Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen ...

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Miriam Seidler<strong>Figurenmodelle</strong> <strong>des</strong> <strong>Alters</strong><strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschsprachigen</strong>Gegenwartsliteratur


Miriam Seidler<strong>Figurenmodelle</strong> <strong>des</strong> <strong>Alters</strong><strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschsprachigen</strong>Gegenwartsliteratur


Bibliografische Informaon <strong>der</strong> Deutschen NaonalbibliothekDie Deutsche Naonalbibliothek verzeichnet diese Publikaon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Deutschen Naonalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten s<strong>in</strong>d im Internet über hp://dnb.d-nb.deabruar.Umschlagbild: Telomermolekül (Prote<strong>in</strong> Data Bank: 2HY9, Visualisierung:Dr. Gert Bange, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg)Die vorliegende Arbeit wurde von <strong>der</strong> Philosophischen Fakultät <strong>der</strong> He<strong>in</strong>rich-He<strong>in</strong>e-Uni versität Düsseldorf (D61) unter dem Titel „Ke<strong>in</strong>er kann über das Altwerden und über dasAltse<strong>in</strong> die Wahrheit sagen.“ (Marn Walser) <strong>Figurenmodelle</strong> <strong>des</strong> <strong>Alters</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschsprachigen</strong>Gegenwartsliteratur als Dissertaon angenommen.© 2010 · Narr Francke Aempto Verlag GmbH + Co. KGDisch<strong>in</strong>gerweg 5 · D-72070 Tüb<strong>in</strong>genDas Werk e<strong>in</strong>schließlich aller se<strong>in</strong>er Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb <strong>der</strong> engen Grenzen <strong>des</strong> Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zusmmung<strong>des</strong> Verlages unzulässig und straar. Das gilt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für Vervielfälgungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die E<strong>in</strong>speicherung und Verarbeitung <strong>in</strong> elektronischenSystemen.Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier.Internet: hp://www.narr.deE-Mail: <strong>in</strong>fo@narr.dePr<strong>in</strong>ted <strong>in</strong> GermanyISBN 978-3-8233-6603-4


„Ke<strong>in</strong>er kann über das Altwerdenund über das Altse<strong>in</strong> die Wahrheit sagen.“(Marn Walser)


InhaltsverzeichnisTeil I: Theoretische Überlegungen1 E<strong>in</strong>leitung ................................................................................................92 Zwischen Person und Figur – Überlegungen zur Analyse alterFiguren ....................................................................................................272.1 Die Figur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literaturtheorie .........................................................272.2 Kriterienkatalog zur Erstellung von <strong>Figurenmodelle</strong>n....................442.3 <strong>Alters</strong>repräsentation..............................................................................462.4 <strong>Alters</strong>konzept .........................................................................................583 Zwischen Realität und Fiktion – Gesellschaftliche <strong>Alters</strong>rollenund literarische <strong>Alters</strong>modelle...........................................................63Teil II: <strong>Alters</strong>repräsentationen und <strong>Alters</strong>konzepte <strong>in</strong> <strong>der</strong>Gegenwartsliteratur1 Spiel mit traditionellen Konzepten <strong>der</strong> alten Frau:Judith Hermann Ende von Etwas.......................................................812 Öde lange Restzeit?<strong>Alters</strong>konzepte <strong>in</strong> Monika Marons Romanen...............................1032.1 Midlife progress novel?Zur Übertragbarkeit <strong>des</strong> anglo-amerikanischen Konzeptes .........1132.2 Das Ende <strong>der</strong> ›unwürdigen Greis<strong>in</strong>‹?Zur Entwicklung weiblicher <strong>Figurenmodelle</strong> .................................1232.3 <strong>Alters</strong>konzepte <strong>in</strong> Endmoränen und Ach Glück.................................1423 Zur Neubewertung e<strong>in</strong>es traditionellen Figurenmodells –verliebte Alte <strong>in</strong> den Romanen Mart<strong>in</strong> Walsers ...........................1513.1 Das Figurenmodell <strong>der</strong> verliebten Alten..........................................1513.2 Weibliches Altern im Der Lebenslauf <strong>der</strong> Liebe ..................................1623.3 Innovative Gestaltung e<strong>in</strong>es alten Modells? ....................................1873.4 <strong>Alters</strong>konzepte und Liebeskonzepte im Lebenslauf <strong>der</strong> Liebe .........1933.5 <strong>Alters</strong>unglücksglück: <strong>Alters</strong>liebe im Augenblick <strong>der</strong> Liebe..............1963.6 Augenblick und Lebenslauf – Unterschiede undGeme<strong>in</strong>samkeiten im Figurenmodell <strong>der</strong> <strong>Alters</strong>liebe ....................2194 Neue Perspektive auf die Großelterngeneration?Großeltern im zeitgenössischen Familienroman .........................2234.1 <strong>Alters</strong>repräsentationen im Familienroman......................................2235


4.2 Das Ende <strong>der</strong> Großelternkonvention?Tanja Dückers Himmelskörper .............................................................2274.3 E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e weibliche Genealogie:Kathr<strong>in</strong> Schmidt Die Gunnar-Lennefsen-Expedition..........................2644.4 Zusammenfassung...............................................................................2845 Zwischen Liebe und Entsorgung –das Altern <strong>der</strong> Eltern <strong>in</strong> <strong>der</strong> fiktionalen Darstellung ..................2875.1 Das Altern <strong>der</strong> Mutter: Margit Schre<strong>in</strong>er Heißt lieben.....................2885.2 Die Mutter-Tochter-Beziehung und die Alzheimerkrankheit:Helga Königsdorf Die Entsorgung <strong>der</strong> Großmutter ...........................3005.3 „E<strong>in</strong> Verharren und gleichzeitig e<strong>in</strong> Loslassen“?Das <strong>Alters</strong>konzept <strong>in</strong> Heißt lieben.......................................................3056 Zwischen Fasz<strong>in</strong>ation und Ekel: Der Pflegeheimroman ............3156.1 E<strong>in</strong>führende Überlegungen und Begriffsbestimmung...................3156.2 Zivildienst im Witwenheim:Marc Wortmann Der Witwentröster ...................................................3507 Alter und Krankheit ...........................................................................3817.1 Männliches <strong>Alters</strong>unglück:Mart<strong>in</strong> Walser Lebenslauf <strong>der</strong> Liebe .....................................................3857.2 Alzheimer als Gesellschaftsdiagnose:Gerhard Köpf E<strong>in</strong> alter Herr................................................................4027.3 <strong>Figurenmodelle</strong> im Kontext von Alter und Krankheit...................428Teil III: Zusammenfassung und Ausblick1 <strong>Alters</strong>konzepte und alte Figuren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwartsliteratur ...4331.1 Alte Figuren – e<strong>in</strong> Überblick über <strong>Alters</strong>repräsentationen und<strong>Figurenmodelle</strong> ....................................................................................4331.2 Zentrale <strong>Alters</strong>konzepte......................................................................4402 Probleme und Chancen e<strong>in</strong>er literaturwissenschaftlichenGerontologie ........................................................................................443Siglenverzeichnis ..............................................................................................451Literaturverzeichnis..........................................................................................4536


Teil ITheoretische Überlegungen


1 E<strong>in</strong>leitungDas 20. Jahrhun<strong>der</strong>t hat etliche Klischees <strong>der</strong> vorhergegangenen Jahrhun<strong>der</strong>teübernommen. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit ist die Vorstellung vom Altern auf sozialem,psychologischem, biologischem Gebiet bereichert worden, aber trotzdem haltensich weiterh<strong>in</strong> alte Schablonen. Es spielt ke<strong>in</strong>e Rolle, daß sie sich wi<strong>der</strong>sprechen:sie s<strong>in</strong>d <strong>der</strong>art abgenutzt, daß man sie bei <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Gleichgültigkeitwie<strong>der</strong>holt. Das Alter ist e<strong>in</strong> Herbst, reich an reifen Früchten; es ist auch e<strong>in</strong>unfruchtbarer W<strong>in</strong>ter, <strong>des</strong>sen Kälte, Schnee, Reif man beschwört. Es hat dieMilde schöner Abende. Doch man schreibt ihm auch die düstere Traurigkeit <strong>der</strong>Abenddämmerung zu. 1Simone de Beauvoir entwickelt <strong>in</strong> <strong>der</strong> verdienstvollen MaterialsammlungLa Vieillesse aus dem Jahr 1970 e<strong>in</strong> Bild <strong>der</strong> Darstellung <strong>des</strong> <strong>Alters</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong>Literatur, das von Klischees und Stereotypen 2 geprägt ist. Rund vierzigJahre nach <strong>der</strong> Erstveröffentlichung <strong>der</strong> Untersuchung von Simone deBeauvoir irritiert diese Darstellung den zeitgenössischen Leser und wirftdie Frage auf, ob sich seither <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur analog zur Lebenswirklichkeitnicht doch e<strong>in</strong> Wandel vollzogen hat. Unbestreitbar ist: Alter und Altern <strong>in</strong>Deutschland haben sich verän<strong>der</strong>t. Der Strukturwandel <strong>des</strong> <strong>Alters</strong> hat <strong>in</strong>den letzten zwanzig Jahren zu e<strong>in</strong>er grundlegenden Umgestaltung <strong>des</strong>öffentlichen Bil<strong>des</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>republik und <strong>in</strong> vielen an<strong>der</strong>en europäischenStaaten geführt. Nicht nur hat sich re<strong>in</strong> numerisch die Anzahl <strong>der</strong>1Simone de Beauvoir: Das Alter. Essay. Deutsch von Anjuta Aigner-Dünnwald undRuth Henry. Re<strong>in</strong>bek bei Hamburg 1977, S. 179. [Orig<strong>in</strong>al: La Vieillesse. Essai, Paris1970.]E<strong>in</strong>e klare Begriffstrennung f<strong>in</strong>det sich bei Simone de Beauvoir allerd<strong>in</strong>gs nicht. E<strong>in</strong>Blick <strong>in</strong>s französische Orig<strong>in</strong>al zeigt, dass sie die Begriffe Stereotyp („De l’ancienneÉgypte à la Renaissance, on voit que le thème de la vieillesse a presque toujours ététraité de manière stéréotypée; mêmes comparaisons, mêmes adjectifs.“ La Vieillesse.Essai. Paris 1970, S. 175) und Klischee („Le XXe siècle a hérité <strong>des</strong> clichés <strong>des</strong> sièclesprécédents.“ Ebd., S. 224) synonym verwendet.2Unter (<strong>Alters</strong>-)Klischee verstehe ich e<strong>in</strong>e ungeprüfte und landläufige Annahme überdas Alter (vgl. Stefan Pohlmann: Das Alter im Spiegel <strong>der</strong> Gesellschaft. Hrsg. vonGünther Böhme. Idste<strong>in</strong> 2004, S. 100). Bei (<strong>Alters</strong>-)Stereotypen handelt es sich h<strong>in</strong>gegenum stark vere<strong>in</strong>fachte, weit verbreitete und historisch variable Vorstellungenvon sozialen Gruppen, die auf <strong>der</strong> polarisierenden Zuschreibung von verme<strong>in</strong>tlichtypischen Eigenschaften beruhen und sich <strong>in</strong> literarischen Texten nie<strong>der</strong>schlagen. AlsNorm ersche<strong>in</strong>en im <strong>Alters</strong>stereotyp die Eigenschaften, die mit <strong>der</strong> Jugend assoziiertwerden. Charakteristisch für Stereotype ist weiterh<strong>in</strong>, dass sie nicht nur <strong>in</strong>dividuelleMe<strong>in</strong>ungen über soziale Gruppen abbilden, son<strong>der</strong>n von den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong>eigenen Gruppe geteilt werden, d.h. Stereotype s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>tersubjektiver Natur und umfassenkonsensuell geteilte Bil<strong>der</strong>. (Vgl. Sigrun-Heide Filipp, Anne-Kathr<strong>in</strong> Mayer:Bil<strong>der</strong> <strong>des</strong> <strong>Alters</strong>. <strong>Alters</strong>stereotype und die Beziehungen zwischen den Generationen.Stuttgart u.a. 1999, S. 55f.)9


alten Menschen vergrößert, son<strong>der</strong>n diese bef<strong>in</strong>den sich aufgrund <strong>des</strong>Wandels <strong>der</strong> Arbeitswelt und <strong>der</strong> Verbesserung <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Versorgung<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em physiologisch wesentlich besseren Zustand als zu Beg<strong>in</strong>n<strong>des</strong> 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Mit den Verbesserungen für den e<strong>in</strong>zelnen altenMenschen gehen aber auch Verän<strong>der</strong>ungen im gesellschaftlichen undkulturellen Umgang mit dem Alter e<strong>in</strong>her.Kann es se<strong>in</strong>, dass diese vielfältigen Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literaturke<strong>in</strong>en Nie<strong>der</strong>schlag gefunden haben? Dass literarische Thematisierungen<strong>des</strong> Alter(n)s immer noch den traditionellen Darstellungsmustern folgen,wie sie nicht nur von Simone de Beauvoir beschrieben werden, son<strong>der</strong>nwie sie sich <strong>in</strong> ähnlicher Weise bereits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Poetologie von Philipp Harsdörffer3 im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t f<strong>in</strong>den? Ist es nicht vielmehr so, dass Gegenwartsautorenaufgrund alltäglicher Erfahrungen mit älteren Menscheno<strong>der</strong> dem eigenen Älterwerden e<strong>in</strong> Interesse an alten Figuren und altersspezifischenThemen entwickeln und diese <strong>in</strong>s Zentrum von epischen,dramatischen 4 und autobiographischen 5 Texten stellen? Dass aber geradeaufgrund <strong>der</strong> sich verän<strong>der</strong>nden Wahrnehmung <strong>des</strong> <strong>Alters</strong> und alter Menschen<strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur e<strong>in</strong> Wandel sowohl <strong>der</strong> mit dem Alter verbundenenThemen als auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Darstellung alter Figuren zu beobachten ist? DieseFragen stellen den Ausgangspunkt <strong>der</strong> vorliegenden Überlegungen darund sollen im Lauf <strong>der</strong> Arbeit geklärt werden.Alter als Forschungsgegenstand <strong>in</strong> <strong>der</strong> LiteraturwissenschaftIn den Geisteswissenschaften wurde das Alter mit dem cultural turn <strong>in</strong> den1980er Jahren als Forschungsgegenstand entdeckt. 6 Gibt es mit Marlene3Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und ReimkunstohneBehuf <strong>der</strong> Late<strong>in</strong>ischen Sprache/ <strong>in</strong> VI. Stunden e<strong>in</strong>zugiessen. Durch e<strong>in</strong>Mitglied <strong>der</strong> hochlöblichen Fruchtbr<strong>in</strong>genden Gesellschaft. Zum zweiten Mal aufgelegtund an vielen Orten vermehret. Nürnberg 1648–1653. ND Darmstadt 1969. Teil 3.Nürnberg 1653, S. 122-124.4Beispiele s<strong>in</strong>d Katarakt (1993) von Re<strong>in</strong>ald Goetz, Magma (2006) von Werner Fritscho<strong>der</strong> das Drama von Tankred Dorst Ich b<strong>in</strong> nur vorübergehend hier (2007).5Hier gibt es unterschiedliche Schwerpunkte. Ingrid Bachér (Sieh da, das Alter. Tagebuche<strong>in</strong>er Annäherung. Köln 2003) und Silvia Bovenschen (Älter werden. Notizen.Frankfurt a.M. 2006) stellen ihre eigenen Erfahrungen <strong>in</strong> den Mittelpunkt, währendviele Autoren sich über die Erkrankung <strong>der</strong> Eltern mit dem eigenen Altern ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen.Vgl. Philip Roth: Me<strong>in</strong> Leben als Sohn. E<strong>in</strong>e wahre Geschichte. München,Wien 1992 [Orig<strong>in</strong>al: Patrimony. New York 1991]; Jonathan Franzen: Das Gehirnme<strong>in</strong>es Vaters. In: <strong>der</strong>s.: Anleitung zum Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong>. Re<strong>in</strong>bek 2007 [Orig<strong>in</strong>al: How to BeAlone. 2002]; Tilman Jens: Demenz. Abschied von me<strong>in</strong>em Vater. München 2009.6Vgl. den kurzen Forschungsüberblick von Ursula Kl<strong>in</strong>genböck: ›[F]riedlich undheiter ist dann das Alter[?]‹ (Höl<strong>der</strong>l<strong>in</strong>, Abendphantasie). Literarische Konstruktionen<strong>des</strong> Alter(n)s. In: Alter(n) hat Zukunft. <strong>Alters</strong>konzepte. Hrsg. von Ursula Kl<strong>in</strong>genböck,Meta Nie<strong>der</strong>korn-Bruck und Mart<strong>in</strong> Scheutz. Innsbruck 2009, S. 141-183, hier S. 141-143.10


Kuchs Dissertation L'enfer <strong>des</strong> femmes 7 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Romanistik und mit denArbeiten von Woodward, Gullette und Maierhofer 8 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Amerikanistikbereits e<strong>in</strong>ige umfangreichere Forschungsarbeiten, so besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Germanistike<strong>in</strong> Forschungsdefizit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Untersuchung literarischer Repräsentationen<strong>des</strong> <strong>Alters</strong> <strong>in</strong> allen Epochen. E<strong>in</strong>e sehr anregende Analyse hatThomas Küpper für das 19. Jahrhun<strong>der</strong>t vorgelegt. Die von ihm erprobteVerb<strong>in</strong>dung von <strong>Alters</strong>repräsentationen und poetologischen Konzepten istbislang e<strong>in</strong>zigartig <strong>in</strong> <strong>der</strong> Forschungslandschaft zur <strong>deutschsprachigen</strong>Literatur. 9 Darüber h<strong>in</strong>aus liegen neben umfangreicheren Arbeiten vonHannelore Schlaffer 10 und Hans-Georg Pott 11 lediglich verstreute Aufsätzevor, die meist als Überblicksdarstellungen angelegt s<strong>in</strong>d. 12Die vorliegende Arbeit möchte e<strong>in</strong>en Beitrag zur Beseitigung diesesDefizits leisten und die Vielfalt von <strong>Alters</strong>darstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwartsliteraturnachzeichnen. Für die Amerikanistik hat Claudia Deniers imRahmen ihrer Dissertation zur Darstellung <strong>des</strong> <strong>Alters</strong> im Werk T. S. Eliots1993 e<strong>in</strong> Programm zur weiteren Untersuchung alter Figuren entworfen,das aber <strong>in</strong> den letzten Jahren von ke<strong>in</strong>er philologischen Diszipl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gelöstwurde:Wünschenswert wäre daher die Komplementierung <strong>der</strong> Ergebnisse <strong>der</strong> vorliegendenUntersuchung [zu T.S. Eliot, M.S.] durch e<strong>in</strong>e vergleichende Betrachtung<strong>der</strong> <strong>Alters</strong>konzeptionen an<strong>der</strong>er mo<strong>der</strong>ner Autor/<strong>in</strong>n/en. Auf <strong>der</strong> Basis<strong>der</strong> relativ umfangreichen Forschung zur Gestaltung <strong>der</strong> <strong>Alters</strong>thematik beiW.B. Yeats böte sich zunächst e<strong>in</strong>e Analyse <strong>in</strong>tertextueller Verweise und Bezügezwischen den mit dem Alter befaßten Texten von Eliot und Yeats an. In e<strong>in</strong>erumfassen<strong>der</strong>en Studie wäre nach gattungsspezifischen Charakteristika <strong>der</strong> Darstellung<strong>des</strong> <strong>Alters</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Literatur und nach e<strong>in</strong>er eventuellenchronologischen Entwicklung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Behandlung dieser Thematik zu fragen.Schließlich versteht sich die vorliegende Arbeit als Bauste<strong>in</strong> für e<strong>in</strong>e noch ausstehende,alle Epochen umfassende Literaturgeschichte <strong>des</strong> <strong>Alters</strong>. In e<strong>in</strong>er7Marlene Kuch: L’enfer <strong>des</strong> femmes. Zum Bild <strong>der</strong> alternden Frau <strong>in</strong> <strong>der</strong> französischenLiteratur. Frankfurt a.M. 1998.8Kather<strong>in</strong>e Woodward: Ag<strong>in</strong>g and its Discontents. Freud and other fictions. Bloom<strong>in</strong>gton/Indianapolis 1991; Margaret Morganroth Gullette: Decl<strong>in</strong><strong>in</strong>g to decl<strong>in</strong>e. Cultural combatand the politics of the midlife. Charlottesville, London 1997; Roberta Maierhofer: SaltyOld Women. E<strong>in</strong>e anokritische Untersuchung zu Frauen, Altern und Identität <strong>in</strong> <strong>der</strong> amerikanischenLiteratur. Essen 2003.9Vgl. Thomas Küpper: Das <strong>in</strong>szenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm von1750 bis 1850. Würzburg 2004.10Hannelore Schlaffer: Das Alter. E<strong>in</strong> Traum von Jugend. Frankfurt a.M. 2003.11Hans-Georg Pott: Eigens<strong>in</strong>n <strong>des</strong> <strong>Alters</strong>. Literarische Erkundungen. München 2008.12Vgl. die Untersuchungen von Helmut Bachmeier: Späte Jahre. Das Alter <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur.In: Entwürfe: Zeitschrift für Literatur 14 (2008), S. 63-72; Dietrich von Engelhardt:Altern und Alter <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur und <strong>in</strong> den Künsten. In: La Vecchiaia nel tempo. Hrsg.von Antonio Guerci und Stefania Consigliere. Genova 2002, S. 163-183; HelmuthKiesel: Das Alter <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur. In: Was ist Alter(n)? Hrsg. von Ursula M. Staud<strong>in</strong>gerund He<strong>in</strong>z Häfner. Berl<strong>in</strong>, Heidelberg 2008, S. 173-187.11


solchen sollte die durchgängig unterschiedliche Darstellung und Beurteilungalter Männer und Frauen beson<strong>der</strong>e Beachtung erfahren. 13Die vorliegende Dissertation greift die Anregungen <strong>der</strong> genannten Publikationenauf und ergänzt diese um e<strong>in</strong>en Überblick über <strong>Figurenmodelle</strong>alter Figuren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwartsliteratur. Hierbei rückt die Arbeit die konkreteAusgestaltung literarischer Figuren <strong>in</strong> Prosatexten <strong>in</strong> den Fokus undstellt diesen die von den literarischen Figuren vertretenen Vorstellungen<strong>der</strong> Lebensphase Alter gegenüber. Dieser Ansatz unterscheidet sich von<strong>der</strong> vorliegenden Forschung, die entwe<strong>der</strong> gattungs- und motivgeschichtlicheFragestellungen (Schlaffer und Pott) verfolgt o<strong>der</strong> die <strong>Alters</strong>darstellungenauf ihnen zugrunde liegende kulturelle Deutungsmuster h<strong>in</strong>befragt, 14 durch die konsequente narratologische Analyse <strong>der</strong> altenFiguren. Als exemplarische Epoche wurde die Gegenwartsliteratur 15 mite<strong>in</strong>em Schwerpunkt auf <strong>der</strong> Literatur <strong>der</strong> Jahrtausendwende gewählt. Füre<strong>in</strong>e narratologisch ausgerichtete Motivgeschichte ist die Beschränkung aufe<strong>in</strong>e literarische Epoche ungewöhnlich, sie ist aber aufgrund <strong>der</strong> fehlendenForschungsarbeiten notwendig. Es soll an diesem Beispiel e<strong>in</strong> Beschreibungs<strong>in</strong>ventarentwickelt werden, das auf weitere Epochen und Autorenangewandt werden kann. Damit liefert die Arbeit e<strong>in</strong>en weiteren „Bauste<strong>in</strong>für e<strong>in</strong>e noch ausstehende, alle Epochen umfassende Literaturgeschichte<strong>des</strong> <strong>Alters</strong>“. Aufgrund dieses Selbstverständnisses <strong>der</strong> Untersuchung kanndie Konzentration auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur nichtbedeuten, dass ke<strong>in</strong>e Texte <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Sprachen o<strong>der</strong> aus an<strong>der</strong>en Epochenzur Sprache kommen. Wo die Entwicklungen <strong>der</strong> zeitgenössischen Literaturnur mit e<strong>in</strong>em Rückblick auf frühere Texte erklärbar s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> wo dieEntwicklungen <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Nationalliteraturen zum Verständnis <strong>der</strong> Entwicklung<strong>in</strong> den <strong>deutschsprachigen</strong> Län<strong>der</strong>n beitragen, da werden auchan<strong>der</strong>e Texte herangezogen.13Claudia Deniers: Die Darstellung <strong>des</strong> <strong>Alters</strong> im Werk T. S. Eliots. E<strong>in</strong> literaturwissenschaftlicherBeitrag zur Gerontologie. Frankfurt a.M. u.a. 1993, S. 169.14Vgl. hierzu die Untersuchungen von Miriam Haller: ›Age<strong>in</strong>g trouble.‹ LiterarischeStereotype <strong>des</strong> Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neue<strong>in</strong>schreibung. In:Altern ist an<strong>der</strong>s. Hrsg. vom InitiativForum Generationenvertrag. Münster 2004,S. 170-188 und ›Unwürdige Greis<strong>in</strong>nen‹. ›Age<strong>in</strong>g trouble‹ im literarischen Text. In:Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien <strong>des</strong> Alter(n)s. Hrsg. vonHeike Hartung. Bielefeld 2005, S. 45-63.15Unter Gegenwartsliteratur verstehe ich alle literarischen Veröffentlichungen seit1989. Vgl. hierzu: Michael Opitz, Carola Opitz-Wiemers: Tendenzen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschsprachigen</strong>Gegenwartsliteratur seit 1989. In: Deutsche Literaturgeschichte. Von denAnfängen bis zur Gegenwart. 6. verb. und erw. Aufl. Stuttgart, Weimar 2001, S. 660-702.12


Diskursgeschichte <strong>des</strong> <strong>Alters</strong>E<strong>in</strong> kurzer Überblick über e<strong>in</strong>ige Forschungspositionen, die sich mit <strong>der</strong>Def<strong>in</strong>ition <strong>des</strong> Forschungsgegenstan<strong>des</strong> Alter näher beschäftigen, sollhelfen, die Fragestellung <strong>der</strong> Arbeit zu präzisieren. Literarische <strong>Alters</strong>darstellungenentstehen nicht losgelöst von <strong>der</strong> gesellschaftlichen <strong>Alters</strong>wirklichkeit,son<strong>der</strong>n sie schreiben sich immer <strong>in</strong> gesellschaftliche und literarischeDiskurse e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> wichtiger Bezugstext für die literaturwissenschaftliche<strong>Alters</strong>forschung ist daher die diskursanalytische Studie Das Alterwürdigen. <strong>Alters</strong>bil<strong>der</strong> und Bedeutungswandel <strong>des</strong> <strong>Alters</strong> <strong>des</strong> Soziologen GerdGöckenjan. Dieser analysiert nicht die historische <strong>Alters</strong>wirklichkeit,son<strong>der</strong>n <strong>Alters</strong>thematisierungen. 16 Se<strong>in</strong>en Forschungen liegen die Fragenzugrunde: „Was bedeutet die Rede über das Alter“ 17 und darauf aufbauend:Welche „allgeme<strong>in</strong>e[n] gesellschaftliche[n] Probleme, bei denen esganz oft überhaupt nicht um Alte, jedenfalls nicht um das höhere Altero<strong>der</strong> gar um Hochaltrigkeit geht“, 18 werden thematisiert, wenn vor<strong>der</strong>gründigvon Alter gesprochen wird. Um anhand <strong>der</strong> historischen Texteund Bil<strong>der</strong> zugrunde liegende gesellschaftliche <strong>Alters</strong>vorstellungen abstrahierenzu können, war es im Rahmen <strong>der</strong> diskursgeschichtlichen Studienotwendig, sowohl die historische <strong>Alters</strong>wirklichkeit als auch die genu<strong>in</strong>literarischen Aspekte <strong>der</strong> untersuchten Quellen 19 zu vernachlässigen.Gerd Göckenjan betont wie<strong>der</strong>holt, dass <strong>der</strong> <strong>Alters</strong>diskurs e<strong>in</strong> polarisieren<strong>der</strong>Diskurs ist, <strong>in</strong> dem <strong>Alters</strong>konzepte mit Gut-Schlecht-, Richtig-Falsch-Stereotypisierungen arbeiten. 20 Ziel se<strong>in</strong>er Untersuchung ist es alsonicht, positive o<strong>der</strong> negative Sichtweisen auf das Alter herauszustellen,son<strong>der</strong>n ihn <strong>in</strong>teressiert, warum e<strong>in</strong>e bestimmte Bewertung <strong>des</strong> <strong>Alters</strong>erfolgt und welche Absicht dieser zugrunde liegt. Im Rahmen diesesTheorieentwurfs entwickelt Gerd Göckenjan folgende Def<strong>in</strong>ition:<strong>Alters</strong>konzepte umfassen Vorstellungen, Wertungen, Bil<strong>der</strong> <strong>des</strong> <strong>Alters</strong>. <strong>Alters</strong>bil<strong>der</strong>s<strong>in</strong>d Kommunikationskonzepte. <strong>Alters</strong>bil<strong>der</strong> werden von uns nicht neuentdeckt, wenn sie auch, so kann behauptet werden, nicht <strong>in</strong> dem Umfangthematisiert und analysiert worden s<strong>in</strong>d, wie das für an<strong>der</strong>e Deutungsmustero<strong>der</strong> unbestimmte Wertbegriffe gilt. Man denke etwa an die Analyse von Konzeptenwie Gesundheit und Krankheit, Liebe o<strong>der</strong> Glück, die Vorstellung, daßAlter ganz ähnlich wie Gesundheit, nicht als Wirklichkeit existiert, son<strong>der</strong>n alsIdee, als Deutungsmuster und als soziale Praktiken, nicht als biologische Entität,16Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen. Frankfurt a.M. 2000, S. 24.17Ebd., S. 9.18Gerd Göckenjan: Diskursgeschichte <strong>des</strong> <strong>Alters</strong>: Von <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Alten zur ›alterndenGesellschaft‹. In: <strong>Alters</strong>kulturen und Potentiale <strong>des</strong> Alter(n)s. Hrsg. von He<strong>in</strong>erFangerau u.a. Berl<strong>in</strong> 2007, S. 125-140, hier S. 128.19So untersucht Göckenjan z.B. für das 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>t neben Romanen, biographischenSchriften und Ratgeberliteratur auch populäre Zeitschriften wie DerGreis und Die Gartenlaube.20Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 15.13


ersche<strong>in</strong>t oft befremdend und ist gelegentlich Anlaß zur Entrüstung. Nach <strong>der</strong>Vorstellung etlicher Diskursteilnehmer handeln sie unter dem Titel Alter vielmehr über Wirklichkeit und nicht über Ideen, Deutungsmuster, Verfahren. <strong>Alters</strong>ei Realität und eben nicht e<strong>in</strong>e soziale Konstruktion, die erst <strong>in</strong> diesem Diskurshergestellt o<strong>der</strong> bestärkt wird. 21Gerd Göckenjan verwirft die Vorstellung, dass im Reden über das <strong>Alters</strong>oziale Realität dargestellt werde, son<strong>der</strong>n versteht Alter als soziales Konstruktund damit als Teil e<strong>in</strong>es Diskurses, <strong>der</strong> das Phänomen ›Alter‹ ersthervorbr<strong>in</strong>gt. Um diesen Diskurs über das Alter differenziert beschreibenzu können, unterscheidet <strong>der</strong> Soziologe zwischen <strong>Alters</strong>bil<strong>der</strong>n und <strong>Alters</strong>konzepten.Da <strong>in</strong> den <strong>Alters</strong>konzepten Vorstellungen und Wertungen zumAusdruck kommen, lassen sich anhand dieser Rückschlüsse auf die sozialeKonstruktion <strong>der</strong> Lebensphase Alter ziehen. Ihnen werden bei Göckenjanalle diejenigen Funktionen zugeordnet, die <strong>in</strong> vielen an<strong>der</strong>en Theoriekonzeptendem <strong>Alters</strong>bild zugeschrieben werden. Gerd Göckenjan ist allerd<strong>in</strong>gs<strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> auf die problematische Verwendung <strong>des</strong> Begriffes›<strong>Alters</strong>bild‹ h<strong>in</strong>weist, <strong>in</strong>dem er bemerkt, dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschsprachigen</strong>Gerontologie <strong>der</strong> Konstruktcharakter <strong>des</strong> <strong>Alters</strong> bislang nicht berücksichtigtwurde. 22 Dieser Problematik begegnet Göckenjan dadurch, dass erdas <strong>Alters</strong>bild auf die Funktion reduziert, Kommunikation über Alter zuermöglichen, <strong>in</strong>dem es die Komplexität <strong>des</strong> kaum fassbaren Begriffs ›Alter‹soweit verdichtet und typisiert, 23 dass e<strong>in</strong>e Kommunikation über dasKonzept möglich wird. In dieser begrifflichen Unterscheidung deutet sichschon an, dass die Untersuchung von Göckenjan e<strong>in</strong>en beachtlichen Beitragzur <strong>Alters</strong>forschung liefert, <strong>in</strong>dem sie e<strong>in</strong>e genaue Def<strong>in</strong>ition und Reflexion<strong>des</strong> Forschungsgegenstan<strong>des</strong> vornimmt, die im Folgenden konsequentdurchgehalten wird. 24 Zudem weist Göckenjan den <strong>Alters</strong>bil<strong>der</strong>n aber noche<strong>in</strong>e weitere Funktion zu:Für die Diskursanalyse gibt es ke<strong>in</strong> Alter <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em materiellen S<strong>in</strong>ne.Alter ist e<strong>in</strong> generalisieren<strong>der</strong> Term<strong>in</strong>us für komplexe Attributionen, die sich <strong>in</strong><strong>Alters</strong>bil<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> <strong>Alters</strong>erwartungsco<strong>des</strong> verdichten und kommuniziertwerden. <strong>Alters</strong>bil<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d Deutungen, Konzepte, die vor allem als Positiv- o<strong>der</strong>Negativ-Vorbil<strong>der</strong> die sozialen Beziehungen orientieren und bee<strong>in</strong>flussenwollen. 25<strong>Alters</strong>bil<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> zentrale Forschungsgegenstand dieser Diskursanalyse.Ihnen wird e<strong>in</strong>e wichtige Funktion im Rahmen <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft21Ebd.22Ebd., S. 17.23Ebd., S. 16.24Die Wirkung von Göckenjans Werk, das sich <strong>in</strong> kürzester Zeit zum Standardwerk <strong>der</strong><strong>Alters</strong>forschung entwickelt hat, zeigt sich auch daran, dass viele Arbeiten diesenForschungsansatz übernehmen.25Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 24.14


zugeschrieben, denn sie werden zur Regulierung von Beziehungenzwischen e<strong>in</strong>zelnen Gruppenmitglie<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>gesetzt. Sie ordnen also e<strong>in</strong>erseitsdie Machtkonstellationen zwischen den Generationen, können aberan<strong>der</strong>erseits auch <strong>der</strong> bewussten Manipulation von E<strong>in</strong>stellungen dienen,wenn sie z.B. von Seiten <strong>der</strong> Medien o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Regierung e<strong>in</strong>gesetztwerden.Auf <strong>der</strong> Grundlage unterschiedlichster <strong>Alters</strong>thematisierungen bestimmtGöckenjan vier Diskurstypen und damit vier unterschiedliche Ausrichtungen<strong>der</strong> <strong>Alters</strong>bil<strong>der</strong>, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>des</strong> <strong>Alters</strong>diskursesverbreitet s<strong>in</strong>d und auch heute noch Gültigkeit haben:Seit <strong>der</strong> griechischen Antike gibt es die vier Diskurstypen o<strong>der</strong> Diskursstrategien,die die Qualitäten <strong>des</strong> <strong>Alters</strong> po<strong>in</strong>tieren und <strong>in</strong>szenieren; zunächstdie ›<strong>Alters</strong>schelte‹, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel mit Aristoteles Rhetorik verknüpft ist: DasAlter und die Alten – so wird ausgeführt – seien bösartig, misstrauisch, ängstlich,geldhörig, feige und geschwätzig, dies als die wichtigsten Merkmale, wiesie seither immer wie<strong>der</strong> als Negativbild <strong>des</strong> <strong>Alters</strong> paraphrasiert werden.Daneben steht die Strategie <strong>des</strong> ›<strong>Alters</strong>lobs‹ für die Plato, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> demText Nomoi, <strong>in</strong> Anspruch genommen wird [...]. Daneben steht die Diskursstrategie<strong>der</strong> ›<strong>Alters</strong>klage‹, die Alter als Verlust und Verfallsprozess darstellt [...]. Dievierte Diskursstrategie ist <strong>der</strong> ›<strong>Alters</strong>trost‹. Als <strong>Alters</strong>trost gilt <strong>der</strong> klassischeText von Cicero: Cato <strong>der</strong> Ältere. Über das Greisenalter. 26Gerd Göckenjan ist an e<strong>in</strong>er Kategorisierung <strong>der</strong> Lebensphase Alter gelegen.Der Prozess <strong>des</strong> Alterns wird <strong>in</strong> diesem Konzept völlig ausgeklammert.Der alte Mensch ersche<strong>in</strong>t als Repräsentant <strong>der</strong> Lebensphase und trittnur als solcher <strong>in</strong> den Fokus <strong>des</strong> Interesses. Der Greisenkörper verweistnicht auf den e<strong>in</strong>zelnen alten Menschen, son<strong>der</strong>n wird zum Symbolsystem,zum moralischen Konzept <strong>in</strong>nerhalb <strong>des</strong> Diskurses. 27Trotz <strong>der</strong> aus literaturwissenschaftlicher Sicht etwas unklaren Verwendunganalytischer Begriffe ist die Diskursanalyse, wie Gerd Göckenjan sievertritt, mit ihren Fragestellungen für die Literaturwissenschaft bislangrichtungsweisend. Die vorgestellten Diskursstrategien weisen e<strong>in</strong>e Nähe zuliterarischen Erzählmustern auf. So hat sich die Literaturwissenschaftler<strong>in</strong>Miriam Haller mit Göckenjans Diskurstypen ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt und diesefür die Interpretation von Texten übernommen:Das Motiv <strong>des</strong> Alter(n)s schwankt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur auf e<strong>in</strong>er Skala zwischen Verklärungund Verfall. Der Differenzskala <strong>des</strong> Motivs ›Alter(n)‹ korrespondierendrei literarische Topoi o<strong>der</strong> Stereotype mit ihren spezifischen Schreibweisen, diesich bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antike f<strong>in</strong>den: <strong>Alters</strong>lob, <strong>Alters</strong>klage und <strong>Alters</strong>spott. Obwohlsie sogar als ›literarische Gattungen‹ 28 e<strong>in</strong>gestuft worden s<strong>in</strong>d, ersche<strong>in</strong>t mir <strong>der</strong>26Göckenjan, Diskursgeschichte <strong>des</strong> <strong>Alters</strong>, S. 128.27Göckenjan, Das Alter würdigen, S. 20.28Hier bezieht sich Miriam Haller auf: Uwe Opolka, Gesichter <strong>des</strong> Alterns. E<strong>in</strong> historischerText- und Bil<strong>der</strong>bogen. In: Funkkolleg ›Altern‹. E<strong>in</strong>führungsbrief. Hrsg. vomDeutschen Institut für Fernstudienforschung an <strong>der</strong> Universität Tüb<strong>in</strong>gen. Tüb<strong>in</strong>gen15


Begriff <strong>des</strong> Stereotyps hilfreicher als <strong>der</strong> Gattungsbegriff, betont er doch dieideologische Wirkung e<strong>in</strong>es Konstrukts, gerade wenn es nicht als solcheserkannt wird, son<strong>der</strong>n als ›Wahrheit‹ o<strong>der</strong> als etwas ›Naturgegebenes‹ angesehenwird. 29Exemplarisch zeigt sich hier die Problematik <strong>der</strong> bislang praktiziertenliteraturwissenschaftlichen Gerontologie. In enger Zusammenarbeit mitden an<strong>der</strong>en Diszipl<strong>in</strong>en werden Begriffe übernommen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenenFachdiszipl<strong>in</strong> bereits an<strong>der</strong>s besetzt s<strong>in</strong>d. Allerd<strong>in</strong>gs ist dieses Vorgehen <strong>in</strong><strong>der</strong> Literaturwissenschaft nicht untypisch, wie Miriam Haller <strong>in</strong> Bezug aufHannelore Schlaffer 30 feststellt:Während Hannelore Schlaffer [...] versucht, e<strong>in</strong>e Entwicklungsl<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> literarischen<strong>Alters</strong>darstellungen vom antiken <strong>Alters</strong>lob über die mo<strong>der</strong>ne <strong>Alters</strong>klageund die zeitgenössische Leugnung <strong>des</strong> <strong>Alters</strong> auszumachen, belegen diehier vorgestellten repräsentativ ausgewählten Beispiele die durchgängigeStereotypenbildung <strong>in</strong> Bezug auf die Textpraxis über das Alter(n), auch wennsich literaturgeschichtlich unterschiedliche Gewichtungen nachweisen lassen. 31In<strong>des</strong> haben beide Untersuchungen e<strong>in</strong>en unterschiedlichen Ansatz.Hannelore Schlaffer rekurriert nicht auf die Begrifflichkeit Göckenjans, wiees hier von Haller unterstellt wird. Schlaffer wählt e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en, eigenenAnsatz. Sie erstellt nicht nur e<strong>in</strong>e Übersicht über <strong>Figurenmodelle</strong> <strong>des</strong><strong>Alters</strong>, son<strong>der</strong>n sie betreibt zugleich e<strong>in</strong>e Gesellschaftsanalyse, <strong>in</strong>dem sieliterarische und kulturelle Entwicklungen gegenüberstellt. 32 So beschreibtsie figurale Ausgestaltungen <strong>des</strong> <strong>Alters</strong>, <strong>in</strong>dem sie mit dem ›Staatsmann‹,dem ›Großvater‹, dem ›großen Alten‹, dem ›Lebensmüden‹ und mit›Senioren und Senior<strong>in</strong>nen‹ zentrale <strong>Alters</strong>modelle herausarbeitet. Diesenalten Figuren werden mit <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Alltagswirklichkeit zu beobachtendenPaarkonstellation ›alter Mann und Mädchen‹ und <strong>der</strong> von Schlaffer alskulturelle Opposition hierzu verstandenen ›unwürdigen Greis<strong>in</strong>‹ zweiFigurationen gegenübergestellt, die vor allem auf kultureller und wenigerauf literarischer Ebene untersucht werden. So wird am Beispiel von Künstlerpersönlichkeitenaufgezeigt, wie <strong>der</strong> alte Mann durch e<strong>in</strong>e junge Frau alsMuse an se<strong>in</strong>er Seite aufgewertet wird, und wie sich dieses Modell – junge1996, S. 60-102. Allerd<strong>in</strong>gs wird bei <strong>der</strong> Lektüre von Opolka nicht klar, worauf sichHaller genau bezieht, da Opolka ke<strong>in</strong>e explizite Beziehung zwischen literarischenGattungen und Göckenjans Diskursstrategien herstellt.29Haller, ›Age<strong>in</strong>g trouble.‹, S. 176.30Schlaffer, Das Alter.31Haller, ›Age<strong>in</strong>g trouble.‹, S. 181.32Vgl. auch Joern Rauser: ›Über die Herbstwelten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur‹: Alter und Altern alsThemenkomplex bei Hans Henny Jahnn und Arno Schmidt. Frankfurt a.M., u.a. 2001.In se<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>leitenden Kapitel gibt Rauser e<strong>in</strong>en Überblick über die Geschichte <strong>der</strong><strong>Alters</strong>darstellung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur. Allerd<strong>in</strong>gs zeigt er lediglich die Vielfalt <strong>der</strong> <strong>Alters</strong>darstellungen<strong>in</strong> <strong>der</strong> Literaturgeschichte auf. E<strong>in</strong>e Kategorisierung nimmt er nichtvor.16

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