18 Hanspeter Mattes: <strong>Politische</strong> <strong>Transformation</strong> <strong>und</strong> <strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong> <strong>Tunesien</strong>, <strong>Ägypten</strong> <strong>und</strong> Libyen seit 2011H<strong>in</strong>sichtlich der feststellbaren unterschiedlichen Länge der e<strong>in</strong>zelnen Konfliktphasen <strong>in</strong><strong>Tunesien</strong> <strong>und</strong> <strong>Ägypten</strong> e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> <strong>in</strong> Libyen andererseits s<strong>in</strong>d Erklärungsansätze notwendig,die sowohl die Sozialstruktur der Gesellschaften als auch den Zerfalls‐ <strong>und</strong> Auflösungsprozessstaatlicher Strukturen berücksichtigen. Zu untersuchen wäre die Hypothese,ob e<strong>in</strong>e Militärführung mit starken korporatistischen Eigen<strong>in</strong>teressen e<strong>in</strong>e kurze Konfliktphasebegünstigt <strong>und</strong> auf der anderen Seite stark tribal geprägte Sicherheitskräfte, diezugleich Sicherungs<strong>in</strong>strument der tribal geprägten Staatsführung s<strong>in</strong>d, den Konfliktverlaufverschärfen, weil es (wie <strong>in</strong> Libyen h<strong>in</strong>sichtlich der politisch dom<strong>in</strong>ierenden Stammesallianzder Qadadfa, Warfalla <strong>und</strong> Maqarha) „um alles oder nichts“ geht. 21Auch h<strong>in</strong>sichtlich des Verlaufsprofils der Postkonfliktphase (<strong>Transformation</strong>sphase) lassensich vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> der ereignisgeschichtlichen Entwicklung <strong>in</strong> <strong>Tunesien</strong>, <strong>Ägypten</strong><strong>und</strong> Libyen <strong>und</strong> dem Umfang der erforderlichen Institutionenneubildung mehrere Hypothesen(siehe Graphik 2) formulieren.Graphik 2: Phasen der politischen <strong>Transformation</strong> <strong>und</strong> Konflikt<strong>in</strong>tensität1 PräkonfliktphaseIn allen drei Staaten(<strong>Tunesien</strong>, <strong>Ägypten</strong>,Libyen) langjährigeautoritäre Regime2 Konfliktphase2011 (kurz)Sturz des Präsidenten(<strong>Tunesien</strong>, <strong>Ägypten</strong>)3 Postkonfliktphase(<strong>Transformation</strong>sphase)seit Januar/Februar 2011 (<strong>Tunesien</strong>,<strong>Ägypten</strong>) bzw. Oktober 2011(Libyen)Konfliktphase 2011 (lang)Bürgerkrieg erzw<strong>in</strong>gtMachtwechsel (Libyen)Regimewechsel (LY)Übergang von 1 zu 2: Dauer der Konfliktphase ‒ Hypothesen1 – Je tribaler die Gesellschaft, desto länger dauert der Konflikt.2 – Je korporatistischer das Selbstverständnis der Armee, desto kürzer der Konfliktverlauf.Übergang von 2 zu 3 / Verlauf der Postkonfliktphase: Hypothesen1 – Je ger<strong>in</strong>ger die direkten Institutionene<strong>in</strong>griffe s<strong>in</strong>d, desto schneller <strong>und</strong> stabiler wird der politische Neuanfangerfolgen.2 – Je weniger das staatliche <strong>Gewalt</strong>monopol fragmentiert/zerfallen ist, desto schneller wird die öffentliche Sicherheitwiederhergestellt werden können.3 – Je größer die <strong>in</strong>stitutionellen E<strong>in</strong>griffe s<strong>in</strong>d, desto größer s<strong>in</strong>d die Probleme beim Aufbau e<strong>in</strong>er neuen Sicherheitsarchitektur<strong>und</strong> desto größer s<strong>in</strong>d die Sicherheitsherausforderungen.Quelle: Eigener Entwurf21 Offensichtlich hat e<strong>in</strong> ausgeprägtes korporatistisches Eigen<strong>in</strong>teresse (wie im Fall der ägyptischen Armee) ke<strong>in</strong>enverlängernden E<strong>in</strong>fluss auf den Konfliktverlauf, denn die „Tage des Zorns“ dauerten <strong>in</strong> <strong>Ägypten</strong> nur 18 Tage.GIGA Work<strong>in</strong>g Papers WP 219/2013
Hanspeter Mattes: <strong>Politische</strong> <strong>Transformation</strong> <strong>und</strong> <strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong> <strong>Tunesien</strong>, <strong>Ägypten</strong> <strong>und</strong> Libyen seit 2011 19Die Erosion des staatlichen <strong>Gewalt</strong>monopols <strong>und</strong> die nach dem Machtwechsel auftretendenSchwierigkeiten neu e<strong>in</strong>gesetzter (Übergangs‐)Regierungen, das staatliche <strong>Gewalt</strong>monopolwieder zu errichten, wird besonders deutlich am Fallbeispiel Libyen, das e<strong>in</strong>en Bürgerkriegerlebte <strong>und</strong> wo es zu e<strong>in</strong>er landesweiten Mobilisierung <strong>und</strong> Bewaffnung kam. Diegroße Anzahl der bewaffneten <strong>und</strong> kampferfahrenen Gruppen/Brigaden, die sich weigern,die Waffen abzugeben, um ihr wichtigstes Druckmittel zur Interessenumsetzung nicht ausder Hand zu geben, sowie die ethnischen <strong>und</strong> religiös motivierten <strong>Gewalt</strong>konflikte (Stand:März 2013), <strong>in</strong> die diese Brigaden verwickelt s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Indiz für die fehlende Bereitschaftdieser Brigaden, e<strong>in</strong> staatliches <strong>Gewalt</strong>monopol anzuerkennen <strong>und</strong> für das anhaltende Problem,das sich daraus für den nationalen Institutionenbildungsprozess der Regierung ergibt.Gerade das tunesische Beispiel zeigt allerd<strong>in</strong>gs, dass auch <strong>in</strong> Gesellschaften, die e<strong>in</strong>e nurkurze heiße Konfliktphase vor dem Machtwechsel erlebten, die <strong>Gewalt</strong>bereitschaft <strong>und</strong> derE<strong>in</strong>satz von <strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong> unterschiedlichen Bereichen bzw. zur Umsetzung unterschiedlicherZiele <strong>in</strong> der <strong>Transformation</strong>sphase nach dem Machtwechsel e<strong>in</strong>en deutlichen quantitativen<strong>und</strong> qualitativen Aufschwung erleben kann.Auffallend sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> <strong>Tunesien</strong> die Kausalbeziehung zwischen <strong>Gewalt</strong>bereitschaft <strong>und</strong>Institutionenbildungsprozess. Die <strong>Gewalt</strong>bereitschaft nahm zu, je länger sich die Phase derInstitutionenbildung h<strong>in</strong>zog <strong>und</strong> die wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale Leistungsfähigkeit des Staatesdefekt blieb bzw. sich verschlechterte. Die <strong>Gewalt</strong>bereitschaft <strong>und</strong> die umgesetzten <strong>Gewalt</strong>aktesteigerten sich zudem, je angefochtener die Position der dom<strong>in</strong>anten Regierungspartei,der islamistischen Ennahda‐Partei, wurde, <strong>und</strong> je gefährdeter sie selbst <strong>und</strong> diejenigenOrganisationen <strong>und</strong> Gruppen, die Ennahda unterstützen, die Umsetzung ihres islamistischenProjekts e<strong>in</strong>stufen. Je mehr Widerstand sich gegen die Politik der Ennahda organisierte,desto mehr organisierte sich auch der „Ennahda‐Widerstand“ gegen diese Opposition (Eskalationsspirale).Festzustellen ist zudem, dass die Übergriffe auf Andersdenkende <strong>und</strong> nichtislamischeGlaubensgeme<strong>in</strong>schaften (<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Christen/Kopten, aber auch Juden) umso stärkerausfielen, je mehr sich die machtpolitische Position der islamistischen Akteure im <strong>Transformation</strong>sprozesskonsolidierte. Diese Kausalitätsbeziehung gilt <strong>in</strong> allen drei Staaten.3.2 Intensivierung alter <strong>und</strong> Entstehung neuer KonflikteDie Sicherheitsherausforderungen seit den Machtwechseln <strong>in</strong> <strong>Tunesien</strong>, <strong>Ägypten</strong> <strong>und</strong> Libyens<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong> statisches Phänomen. Sie veränderten sich im Zeitverlauf seit 2011. Allerd<strong>in</strong>gs bilden‒ wie bereits vor den Machtwechseln ‒ Terrorismus, Krim<strong>in</strong>alität <strong>und</strong> soziale Protestedie drei Hauptkomponenten der Sicherheitsdefizite (Mattes 2012) mit signifikanter quantitativerVerdichtung der E<strong>in</strong>zelereignisse. Aber auch unter qualitativen Gesichtspunkten habensich neue Aspekte an Sicherheitsdefiziten eröffnet, die <strong>in</strong> dieser Form vor den Machtwechselnnicht existent waren <strong>und</strong> die sowohl e<strong>in</strong>e territoriale als auch e<strong>in</strong>e ethnisch‐tribale sowieWP 219/2013GIGA Work<strong>in</strong>g Papers