W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 96auch die Wissenschaft wichen zurück, als dieser große Geist das russische Leben auf das offeneMeer der Weltgeschichte hinausführte! Peter der Große glaubte nicht an die Schwächen dermenschlichen Natur; erst auf dem Sterbelager spürte er, daß auch er ein Sterblicher war: ‚Anmir kann man erkennen, ein wie gebrechliches Geschöpf der Mensch ist‘ – sagte er in denQualen des Todes! So war Peter der Große! Er mußte die Umgestaltung vollziehen. Und wasfür eine Umgestaltung! Von den Gliedmaßen bis zum letzten Schlupfwinkel des menschlichenGedankens! Er schert die Bärte mit dem Messer und fällt die Ignoranz mit dem Beil. Die Köpfevon tausend Strelitzen fallen auf dem Preobrashensker Feld. Selbst eine Bittprozession deralten Zarenstadt kann seinen Rechtsspruch nicht mildern.“ (Seite 60-61.)“Der Umgestalterhegte während seines ganzen Lebens in sich die geheime Überzeugung, daß nicht allein Geburtihn auf den Thron erhoben, sondern eine höhere Macht ihn zur Herrschaft über die Völkerberufen hatte! Er fühlte, daß nicht das Blut, sondern der Geist vor ihm hergehen mußte. Erverstieß seinen Sohn und hatte den Wunsch, daß der Würdigste seine Nachfolge antrete. Aberder große Mann verstand sich nicht auf unsre Schwächen! Er wußte nicht, daß wir so Fleischwie Blut sind. Er war groß und stark, wir [162] aber waren so klein wie schwächlich geboren,wir brauchten allgemeine Regeln der Menschlichkeit! Peter der Große hatte keinen Gefallenan unsrer alten Staatsordnung. Die Bojarenduma des Zaren mußte dem Senat Platz machen,die Gebietsämter – Landräten und Landgerichten. Ihm gefielen auch unsre Gerichtsvollzieher,unsre Amtsschreiber und Schriftführer nicht. Er hätte an ihre Stelle lieber gefangene Schweden,Sekretäre und Schreiber der kaiserlichen Kanzlei gesetzt. Ihm gefiel die VergangenheitRußlands nicht. Aber alle diese Änderungen sind nichts im Vergleich mit der Umgestaltungdes Staatsdienstes. Er, der selbst als Gardesoldat angefangen hatte, war dann langsam dieTreppe der Subordination emporgestiegen und vermachte sie seinen Untertanen. Und waswurde aus der früheren Freigebigkeit, aus dem Brot des Zaren? Im Schweiße ihres Angesichtsaßen es die Diener Peters des Großen. Nirgends war er so streng in seiner Rechtsprechung wiegegen Beamte, die umsonst ihr Brot aßen, ihre Untergebenen betrogen und den Staat bestahlen.Rücksichtslos gegenüber dem Privateigentum, wenn er ans Vaterland dachte, war er beijeder Kopeke, die ein Steuereinnehmer überflüssig einzog oder ein Kommissionär einemKaufmann zuschob, unerbittlich gegenüber dem Schuldigen.“ (Seite 61 bis 62.)Ja, hier hatte das Volk etwas zum Nachdenken, hier hatte es Gelegenheit, sich gerührt an diegute alte Zeit zu erinnern und sie in elegischen Anrufungen der neuen und der alten Zeit zupoetisieren in der Art der folgenden, mit der ein wahrscheinlich in jener Epoche entstandenesMärchen beginnt: „Laßt euch sagen, liebe Leute, hört die Botschaft, hegt wie Schwanensangin eurer Brust meine Worte, meine einfachen, wie in alten Jahren einst die alten Leute lebten.Ja, meine Lieben, das waren weise Zeiten, weise Zeiten, und im rechten Glauben stand allesVolk, und es lebten die Alten nicht auf unsre Art, nicht auf unsre Art, nicht nach fremderWeise, nein, auf ihre Weise und im rechten Glauben. Und das Leben, ach das Leben, war sofrei und ungebunden. Früh am Morgen stand man auf, beim Morgenrot, mit der Quelle Wasserwusch man sich, mit dem blanken Tau, betete zu allen Seligen und Heiligen, neigte allden Seinen sich, von Osten bis nach Westen, ging zur schönen, freien Treppe mit dem Gitterchen,rief die treuen Knechte auf zu guten Taten, und die Alten hielten Gericht, die Jungengehorchten: kluge Gedanken dachten die Alten sich aus, und die Jungen [163] taten, was ihnengesagt wurde. Und die jungen Frauen versahen das Haus, und die schönen Mädchenfochten Kränze zum Reigen, die alten Mütterchen schalteten und walteten und erzähltenMärchen. Große Freuden gab’s am großen Tag, Not und Kummer gab’s in schweren Zeiten.Doch was war, ist mit Gewesenem zugewachsen, und was sein wird, wird auf alte Weise nichtmehr sein, nein, auf neue Weise!“Und es ist gut, daß es zugewachsen ist! Sagt es noch so schön, besingt es noch so süß – unswerdet ihr mit diesem freien, ungebundenen Leben nicht verführen. Wir werden Promenade,OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013
W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 97Theater, Bälle und Maskeraden dem Winden von Kränzen zum Reigen vorziehen. Was dasFrühaufstehen angeht, so kommt es nicht darauf an, früh aufzustehen, sondern nicht umsonstaufzustehen: wer nichts zu tun hat, tut besser daran, ein bißchen länger zu schlafen. Wir verneigenuns nicht nur nicht vor den Unsern in Abwesenheit in alle vier Himmelsrichtungen,sondern auch nicht, wenn wir ihnen begegnen, wenn unsre Verwandtschaft mit ihnen nur imBlute und nicht in der Liebe und im Geiste liegt. Auch bei uns tun die jungen Leute, was ihnenvon Älteren gesagt wird, aber es kommt dafür auch vor, daß die Alten tun, was ihnen vonden Jungen gesagt wird: denn das Recht, ein Vorgesetzter zu sein, hat bei uns nicht der Älteste,sondern der es am meisten verdient, und Verdienst messen wir nicht nach grauen Haaren,sondern nach Verstand, Talent und Leistung. Die Anordnungen Suworows führten nicht nurjüngre Offiziere aus, sondern auch Generale, die an Jahren älter waren und durch Geburt höherstanden als er. Ja, wir können solche rührselige Loblieder auf die gute alte Zeit nicht ohnemitleidiges Lächeln anhören; doch wir verstehen, daß das damalige einfältige Volk auf seineWeise recht hatte. Sagen wir ihm von ganzem Herzen: „Gott hab euch selig, in EwigkeitAmen!“ Mit seinen Leiden und seiner vielgeprüften Geduld hat es unser Glück und unsreGröße erkauft. An den Gräbern des Friedhofs der Geschichte darf es weder Flüche noch frechesLachen, weder Haß noch Gotteslästerung geben, sondern Liebe und gramvolles, andächtigesSinnen...Aber so ist eben die reine Wahrheit, so der unmittelbare Einfluß des Genies: schon als die ReformPeters noch in vollem Gange war, in der allerschwersten Zeit, hatte er Verehrer nicht nurunter den ihm ergebenen Leuten, sondern auch unter denen, die seine Umgestaltung scheelanblickten. Es schien, als ob alle, dem eigenen [164] Bewußtsein zuwider, die Notwendigkeiteiner radikalen Reform anerkannten, und es konnte nicht anders sein: Peter war zur rechtenZeit gekommen. Das Bedürfnis nach einer Umgestaltung hatte sich bereits während der HerrschaftAlexej Michailowitschs bemerkbar gemacht, und die Abschaffung der Rangfolge derBojaren bei der Ämterbesetzung unter Zar Fjodor Alexejewitsch war auch eine Folge diesesBedürfnisses. Aber alles blieb bei halben Maßnahmen, die keine wesentlichen Auswirkungenhatten. Es bedurfte einer vollständigen, radikalen Reform – „von den Gliedmaßen bis zumletzten Schlupfwinkel des menschlichen Gedankens“; zur Durchführung einer solchen Reformbedurfte es eines gigantischen Genies, als welches Peter erschien. Die Schlacht von Poltawamußte notwendig einen starken moralischen Einfluß auf das Volk haben: viele selbst der verbissenstenAnhänger der alten Zeit mußten in dieser Schlacht die Rechtfertigung der Reformerkennen. Die Rechtlichkeit und die Gerechtigkeit des Zaren, seine Zugänglichkeit für alle undjeden, diese Bereitschaft, persönlichen Feinden und Missetätern zu verzeihen, wenn er sah,daß sie bereuten, diese Bereitschaft, sie sogar zu erhöhen, wenn sie in ihrer Reue besondereFähigkeiten erkennen ließen, diese göttliche Entsagungsbereitschaft auf Kosten der eigenenPersönlichkeit und zugunsten der ewigen Wahrheit, diese erhabene Selbstvernichtung in derIdee seines Volkes und Vaterlandes – alles dies eroberte Peter die Herzen und Seelen seinerUntertanen bereits lange vor seinem Ende. Aber als er gestorben war, ohne jemanden, der ihmähnlich war, zu hinterlassen – erstarrte das Russenland, gleich als hätte ein Donnerschlag esbetäubt. Der beste Teil des Volkes, der der Umgestaltung große, unfreiwillige Opfer gebrachthatte, zitterte bereits um das künftige Geschick der Umgestaltung und befürchtete eine Wiederkehrder früheren Barbarei. Es war, als ahnte das Russenland jene dunkle Zeit voraus, woes sich auf der Spur, die Peter gebahnt hatte, würde hinschleppen müssen, ohne vorwärtszukommen;es war, als spürte es, daß seine strahlende Sonne für lange hinabgetaucht war, dieSonne, die mit Katharina II. wieder am Himmel aufgehen sollte, um ihn dann schon nichtmehr zu verlassen. Aber was für ein Schlag war der Tod Peters für seine Lieblinge, für dieMänner, die sein aufbauender Geist, sein schöpferisches Genie geschaffen und herangebildethatte! Hier ist das Zeugnis Neplujews über den niederschmetternden Eindruck, den er von derNachricht vom Tode Peters empfing: „Im [165] Jahre 1725, im Februar, erhielt ich die traurigeOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013
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