12 Hanspeter Mattes: <strong>Politische</strong> <strong>Transformation</strong> <strong>und</strong> <strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong> <strong>Tunesien</strong>, <strong>Ägypten</strong> <strong>und</strong> Libyen seit 2011ums <strong>und</strong> des Innenm<strong>in</strong>isteriums gestellt haben, h<strong>in</strong>zu. Zunehmend aktiv werden aber auchprom<strong>in</strong>ente E<strong>in</strong>zelpersonen <strong>und</strong> zivilgesellschaftliche Gruppen wie die tunesische Vere<strong>in</strong>igungfür e<strong>in</strong>e demokratische Polizei oder der libysche Großmufti, der sich <strong>in</strong> den letztenMonaten mehrfach für die E<strong>in</strong>sammlung von Waffen <strong>und</strong> das Ende politischer Morde aussprach.Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diese Kategorie mit aufzunehmen.Die „Produzenten von Unsicherheit“, also jene Akteursgruppen, die mit ihren Aktivitätendie öffentliche Sicherheit unterm<strong>in</strong>ieren <strong>und</strong> das staatliche <strong>Gewalt</strong>monopol herausfordern,s<strong>in</strong>d h<strong>in</strong>gegen <strong>in</strong> der Regel militante Islamisten (primär Salafisten mit ihren Übergriffenu.a. auf Sufischre<strong>in</strong>e, Kirchen, aber auch Bars <strong>und</strong> Schönheitssalons), neugebildete Milizenzum Schutz der Moral (Sittenwächter), terroristische Zellen mit <strong>und</strong> ohne Verb<strong>in</strong>dungzu Al‐Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM), aber auch gewaltbereite Demonstranten gegenArbeitslosigkeit <strong>und</strong> soziale Marg<strong>in</strong>alisierung, gewaltbereite Verfechter ethnisch begründeterForderungen sowie Mitglieder krim<strong>in</strong>eller Banden – <strong>in</strong>sbesondere die <strong>in</strong> der Regeldem Bereich Organisierte Krim<strong>in</strong>alität zuzuordnenden <strong>und</strong> häufig grenzüberschreitend operierendenWaffen‐ <strong>und</strong> Drogenschmuggler sowie Schleusergruppen illegaler Migranten.H<strong>in</strong>zuweisen ist schließlich auf e<strong>in</strong>e dritte Gruppe, die h<strong>in</strong>sichtlich ihres Verhältnisseszur öffentlichen Sicherheit ambivalent ist, weil sie sowohl Sicherheit als auch Unsicherheitproduzieren kann. Zwei Beispiele: Diejenigen islamistischen Kämpfer, die <strong>in</strong> Libyen 2012 Teilder Armee oder des mit polizeilichen Sicherungsaufgaben betrauten Supreme Security Committeesgeworden s<strong>in</strong>d, haben im Fall der Zerstörung von Sufischre<strong>in</strong>en durch die Salafistennicht e<strong>in</strong>gegriffen, die Zerstörungsaktionen ja sogar teilweise gedeckt oder durch ihr passivesVerhalten erst möglich gemacht (vgl. AI 2012b).In <strong>Tunesien</strong> s<strong>in</strong>d die Anfang 2011 entstandenen Ligen zum Schutz der Revolution, die heuteunter Kontrolle der Ennahda stehen, ke<strong>in</strong>e stabilisierenden Verbände mehr, sondern sie polarisieren<strong>und</strong> praktizieren e<strong>in</strong>seitig zugunsten der Regierungspartei Ennahda politische <strong>Gewalt</strong>.Sie gelten als Miliz der Ennahda <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d damit destabilisierende Organe e<strong>in</strong>er Partei, die vorden Wahlen im Oktober 2011 mit dem Anspruch angetreten ist, für öffentliche Sicherheit zusorgen. Seit der Regierungsübernahme Ennahdas im Januar 2012 wurden aus machtpolitischenGründen Gegner <strong>in</strong> Schach gehalten <strong>und</strong> e<strong>in</strong>geschüchtert <strong>und</strong> mittels <strong>Gewalt</strong> an Protesten<strong>und</strong> politischen Aktivitäten geh<strong>in</strong>dert, die sich gegen Ennahda richteten bzw. kritisch gegenüberEnnahda waren. Damit soll <strong>in</strong> der Phase der laufenden Institutionenbildung <strong>und</strong> dernoch nicht abgeschlossenen Verfassungsdiskussion der E<strong>in</strong>fluss Ennahdas konsolidiert werden.Probates Mittel zur Ausschaltung von Konkurrenz war <strong>und</strong> ist landesweit der E<strong>in</strong>satzgewaltbereiter Unterstützer („eigener“ Akteure wie die Ligen zum Schutz der Revolution), dieDuldung <strong>und</strong> Begünstigung gewaltsamer Aktionen gleichges<strong>in</strong>nter anderer Akteure (z.B. salafistischeVere<strong>in</strong>igungen <strong>und</strong> Gruppen) oder die Duldung von Aufforderungen zu <strong>Gewalt</strong> seitensislamistischer Imame <strong>in</strong> ihren Predigten, sofern dies die eigenen Positionen stärkt. DieseVere<strong>in</strong>igungen, Gruppen <strong>und</strong> E<strong>in</strong>zelpersonen hatten ke<strong>in</strong>e Strafverfolgung oder, wenn es dennochzu Anklagen kam, ke<strong>in</strong>e harten Strafen zu befürchten.GIGA Work<strong>in</strong>g Papers WP 219/2013
Hanspeter Mattes: <strong>Politische</strong> <strong>Transformation</strong> <strong>und</strong> <strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong> <strong>Tunesien</strong>, <strong>Ägypten</strong> <strong>und</strong> Libyen seit 2011 13Graphik 1: Produzenten von Sicherheit versus Produzenten von Unsicherheit <strong>in</strong> <strong>Tunesien</strong>,<strong>Ägypten</strong> <strong>und</strong> Libyen seit 2011Produzenten von SicherheitAusgangspunkt:In allen drei nordafrikanischen <strong>Transformation</strong>sstaatenexistieren Produzenten von Sicherheit,die im Rahmen des staatlichen <strong>Gewalt</strong>monopolsaktiv werden oder (wie <strong>in</strong> Libyen) von derStaatsführung beauftragt s<strong>in</strong>d, das <strong>Gewalt</strong>monopolwiederherzustellenProduzenten von Unsicherheit <strong>und</strong>ihre AktionsbereicheAusgangspunkt:In allen drei nordafrikanischen <strong>Transformation</strong>sstaatenist als Folge des entstandenen Sicherheitsvakuumse<strong>in</strong> Anstieg an gewaltförmigen Konflikten,an Krim<strong>in</strong>alität <strong>und</strong> an terroristischen Aktivitätenzu verzeichnen.Bereiche, <strong>in</strong> denen Produzenten von Unsicherheitwirken: Nationale Armee Teilstreitkräfte (Heer, Mar<strong>in</strong>e, Luftwaffe) Militärpolizei Staatssicherheit (al‐amn al‐amm) Nationalgarde/Gendarmerie Polizei Grenzpolizei/Zoll <strong>in</strong> Armee <strong>und</strong> Polizei <strong>in</strong>tegrierte revolutionäreBrigaden (teilweise islamistischausgerichtet) (Libyen 2011/2012) Nachrichtendienste (Inland/Ausland)Maßnahmen<strong>in</strong> <strong>Tunesien</strong>, <strong>Ägypten</strong> <strong>und</strong> Libyen: E<strong>in</strong>satz von Sicherheitsorganen neue Gesetze/Dekrete gegebenenfalls Verhängung des Ausnahmezustandes/Notstands Bereitschaft zur regionalen <strong>und</strong> <strong>in</strong>ternationalenKooperationEthnisch/tribale Konflikte um den Zugangzu Ressourcen/Dispositionsgewalt überRessourcenerlöseReligiöse KonflikteIntrareligiös: Salafisten versus Andersdenkende;Sunniten versus SchiitenInterreligiös: Muslime versus ChristenMachtpolitische Konflikte<strong>Politische</strong> <strong>und</strong> materielle Forderungen z.B.der revolutionären Milizen <strong>in</strong> Libyen;<strong>Tunesien</strong>: Die nichtstaatlichen Komiteeszum Schutz der Revolution s<strong>in</strong>d de factoProduzenten von UnsicherheitSoziale KonflikteMilitante, gewaltbereite Demonstranten(Übergriffe auf staatliche E<strong>in</strong>richtungen)Terrorismus<strong>Gewalt</strong>akte von Al‐Qaida im IslamischenMaghreb (AQIM), salafistischen jihadistischenGruppenKrim<strong>in</strong>alität, primär Drogenhandel, Waffenhandel,Schleuseraktivitäten, Entführungen,ProduktpiraterieQuelle: eigener Entwurf.Die genannten Akteursgruppen griffen nicht alle gleichzeitig, sondern zu unterschiedlichenZeitpunkten <strong>in</strong> den jeweils nationalen <strong>Transformation</strong>sprozess e<strong>in</strong>, wobei die „Interventionszeitpunkte“eng mit dem Entstehungskontext der entsprechenden Akteursgruppen <strong>und</strong>ihren Zielen verknüpft sche<strong>in</strong>en. Warum diese Ablaufprozesse <strong>in</strong> allen drei <strong>Transformation</strong>sstaatenzeitlich deutlich unterschiedlich abliefen, bleibt zu h<strong>in</strong>terfragen. Offensichtlich ist allerd<strong>in</strong>gs,dass zum Beispiel Konflikte zwischen sogenannten „Revolutionsanhängern“, alsoUnterstützern e<strong>in</strong>es Macht‐ <strong>und</strong> Regimewechsels, ke<strong>in</strong> Phänomen der ersten St<strong>und</strong>e nachdem Machtwechsel waren. 11 Sie traten erst im Laufe des weiteren <strong>Transformation</strong>sprozesses11 Die Konflikte zwischen revolutionären Brigaden (<strong>in</strong>sbesondere aus Rivalität um die Kontrolle von Territorium)s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Libyen erst nach dem Sturz Qaddafis im Oktober 2011 ausgebrochen.WP 219/2013GIGA Work<strong>in</strong>g Papers