21_LB175.pdf - Lübeckische Blätter
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Willy-Brandt-Rede im Kolosseum<br />
Verhandeln und handeln in Sachen Nachhaltigkeit<br />
Die Lübecker Willy-Brandt-Rede 2010 hielt Klaus Töpfer<br />
Von Jürgen-Wolfgang Goette<br />
Es war ein amüsanter Abend im Kolosseum<br />
mit viel Swing-Musik und von<br />
Karsten Brenner, dem Vorsitzenden der<br />
Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung,<br />
locker vorgetragenen Informationen über<br />
die Stiftung. Der Gast, Klaus Töpfer,<br />
war Opfer des Schnees geworden. Aber<br />
schließlich kam er mit fast einstündiger<br />
Verspätung doch noch. Das Warten hat<br />
sich denn auch gelohnt.<br />
Jedes Jahr soll es eine „Willy-Brandt-<br />
Rede“ in Lübeck geben. Im letzten Jahr<br />
eröffnete Erhard Eppler den Reigen dieser<br />
Reden. In diesem Jahr hielt der ehemalige<br />
Bundesumweltminister Klaus Töpfer<br />
(CDU) die Rede. Die Hamburger Gesellschaft<br />
zur Förderung der Demokratie<br />
und des Völkerrechts unterstützt dieses<br />
Projekt. Das Ziel dieser Rede-Ehrung ist<br />
es, auf Herausforderungen unserer Zeit<br />
Antworten zu geben, die Zukunft in den<br />
Fokus nehmen und vor allem das gesellschaftliche<br />
Bewusstsein für die drängenden<br />
Fragen der globalen Friedenssicherung<br />
zu schärfen. Für Klaus Töpfer, der in<br />
vielen Institutionen rund um den Erdball<br />
aktiv ist und sich durch sein Wirken hohes<br />
Ansehen erworben hat, ist das entscheidende<br />
Wort „Nachhaltigkeit“. Seine<br />
Kernthese lautet: Nachhaltigkeit ist der<br />
neue Begriff für Frieden. Eine Welt mit<br />
9 Milliarden Menschen kann nicht als<br />
Wegwerfgesellschaft funktionieren. Die<br />
nächste industrielle Revolution wird daher<br />
eine ökologische sein. Das ist nicht<br />
nur ethisch geboten, sondern auch ökonomisch<br />
zwingend.<br />
Der Redner zog eine Parallele zu Willy<br />
Brandts Wirken. Diesem ist es damals<br />
darum gegangen, einen neuen Realitätssinn<br />
zu entwickeln. Das bezog sich bei<br />
ihm vorzugsweise auf den Osten (Ostpolitik).<br />
Er hat den Erfolg dieser Politik,<br />
die „Wende“, noch selbst erleben können.<br />
Er hat sich am Ende seines Lebens auch<br />
noch verstärkt um den Süden gekümmert<br />
(Nord-Süd-Konflikt). Brandt forderte wie<br />
Töpfer heute, dass man zur Einsicht kommen<br />
muss, dass materielle Not Unfreiheit<br />
bedeutet. Alle Völker der Erde müssen<br />
gleichwertige Entwicklungschancen haben.<br />
Töpfer sieht die Gefahr, dass die Länder<br />
sich gegenseitig das „Wasser abgraben“.<br />
Auch wer auf fossile Energie setzt,<br />
denkt zuerst an sich und drückt andere an<br />
die Wand. Der logische Höhepunkt solcher<br />
Verdrängungen heißt Krieg. Am Beispiel<br />
des Öls ist das ja offenkundig.<br />
Vor allem in vier Bereichen ist seiner<br />
Meinung nach eine Umkehr nötig:<br />
– Wassernutzung muss gerecht verteilt<br />
sein. Wer einen Fluss umleitet<br />
oder einen Staudamm baut, muss<br />
mit den betroffenen Nachbarn reden.<br />
– Wir müssen viel stärker auf nichtfossile<br />
Energie setzen. Die Nutzung<br />
fossiler Energiequellen macht unfrei.<br />
– Unsere Essgewohnheiten können<br />
nicht auf die ganze Welt übertragen<br />
werden. Fleisch kann nicht in dem<br />
bisherigen Ausmaß verzehrt werden.<br />
Wir müssen diese Gewohnheiten<br />
ändern.<br />
– Andere mobile Strukturen müssen<br />
geschaffen werden.<br />
Um Nachhaltigkeit zu erreichen, muss<br />
verhandelt werden. Ökologische Konferenzen<br />
sind für Töpfer zugleich Wirtschafts-<br />
und Friedenskonferenzen. Und<br />
er fordert, die eigenen Ansprüche zu hin-<br />
terfragen. Die reichen Länder haben auch<br />
eine Vorbildfunktion. Man muss sich klar<br />
darüber werden, dass die 9 Milliarden<br />
Menschen, die heute auf der Welt leben,<br />
nicht so leben können wie wir, die reichen<br />
Länder. Es gibt nach Töpfer im Grundgesetz<br />
keinen Artikel, der eine „Pflicht zum<br />
Konsum“ enthält. Die Frage, was Lebensqualität<br />
ist, muss neu bedacht werden.<br />
Töpfer sagte ganz deutlich: Unser Wohlstand<br />
gefährdet den Frieden. Und hier zog<br />
er den Bogen zu Willy Brandt: Man muss<br />
einen neuen Sinn für die Realitäten gewinnen.<br />
Dies erfordert eine Zusammenarbeit<br />
der Völker, es bedarf vieler Verhandlungen,<br />
aber auch des Handelns. Wenn einer<br />
nicht mitmacht, darf das nicht die Konsequenz<br />
haben, dass der andere auch nichts<br />
zu tun braucht.<br />
Klaus Töpfer zog sein Publikum in<br />
den Bann. Er machte nachdenklich. Obwohl<br />
die Probleme sehr groß sind, ist er<br />
kein Pessimist. Aber er vermied – leider –<br />
ein kritisches Wort zur deutschen Politik.<br />
Deutlich wurde, dass sich das Leben im<br />
<strong>21</strong>. Jahrhundert stark verändern wird, weil<br />
es sich verändern muss. Es wird in jedem<br />
Fall spannend! Packen wir es an!<br />
<strong>Lübeckische</strong> <strong>Blätter</strong> 2010/<strong>21</strong> 383