Selbst als er der jungen Rosaura zum dritten Mal begegnet underkennt, <strong>das</strong>s er womöglich <strong>ein</strong>em bösen Spiel aufgesessen ist,lässt er sich von s<strong>ein</strong>em Aufstieg nicht mehr abhalten. Er vergibts<strong>ein</strong>em Vater, begnadigt s<strong>ein</strong>e Widersacher, bestraft die Revolutionäre,verzichtet aus Gründen der politischen Raison auf dieFrau, die er liebt – die Ordnung der Welt, wie Calderón und mitihm <strong>das</strong> Zeitalter des Barock sie sahen, ist wieder hergestellt.Diese Weltordnung, die den Hintergrund von <strong>das</strong> <strong>leben</strong> <strong>ein</strong> <strong>traum</strong>bildet, ist uns heute fremd. Die Fragen dagegen, die CalderónsStück aufwirft, sind uns immer noch (oder wieder?) vertraut.Angesichts des barocken Weltverständnisses, <strong>das</strong>s unsereirdische Welt nur auf Sch<strong>ein</strong> gegründet sei, fragten bereitsCalderóns Zeitgenossen, welche Erkenntnis dann noch alsgesichert gelten könne. Woher weiß ich, wer ich bin, und <strong>das</strong>sich wach bin und nicht träume? Wie kann ich überhaupt sichers<strong>ein</strong>, <strong>das</strong>s ich ich bin? Zeitgleich mit der Entstehung von<strong>das</strong> <strong>leben</strong> <strong>ein</strong> <strong>traum</strong> formulierte René Descartes s<strong>ein</strong>eberühmte Erkenntnis, <strong>das</strong>s wir zwar alles, was wir wahrnehmen,in Zweifel ziehen müssten, aber immerhin wir selbst es sind,die zweifeln: Ich zweifle – oder träume –, also bin ich.Heute zählt die Frage, ob wir wachen oder träumen, ob <strong>das</strong>,was wir er<strong>leben</strong>, real ist oder nur <strong>ein</strong>e Simulation, zu denbeliebtesten Sujets der Traumfabrik Hollywood, wie etwa indem Sensationserfolg die matrix aus dem Jahr 1999.Auch <strong>ein</strong> anderes Motiv des Stücks hat neuerdings an Brisanzgewonnen. So klagt Sigismund zu Beginn, <strong>das</strong>s ihm, andersals den Tieren, die er von s<strong>ein</strong>em Kerker aus sieht, die Freiheitverwehrt bliebe, obwohl er doch im Unterschied zu jenenüber <strong>ein</strong>en freien Willen verfüge. Doch nicht nur die Gefängnismauernlimitieren diesen Willen. Basilius ist davon überzeugt,<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Verhalten s<strong>ein</strong>es Sohnes und damit dessen Schicksalvorbestimmt ist. Aber wer oder was bestimmt, was ich bin undwie ich mich verhalte? Calderóns Glaube an die göttliche Vorbestimmungist heute abgelöst vom Glauben an die neuestenErkenntnisse der Hirn- und Genforschung, die den freien Willenals Illusion ersch<strong>ein</strong>en lassen. Mag s<strong>ein</strong>, vielleicht sind wirdurch Vorgänge in unserem Gehirn oder durch unser Erbgutviel stärker festgelegt, als wir <strong>das</strong> lange Zeit wahrhabenwollten. Doch was sagt diese Feststellung aus, wem ist damitgedient? In <strong>das</strong> <strong>leben</strong> <strong>ein</strong> <strong>traum</strong> liest der König in den Sternen,was er in ihnen lesen will – und macht s<strong>ein</strong> Kind womöglichdurch den brutalen präventiven Freiheitsentzug erst zu demUngeheuer, vor dem er sich fürchtet.Ob sich die Vorahnung des Königs schließlich bewahrheitet,bleibt offen. Sigismund wird am Schluss des Stücks zum Königgekrönt und stellt s<strong>ein</strong>en freien Willen aus freien Stücken inden Dienst <strong>ein</strong>er verm<strong>ein</strong>tlich höheren Sache. Er hat gelernt,sich zu beherrschen – vielleicht aus tatsächlicher Einsicht,vielleicht auch nur aus Angst, im nächsten Moment aus s<strong>ein</strong>emTraum aufzuwachen. Aber ist er darum weniger gefährlich?Macht <strong>ein</strong> Herrscher, der nur aus Angst richtig handelt, nichtvor allem – Angst?Christian Holtzhauer6 7
Calderónund <strong>das</strong> Siglo de OroPedro Calderón de la Barca wird 1600 in Madrid als Sohn<strong>ein</strong>er Adelsfamilie geboren. Als Zweitgeborener wird ihmnahegelegt, Priester zu werden – <strong>ein</strong> Ratschlag, den er nachdem Tod s<strong>ein</strong>er Mutter 1610 und s<strong>ein</strong>es Vaters 1615 befolgt.Der Besuch des Colegio Imperial, <strong>ein</strong>er Jesuitenschule, prägtCalderón nachhaltig – fassbar wird dies im Vergleich vonCalderóns Werken mit den jesuitischen Lehren und Theaterpraktiken:Die vor dem Hintergrund der Gegenreformationgegründete Jesuitenschule spielt im 17. Jahrhundert <strong>ein</strong>e großeRolle im Bildungssystem Europas. Ihre Lehren fordern dieAusrichtung des Lebens nach den Grundsätzen des christlichenMenschenbildes; ihre Theaterpraxis stellt die katholischeKirche als triumphierende Siegerin dar und spricht Zweiflerauf <strong>ein</strong>er emotionalen Ebene an, um sie so zu bekehren.Nach der Teilnahme an <strong>ein</strong>em Dichterwettbewerb im Jahre 1620und mit der Aufführung s<strong>ein</strong>es ersten Theaterstücks amor, honory poder 1623 beginnt Calderóns erste Schaffensphase, die ins<strong>ein</strong>er Anstellung als Hofdramatiker für König Philipp IV. im Jahre1635 – kurz nach Entstehung von la vida es sueño (<strong>das</strong> <strong>leben</strong><strong>ein</strong> <strong>traum</strong>) – ihren Höhepunkt findet. Calderóns Einsatz im Feldzuggegen Katalonien in den Jahren 1640 und 1642 beendet dieseerste Schaffensphase. Mit der Weihung zum Priester 1651 beginntCalderóns zweite Schaffensperiode.9