Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s inneren (endogenen) ReifensDieses Mo<strong>de</strong>ll vertraten z.B. Leibnitz und Rousseau. Auch Fröbel, <strong>de</strong>rBegrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rgartens, spricht da<strong>von</strong>, daß die Kin<strong>de</strong>r wachsen undReifen müssen; Erzieher sind <strong>de</strong>shalb auch Kin<strong>de</strong>r-Gärtner. Es gibt eineninneren Antrieb zur Entwicklung, nämlich die Tatsache, daß Reife„naturwüchsig“ ist. Der Erzieher begleitet dabei.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 34Der Entwicklungspsychologe Paul B. Baltes unterschei<strong>de</strong>t zwischen dreifunktionalen Prozessen <strong>de</strong>r Entwicklung (Beschreibungsmo<strong>de</strong>lle):1) Entwicklung als Wachstum und Differenzierung <strong>de</strong>r Teilsysteme2) Entwicklung als Integration (Teilsysteme wer<strong>de</strong>n miteian<strong>de</strong>r strukturiert)3) Entwicklung als KanalisierungErgänzend dazu existieren verschie<strong>de</strong>ne Erklärungsmo<strong>de</strong>lle für die Fragen, obEntwicklung mehr <strong>von</strong> natürlicher Anlage o<strong>de</strong>r mehr <strong>von</strong> Umwelteinflüssen bestimmtwird und wie Reifen und Lernen sich aufeinan<strong>de</strong>r beziehen lassen:• Beispiel 1: ökologisches Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>von</strong> U. BronfenbrennerExogene (Umwelt) und endogene Faktoren (Anlage) haben bei<strong>de</strong> Einflußauf die Entwicklung <strong>de</strong>s Heranwachsen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r eine selbstregulieren<strong>de</strong>Aktivität er<strong>lernen</strong> soll. Es geht um die Personwerdung <strong>de</strong>s Menschen durchdie drei Entwicklungsstufen Personalisation, Sozialisation und Inkulturation.• Beispiel 2: kognitives Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>von</strong> Jean PiagetNach Piaget geschieht Entwicklung durch zwei Prozesse, durch die sichSubjekt und Umwelt aufeinan<strong>de</strong>r beziehen: Assimilation undAkkomodation. Assimilation meint hierbei die kognitive Erfassung <strong>de</strong>rWirklichkeit mittels Schemata. Ich stelle z.B. fest, daß es Autos gibt.Akkomodation meint die Ausdifferenzierung <strong>de</strong>s kognitiv Erkannten, z.B.daß es sich bei diesen Autos um PKW o<strong>de</strong>r LKW han<strong>de</strong>ln kann. Erziehungist <strong>de</strong>mnach ein die Entwicklung begleiten<strong>de</strong>s und auf die Lebensweltbezogenes <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> (Äquilibration).Die menschliche Entwicklung hat offensichtlich kein festes, erkennbares Ziel. Esgeht um Normen und Werte, die in einem komplexen Entwicklungsprozeß als wahr undrichtig erkannt wer<strong>de</strong>n. Verschie<strong>de</strong> Entwicklungsprozesse folgen dabei einer bestimmtenReihenfolge. Dabei ist zu beachten, daß Differenzen zwischen kognitiven undaffektiven Entwicklungen auftauchen können (age changes, age differences).


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 354.2. Entwicklung und Lebenslauf: Biographisch orientierte Mo<strong>de</strong>lle personalerEntwicklung4.2.1. Gordon W. Allport: Das Wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r PersönlichkeitAllport lebte <strong>von</strong> 1897-1967 in <strong>de</strong>n USA. Er lehrte in Harvard Sozialethik undPsychologie.Allport untersuchte die personale Entwicklung im Kontext <strong>von</strong> Lebensläufenund richtete sich dabei gegen Ansätze, die die Entwicklung mit Hilfe <strong>von</strong> Reduktionenzu erklären versuchen, z.B. die Psychoanalyse (biologische Reduktion aufTriebmechanismen) o<strong>de</strong>r die behavioristische Verhaltensforschung, die Entwicklung alsreaktive soziale Anpassung auffaßt.Allport möchte die personalen Entwicklung so untersuchen, daß er <strong>de</strong>nMenschen als Menschen versteht (humanistische Psychologie) 16 . Das Ziel <strong>de</strong>rEntwicklung und <strong>de</strong>s menschlichen Lebens sieht er dann erlangt, wenn esselbstbestimmt und sinnvoll gewor<strong>de</strong>n ist (Autonomie).Das Ich ist also das Proprium <strong>de</strong>r biographisch orientiertenEntwicklungsforschung und kann selbst nicht Gegenstand <strong>de</strong>r Forschung sein.Untersucht wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>shalb die Funktionen <strong>de</strong>s Ichs, die verschie<strong>de</strong>nen Aspekte <strong>de</strong>rPersönlichkeit. Er spricht in diesem Zusammenhang <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Rehabilitierung <strong>de</strong>s Ich, <strong>de</strong>sSelbst und <strong>de</strong>r Persönlichkeit. Da die zukunftsorientierte Perspektive <strong>de</strong>s Menschen nachSinn sucht, ist das Leben <strong>de</strong>r Raum <strong>de</strong>r Freiheit, <strong>de</strong>n es selbstbestimmt zu gestalten gilt.Allport unterschei<strong>de</strong>t zwischen peripheren (d.h. selbstverständlicheGewohnheiten) und zentralen Momente <strong>de</strong>r Persönlichkeit (dazu zählt <strong>de</strong>r Sinn dafür,„was zu mir gehört“ [= Propriumsmomente]). Das Ich enthält Erinnerungen an das, waswar (Perzeption), aber auch Erwartungen in Bezug auf seine Zukunft (Prozeption). DieEntwicklung gestaltet sich vor diesem Hintergrund als progressive Ausdifferenzierung<strong>de</strong>r Ich-Funktionen. Sie tut dies auf acht Stufen (= Proprium-Aspekte):1. Körper-Sinn: Basiserfahrung <strong>de</strong>s körperlichen Daseins und seinerKontingenz2. Selbsti<strong>de</strong>ntität: Erfahrung <strong>de</strong>r eigenen Kontinuität im sozialen Kontext,Unterschiedlichkeit zu an<strong>de</strong>ren Personen16 Begrün<strong>de</strong>r: Maslow, Bühler, Allport.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 363. Ich-Erhöhung: Erfahrung <strong>de</strong>s Selbstwertes, <strong>de</strong>r Selbstliebe und <strong>de</strong>rSelbstbehauptung4. Ich-Aus<strong>de</strong>hnung: Das Ich integriert sich in die Dinge und Personen <strong>de</strong>rUmwelt; soziale Beziehungen weiten sich, die Umwelt wird gestaltet5. Rationales Ich: Lebensplanung und –gestaltung durch das Ich in einerrationalen Bewußtheit6. Selbst-Bild: Ich entwickelt sich, bekommt eine Vorstellung da<strong>von</strong>, was es istund was es gerne sein möchte; Wert- und Sinnkonzepte7. Eigen-Streben: intentionale Ausrichtung auf die Verwirklichung <strong>de</strong>sSelbstbil<strong>de</strong>s; sinnvolle Lebensplanung und die Ausbildung einerwertorientierten Handlungsstrategie wird möglich. Durch diesen Willen zumSinn kommt es zur Sinnorientierung als Rahmenorientierung eines erfülltenLebens.8. Wissen<strong>de</strong>r: Ich-Funktionen wer<strong>de</strong>n erkannt, reflektiert; Gestaltung <strong>de</strong>rZukunft in eigener VerantwortungZiel <strong>de</strong>r Entwicklung ist nach Allport die Reifung, d.h. immer mehr Aspekte <strong>de</strong>rPersönlichkeit, <strong>de</strong>s Propriums, sollen erkannt und integriert wer<strong>de</strong>n. Es geht um eineÜberwindung <strong>de</strong>r rein reaktiven Anpassung aufgrund infantiler Bedürfnisse. Dieeigene Position muß immer wie<strong>de</strong>r selbst reflektiert wer<strong>de</strong>n, sodaß es schließlich zurEntwicklung einer eigenen integrativen Lebensphilosophie kommt.4.2.2. Exkurs: Motivationen <strong>de</strong>r Entwicklung und GewissensbildungNach Maslow kann Entwicklung entwe<strong>de</strong>r aus einer Mangelmotivation herausgeschehen und zielt dann auf Bedürfnisbefriedigung (z.B. Schlaf, Hunger). Dabeihan<strong>de</strong>lt es sich um ein biologisches Verständnis. Entwicklung kann sich aber auch einerWachstumsmotivation verdanken, und zwar dann, wenn das Interesse an Neuem undUnbekanntem <strong>de</strong>n Heranwachsen<strong>de</strong>n vorantreibt, seiner Persönlichkeit auf die Spur zukommen. Dabei spielen die menschlichen Bedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit,Liebe, Geltung und Selbstverwirklichung eine Rolle. Damit Sinnorientierung gefun<strong>de</strong>nwer<strong>de</strong>n kann, müssen zunächst die „nie<strong>de</strong>ren“ Triebe befriedigt sein. Danach könnenauch die „höheren“ Bedürfnisse realisiert wer<strong>de</strong>n, Sinnfindung undSelbstverwirklichung wird möglich.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 37Im Personenkern erfolgt <strong>de</strong>r Motivation <strong>de</strong>r Entwicklung entsprechend eineGewissenbildung in drei Stufen:1. I<strong>de</strong>ntifikation mit <strong>de</strong>n äußeren Normen2. Ausbildung <strong>de</strong>s Selbstbil<strong>de</strong>s (i<strong>de</strong>ale Gestalt <strong>de</strong>ssen, was ich sein will)3. Autonomie (Entwicklung einer eigenen Lebensphilosophie [self-quidance];Möglichkeit, das Leben selbst zu führen; objektive Wertgestaltung, autonomeMoralität)Im Gewissen erfolgt die Bindung an einen übergreifen<strong>de</strong>n Wert in Freiheit undAutonomie.4.2.3. Erik H. Erikson: Entwicklung durch Integration phasenspezifischerGrundkonflikte im Laufe <strong>de</strong>r LebensgeschichteSCHWERPUNKT!!!Literatur:Erik H. Erikson: I<strong>de</strong>ntität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt/M. 1966, 55-75.Der Psychoanalytiker Erikson lebte <strong>von</strong> 1922-1994. In seinen Werkenbeschäftigte er sich mit „Jugend und Krisen“, „I<strong>de</strong>ntität und Lebenszyklus“ und„Wachsen und Krisen“ usw.Seine Forschung geht <strong>von</strong> folgen<strong>de</strong>n Grundannahmen aus:1. Entwicklung geschieht aufgrund phasenspezifischer moralischerTriebimpulse. Diese Annahme hat Erikson <strong>von</strong> Siegmund Freudübernommen. Erikson erweitert <strong>de</strong>ssen Theorie <strong>de</strong>r psychosexuellenTriebimpulsen um die psychosozialen Impulse. EmotionaleDispositionen sind sozialisierte Triebe; sie vermitteln zwischenindividuellen Trieben und sozialen For<strong>de</strong>rungen.2. Die psychologische Entwicklung wird hauptsächlich vom Umfeldbestimmt, d.h. <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Interaktionen in sozialen Beziehungen. Einegesun<strong>de</strong> Entwicklung geht <strong>de</strong>shalb folgen<strong>de</strong>rmaßen <strong>von</strong>statten: DerHeranwachsen<strong>de</strong> erwirbt sich im Kontakt mit <strong>de</strong>r Natur und an<strong>de</strong>renPersonen soziale Grun<strong>de</strong>instellungen, die emotionalen Dispositionenentsprechen. In enwicklungsbedingten Krisen begegnet <strong>de</strong>rHeranwachsen<strong>de</strong> Aufgaben, die eine Lösung verlangen; diese Krisensen<strong>de</strong>n (bei <strong>de</strong>r Suche nach einem Lösungsweg) bestimmte Triebimpulse,die die emotionalen Dispositionen antreiben. Durch die Bewältigung <strong>de</strong>rKrise kommt es zum Fortschritt <strong>de</strong>r Persönlichkeit.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 38Mit Jehoda lassen sich <strong>de</strong>shalb drei Merkmale einer gesun<strong>de</strong>n Persönlichkeitfeststellen. Sie kann:a) ihre Welt aktiv meistern,b) sich integrieren,c) sich und die Welt richtig erkennen, die Realitäten angemessenwahrnehmen.Erikson beschreibt ebenfalls acht Phasen <strong>de</strong>r Entwicklung, die alle aufeinan<strong>de</strong>raufbauen. Ihr Verlauf entspricht physischem, psychischem und sozialem Wachstum.Das Ziel besteht darin, ja zur eigenen Endlichkeit sagen und seine Integration in <strong>de</strong>neinzelnen Phasen fin<strong>de</strong>n zu können. Die ethische Erziehung soll dabei konkreteHilfestellung geben, damit es zur Entwicklung einer sittlichen Person kommen kann.1. SäuglingsalterEs herrscht eine polare Spannung zwischen Urvertrauen und Mißtrauen.Vertrauen wird in erster Linie über die Bezugs- und Erziehungsperson <strong>de</strong>rMutter empfangen. Trennungen und die Erfahrung <strong>de</strong>s Verlassenwer<strong>de</strong>nsführen allerdings zu Mißtrauen. Das Motto <strong>de</strong>s Säuglings lautet: „Ich bin,was man mir gibt.“ Sigmund Freud spricht vom „ozeanischen Gefühl“: dasKind ist nicht fähig, zwischen sich und <strong>de</strong>r Außenwelt zu unterschei<strong>de</strong>n.2. KleinkindalterEine gewisse Autonomie steht in Spannung mit <strong>de</strong>m Zweifel und <strong>de</strong>r Scham.Die Autonomie entsteht durch die Erfahrung, daß es an<strong>de</strong>re Menschen gibt,die meinen persönlichen Respekt vor ihrer Freiheit einfor<strong>de</strong>rn. Zu Scham undZweifel kann es über <strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>r Selbstkontrolle und <strong>de</strong>r Erfahrung <strong>de</strong>rAbhängigkeit <strong>von</strong> an<strong>de</strong>ren kommen.3. SpielalterDas Gewissen wird hier ausgebil<strong>de</strong>t. Das Vertrauen, das man noch in <strong>de</strong>rPhase <strong>de</strong>r Abhängigkeit hatte, ermöglicht nun eine gewisse Unabhängigkeitund Initiative. Diese steht in Spannung mit Schuldgefühlen, die beiFehlverhalten entstehen. Sie setzen voraus, daß das Kind eine Vorstellungda<strong>von</strong> hat, was sein kann und was sein soll. Es lernt die Übernahme <strong>von</strong>Verantwortung, in<strong>de</strong>m es am Leben <strong>de</strong>r Großen teilnimmt. Sein Motto lautet:„Ich bin, was ich mir vorstellen kann zu sein.“4. Schulalter


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 39In dieser Phase herrscht eine Phase zwischen Werksinn undMin<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühl. Es fin<strong>de</strong>t die Einführung in kulturelle Aktivitätstatt. Unter Werksinn versteht Erikson dabei das Gefühl nützlich zu sein un<strong>de</strong>twas machen zu können, Lust an <strong>de</strong>r Anfertigung eines Werkes zu haben.Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite steht die Entmutigung und das Gefühl, es nieman<strong>de</strong>mRecht machen zu können. Als Motto in dieser Phase kann gelten: „Ich bin,was ich lerne.“5. AdoleszenzIn dieser Phase geschieht die Herausbildung <strong>de</strong>r Ich-I<strong>de</strong>ntität. Sie ist dasErgebnis <strong>de</strong>r sog. Ich-Synthese, d.h. <strong>de</strong>r Synthese <strong>von</strong> Ich-Werten, die in <strong>de</strong>rKindheit erfahren und gesammelt wur<strong>de</strong>n. Die grundsätzliche Polarität spieltsich hier zwischen I<strong>de</strong>ntität und I<strong>de</strong>ntitätsdiffusion ab. I<strong>de</strong>ntität be<strong>de</strong>utet, daßein durch Erfahrung gewonnenes Vertrauen darauf besteht, daß man auch in<strong>de</strong>n Augen an<strong>de</strong>rer die Ich-Synthese kontinuierlich vollziehen, d.h. Wertesammeln und in seine Persönlichkeit integrieren kann. An<strong>de</strong>rerseits sieht mansich einer ungewissen Zukunft entgegengehen und fragt in Abgrenzung <strong>von</strong>an<strong>de</strong>ren ständig nach <strong>de</strong>r eigenen I<strong>de</strong>ntität (Bin ich ein richtiger Mann / einerichtige Frau? Wer bin ich? Wie sehen mich die an<strong>de</strong>ren?).6. Frühes ErwachsenenalterDie Polarität spielt sich hier zwischen Intimität und Isolierung ab, daPartnerbeziehungen nun ernsthaft wachsen und sich auf eine Zukunft hingerichtet sehen. Die Spannung ist in <strong>de</strong>m Ausspruch „Es gibt nur wahreZweiheit, wenn man mit sich selbst eine Einheit ist“ auf <strong>de</strong>n Punkt gebracht.7. ErwachsenenalterEs besteht ein grundsätzliches Interesse an <strong>de</strong>n schöpferischen Leistungen, an<strong>de</strong>r Zeugung und Erziehung <strong>de</strong>r nächsten Generation. Hier zeigt sich einVertrauen in <strong>de</strong>n Lebenszusammenhang, <strong>de</strong>r über die eigene Biographiehinausgeht, gewissermaßen ein Vertrauen in die Gattung. Der Gegenpol zudieser Generativität ist die Stagnation.8. Reifes ErwachsenenalterDie Spannung besteht in dieser Entwicklungsphase zwischen Integrität undVerzweiflung und „Lebensekel“. Entwe<strong>de</strong>r man kann das Leben, wie es war,annehmen und in <strong>de</strong>n Gesamtzusammenhang <strong>de</strong>s Lebens integrieren. Dannsagt man auch Ja zur Endlichkeit, zur relativen Realisierung <strong>de</strong>s eigenen


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 40Lebens. Kann man es nicht, verzweifelt man letztlich am eigenen Leben.Erikson weist darauf hin, daß es sich bei <strong>de</strong>r Integration um eine lebenslangeAufgabe han<strong>de</strong>lt. Er versucht Antworten auf die Fragen zu fin<strong>de</strong>n, wieErkrankungen vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n können und welche Hilfestellungen man fürein gesun<strong>de</strong>s Leben geben kann. Hier zeigt sich sein humanistisches Interessean einem guten und gelungenen Leben. Die sittliche Person das Ziel und dielebenslange Aufgabe <strong>de</strong>s menschlichen Lebens und <strong>de</strong>r ethischenEntwicklung.vgl. Mat IV und V: Phasenmo<strong>de</strong>ll <strong>von</strong> Erikson4.3. Die Entwicklung <strong>de</strong>s moralischen Urteils4.3.1 Jean Piagets Untersuchung zur Entwicklung <strong>de</strong>s moralischen UrteilsSCHWERPUNKT!!!Literatur:Reinhard Fatke: Jean Piaget, in: Hans Scheuerl (Hg.): Klassiker <strong>de</strong>r Pädagogik, Band 2. München 1979,290-314.Piaget lebte 1896 bis 1990 in <strong>de</strong>r Schweiz. Er war einer <strong>de</strong>r be<strong>de</strong>utendstenEntwicklungspsychologen <strong>de</strong>s letzten Jahrhun<strong>de</strong>rts und lehrte an <strong>de</strong>r Universität in Genf.Seine Forschungen befaßten sich vor allem mit kognitiven Strukturen, <strong>de</strong>renqualitative Verän<strong>de</strong>rungen er beobachtete (experimentelle Metho<strong>de</strong>n v.a. durchGespräche) und sie logisch-mathematisch beschrieb. Die Leitfrage lautete: Wieentwickeln sich Denkstrukturen? Schwerpunktmäßig befaßte er sich mit <strong>de</strong>rthematischen Erforschung <strong>de</strong>r Intelligenzentstehung und –entwicklung, wobei erunter Entwicklung <strong>de</strong>n Prozeß wechselseitiger Anpassung <strong>von</strong> Erkenntnisfähigkeit(Organismus) und Realität (Umwelt) versteht. Genetisches, d.h.entwicklungsbedingtes Lernen geschieht <strong>de</strong>shalb nicht nur durch Prägung, son<strong>de</strong>rndurch (inter-)aktives <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>. Die strukturellen Verän<strong>de</strong>rungen entsprechenverschie<strong>de</strong>nen Entwicklungsstufen, die qualitatives und quantitatives Lernen v.a. durchInteraktion ermöglichen.Bei <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s moralischen Urteils han<strong>de</strong>lt es sich seiner Meinungnach um eine allgemeine kognitive Entwicklung in drei Stufen:1. Stufe <strong>de</strong>r senso-motorischen Intelligenz


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 41Es han<strong>de</strong>lt sich hierbei um die Stufe <strong>de</strong>r frühen Kindheit bis zum 2.Lebensjahr. Der Umgang <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>r Wirklichkeit beschränkt sich aufsinnliche Wahrnehmung; durch Bewegungsabläufe wird mit <strong>de</strong>r WeltKontakt aufgenommen, es entwickelt sich eine gewisse Vertrautheit.2. Stufe <strong>de</strong>r konkreten OperationSowohl in <strong>de</strong>r voroperatorischen Stufe zwischen <strong>de</strong>m 2. und <strong>de</strong>m 7.Lebensjahr als auch in <strong>de</strong>r eigentlichen konkreten Operationen zwischen <strong>de</strong>m7. und <strong>de</strong>m 11. Lebensjahr han<strong>de</strong>lt das Kind im konkretenGegenstandsbezug. Die Intelligenz, das Denken, die konkreten Vorstellungenentwickeln sich; die Perspektive an<strong>de</strong>rer kann wahrgenommen wer<strong>de</strong>n.3. Stufe <strong>de</strong>r formalen OperationenAb <strong>de</strong>m 12. Lebensjahr kann das Kind auch über nur Mögliches o<strong>de</strong>rDenkbares nach<strong>de</strong>nken, z.B. über die Zukunft. In diesem Raum bewegt essich abstrakt schlußfolgernd. Es kann über das eigene Denken ebensonach<strong>de</strong>nken wie über das Denken an<strong>de</strong>rer, Theorien, Prinzipien und I<strong>de</strong>enverstehen.Nach Piaget ist die Abfolge dieser Stufen genau festgelegt (invariant), und zwarunabhängig <strong>von</strong> Kulturen o.ä. Es geht um ein organisches Wachstum, daß sich imUmgang mit Gegenstän<strong>de</strong>n und an<strong>de</strong>ren Menschen vollzieht.Piaget vertritt einen konstruktivistischen und keinen anpassungstheoretischenAnsatz: Die Schüler gelten als aktive Subjekte und „Konstrukteure“ ihres selbsttätigenLernens.Es zeigen sich die Grenzen <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls: Die Gefühlswelt als Triebfe<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>nVerhaltens wur<strong>de</strong> zunächst nicht ausreichend berücksichtigt. Die Untersuchung <strong>de</strong>rEntwicklung <strong>de</strong>s Menschen darf die Gefühle und Affekte nicht außen vorlassen, siemüssen in <strong>de</strong>r Theorie berücksichtig wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn sie spielen für die Entwicklung <strong>de</strong>rKognition eine große Rolle. Eine „Psychologie <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s“ muß immer auch affektiveFaktoren enthalten. Dabei ist zu beachten, daß affektiver und kognitiver Aspekt we<strong>de</strong>r<strong>von</strong>einan<strong>de</strong>r zu trennen noch aufeinan<strong>de</strong>r zurückzuführen sind.Piagets untersuchte einige Kin<strong>de</strong>r auf die Weise, daß er sie Stellung nehmen ließzu problemhaltigen Geschichten. Die unterschiedlichen Antworten ließen ihn auf einIneinan<strong>de</strong>r <strong>von</strong> kognitiven, affektiven und sozialen Strukturen schließen. DiesesIneinan<strong>de</strong>r ist wichtig für die Assimilation im konkreten Handlungszusammenhang:


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 42Kin<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>ner Entwicklungsstufen sehen verschie<strong>de</strong>ne Probleme und fin<strong>de</strong>nverschie<strong>de</strong>ne Lösungswege.Auf <strong>de</strong>r Basis dieser Untersuchungen beschreibt Piaget die moralischeEntwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s in drei Phasen:1. Prä-moralisches Stadium:Primäre, emotionale Affekte und Reflexe bestimmen das <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>; das Kindtut aus <strong>de</strong>m Affekt „Gutes“; es erfin<strong>de</strong>t sich selbst Regeln, die spielerischverän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.2. Moralität <strong>de</strong>s Zwangs und Tun-Ergehens-Ethik:Im Alter bis 7-8 Jahre wird Strafe als immanente Konsequenz <strong>de</strong>rRegelverletzung angesehen. Vorherrschend ist eine egozentrische Sicht <strong>de</strong>rWirklichkeit, die Sicht an<strong>de</strong>rer einzunehmen ist noch nicht möglich. Regelngelten <strong>de</strong>m Kind in diesem Alter gleichsam als „göttliches Recht“, die <strong>von</strong>einer Autorität angenommen wer<strong>de</strong>n, unaufhebbar und unverletzlich sind undunbedingt eingehalten wer<strong>de</strong>n müssen (Moralität <strong>de</strong>s Zwangs). Ab <strong>de</strong>m 7.Lebensjahr lockert sich die egozentrische Sicht, es folgt eine Phase <strong>de</strong>smoralischen Realismus, das Konzept einer vergelten<strong>de</strong>n Gerechtigkeit wirdverfochten (Tatenethik).3. Konzept <strong>de</strong>r ausgleichen<strong>de</strong>n Gerechtigkeit:Ab <strong>de</strong>m 11.-12. Lebensjahr fin<strong>de</strong>t ein Wechsel <strong>de</strong>r Phasen statt. GegenseitigeAchtung wird nun zur Quelle <strong>de</strong>s moralischen Gefühls, die Tat-Folge-Ethikhat ausgedient. Es herrscht nun eine Moralität <strong>de</strong>r Kooperation: Regelnwer<strong>de</strong>n nicht mehr nur einfach übernommen, sie wer<strong>de</strong>n mit Gleichgesinntenvereinbart und gestaltet (Theorie <strong>de</strong>s Gesellschaftsvertrags). Dies ist möglichaufgrund <strong>de</strong>s abstrakteren Denkmusters <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r in diesem Alter. Subjektivkann nun Verantwortung übernommen wer<strong>de</strong>n, ein moralischer Relativismusfin<strong>de</strong>t Beachtung: Beim <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> wer<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong> und Konsequenzenberücksichtigt. Das gegenseitige Vertrauen wird außer<strong>de</strong>m höher geschätzt,Gerechtigkeit wird reziprok verstan<strong>de</strong>n. Strafe erfolgt nun als Belehrung, diezu Besserung führen soll, da das Motiv <strong>de</strong>r Tat berücksichtigt wird. Eshan<strong>de</strong>lt sich um eine Gesinnungsethik, die sich moralisch am Prinzip <strong>de</strong>sgerechten <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s orientiert.Piaget beobachtete die Entwicklung <strong>von</strong> Heteronomie zu Autonomie, d.h. <strong>von</strong>differieren<strong>de</strong>r moralischer Orientierung zu einem Sinn für universelle Gerechtigkeit.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 43Vom Moralischen Zwang gelöst entwickelt sich <strong>de</strong>r Mensch über Kooperation zu einemmoralisch autonomen Wesen. Die Aufgabe <strong>de</strong>r Erwachsenen besteht <strong>de</strong>shalb darin,praktische Erfahrungen und hypothetische Möglichkeiten <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r zu integrieren undzu versöhnen, damit Autonomie (≠ Regellosigkeit) möglich wird.4.3.2. Lawrence Kohlbergs Stufenmo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r moralischen EntwicklungSCHWERPUNKT!!!Literatur:Anton A. Bucher: Die Theorie <strong>de</strong>r moralischen Entwicklung <strong>von</strong> Lawrence Kohlberg und seiner Schuleund die Moraltheologie, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 38 (1991), 57-82.Kohlberg lebte <strong>von</strong> 1927 bis 1987. Als Schüler <strong>von</strong> Piaget führte er <strong>de</strong>ssenStudien weiter und differenzierte sie aus. Ein wesentlicher Unterschied zu Piaget bestehtdarin, daß bei Kohlberg <strong>de</strong>r Intellekt stärker im Vor<strong>de</strong>rgrund steht als das Gefühl.Kohlberg entwickelt eine spezielle (Gesprächs-)Metho<strong>de</strong>, nämlich die <strong>de</strong>rDilemmageschichten, in <strong>de</strong>r zwei Wertvorstellungen konkurrieren: Einer Person, <strong>de</strong>renmoralische Urteile qualifiziert wer<strong>de</strong>n sollten, wur<strong>de</strong>n Dilemmageschichten vorgelegt.Man achtete dann darauf, wie zum Konflikt <strong>de</strong>r Geschichte Stellung bezogen und wiedie letztliche Entscheidung begrün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong> 17 .Aus diesen Untersuchungen entwickelt Kohlberg eineentwicklungspsychologische Stufentheorie: Das moralische Urteil entwickelt sichselbständig über Stufen. Dabei wird v.a. die kognitive Entwicklung <strong>de</strong>s Denkens in<strong>de</strong>n Blick genommen, die sich in erster Linie in <strong>de</strong>r Begründung <strong>de</strong>s Urteils zeigt. DieBegründungen wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Stufen zugeordnet, sie geben einenEinblick in das vorhan<strong>de</strong>ne Maß <strong>de</strong>r Gerechtigkeitsvorstellung. Das moralische Urteil17 z.B. Heinz-Dilemma: Heinz’ Frau ist unheilbar krank (Krebs), das Arzneimittel kostet Unmengen. Wiegeht Heinz vor? Soll er eine Bank ausrauben, um das Arzneimittel bezahlen zu können? Soll er <strong>de</strong>nApotheker bestehlen, mit ihm diskutieren o<strong>de</strong>r han<strong>de</strong>ln? O<strong>de</strong>r soll er, um illegale Handlungen zuvermei<strong>de</strong>n, seine Frau sterben lassen? (Dilemma hier nur ungefähr aus <strong>de</strong>r Erinnerung wie<strong>de</strong>rgegeben…)


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 44geht allerdings <strong>de</strong>m moralischen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> voraus und darf <strong>de</strong>shalb nicht mit ihmi<strong>de</strong>ntifiziert wer<strong>de</strong>n.Kohlberg unterschei<strong>de</strong>t drei Ebenen (levels) und sechs Stufen (stages) <strong>de</strong>smoralischen Urteils (je zwei Stufen pro Ebene). Die Stufen sind wirkliche Schritte, dienacheinan<strong>de</strong>r getan wer<strong>de</strong>n müssen. Sie können nicht übersprungen o<strong>de</strong>r vertauschtwer<strong>de</strong>n, d.h. sie sind invariant. Durch die Entwicklung geht eine hierarchischeIntegration <strong>von</strong>statten, d.h. eine höhere Stufe integriert die vorhergehen<strong>de</strong>n. Moral zeigtsich als ein Produkt <strong>de</strong>r menschlichen Ten<strong>de</strong>nz zur Empathie und Rollenübernahme. Dermoralisch <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong><strong>de</strong> wird immer mehr <strong>de</strong>m gerecht, was <strong>von</strong> ihm gefor<strong>de</strong>rt un<strong>de</strong>rwartet wird. Eine dauerhafte Regression ist bei <strong>de</strong>r Stufenentwicklung zwar möglich,wird aber nur bei außergewöhnlichen Entwicklungen (z.B. bei Neurosen o.ä.) erwartet.vgl. Mat VI: Stufen <strong>de</strong>s moralischen Urteils bei KohlbergEbene Stufe Beschreibung1vorkonventionelle Ebene2konventionelle Ebene3nachkonventionelle Ebene(autonomes Gewissen,Prinzipien)1 Gehorsamsorientierung; ausschlaggebend sind Lohn undStrafe2 instrumenteller Hedonismus; ausschlaggebend ist dieindividuelle Bedürfnisbefriedigung nach <strong>de</strong>m Prinzip dout <strong>de</strong>s: Wie du mir, so ich dir; eine Hand wäscht diean<strong>de</strong>re…3 Orientierung an interpersonalen Beziehungen <strong>de</strong>rGegenseitigkeit und an sozialen Standards;ausschlaggebend ist die Gol<strong>de</strong>ne Regel: good boy – nicegirl.4 Stufe <strong>de</strong>s sozialen Systems; systemkonformes <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>5 Orientierung am Gesellschaftsvertrag6 Orientierung an verschie<strong>de</strong>nen ethischen Prinzipien(Gol<strong>de</strong>ne Regel, kategorischer Imperativ), Achtung <strong>de</strong>rMenschenwür<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r MenschenrechteDas Ziel <strong>de</strong>r Entwicklung ist die Reifung durch die Übergänge auf dienächsthöhere Stufe (<strong>de</strong>velopement). Diese Entwicklung soll durch pädagogisches


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 45<strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> unterstützt und durch Stimulation (z.B. mittels Dilemmageschichten) geför<strong>de</strong>rtwer<strong>de</strong>n. Im Verlauf <strong>de</strong>r Stufen soll die Berücksichtigung an<strong>de</strong>rer zunehmen, <strong>de</strong>rEgozentrismus überwun<strong>de</strong>n und die Position an<strong>de</strong>rer ins eigene Urteil miteinbezogenwer<strong>de</strong>n.Bezüglich <strong>de</strong>s Stufenmo<strong>de</strong>lls gibt es allerdings einige offenen Probleme undFragen. 80% erreichen zwar die Stufe 4, nur 10% schaffen es allerdings auch bis zu <strong>de</strong>nStufen 5 und 6. Die 6. Stufe ist sowieso nicht vor <strong>de</strong>m 30. Lebensjahr zu erreichen. Hieroffenbaren sich die Grenzen pädagogischen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s und ethischer Erziehung, wiesie in <strong>de</strong>r Schule stattfin<strong>de</strong>n könnten.Außer<strong>de</strong>m gibt es das Problem <strong>de</strong>r 7. Stufe, die die Glaubensorientierungbetrifft. Es geht dabei um die Antwort auf die Frage nach <strong>de</strong>m Warum <strong>de</strong>s moralischen<strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s, letztlich um die religiös-philosophische Frage nach <strong>de</strong>m Sinn <strong>de</strong>s Lebens unddamit <strong>de</strong>m Sinn moralischen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s: Warum soll ich jenseits <strong>de</strong>s Lust-Unlust-Kalküls, <strong>de</strong>r Konvention, <strong>de</strong>r moralischen Prinzipien moralisch han<strong>de</strong>ln? Diese Frage,die Erikson die „Krise <strong>de</strong>s Erwachsenenalters“ nennt, kann innerhalb <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls und<strong>de</strong>r moraltheologischen Diskussion nicht beantwortet wer<strong>de</strong>n 18 .vgl. Mat VII: Übersicht – Thesen und Aspekte zum Kohlberg-Ansatz4.3.3. Pädagogische Konsequenzen und kritische AnmerkungenDie pädagogischen Konsequenzen aus <strong>de</strong>m Kohlberg-Mo<strong>de</strong>ll betreffen v.a.zwei Punkte:1) Kohlberg sieht die Stimulierung durch Geschichten als Möglichkeit, dasmoralische Urteilsvermögen auszubil<strong>de</strong>n. Durch die Geschichten wer<strong>de</strong>n dieMenschen vor eine Situation gesetzt, die es verlangt, sich auf eine höhere Stufezu begeben, um angemessen argumentieren zu können. Die Entwicklung <strong>de</strong>smoralischen Urteils wird angeregt und stabilisiert durch die Diskussion ineiner Gruppe.2) Es wird eine moralische Atmosphäre nach <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll einer „gerechtenKooperative“ (just community) geschaffen. Die Strukturen <strong>de</strong>r Gerechtigkeitwer<strong>de</strong>n konkret, es wird in ihnen gehan<strong>de</strong>lt und gelebt. Es geht um dieEinübung und Erprobung im realen Kontext (Bestrafung, Lohn,Verantwortung).18 Habermas rezipiert Kohlbert und greift das Problem <strong>de</strong>r 7. Stufe auf. Dort soll ein universellerpolitischer Diskurs <strong>de</strong>r Weltgemeinschaft stattfin<strong>de</strong>n (Diskursethik).


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 46vgl. Mat VIII: Komponenten einer gerechten Schul-KooperativeDie Kritik betrifft vor allem sechs Punkte:1. Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r 6. Stufe als Stufe <strong>de</strong>r Orientierung an allgemeinenPrinzipien propagiert eine universale Gerechtigkeit, sodaß <strong>de</strong>r Eindruckentsteht, Menschen seien auf dieser Stufe bereits ausgestorben; empirischeVerifikation ist nicht möglich. Diese Stufe hat nur theoretische, aber keinepraktische Varianz, sie ist vielmehr normatives Postulat und hat insofernZielcharakter.2. Es besteht die Gefahr <strong>de</strong>s psychologischen Fehlschlusses: Läßt sich dieMoralerziehung gemäß <strong>de</strong>s Stufenmo<strong>de</strong>lls pädagogisch rechtfertigen? DieMoral muß sich nämlich mit <strong>de</strong>m Leben, <strong>de</strong>m Erfahrungsbereich <strong>de</strong>rKin<strong>de</strong>r beschäftigen (real-life-situations), nicht nur mit hypothetischenSituationen. Sie müssen Ausgangspunkt <strong>de</strong>r ethischen Erziehung sein.3. Moralisches <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> muß auch als sozialpsychologisches und nicht nurals individualpsychologisches Problem gesehen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn moralisches<strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> fin<strong>de</strong>t immer im sozialen Kontext statt, während die moralischeEntscheidung Sache <strong>de</strong>s Einzelnen ist. Die Frage ist, welche sozialenMomente die individuelle moralische Entscheidung beeinflussen.4. Die nur formalen Prinzipien <strong>de</strong>s „Guten“ müssen durch das konkrete „Gute“ergänzt wer<strong>de</strong>n, auch durch autoritative Einflußnahme. Die Kin<strong>de</strong>r sollenschließlich zum konkreten Guten hin erzogen wer<strong>de</strong>n; es reicht nichtabzuwarten, bis irgendwann die 5. Stufe erreicht ist.5. Ein zentrales Problem bei Kohlberg ist, daß es nur um das moralischeUrteil, nicht aber um das moralische <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> geht. Unter Umstän<strong>de</strong>n kannzwischen diesen bei<strong>de</strong>n eine Kluft existieren! Für das pädagogische<strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> ist die Reihenfolge wichtig: an erster Stelle sollten die praktischenErfahrungen stehen, danach das Re<strong>de</strong>n über diese Erfahrungen. Darausergeben sich Anregungen zu einer neuen, reflektierten Bewährung <strong>de</strong>sbisher Erlernten. Tugend wird nicht allein durch vernünftiges Einsehenerlangt.6. Bei Kohlberg wird nur die moralische Urteilskompetenz erfaßt, dieaffektiv-emotionalen Aspekte wer<strong>de</strong>n vernachlässigt (Empathie,Sympathie etc.). Die Entwicklungspsychologie betont hingegen, daß dasprosoziale Verhalten entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Einfluß auf die Entwicklung <strong>de</strong>s


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 47moralischen Urteils hat, und sogar als <strong>de</strong>ren Ausgangspunkt angesehenwer<strong>de</strong>n kann.4.4. Ursprünge <strong>de</strong>s prosozialen Empfin<strong>de</strong>ns und <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>sProsoziales Verhalten ist bereits ab <strong>de</strong>m 1. Lebensjahr zu beobachten und<strong>de</strong>shalb nicht nur auf Erziehung zurückzuführen. Es tritt in zwei Formen auf:a) Mitleid, RücksichtnahmeKin<strong>de</strong>r haben schon früh Mitleid mit an<strong>de</strong>ren. Sie wollen trösten, helfen undsind besorgt. Ihre Mitleidsbekundungen gelten vor allemFamilienangehörigen, aber auch unbekannten und in beson<strong>de</strong>rer Weiseverletzten Tieren. Es geschieht eine spontane Zuwendung, obwohl kein Lobo<strong>de</strong>r Gelingenkönnen dazu motiviert. Der Schmerz an<strong>de</strong>rer berührt Kin<strong>de</strong>r.Sie verfügen außer<strong>de</strong>m über ein spontanes Gerechtigkeitsgefühl. Sie achtenz.B. beim Verteilen darauf, daß keiner benachteiligt wird.b) Mitfreu<strong>de</strong>, WohlwollenKin<strong>de</strong>r wollen an<strong>de</strong>ren eine Freu<strong>de</strong> machen, sind spontan wohlwollend. Sieschenken und freuen sich mit, wenn <strong>de</strong>r Beschenkte sich freut.Diese bei<strong>de</strong>n Formen haben ihre Wurzel in einer affektiven Apposition, die alsemphatisches Empfin<strong>de</strong>n bezeichnet wer<strong>de</strong>n kann. Es geht um eine einfühlen<strong>de</strong>Vergegenwärtigung o<strong>de</strong>r Vorwegnahme <strong>de</strong>s Empfin<strong>de</strong>ns einer an<strong>de</strong>ren Person. MartinL. Hoffmann spricht <strong>von</strong> „stellvertreten<strong>de</strong>n affektiven Reaktionen“: Der Beobachterreagiert, als ob er <strong>de</strong>rselben Empfindung unterliegt wie das beobachtete Mo<strong>de</strong>ll. Eserfolgt eine unwillkürliche stellvertreten<strong>de</strong> Reaktion auf die affektiven Hinweise, dieeine an<strong>de</strong>re Person gibt.Es gibt verschie<strong>de</strong>ne Modi <strong>de</strong>r Empathie:• „Unmittelbare Empathie“ liegt z.B. vor, wenn ein Säugling mit eineman<strong>de</strong>ren Säugling mitschreit, obwohl es sonst keinen Grund dafür gäbe.• „Erlernte Empathie“: Hinweise <strong>de</strong>s Gegenübers können auch „angelernt“wer<strong>de</strong>n, z.B. die Mimik und Gestik. Daß das Kind versteht, was <strong>de</strong>rAusdruck im Gesicht <strong>de</strong>s Gegenübers be<strong>de</strong>utet, muß es schon früherErfahrungen mit dieser Empfindung gemacht haben.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 48• „Sprachlich vermittelte Empathie“: Auch über <strong>de</strong>n Modus <strong>de</strong>r Sprache läßtsich eine Erfahrung vermitteln und strukturieren, die Situation, in <strong>de</strong>r sich dieerzählen<strong>de</strong> Person befand, wird vorstellbar.• „Kognitive Empathie“: Kin<strong>de</strong>r <strong>lernen</strong>, daß sie sich <strong>von</strong> an<strong>de</strong>renunterschei<strong>de</strong>n. Dadurch wird die Fähigkeit <strong>de</strong>s Perspektivenwechselsherausgebil<strong>de</strong>t. Es ist dann möglich, die Situation <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rn kognitivwahrzunehmen durch eine Interpretation <strong>von</strong> Mimik, Gestik, Sprache undan<strong>de</strong>re Hinweise.Hoffmann unterschei<strong>de</strong>t vier Stadien <strong>de</strong>r Mitleidsentwicklung:1. Im 1. Lebensjahr: Das empathische Mitleid mit an<strong>de</strong>ren geschieht so,als ob <strong>de</strong>m beobachten<strong>de</strong>n Kind gera<strong>de</strong> dasselbe wi<strong>de</strong>rfährt wie<strong>de</strong>m beobachteten. Das gilt sowohl die Erfahrung <strong>von</strong> Schmerz alsauch <strong>von</strong> Freu<strong>de</strong>.2. Ab 11./12. Monat: Nun wird die „Eigenpermanenz“ erreicht, d.h.an<strong>de</strong>re Personen können aus <strong>de</strong>r eigenen Perspektive wahrgenommenwer<strong>de</strong>n. Das Kind tröstet beispielsweise so, wie es selbst getröstetwer<strong>de</strong>n will.3. Ab <strong>de</strong>m 2./3. Lebensjahr: Hier erfolgt eine wachsen<strong>de</strong> Differenzierungin <strong>de</strong>r Wahrnehmung <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren; Imaginationen wer<strong>de</strong>n möglich, d.h.konkrete Gefühle wer<strong>de</strong>n verglichen.4. Späte Kindheit: Die soziale Perspektive weitet sich nun aufMenschengruppen. Aus <strong>de</strong>m affektiven Impuls wird strukturellesMitleid, es besteht eine Ten<strong>de</strong>nz zu altruistischem Verhalten.Es scheint also eine unwillkürliche Ten<strong>de</strong>nz zu empathischem Mitlei<strong>de</strong>n zugeben. Hier liegt auch die Wurzel für die Fähigkeit, Schuld empfin<strong>de</strong>n zu können,nämlich immer dort, wo ich mich als Verursacher frem<strong>de</strong>n Leids erfahre. Also ist dieSelbstverursachung frem<strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>ns <strong>de</strong>r Auslöser <strong>de</strong>s Schuldgefühls, und nicht, wieFreud behauptete, die Angst vor Strafe o.ä. Die Entwicklung <strong>de</strong>s Schul<strong>de</strong>mpfin<strong>de</strong>nsund <strong>de</strong>r Verantwortungsübernahme setzt die geistige Repräsentanz <strong>de</strong>r möglichenHandlungsfolgen voraus, d.h. <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r Schuld empfin<strong>de</strong>t, hat aus bereitsvergangenen Erfahrungen gelernt. Beim empathischen Mitlei<strong>de</strong>n han<strong>de</strong>lt es sich also umeinen grundlegen<strong>de</strong>n prosozialen Affekt, <strong>de</strong>r in Schuldfähigkeit transformiert wer<strong>de</strong>nkann.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 49Eine religiöse Beschreibung <strong>de</strong>r Grun<strong>de</strong>mpathie nimmt B. Grom vor, <strong>de</strong>r dasaltruistische Verhalten als Offenbarung <strong>de</strong>r Liebe Gottes <strong>de</strong>utet.vgl. vertiefend Mat IX (Oser), X (Nunner-Winkler) und XI (Kuld/Gönnheimer)


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 505. <strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong>5.1. Was sind Einstellungen und wie lassen sie sich beeinflussen?Im Verlauf <strong>de</strong>r Vorlesung wur<strong>de</strong> bisher <strong>de</strong>utlich, daß sich nicht nur äußeresVerhalten, son<strong>de</strong>rn auch innere Einstellungen <strong>lernen</strong> lassen. In <strong>de</strong>r Lernpsychologienennt man diese Einstellungen „attitu<strong>de</strong>“. Sie betreffen das Innere, wirken <strong>de</strong>shalb aberauch nach außen und prägen ten<strong>de</strong>nziell das <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>. Handlungsten<strong>de</strong>nzen, die relativüberdauernd sind, charakterisieren schließlich das <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> einer Person. Sie lassenRückschlüsse zu auf Handlungsdispositionen, die die Motivation <strong>de</strong>s <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong><strong>de</strong>n undseine emotionale Bewertung, seine Wahrnehmung, das Erkennen und Verhalten,beeinflussen. Allerdings bleibt zu beachten, daß es sich bei <strong>de</strong>n Dispositionen umhypothetische Konstrukte han<strong>de</strong>lt: sie sind im Nachhinein erschlossen und nichtunmittelbar beobachtbar.Hilfreich bei <strong>de</strong>r Erschließung <strong>von</strong> Dispositionen hat sich das 3-Komponenten-Mo<strong>de</strong>ll <strong>von</strong> Triandis erwiesen. Demzufolge wird die Struktur <strong>von</strong> Einstellungen durcheine Inter<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nz <strong>von</strong> drei Komponenten geprägt:1. Kognitive Komponente:Einstellungen enthalten Vorstellungen (Wissen, Meinungen, Überzeugungen)hinsichtlich eines Gegenstan<strong>de</strong>s, z.B. einer Handlung.2. Affektive Komponente:Einstellungen enthalten Sympathie und Antipathie, bestimmteWertorientierungen und Werthaltungen.3. Aktionale KomponenteEinstellungen enthalten eine Verhaltensbereitschaft, d.h. die Bereitschaft zureagieren und zu han<strong>de</strong>lnZwischen <strong>de</strong>n drei Komponenten besteht ein dynamisches Beziehungsgefüge.Dieses erleichtert die Stellungnahme, begrün<strong>de</strong>t und rechtfertigt das Verhalten.Die Werthaltungen, die durch Erfahrungen erworben, gelernt und ausgebil<strong>de</strong>twer<strong>de</strong>n, sollen zum „Habitus“, zur Tugend, wer<strong>de</strong>n. Einstellungen sind also mehr alsbloße Meinungen, sie sind handlungsorientierte Werthaltungen. Die Einstellungensollen im Laufe <strong>de</strong>r Entwicklung möglichst konsistent sein, d.h. Ungereimtheiten undSpannungen müssen durch neue Einstellungen ausgeglichen wer<strong>de</strong>n.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 51F. Hei<strong>de</strong>r stellt ein Mo<strong>de</strong>ll <strong>von</strong> unausgeglichenen Beziehungen auf:Person 1 + Person 2 Person 1 + Person 2 Person 1 - Person 2+ - - + + +Objekt Objekt ObjektIn <strong>de</strong>n ersten bei<strong>de</strong>n Beispielen verstehen sich die Personen, haben aberunterschiedliche Positionen in Bezug auf das Objekt; im dritten Beispiel verstehen sichdie Personen nicht, obwohl sie gleich über das Objekt <strong>de</strong>nken.L. Festinger prägte für solche unausgeglichenen Spannungen <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r„kognitiven Dissonanz“. Sie wird intraindividuell erlebt als Spannung zwischenWerthaltungen und Handlungen, zwischen Wort und Tat.Einstellungen verän<strong>de</strong>rn sich:a) durch Entscheidungen: hat man Alternativen erwogen, sich dannentschie<strong>de</strong>n und in entsprechen<strong>de</strong>r Weise gehan<strong>de</strong>lt, fin<strong>de</strong>t man viele positiveGrün<strong>de</strong>, die genau dieses <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> rechtfertigen 19 ;b) durch die Integration neuer Informationen, die auch selektiv geschehenkann: Stören<strong>de</strong>s wird manchmal gar nicht erst wahrgenommen;c) in Folge faktisch verän<strong>de</strong>rten <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s: <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> prägt Einstellungenimmer neu;d) durch soziale Prägung: durch die Reduktion <strong>von</strong> Dissonanzen inBezugsgruppen än<strong>de</strong>rn sich Einstellungen, v.a. dann, wenn man dieBezugsgruppe än<strong>de</strong>rt. Handlungen sind in bestimmten Bezugsgruppen o<strong>de</strong>rMilieus plausibel, in an<strong>de</strong>ren nicht 20 .Aus <strong>de</strong>m Festgestellten ergeben sich drei Konsequenzen für die ethischeErziehung:1. Erziehung zum ethischen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> muß ganzheitlich geschehen (we<strong>de</strong>rnur kognitiv noch nur emotional).2. Erziehung muß die Möglichkeit bieten, konsistente Verhaltensweiseneinüben zu können, die dann zu Einstellungen wer<strong>de</strong>n. Dies geschiehtdurch Vorbil<strong>de</strong>r und soziale Bestätigung o<strong>de</strong>r Bestärkung. Die19 vgl. Kaufverhalten bei Schnäppchenjagd: Ist das Schnäppchen erst gemacht, kann man es bestimmtauch für irgend etwas (ganz dringend!) brauchen…20 z.B. Zölibat?


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 52Glaubwürdigkeit <strong>de</strong>r Bezugspersonen spielt dabei eine wichtige Rolle.Nach L. Krappmann müssen vier Fähigkeiten erlernt wer<strong>de</strong>n, damit eineIch-I<strong>de</strong>ntität ausgebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n kann:1) Fähigkeit zur Rollendistanz (Distanz zu <strong>de</strong>n Erwartungen undAnsprüchen, die an mich herangetragen wer<strong>de</strong>n)2) Fähigkeit zur Empathie (Wie sehen die an<strong>de</strong>ren mich und die Welt?)3) Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz (diverse Ansprüche undErwartungen <strong>von</strong> Personen o<strong>de</strong>r Institutionen sind nicht aufhebbar, evtl.Spannungen müssen ausgehalten wer<strong>de</strong>n)4) Fähigkeit zur I<strong>de</strong>ntitätsdarstellung (Verzicht auf selektiveWahrnehmung; man sollte nicht blind sein gegenüber <strong>de</strong>m, was dieRealität ausmacht)Hier geht es vor allem um das Bemühen, <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren und <strong>de</strong>r Sachegerecht zu wer<strong>de</strong>n.3. Erziehung darf die jeweilige Bezugsgruppe (Pear-Group) und ihrenEinfluß auf das ethische Lernen nicht unterschätzen. Sie ermöglichen<strong>de</strong>m Heranwachsen<strong>de</strong>n erst die Erfahrung „wertvollen“ <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s, in<strong>de</strong>msie ihn sozial bestätigen und bestärken in realen Situationen. Gelernt wirdaußer<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Umgang miteinan<strong>de</strong>r, weshalb die verschie<strong>de</strong>nenSozialformen Familie, Schule und Gemein<strong>de</strong> geför<strong>de</strong>rt und gefor<strong>de</strong>rtwer<strong>de</strong>n sollten.5.2. Motive und Motivation <strong>de</strong>s menschlichen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>sDie aktionale Komponente <strong>de</strong>r Einstellungen hat Auswirkungen, da <strong>de</strong>r Menschimmer in Person-Welt-Bezügen han<strong>de</strong>lt. Menschliches <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> ist dabei immermotiviertes <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>. H. Thomae beschreibt fünf Aspekte motivierten <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s 21 :1) Gerichtetheit, Zielorientiertheit2) Dynamik (energetisiert)3) orientiert, sich orientierend4) bestimmte Verlaufsgestallt5) relativ zentrales <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> (kein äußeresGewohnheitsverhalten)21 vgl. Handbuch <strong>de</strong>r Psychologie


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 53Das Warum und Wozu <strong>de</strong>s <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s kommt hierbei in <strong>de</strong>n Blick. DieWerthaltungen, die auch durch Medien beeinflußt wer<strong>de</strong>n, bil<strong>de</strong>n dabei die Motivation<strong>de</strong>s <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s. Es gibt zwei Grundformen <strong>de</strong>r Motivation: einmal die Hoffnung aufGelingen und außer<strong>de</strong>m die Furcht vor Mißlingen.Ziel <strong>de</strong>r ethischen Erziehung muß es sein, Zuversicht zu för<strong>de</strong>rn und dieHandlung möglichst zum Gelingen zu führen. Ein gutes Maß <strong>de</strong>r Anfor<strong>de</strong>rung ist hierwichtig, es darf nicht über- o<strong>de</strong>r unterfor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.Es stellt sich die Frage, welche Be<strong>de</strong>utung die religiöse Motivation für dasethische <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> hat. Welche Relevanz hat <strong>de</strong>r Glaube angesichts <strong>de</strong>r Möglichkeit <strong>von</strong>Scheitern und Schuld? Eine mögliche Antwort besteht darin, daß <strong>de</strong>r Glaube einenMotivations- und Sinnhorizont geben kann, <strong>de</strong>r jenseits <strong>de</strong>s ethischen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s liegt.Glaube impliziert außer<strong>de</strong>m die Hoffnung, niemals endgültig scheitern zu müssen. Erpropagiert ein Ethos <strong>de</strong>r Umkehr, <strong>de</strong>r Zuversicht und <strong>de</strong>s Wagnisses.5.3. Lerntheorien und ihre Be<strong>de</strong>utung für das ethische LernenLerntheorien wer<strong>de</strong>n in einer Laborsituation entwickelt. Ausgangspunkt ist dieErforschung <strong>von</strong> Dispositionen, bei <strong>de</strong>nen es sich, wie oben gezeigt wur<strong>de</strong>, umhypothetische Konstrukte han<strong>de</strong>lt. Die Lernpsychologie <strong>de</strong>finiert Lernen als <strong>de</strong>n Aufbau<strong>von</strong> Verhaltensdispositionen (Einstellungen und Motiven) durch Erfahrung. SolcheLerntheorien bewegen sich folglich auf abstraktem Terrain, die Komplexität <strong>de</strong>sLernens und Lehrens wird auf ein Mo<strong>de</strong>ll reduziert. Lerntheorien stoßen alsLabortheorien auf die Grenzen ihrer Anwendbarkeit.5.3.1. Lernen nach <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r klassischen KonditionierungMaßgeblich für dieses Mo<strong>de</strong>ll war <strong>de</strong>r Nobelpreisträger (1904) W. Pawlow, <strong>de</strong>rsich mit <strong>de</strong>r Erforschung bedingter Reaktionen bzw. konditionierter Reflexebeschäftigte.Dies tat er mittels Untersuchungen <strong>de</strong>r Verdauungsdrüsen <strong>von</strong> Hun<strong>de</strong>n. Nimmtein Hund Nahrung auf, kann man Speichelfluß feststellen. Wird immer zurNahrungsaufnahme eine Klingel geläutet, verän<strong>de</strong>rt sich dies nicht. Wird dannirgendwann nur noch die Klingel betätigt, ohne daß <strong>de</strong>r Hund dazu etwas zu Fressenbekommt, ist <strong>de</strong>r Speichelfluß trotz<strong>de</strong>m vorhan<strong>de</strong>n. Auf <strong>de</strong>n unkonditionierten Reiz<strong>de</strong>r Nahrungsaufnahme folgte zunächst <strong>de</strong>r unkonditionierte Reflex <strong>de</strong>sSpeichelflusses. Durch <strong>de</strong>n konditionierten Reiz <strong>de</strong>s Klingelläutens wird <strong>de</strong>r


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 54Speichelfluß zum konditionierten Reflex. Der Vorgang <strong>de</strong>s Lernens besteht hier ineiner assoziativen Relation <strong>von</strong> konditionierten und unkonditionierten Reizen.Übertragen auf <strong>de</strong>n Menschen heißt das, das auch er über bestimmteLernmuster <strong>lernen</strong> kann. Bestimmte „antrainierte“ Verhaltensmuster, die rasch(assoziativ) ausgeführt wer<strong>de</strong>n können, helfen beispielsweise in Notsituationen, Scha<strong>de</strong>nzu vermei<strong>de</strong>n.Lernen geschieht hier durch Kontinuität und Verstärkung. Grundlegend fürdieses Mo<strong>de</strong>ll menschlichen Lernens ist die behavioristische Verhaltenspsychologie,die betont, daß eine zeitliche und räumliche Nähe <strong>de</strong>r „Übungen“ wichtig für das Lernenist.5.3.2. Lernen nach <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r operanten KonditionierungHintergrund dieses Mo<strong>de</strong>ll ist <strong>de</strong>r Behaviorismus, wie ihn z.B. Watson undSkinner vertreten haben. Grundlegend ist dabei die Beschränkung auf meßbare,objektiv beobachtbare Verhaltensäußerungen.Die Leitfrage dieses Mo<strong>de</strong>lls lautet: Wie ist das Verhalten als Reaktion auf einenReiz (Umwelteinfluß) verstehbar? Deshalb heißt es auch das „Reiz-Reaktions-Mo<strong>de</strong>ll“bzw. „stimulus-response-Mo<strong>de</strong>ll“. Lehren ist hier ein Vorgang <strong>de</strong>r Verhaltensformung,<strong>de</strong>r gezielten Bekräftigung (reinforcement) <strong>de</strong>s <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s entwe<strong>de</strong>r positiv (durchBelohnung) o<strong>de</strong>r negativ (durch Bestrafung) 22 .Durch trial and error wird schließlich das Verhalten gelernt, das einen positivenZustand zur Folge hat. Dabei gilt das Prinzip <strong>de</strong>r kleinen Schritte: zuerst hat dieFremdbekräftigung <strong>de</strong>n größten Einfluß (Lernen <strong>von</strong> an<strong>de</strong>ren Personen), nach undnach nimmt dieses Platz dann die Selbstbekräftigung ein.Die Grenzen dieses Mo<strong>de</strong>lls zeigen sich z.B. darin, daß die gleichen Reizeverschie<strong>de</strong>ne Reaktionen, verschie<strong>de</strong>ne Reize aber ähnliche Reaktionen hervorrufenkönnen. Daraus läßt sich nur schlußfolgern, daß die Motive und Gewohnheiten <strong>de</strong>s<strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s letztlich unbestimmt bleiben (black box).Auf das menschliche Lernen übertragen ist festzuhalten, daß Lernenoffensichtlich eine kognitive und affektive Aufgabe ist. Durch Bekräftigung <strong>lernen</strong>auch wir, was falsch o<strong>de</strong>r richtig ist. Am Anfang bedürfen wir noch <strong>de</strong>r Bekräftigung<strong>von</strong> außen, am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Entwicklung haben wir die Bekräftigung schon internalisiert.Offen bleibt allerdings die Frage nach <strong>de</strong>n erzieherischen Mitteln, die verstärkend22 Ratten empfin<strong>de</strong>n ihr <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> dann als positiv, wenn sie Futter dafür bekommen. Wird ihnen einStromschlag versetzt, empfin<strong>de</strong>n sie das <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> als negativ.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 55wirken können. Außer<strong>de</strong>m bleibt noch zu differenzieren, ob die Bekräftigung nicht auchGegenwirkungen zur Folge haben kann.Ziel <strong>de</strong>s Lernens und <strong>de</strong>r Erziehung ist auch hier die Selbstverantwortung,Selbständigkeit und Rücksicht auf an<strong>de</strong>re.5.3.3. Lernen nach <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Beobachtungs<strong>lernen</strong>sDieses Mo<strong>de</strong>ll fußt auf <strong>de</strong>r Gestaltpsychologie, wie sie die Berliner Schule im19./20. Jh. vertreten hat (Max Wertheimer, Kohler, Koffka).Eine Grundannahme ist hier, daß menschliches Erleben ganzheitlich erfolgt, d.h.gestalt-, nicht elementhaft. Unter einer Gestalt versteht man hier eine Struktur, dieweiterentwickelt wer<strong>de</strong>n kann.Erlebnisse wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mnach folgen<strong>de</strong>rmaßen charakterisiert: Sie gewinnen Dauerin <strong>de</strong>r Erinnerung, sie sind Teil umfassen<strong>de</strong>r menschlicher Lebenserfahrung und können,wenn sie erinnert wer<strong>de</strong>n, in neue Lebenssituationen übertragen wer<strong>de</strong>n. Lernengeschieht also durch Einsicht 23 .Für das menschliche Lernen gilt, daß die höchste Priorität <strong>de</strong>r konkretenWahrnehmung, <strong>de</strong>r Erfahrung, Phantasie und <strong>de</strong>m Sammeln <strong>von</strong> Erinnerungenzukommt. Es geht nicht um ein „blin<strong>de</strong>s Lernen“, son<strong>de</strong>rn um die Erprobung auf einer„inneren Bühne“. Das Lernen erfolgt über einen konkreten Fall hinaus, es wird einTransfer geleistet: ethisches Lernen ist exemplarisches Lernen.Durch Experimente in <strong>de</strong>n 60er und 70er Jahren 24 hat man herausgefun<strong>de</strong>n, daßes zwei verschie<strong>de</strong>ne Ansätze sozialen Lernens gibt, das Vorbild<strong>lernen</strong> und das Lernendurch Nachahmung.Man hat z.B. zwei Gruppen <strong>von</strong> 3-5jährigen einen Film gezeigt. Die erste Gruppesah, wie ein Aggressor einem Kind ein Spielzeug wegnimmt und dafür gelobt wird, diezweite sah, wie <strong>de</strong>r Aggressor für dieses Verhalten bestraft wird. Die erste Gruppeimitierte darauf das Verhalten <strong>de</strong>s Aggressors, die zweite mißbilligte sein Verhaltenebenso, wie dies im Film geschehen war. Als Grundsatz läßt sich schlußfolgern, daß sichstellvertreten<strong>de</strong> Belohnung und Bestrafung auf die Aggressionsimitation auswirken:23 Köhlers Schimpansenversuche: Bambusstab ist zerteilt, außerhalb <strong>de</strong>s Käfigs liegt eine Banane. Setzt<strong>de</strong>r Schimpanse <strong>de</strong>n Bambusstab zusammen, kann er die Banane erreichen.24 Auslöser für die Experimente (durchgeführt <strong>von</strong> Bandura) war die Beobachtung einer Messerstechereiin <strong>de</strong>n USA, nach<strong>de</strong>m Jugendliche einen Film mit James Dean gesehen hatten.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 56aggressives Verhalten im Film wird imitiert. Dabei ist es egal, ob die Aggression inRealfilmen o<strong>de</strong>r Trickfilmen vorgeführt wird.Als Folgerung wur<strong>de</strong>n für <strong>de</strong>n menschlichen Lernprozeß zwei Ebenenfestgestellt:1. Erwerbsphase: Aufnahme <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>llhaft beobachteten Verhaltensweisenins Gedächtnis (aquintance)2. Beeinflussung <strong>de</strong>r Erwerbsphase <strong>von</strong> drei Bedingungen:a) motivationale Unterschie<strong>de</strong>: Jungen verhalten sich wenigeraggressiv (sic!) als Mädchen. Dabei spielt auch <strong>de</strong>r soziokulturelleHintergrund und die dort propagierte Wertorientierung eine Rolle.b) situative Realisierungsmöglichkeiten: Wie<strong>de</strong>rerkennung <strong>von</strong>Elementen, die schon beim Erwerb <strong>de</strong>s Musters vorhan<strong>de</strong>n waren.c) soziale Verstärkung/Bestrafung: kann hemmen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r verstärken<strong>de</strong>Wirkung haben (z.B. Medienkonsum)Die Vorbildforschung baut auf bei<strong>de</strong> Ebenen <strong>de</strong>s Lernprozesses auf. Sie gehtvor allem <strong>de</strong>r Frage nach: Was macht nachahmungswert? Man fand heraus, daß dabeifolgen<strong>de</strong> Aspekte ausschlaggebend sind:1) Macht, Erfolg <strong>de</strong>s Vorbilds2) Lob, Ansehen3) Liebenswürdigkeit, Freundlichkeit4) Mut, SelbstlosigkeitDie Wirkung dieser Eigenschaften kann <strong>von</strong> Person zu Person verschie<strong>de</strong>n sein.Das Ziel <strong>de</strong>r Erziehung ist in diesem Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Beobachtungs<strong>lernen</strong>s dasschrittweise Lernen <strong>von</strong> ethischem <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>, das durch die Gestaltung <strong>de</strong>r Umweltund das Sammeln <strong>von</strong> Erfahrungen <strong>von</strong>statten geht (Komplexität <strong>de</strong>s Lernens: innereund äußere Lernprozesse gehen einher).5.4. <strong>Ethisch</strong>e Erziehung als Begleitung ethisch relevanter Lernprozesse5.4.1. Lernen im Mitvollzug: Voraussetzungen ethischer ErziehungAls wichtig für die ethische Erziehung haben sich das soziale Umfeld, die Kulturund die da<strong>von</strong> abhängige Wertorientierung erwiesen. Der Heranwachsen<strong>de</strong>partizipiert an <strong>de</strong>r Wertorientierung seiner Umwelt: Kin<strong>de</strong>r <strong>lernen</strong> <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Familie,


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 57Jugendliche <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Pear-Groups. Alle Heranwachsen<strong>de</strong>n sind außer<strong>de</strong>m ständig <strong>de</strong>nMedien ausgesetzt. Die ethische Haltung erwächst durch <strong>de</strong>n Mitvollzug <strong>de</strong>rLebensform: man hat teil an bestimmten Sinnentwürfen, wird für ein bestimmtesVerhalten gelobt, wird geliebt, man trägt Konflikte aus.Insgesamt lassen sich die Voraussetzungen ethischer Erziehung auf fünfzentrale Aspekte reduzieren:1. <strong>Ethisch</strong>e Erziehung erfolgt induktiv<strong>Ethisch</strong>e Erziehung lehrt, die Folgen <strong>de</strong>s <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s zu be<strong>de</strong>nken undVerantwortung für die Auswirkungen zu tragen.2. <strong>Ethisch</strong>e Erziehung befähigt zu eigenen Entscheidungen3. <strong>Ethisch</strong>e Erziehung hilft, <strong>de</strong>n Durchbruch zum Selberwollen zu schaffenVoraussetzung dafür ist allerdings, daß <strong>de</strong>r Erzieher zeigt, womit es ihmselbst ernst ist (Vorbildfunktion). Außer<strong>de</strong>m muß das prosoziale Verhaltenein wirkliches Kontinuum erfassen – und nicht nur auf Notlei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>konzentriert sein.4. <strong>Ethisch</strong>e Erziehung muß Freiräume schaffen, die• die Erfahrung positiver Zuwendung ermöglichen (Lob, Vorbil<strong>de</strong>r,Vertrauen)• eine positive Atmosphäre schaffen (Wohlwollen, Rücksicht,Aufmerksamkeit)• eigene schöpferische Initiativen ermöglichen (Ermutigung, Beratung,Begleitung)5. <strong>Ethisch</strong>e Erziehung begleitet komplexe Lernprozesse5.4.2. Lernen durch BeobachtungDurch Beobachtungen erwächst in Heranwachsen<strong>de</strong>n das Bedürfnis und dasBestreben danach, so zu sein, wie Erwachsene es sind. Heranwachsen<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>nda<strong>von</strong> beeinflußt, wie in ihrer Umwelt sittlich gut und böse <strong>de</strong>finiert wer<strong>de</strong>n. Siebeobachten in ihrer Umgebung Handlungsmuster, sie nehmen diese ganzheitlich wahr.Sie fühlen sich in ihre Vorbil<strong>de</strong>r ein. Deshalb spielen alle Handlungsformen <strong>de</strong>rInitiation (sei es über Personen, Geschichten, Filme etc.) und die stellvertreten<strong>de</strong>


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 58Bekräftigung eine große Rolle. Die Appelle und Verhaltensmuster <strong>de</strong>s ethischLehren<strong>de</strong>n müssen, weil er als Vorbild fungiert, möglichst konform und kohärent sein.Gegen die Orientierung an Vorbil<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>n immer wie<strong>de</strong>r drei Argumenteangeführt:1. Orientierung an Vorbil<strong>de</strong>rn hemmt das selbständige <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>.Allerdings ist zu beachten, daß das Vorbild<strong>lernen</strong> nicht rein automatisch<strong>von</strong>statten geht, son<strong>de</strong>rn immer auch <strong>von</strong> subjektiven Faktoren beeinflußtist. Das Vorbild soll lediglich Interesse wecken, die Freiheit in <strong>de</strong>rI<strong>de</strong>ntifikation ist unbedingt zu beachten. Ziel <strong>de</strong>s Lernens durch Beobachtungist die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit Vorbil<strong>de</strong>rn, um selbstverantwortliches<strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> zu <strong>lernen</strong>.2. Orientierung an Vorbil<strong>de</strong>rn verhin<strong>de</strong>rt kreatives <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>, da die Muster <strong>de</strong>rHandlung festgelegt ist.Dagegen ist wie<strong>de</strong>rum zu sagen, daß ein Vorbild auch zum Transferermutigen kann, da man durch Beobachtung die eigene Vorstellungskraftmobilisiert und zur selbständigen Stellungnahme anregt. Es geht beimLernen durch Beobachtung eben nicht um primitives Nachahmen!3. Orientierung an Vorbil<strong>de</strong>rn steht im Wi<strong>de</strong>rspruch zur an <strong>de</strong>r vernünftigenEinsicht interessierten Erziehung.Mo<strong>de</strong>lle und Vorbil<strong>de</strong>r sind Abbil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wirklichkeit, die durch dieBeobachtung bestimmter Handlungsmuster für einen Heranwachsen<strong>de</strong>n erstvorstellbar wird. Gehen diese Handlungsmuster in die Erinnerung <strong>de</strong>sBeobachten<strong>de</strong>n ein, wer<strong>de</strong>n sie erst <strong>de</strong>r Kritik zugänglich gemacht.Zusammenfassend läßt sich in Bezug auf das Lernen durch Beobachtung sagen,daß Vorbil<strong>de</strong>r die Funktion haben, über die Realisierbarkeit <strong>von</strong> Handlungen zuinformieren. Sie erlauben außer<strong>de</strong>m ein gewisses Maß an Selbststeuerung und for<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Beobachten<strong>de</strong>n zum selbständigen Nach<strong>de</strong>nken auf. Das Vorbild<strong>lernen</strong> überwin<strong>de</strong>tso <strong>de</strong>n Graben zwischen <strong>de</strong>m Lernen durch abstrakte Lehrsätze und empirischemEinzelfall-Lernen.5.4.3. Lernen durch VerstärkungZiel <strong>de</strong>s Lernens durch Verstärkung ist die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Motivation zu einembestimmten <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>. Mittel zur Verstärkung sind die materielle Belohnung, die sozialeAnerkennung o<strong>de</strong>r die soziale Disziplinierung durch Bezugspersonen.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 59Fremdbekräftigungen sollen schrittweise in Selbstbekräftigungen <strong>de</strong>s Individuumsübergehen.Die Metho<strong>de</strong> ist vor allem dann wirksam, wenn es darum geht, bereitserworbenes Wissen zu festigen. Wichtig ist dabei <strong>de</strong>r Einsatz <strong>von</strong> Belohnung undBestrafung durch <strong>de</strong>n Erzieher: die Rückmeldungen führen dazu, daßselbstverantwortetes <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> möglich wird. Der Erzieher darf hier nichtübervorteilen, negativ disziplinieren, erpressen, beleidigen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re für sich arbeitenlassen. Er sollte vielmehr sich selbstkritisch prüfen, prosoziales <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> leben undför<strong>de</strong>rn, Kritik in einer positiven Grundbe<strong>de</strong>utung sehen und mit berechtigtem Lob nichtsparen. Die Beziehung zwischen ihm und <strong>de</strong>m Kind ist wichtig, damit mit einem Lobauch ein positives Gefühl verbun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann. Der Zusammenhang <strong>de</strong>s <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>sund <strong>de</strong>r Reaktion <strong>de</strong>s Erziehers darauf muß für <strong>de</strong>n <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong><strong>de</strong>n erkennbar sein (<strong>de</strong>rErzieher sollte z.B. nicht erst drei Tage nach <strong>de</strong>r Handlung loben). Zu beachten ist, daßdas Vorbild- und das Verstärkungs<strong>lernen</strong> in einer Wechselbeziehung stehen.5.4.4. Lernen durch EinsichtEine ethische Handlung liegt dann vor, wenn sie in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>mBegriffenen steht. Das För<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Lernens durch Einsicht hat <strong>de</strong>n Zuwachs an Sach-,Wert- und Sinnverstand sowie die Weitung <strong>de</strong>s sozialen Horizonts zum Ziel (ethischeBewußtseinsbildung). Der kindliche Egozentrismus soll sich für die sozialePerspektive weiten. Kohlberg betont, daß für die Einsicht die Rückbindung ankonkrete Handlungserfahrungen wichtig ist. Deshalb sollte man die gemachtenErfahrungen im Unterricht vergegenwärtigen, wie<strong>de</strong>rholen (einüben) und Erinnern.5.4.5. Lernen durch ErprobungDiese Lernmetho<strong>de</strong> knüpft an das Problem an, daß Lösungen auch danngefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n müssen, wenn kein vertrautes Handlungsmuster vorhan<strong>de</strong>n ist. Einneues Handlungsmuster muß dann erst einmal erprobt wer<strong>de</strong>n, dann muß es sichbewähren, bis es schließlich als Erfahrung in die Einstellungen <strong>de</strong>s <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong><strong>de</strong>nübergeht. Für <strong>de</strong>n Erzieher stellt sich hier die Aufgabe, verschie<strong>de</strong>ne Situationen zusimulieren, damit die Kin<strong>de</strong>r spielerisch <strong>lernen</strong>, wie man <strong>de</strong>n agieren<strong>de</strong>n Menschen und<strong>de</strong>r Situation gerecht wer<strong>de</strong>n kann 25 . Das Durchspielen <strong>von</strong> Handlungsalternativenführt zu einem stabilen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>. Das Moralische Können ist hier offensichtlich das25 vgl. 5.4.5.: Mo<strong>de</strong>ll <strong>von</strong> Günther Stachel


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 60Ergebnis <strong>von</strong> Erprobung und Gewöhnung. Das vorrangige Ziel ist die Ermutigungzum eigenständigen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>.5.4.6. Regelkreise <strong>de</strong>s Lernens: Ein Prozeßmo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s <strong>Ethisch</strong>-<strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>-Lernens(Günter Stachel)Das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Regelkreise ist in 8 Stufen und 2 Kreise geglie<strong>de</strong>rt. Es geht <strong>von</strong>bestimmten Eingangs- und Ausgangsverhältnissen aus (1), darauf folgen die Stufen <strong>de</strong>stheoretischen Lernens, die zur Praxis motivieren sollen (2+3), anschließend geht es umdie Erprobung und Bewährung <strong>de</strong>s Gelernten (4-6). Das durch diesen Prozeßgewonnene Verhalten wird immer wie<strong>de</strong>r zum Ausgangspunkt für neues Lernen. Dietheoretischen Lernprozesse (kognitiv und affektiv) sind immer eingebettet in die Praxis.vgl. Mat XII: Regelkreismo<strong>de</strong>ll5.5. Ansätze ethischer Erziehung im schulischen Unterricht5.5.1. Wertübertragung (character education)vgl. Mat XVIIa) Grundannahmen:Das Ziel <strong>de</strong>r ethischen Erziehung ist die Einübung in eine wertorientierteLebensgestaltung im Rahmen vorgefun<strong>de</strong>ner Kultur und Gesellschaft. Es bedarfalso <strong>de</strong>r Weitergabe <strong>von</strong> Grundwerten (basic values) als Basis eines wert-vollenZusammenlebens. <strong>Ethisch</strong>e Erziehung wirkt hier als Teil <strong>de</strong>r Inkulturation undSozialisation.Für <strong>de</strong>n Unterricht stellt sich <strong>de</strong>shalb folgen<strong>de</strong> Aufgabe: Die objektivenErwartungen müssen überführt wer<strong>de</strong>n in das <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> bestimmen<strong>de</strong> subjektiveHaltungen. Außer<strong>de</strong>m geht es um eine Werteübertragung: Es muß vermittelt wer<strong>de</strong>n,daß Charakter und Tugend gleichbe<strong>de</strong>utend sind mit konkret zu machen<strong>de</strong>n Angaben fürein sinnvolles und glückliches Leben.b) Lernmuster:Gegebene Wertvorstellungen sollen sich zu eigen gemacht wer<strong>de</strong>n. Diese sog.Wertinternalisierung geschieht über fünf Stufen:1. Wertaufnahme2. Stellungnahme, Reaktion3. Wertung (Einsicht)4. Wertsystem wird ausgebil<strong>de</strong>t


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 615. En<strong>de</strong>rgebnis: CharakterDer Heranwachsen<strong>de</strong> soll darüber ehrlich, freigiebig und gerecht wer<strong>de</strong>n. SeineFreundlichkeit und Hilfsbereitschaft sollen ebenso ausgebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n wie seineÜberzeugungen und seine Toleranz. Er soll ehrenhaft und mutig sein, nach Wahrheitstreben, seine Zeit und seine Talente nutzen und die Rechte und Pflichten <strong>de</strong>rGrundrechte anerkennen und achten. Dies alles bil<strong>de</strong>t dann seinen „Charakter“ alsEndgestalt eines internalisierten Lernprozesses.Dies kann man über folgen<strong>de</strong> Erziehungsmittel erreichen: Der Erzieher solltesowohl belehren als auch ein Beispiel wertvollen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>s darstellen. Er sollte <strong>de</strong>nHeranwachsen<strong>de</strong>n bestärken, seine selbstbestimmte Persönlichkeit auszubil<strong>de</strong>n.Außer<strong>de</strong>m sind Übungen wichtig, die zu Äußerungen, Rückmeldungen und Kontrolleauffor<strong>de</strong>rn.Ein Beispiel dafür ist das „Character Education Curriculum“, das 1974 in <strong>de</strong>nUSA entwickelt wur<strong>de</strong>. Hier wer<strong>de</strong>n konkrete Angaben für ein sinnvolles undglückliches Leben in Form <strong>von</strong> Verhaltensprinzipien, Tugen<strong>de</strong>n undCharaktereigenschaften gemacht. Man verfolgt dabei die folgen<strong>de</strong>n didaktischenGrundschritte:1. Anschauung: exemplarische Situationen, Beispiele2. Einsicht: Grün<strong>de</strong>, die für das <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> sprechen3. Appell: Motivation, am als sinnvoll Erkannten festzuhaltenAlle drei Schritte <strong>de</strong>s Lernprozesses <strong>de</strong>r Schüler wer<strong>de</strong>n erzieherisch-lenkendinitiiert o<strong>de</strong>r begleitet.c) Kritik:Beim <strong>de</strong>r Wertübertragung han<strong>de</strong>lt es sich um einen normativen Ansatz.Vorausgesetzt ist hierbei ein Konsens über Basisorientierungen <strong>de</strong>s menschlichenZusammenlebens. Das Problem liegt im geschichtlichen Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>rWertorientierungen, die in je<strong>de</strong>r Epoche an<strong>de</strong>rs legitimiert o<strong>de</strong>r verworfen wer<strong>de</strong>n.Solche Wertkonflikte können letztlich nicht gelöst wer<strong>de</strong>n. Ziel <strong>de</strong>r ethischenErziehung scheint hier eine ethische Konformität und nicht eine ethischeHandlungskompetenz zu sein.Es han<strong>de</strong>lt sich zwar um ein logisch stringent durchdachtes Mo<strong>de</strong>ll, doch wirddie (mangeln<strong>de</strong>) Relevanz und Verbindlichkeit kulturspezifischer Werte in an<strong>de</strong>renKulturkreisen nicht berücksichtigt.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 625.5.2. Werterziehung durch Klärung <strong>de</strong>r Wertvorstellung (values clarification)vgl. Mat XVIIIa) Grundannahmen:Ausgangspunkt dieses Mo<strong>de</strong>lls ist die Situation <strong>de</strong>r pluralistischenGesellschaft, die wegen ihrer differieren<strong>de</strong>n Wertvorstellungen <strong>de</strong>sorientierend wirkt.Die Folge da<strong>von</strong> ist fehlen<strong>de</strong> Klarheit, die zu Unsicherheit o<strong>de</strong>r Oberflächlichkeitführt. An<strong>de</strong>rerseits erlaubt <strong>de</strong>r rasche Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Orientierungen auch keine Fixierungbestimmter Werte.An einer anthropologischen Prämisse muß diesem Erziehungsmo<strong>de</strong>ll zufolgejedoch festgehalten wer<strong>de</strong>n, nämlich an <strong>de</strong>r Basisannahme <strong>de</strong>r menschlichen Güte: DerMensch wird natürlicherweise gut, gerecht, wenn ihm keine physischen und psychischenVerletzungen zugefügt wer<strong>de</strong>n. Der Mensch muß zu einer reifen, erwachsenenPersönlichkeit heranreifen dürfen, die dann authentisch, konstruktiv und selbstbewußthan<strong>de</strong>lt 26 .Ziel <strong>de</strong>r Erziehung ist es hier, die Personenentwicklung <strong>de</strong>r Heranwachsen<strong>de</strong>ndadurch hervorzurufen, daß unbewußte Motive aufge<strong>de</strong>ckt und bewußt gemachtwer<strong>de</strong>n 27 und so Klarheit über die eigenen Wertvorstellungen geschaffen wer<strong>de</strong>nkann. Die Möglichkeiten <strong>de</strong>r Person sollen zur Entfaltung gebracht wer<strong>de</strong>n. Dadurch,daß <strong>de</strong>r Wertungsprozeß <strong>de</strong>r Schüler angeregt und habitualisiert wird, wer<strong>de</strong>n siebefähigt, ihrer Umwelt positiver und begeisterter entgegenzutreten.Es ergeben sich sieben Aufgaben <strong>de</strong>r Erziehung (nach Louis E.Raths):1. Das Kind muß ermutigt wer<strong>de</strong>n, freiwillig eine Auswahl <strong>de</strong>ssen zutreffen, was ihm wichtig ist.2. Der Erzieher muß helfen, an<strong>de</strong>re Möglichkeiten zu ent<strong>de</strong>cken und zuprüfen.3. Der Erzieher muß helfen, die Alternativen sorgfältig abzuwägen undKonsequenzen zu be<strong>de</strong>nken.4. Das Kind muß ermutigt wer<strong>de</strong>n, darüber nachzu<strong>de</strong>nken, woran es seinHerz hängt o<strong>de</strong>r hängen möchte.5. Der Erzieher muß <strong>de</strong>m Kind Gelegenheit geben, das Gewählteöffentlich zu <strong>de</strong>monstrieren.6. Der Erzieher muß das Kind darin bestärken, in Übereinstimmung mit<strong>de</strong>m Gewählten zu leben26 = Ansatz <strong>de</strong>r humanistischen Psychologie (Charles Rogers)27 Frage: Was sind die mich leiten<strong>de</strong>n Wertorientierungen?


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 637. Der Erzieher muß helfen, sich wie<strong>de</strong>rholen<strong>de</strong> Verhaltensweise imLeben <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r zu untersuchen und zu analysieren.b) Lernmuster:Der Erzieher hat hier vor allem die Aufgabe, <strong>de</strong>n Klärungsprozeß bezüglich<strong>de</strong>r Werte <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r zu begleiten und zu för<strong>de</strong>rn. Er kann dies aktiv tun, in<strong>de</strong>m er dieWahl <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r akzeptiert. Er kann es reaktiv tun, in<strong>de</strong>m er weiterführen<strong>de</strong> Fragen zurWahl stellt, die Meinungen rückspiegelt o<strong>de</strong>r dazu auffor<strong>de</strong>rt, die Konsequenzen zube<strong>de</strong>nken. Er sollte es aber vor allem dadurch tun, daß er lernför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>Rahmenbedingungen und eine Atmosphäre <strong>de</strong>s Vertrauens und <strong>de</strong>r Offenheit schafft.Dies kann über drei verschie<strong>de</strong>ne Metho<strong>de</strong>n geschehen 28 :1. Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r klären<strong>de</strong>n Entgegnung (clarifying response)Wertneutrale Fragen o<strong>de</strong>r Impulse wer<strong>de</strong>n aufgegeben, die zumNach<strong>de</strong>nken über bestimmte Werte anregen. Zu beachten ist hierbei, daß eskeine richtigen o<strong>de</strong>r falschen Antworten geben kann. Die Antworten <strong>de</strong>rSchüler können auf verschie<strong>de</strong>nen Ebenen gewertschätzt wer<strong>de</strong>n, z.B.• Nachfragen: Was empfin<strong>de</strong>st Du? Was war Dir wichtig?• Suche nach Alternativen: Hast Du an<strong>de</strong>re Möglichkeiten in Betrachtgezogen?• Kritisches Denken: Was genau meinst Du mit …? Wohin wür<strong>de</strong> dasführen?• Freie Wahl, Qualität <strong>de</strong>s Wählens: Ist das Deine persönlicheMeinung? Welche Grün<strong>de</strong> hast Du für diese Wahl?• Integration <strong>de</strong>s Gewählten in die eigenen Lebenswelt: Tust Du dasauch o<strong>de</strong>r sagst Du es nur?• Überprüfen <strong>de</strong>s Verhaltensmusters: Wür<strong>de</strong>st Du es noch mal tun?• Bejahung <strong>de</strong>s Ausgewählten: Erzähl <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren <strong>von</strong> Deiner Wahl!2. Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>s WertebogensDer Wertebogen hat provozieren<strong>de</strong>n Charakter und for<strong>de</strong>rt zur eigenenStellungnahme heraus. Er sollte erst schriftlich behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, danach isteine Diskussion in Kleingruppen angebracht. Der Wertebogen för<strong>de</strong>rt dieindividuelle Orientierung <strong>de</strong>s Einzelnen auch über das Klassengespräch. DerLehrer sollte hierbei eine angenehme Atmosphäre schaffen, zuWahlentscheidungen aufrufen und kritische Aspekte zu be<strong>de</strong>nken geben.28 Ergänzend dazu können natürlich Rollenspiele, Abstimmungen und Interviews (u.a.) zur gewünschtenLernatmosphäre beitragen.


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 643. Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r unvollständigen FrageUnvollständige Sätze wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Schülern aufgegeben, die sie dannergänzen sollen, z.B. „Wenn ich noch 24 Stun<strong>de</strong>n zu leben hätte, wür<strong>de</strong>ich…“, „Mit 200 € wür<strong>de</strong> ich…“, „Wenn ich drei Wünsche frei hätte, wür<strong>de</strong>ich …“ etc.Alle drei Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Wertklärungsprozesses wer<strong>de</strong>n vom Erzieher geför<strong>de</strong>rt,in<strong>de</strong>m er das Wählen <strong>de</strong>r Werte begleitet und wertschätzt und dazu ermutigt, danachauch zu han<strong>de</strong>ln.c) Kritik:Der Ansatz <strong>de</strong>r Werterziehung durch Klärung <strong>de</strong>r Wertvorstellung istschülerorientiert und setzt bei <strong>de</strong>r freien Wahl <strong>de</strong>r Schüler an (Autonomie). Diepositive Entwicklung wird geför<strong>de</strong>rt durch Anregung <strong>de</strong>r Selbstreflexion undabwechslungsreiche Metho<strong>de</strong>n.Allerdings stellt dieses Mo<strong>de</strong>ll eine Überfor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Durchschnittslehrersdar. Es wur<strong>de</strong> auch schon <strong>de</strong>r Vorwurf geäußert, moralische Probleme wür<strong>de</strong>ntrivialisiert, in<strong>de</strong>m sie mit Fragen <strong>de</strong>s persönlichen Geschmacks, individuellenNeigungen u.ä. in einen Topf geworfen wür<strong>de</strong>n. Dies führe zu einem ethischenRelativismus: sittliche Grundsätze haben allgemeine Gültigkeit, nicht nur individuelle.Die Begründung einer Allgemeingültigkeit bleibt allerdings aus.5.5.3. Moralische Erziehung durch Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit(moral <strong>de</strong>velopment)+5.5.5. Moralishe Erziehung durch Einübung gerechter Gemeinschaft (justcommunity)vgl. Mat XIXAls Vor<strong>de</strong>nker dieser Mo<strong>de</strong>lle gelten Piaget, Dewey und Kohlberg, <strong>de</strong>renTheorie <strong>de</strong>r moralischen Erziehung an Befun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r kognitivenEntwicklungspsychologie orientiert ist. Das moralische Bewußtsein gilt hier als eineAbfolge typischer Denkstrukturen. Zwei Elemente wer<strong>de</strong>n hier verbun<strong>de</strong>n: Zum einendie Entwicklung <strong>de</strong>r moralischen Urteilsfähigkeit (je<strong>de</strong> [invariante] Stufe weitet diesoziale Perspektive), zum an<strong>de</strong>ren die Einübung gerechter Gemeinschaft. <strong>Ethisch</strong>eErziehung muß entwicklungsbegleitend und entwicklungsför<strong>de</strong>rnd sein. Urteil undHandlung müssen konkret miteinan<strong>de</strong>r eingeübt wer<strong>de</strong>n.a) Schwerpunkte bei bei<strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>llen:


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 651. Stimulierung <strong>de</strong>r moralischen Entwicklung durch Diskussion über Dilemma-Geschichten.Die Aufgabe besteht hier darin, eine Entscheidung zu fällen. Die Kriterienfür die Auswahl <strong>de</strong>r Geschichten sind folgen<strong>de</strong>:o es muß sich um eine einfache Geschichte mit einer leichten Strukturhan<strong>de</strong>lno es muß ein offenes En<strong>de</strong> geben, das verschie<strong>de</strong>ne Lösungenermöglichto eine Auswahl an Handlungsmöglichkeiten sollte in <strong>de</strong>r Geschichteenthalten seino die Geschichte sollte <strong>de</strong>m Erfahrungsbereich <strong>de</strong>r Schüler entsprecheno die Geschichte sollte auf einer moralischen Ebene spielen, die dieSchüler ohne weiteres betreten können.2. Organisation <strong>de</strong>s Schulmo<strong>de</strong>lls im Sinne <strong>de</strong>r Just communityDas ethische <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> und Urteilen wird in einer Gemeinschaft gelernt undgeübt. Gerechte Regeln und Grundsätze wer<strong>de</strong>n gemeinsam erarbeitet.Dabei spielen drei Momente eine wichtige Rolle: In <strong>de</strong>r Schule alsInstitution kann in Gruppen und Veranstaltungen die <strong>de</strong>mokratischeEntscheidungsfindung eingeübt wer<strong>de</strong>n. Außer<strong>de</strong>m sollte eine moralischeAtmosphäre geschaffen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn das ethische Lernen ist auch abhängig<strong>von</strong> Emotionen (ganzheitliches Lernen). Schließlich sollten Möglichkeitenkonkreter Erfahrung <strong>de</strong>r Mitbestimmung und Mitverantwortunggeschaffen wer<strong>de</strong>n.Die Aufgabe <strong>de</strong>s Lehrers besteht hier darin, ein moralischer Begleiter undBerater zu sein, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Prozeß <strong>de</strong>r Regelfindung begleitet und anregt.b) Lernprinzipien:1) Prinzip <strong>de</strong>r „positiven Zumutung“: es wird unterstellt, daß dieSchüler ihren Verstand anwen<strong>de</strong>n und Verantwortung übernehmenkönnenn2) Prinzip <strong>de</strong>s Gemeinschaftszwecks: Lernen geschieht inGemeinschaft


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 663) Prinzip <strong>de</strong>r Herausarbeitung besserer Argumente für o<strong>de</strong>rgegen Werte und Einglie<strong>de</strong>rung dieser Argumente in einenuniversalistischen Kern4) Prinzip <strong>de</strong>r Demokratisierung <strong>de</strong>r Lebenswelt: Entscheidungensollen offengelegt wer<strong>de</strong>n5) Prinzip <strong>de</strong>r Rollenübernahme: Übung, sich in an<strong>de</strong>rehineinzuversetzen6) Prinzip <strong>de</strong>s verantwortlichen <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>sc) Kritik:In <strong>de</strong>r Rezeption <strong>de</strong>s Dilemma-Geschichten-Mo<strong>de</strong>lls wur<strong>de</strong> oft nur <strong>de</strong>r ersteSchritt getan, nämlich das kognitive Urteil gebil<strong>de</strong>t. Es entsteht so keine Betroffenheit,die Situation wird nur in <strong>de</strong>r Theorie durchgespielt. Zu<strong>de</strong>m läuft Unterricht immer unterZeitdruck ab, sodaß nie alle Argumente abgewogen wer<strong>de</strong>n können. Oft fehlen Mitleid,Fürsorge o<strong>de</strong>r personale Beziehung als Motive <strong>de</strong>r Handlungsmöglichkeiten, dievorgegeben wer<strong>de</strong>n. Offen bleibt auch hier die Frage, warum <strong>de</strong>r Mensch ethischhan<strong>de</strong>ln soll (Frage nach <strong>de</strong>r „7. Stufe“, nach <strong>de</strong>r Letztorientierung).Verbin<strong>de</strong>t man allerdings dieses Konzept mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r moralischen Erziehungdurch Einübung gerechter Gemeinschaft (just community), können viele <strong>de</strong>r Einwän<strong>de</strong>aufgelöst wer<strong>de</strong>n, da dann vor allem die Diskrepanz <strong>von</strong> Urteil (Wort) und <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>(Tat) überwun<strong>de</strong>n wird. Die just community ist zwar eine Metho<strong>de</strong>, gleichzeitig aberauch ein Ziel ethischen Erziehens.5.5.4. Moralische Erziehung als Erziehung zur Rücksichtnahme (moraleducation)vgl. Mat XXBei diesem Mo<strong>de</strong>ll han<strong>de</strong>lt es sich um ein Forschungsprojekt, das 1972-1978 inCambridge durchgeführt wur<strong>de</strong>. Zwei verschie<strong>de</strong>ne Unterrichtsprogramme wur<strong>de</strong>ngestartet: 1) „Startline“ (Grundschule und Sekundarstufe I, d.h. 8-13 Jahre) und 2)„Lifeline“ (Sekundarstufe II, d.h. 14-17 Jahre).a) Grundannahmen:Die moralische Erziehung besteht aus pädagogischen Maßnahmen, die <strong>de</strong>mIndividuum helfen, sich einen rücksichtsvollen Lebensstil anzueignen. Es geht darum,Respekt vor <strong>de</strong>n Bedürfnissen, Gefühlen und Interessen an<strong>de</strong>rer zu entwickeln. Dahintersteht die Beobachtung, daß Schüler die Bedürfnisse an<strong>de</strong>rer oft nicht wahrnehmen.b) Lernprinzipien:


<strong>Ethisch</strong> han<strong>de</strong>ln <strong>lernen</strong> (<strong>SS</strong> <strong>2004</strong>, <strong>Prof</strong>. <strong>Simon</strong>) <strong>von</strong> Anke Heinz. Mehr Skripte unter www.<strong>vaticarsten</strong>.<strong>de</strong>S. 67Die Aufgabe <strong>de</strong>r ethischen Erziehung besteht dann darin, im Umgangmiteinan<strong>de</strong>r die „Moralität <strong>de</strong>r Kommunikation“ zu för<strong>de</strong>rn. Diese Kommunikationstellt vier Anfor<strong>de</strong>rungen an die Beteiligten:1. Offene Augen und Ohren haben für das, was an<strong>de</strong>re mir mitteilen wollen2. Richtige Interpretation <strong>de</strong>s Mitgeteilten3. Angemessene Reaktion auf <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren und das <strong>von</strong> ihm Mitgeteilte4. Eine unzwei<strong>de</strong>utige Nachricht an <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren als Reaktion auf dasMitgeteilte sen<strong>de</strong>nDurch diese Kommunikation ist man gezwungen, sich in <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>renhineinzuversetzen. Ausgangspunkt ist also eine reale Lebenssituation. Diepädagogische Aufgabe besteht darin, die Moralität zu üben, die sich in rücksichtsvollem<strong>Han<strong>de</strong>ln</strong> zeigen soll. Ziele sind, im Miteinan<strong>de</strong>r im Blick auf konkrete Situationen neueVerhaltensformeln zu fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Bezug zu real-life-situations nicht zu verlieren unddie soziale Perspektive und Verantwortung zu weiten.Das Unterrichtsprogramm „Lifeline“ gestaltete sich dreischrittig:1. Lernziel: sich in die Lage An<strong>de</strong>rer versetzen („In other people’s schoes“)a. Was tust Du?b. Welche Folgen hat Dein <strong>Han<strong>de</strong>ln</strong>?c. Welche Konflikte könnten sich daraus ergeben?2. Eigener Standpunkt wird überprüft in Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>nErwartungen Erwachsener o<strong>de</strong>r bestimmter Rollen („proving the rule“)3. Historische Ereignisse wer<strong>de</strong>n unter Beachtung sozialer, kultureller,politischer und ökonomischer Faktoren analysiert („what would you havec) Kritik: done?“)Das Mo<strong>de</strong>ll legt wer<strong>de</strong> auf eine lebensnahe Lernsituation und ermöglicht sokonkrete Hilfe für das Leben; Empathie wird geför<strong>de</strong>rt. Trotz<strong>de</strong>m stellt sich die Frage,ob die Orientierung an Bedürfnissen unmittelbar betroffener Personen für die Findungallgemeiner Werte genügt – es fehlt ein Blick auf die Menschheit. <strong>Ethisch</strong>e Problemewer<strong>de</strong>n außer<strong>de</strong>m auf Kommunikation beschränkt, was offensichtlich eine Verengungdarstellt.vgl. Mat XXI: Vereinbarkeit <strong>de</strong>r Ansätze


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