21_LB175.pdf - Lübeckische Blätter
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Kulturgeschichte<br />
Rezension der Studie von Brigitte Templin<br />
„O Mensch, erkenne Dich selbst“<br />
Richard Karutz (1867–1945) und sein Beitrag zur Ethnologie<br />
Von Prof. Hans Fischer, Hamburg,<br />
Eine Besonderheit dieser Publikation<br />
ist ihr „Gegenstand“, Richard Karutz.<br />
Ein Name, der in Publikationen zur Geschichte<br />
der Ethnologie bislang kaum erwähnt<br />
wurde. Er war ein ethnologischer<br />
„Amateur“, was in der frühen Phase der<br />
Fachentwicklung allerdings noch relativ<br />
häufig vorkam. Ein Ohrenarzt, der hauptamtlich<br />
in Lübeck eine Praxis betrieb und<br />
sich nebenamtlich sehr intensiv mit dem<br />
Aufbau des dortigen Museums für Völkerkunde<br />
beschäftigte und dafür einsetzte.<br />
Dass er zunächst als Schiffsarzt fremde<br />
Länder kennenlernte, galt auch für<br />
andere frühe Ethnologen, etwa für Adolf<br />
Bastian.<br />
Die Verfasserin zeigt, dass er dann in<br />
zweierlei Hinsicht auch ethnographisch<br />
von Bedeutung wurde: durch Reisen<br />
nach Mittelasien (und Publikation der Ergebnisse)<br />
zum einen. Durch die Organisation<br />
einer der ersten langdauernden stationären<br />
Feldforschungen – die „Pangwe-<br />
Expedition“ – zum anderen. In diesem<br />
Zusammenhang wird gewöhnlich nur der<br />
Durchführende, Günter Tessmann, genannt.<br />
Die Autorin macht jedoch den unbestreitbaren<br />
Anteil Karutz’ am Zustandekommen<br />
dieser fast völlig aus privaten<br />
Mitteln finanzierten Expedition deutlich.<br />
In der Publikation geht es um Entstehung<br />
und Geschichte des Museums für<br />
Völkerkunde in Lübeck und um Richard<br />
Karutz, der hierfür entscheidend war. Dabei<br />
werden einerseits museologische Fragen<br />
und andererseits allgemein Karutz’<br />
Beiträge zur Ethnologie verfolgt. Hierfür<br />
wird umfangreiches Quellenmaterial genutzt:<br />
Publiziertes und Manuskripte, wissenschaftliche<br />
und populäre Zeitungen<br />
und Zeitschriften, Archive in Lübeck und<br />
anderen Orten, Privatarchive, Briefe, Tagebucheinträge.<br />
Alle Aussagen und selbst<br />
Vermutungen können dadurch sehr sorgfältig<br />
belegt werden. Die Darstellung ist<br />
intensiv und ausführlich, in Einzelheiten<br />
gehend und mit vielen längeren wörtlichen<br />
Zitaten aus häufig kaum zugänglichen<br />
Quellen. Die Verfasserin bleibt<br />
aber keineswegs bei einer deskriptiven<br />
Darstellung. Aussagen bezüglich Karutz<br />
oder Lübeck werden aufgenommen<br />
und vergleichend betrachtet. Das gilt für<br />
Probleme der Museumskunde, für Eth-<br />
nologie und Wissenschaft allgemein, für<br />
Personen wie Goethe, Steiner, Frobenius<br />
oder Hambruch oder für Beziehungen<br />
zu anderen Museen, etwa Hamburg oder<br />
Berlin. Noch wichtiger ist die Einbeziehung<br />
lokaler oder personaler Aspekte in<br />
die allgemeinen Zeitströmungen und damit<br />
in weitere Kontexte.<br />
Die Entwicklung und Ausrichtung<br />
des Lübecker Museums wurde fast völlig<br />
von Karutz bestimmt. Dabei waren seine<br />
Persönlichkeit, seine Biographie, seine<br />
ursprüngliche Ausbildung von großer<br />
Bedeutung. Der Verfasserin gelingt es zu<br />
zeigen, dass naturgemäß viele Auffassungen<br />
zeit- und phasenbedingt waren. Das<br />
gilt für ihn als „Kolonialenthusiasten“,<br />
für sein Interesse an „Rasse“ und sein anfängliches<br />
Interesse am Nationalsozialismus.<br />
Veränderungen in den Einstellungen<br />
werden jedoch deutlich herausgearbeitet,<br />
beispielsweise von den positiven Erwartungen<br />
gegenüber dem Nationalsozialismus<br />
zur Ablehnung (vorwiegend wohl<br />
durch deren Verbot anthroposophischer<br />
Institutionen).<br />
Im Museologischen waren Karutz’<br />
Auffassungen von einer Ausrichtung, die<br />
für die Entwicklung völkerkundlicher<br />
Museen allgemein von (mehr) Bedeutung<br />
hätte sein können. Das gilt weniger für<br />
seine Forderungen bezüglich Räumen,<br />
Wänden, Schränken, Licht, Bildern, Karten<br />
und Beschriftungen. Schon mehr für<br />
seine Ansicht, Verstand und Gefühl des<br />
Besuchers sollten durch die Ausstellung<br />
angesprochen werden. Es gilt aber vor allem<br />
für seine Zielvorstellungen, die sich<br />
auf das völkerkundliche Museum und<br />
die Völkerkunde allgemein bezogen. In<br />
den Titel dieser Arbeit hat die Verfasserin<br />
Karutz’ Spruch „O Mensch, erkenne<br />
Dich selbst“ aufgenommen. Er macht<br />
seine zentrale Zielrichtung deutlich. Karutz<br />
ging, wie in dieser Arbeit sehr klar<br />
nachgewiesen wird, von einem „Wozu<br />
das?“ aus, der Frage des Nutzens, der<br />
Verwertbarkeit von Museen, aber auch<br />
der Ethnologie und noch allgemeiner von<br />
Wissenschaft überhaupt. Selbsterkenntnis<br />
durch Gegenüberstellung des Eigenen<br />
mit dem Fremden ist dabei die zentrale<br />
Antwort. Nicht zufällig sammelte er in<br />
Lübeck deshalb auch europäische Objekte<br />
und hielt Völkerkunde und Volkskunde<br />
für zusammengehörig.<br />
Frau Templin kann zeigen, dass Richard<br />
Karutz (auch international) der einzige<br />
Ethnologe war, der sich der Anthroposophie<br />
anschloss. Sie stellt ausführlich<br />
seine Voraussetzungen und den Weg in<br />
diese Richtung dar und macht deutlich,<br />
dass letztlich seine Zugehörigkeit zur<br />
Anthroposophie wohl verantwortlich dafür<br />
war, dass er in der Wissenschaft nicht<br />
mehr ernst genommen wurde. Sie zeigt,<br />
dass seine zahlreichen Veröffentlichungen<br />
innerhalb der anthroposophischen<br />
Gemeinschaft positiv aufgenommen, in<br />
der Wissenschaft aber nicht mehr als wissenschaftlich<br />
akzeptiert oder verspottet<br />
wurden.<br />
Fazit: Diese Publikation stellt einen<br />
wertvollen Beitrag zu bisher weniger<br />
berücksichtigten Aspekten der Wissenschaftsgeschichte<br />
der Ethnologie dar.<br />
Zum Ersten geht es um die organisatorischen,<br />
technischen und teils politischen<br />
Aspekte der Entstehung und Entwicklung<br />
eines völkerkundlichen Museums.<br />
Templin, Brigitte 2010: „O Mensch, erkenne Dich<br />
selbst“ – Richard Karutz (1867–1945) und sein Beitrag<br />
zur Ethnologie. Lübecker Beiträge zur Ethnologie,<br />
Bd. 1. Lübeck: Schmidt und Römhild<br />
382 <strong>Lübeckische</strong> <strong>Blätter</strong> 2010/<strong>21</strong>