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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 92antreten ließ, schnitt er ihm jede Möglichkeit zum Rückzug und zur Flucht ab. Sei dem Staatenützlich, lerne – oder stirb: das war es, was mit Blut auf der Fahne seines Kampfes gegen dieBarbarei geschrieben stand. Deshalb mußte auch alles Alte bedingungslos dem Neuen Platzmachen, alles – sowohl die Kleidung wie die Frisur, der Bart wie die Sitten und die Gebräuche,die Häuser, die Straßen und der Staatsdienst. Man sagt, auf die Tat kommt es an undnicht auf den Bart; aber was war zu tun, meine Herren, wenn der Bart der Tat im Wegestand? Dann weg mit ihm mit Stumpf und Stiel, wenn er nicht selber abfallen will!Nichts läßt sich im einzelnen verstehen, sondern alles muß im Zusammenhang mit dem Allgemeinenbetrachtet werden. Die Lebens-[155]weise, die Kleidung und selbst die Launen derMode stehen bei den Europäern in engem Zusammenhang mit ihrer Wissenschaft, ihrer Bildung,ihrer Verwaltung, ihrer inneren (nicht militärischen) Kraft und mit ihren Gesetzen. Esgibt heute bei uns Leute, die, obwohl sie Bärte tragen, doch Bücher lesen und sich eine gewisseBildung angeeignet haben; aber man gehe zu ihnen in ihre Wohnung und betrachte sicheinmal ihre Familienbeziehungen und die Art, wie sie mit Leuten ihrer Welt umgehen – dannwird es einem schwer und traurig ums Herz, wenn man ein anständiger Mensch ist und innerlichewie äußerliche Schönheit in den Lebensformen wertschätzt. Aber heutzutage ist derBart nur ein Aushängeschild der Achtung für die Traditionen der alten Zeit, für Standessitten;manch einer kann sich ebensowenig entschließen, ihn abzulegen, wie zum erstenmal Austernzu essen: seine Furcht kommt ihm komisch vor, und doch kann er sich nicht entschließen.Das ist wenigstens noch erträglich und mehr komisch als schädlich. Aber zu Peters Zeitenlegte die Ignoranz des Volkes dem Bart eine Art religiöse Bedeutung bei. Er stand starrendzwischen Buch und Augen und machte das Lesen unmöglich. Das Rasiermesser sah man alsWaffe ausländischer Sittenverderbnis, bassurmanische Gottlosigkeit an. Nach dem treffendenAusdruck Marlinskis klammerte der russische Mensch sich mit beiden Händen an seinenBart, als sei er ihm ans Herz gewachsen. Die Fahne ist nicht dasselbe wie das Regiment; aberwenn die Fahne in der Schlacht verlorengeht, gilt das Regiment als nicht mehr bestehend, undes ist deshalb eine große Ehre, dem Gegner die Fahne abzujagen. Der Bart war die Fahne derIgnoranz – und Peter verstand, daß er ihn als erstes packen mußte.Einige Leute schreiben der Reform Peters als schädliche Folge zu, sie habe das Volk in eineunhaltbare Lage versetzt: ohne ihm echten Europäismus aufzupfropfen, habe sie es nur ausseiner heimatlichen Sphäre losgerissen und um seinen gesunden und kräftigen natürlichenSinn gebracht. So völlig falsch diese Meinung auch ist, so ist sie doch nicht ganz unbegründetund verdient jedenfalls eine Widerlegung. Tatsächlich hat die Reform zwar einerseits sozusagendie seelischen Kräfte begabter Leute wie der Scheremetjew, Menschikow und andererentfesselt, andrerseits aber aus der Mehrheit eine Art von Katzbucklern und Scharwenzlerngemacht. Es ist verständlich, daß alte Bojaren, die durch natürlichen Verstand und einen unbeugsamenCharakter ausgezeichnet waren, sich nicht von ihrer [156] ehrwürdigen Kleidungtrennen und nicht die rauhen Gebräuche der alten Zeit aufgeben wollten wie irgendein Romodanowski– es ist verständlich, mit welchem Gefühl tiefster Verachtung sie auf diese neugebacknenund hausbacknen Europäer blickten, denen aus mangelnder Gewohnheit der Degenzwischen die Beine geriet und der Dreimaster unter dem Arm herausfiel; die, wenn siesich einer Dame näherten, um ihr die Hand zu küssen, ihr auf die Füße traten, wie Papageienohne Sinn und Verstand Fremdwörter gebrauchten, Liebenswürdigkeit durch grobe, unverständlicheKurschneiderei ersetzten und wohl gar das eine oder das andere Kleid verkehrtherum anzogen. Auch heute noch kann man, nur in anderer Gestalt, bei uns diesen verzerrten,diesen Pseudo-Europäismus finden, diese Formen ohne Ideen, diese Höflichkeit ohne Achtungvor sich selbst und anderen, diese Liebenswürdigkeit ohne Ästhetik, diese Gecken undSalonlöwen ohne Grazie: der von Gogol verewigte berühmte Iwan Alexandrowitsch Chlestakowist einer von der bekannten Sorte der Europäer unsrer Zeit. Unsere Gallomanen,OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 93Anglomanen, Löwen, Wildesel, petits maîtres * , Agronomen, Komfortschwärmer passen soherrlich in die Gogolsche Komödie hinein – der eine, um mit Anna Andrejewna über dashauptstädtische Leben und den Umgang mit Gesandten und Ministern zu parlieren, der andere,um mit dem Postmeister Schpekin und dem Richter Ljapkin-Tjapkin über die politischenBeziehungen Frankreichs und der Türkei zu Rußland zu debattieren. Es ist auch eine Folgeder Reform Peters des Großen, wenn der geniale Geist Lomonossows in der Poesie so sterilund rhetorisch in Erscheinung tritt und unsere Literatur vor Puschkin mit Ausnahme Krylowssich so sklavisch-nachahmend, farblos und ohne jedes Interesse für das Ausland darstellt. Ja,das ist alles richtig, nur ist es ebenso töricht, die Schuld hierfür Peter zu geben, wie wennman einen Arzt beschuldigen wollte, der, um einen Menschen vom Fieber zu heilen, ihn zuerstbis zum äußersten mit Aderlassen schwächt und entkräftet und den Genesenden danndurch strenge Diät quält. Die Frage ist nicht, ob Peter uns zu Halbeuropäern und Halbrussenund folglich weder zu Europäern noch zu Russen gemacht hat: die Frage ist, ob wir für ewigin diesem charakterlosen Zustand bleiben müssen. Und wenn es nicht für ewig ist, wenn wirberufen sind, zu europäischen Russen und russischen Europäern zu werden, so dürfen wirPeter keinen Vorwurf machen, sondern wir müssen uns darüber wundern, wie er ein seit Anbeginn[157] der Welt so unerhörtes, so gigantisches Werk vollbracht hat! Die Frage liegtalso in den Worten „werden wir?“ – und wir können kühn und frei darauf antworten, daß wirnicht irgendwann einmal europäische Russen oder russische Europäer sein werden, sonderndaß wir bereits im Begriffe sind, es zu sein, und zwar seit der Zeit der Herrschaft KatharinasII., und daß es uns gegenwärtig und von Tag zu Tag besser gelingt. Wir sind jetzt schonSchüler und nicht Nachbeter des Europäismus, wir wollen nicht mehr weder Franzosen nochEngländer, noch Deutsche, sondern Russen im europäischen Geiste sein. Dieses Bewußtseindurchdringt alle Sphären unsrer Tätigkeit und kam in der Literatur kraß zum Ausdruck mitdem Auftreten Puschkins – dieses großen, selbständigen, durchaus nationalen Talents. Wennaber auch jetzt der große Akt der völligen Durchdringung unseres Nationalgeistes mit Europäismussich noch nicht vollzogen hat und sich noch lange nicht vollziehen wird, so beweistdas lediglich, daß Peter in dreißig Jahren ein Werk vollbracht hat, das ganzen Jahrhundertenzu tun gibt. Deswegen ist er auch ein Gigant unter den Giganten, ein Genie unter den Genies,ein Zar unter den Zaren. Selbst Napoleon hat einen Nebenbuhler in der Antike – Julius Cäsar:unser Peter hat von Anbeginn der Welt bis heute weder einen Nebenbuhler noch ein Vorbildgehabt; er ist nur sich selbst ähnlich und gleich. Und sein großes Werk wurde durch die bedingungsloseAnnahme von Formen und Worten vollbracht: eine Form ist nicht immer eineIdee, aber sie zieht häufig eine Idee nach sich; ein Wort ist nicht immer eine Tat, aber es ziehthäufig eine Tat nach sich. Unsere Literatur begann als Form ohne Gedanken, ging nicht ausdem Volksgeist hervor, sondern aus der reinen Nachahmung, und dennoch sollen wir unserenachahmende Literatur nicht verachten: ohne sie würden wir keinen Puschkin gehabt haben.Von der Literatur kann man auch auf alles andere schließen. Die Soldaten Peters des Großenverstanden nicht, warum man sie marschieren und Griffe kloppen lehrte; in diesem Falle leistetensie ihrem Väterchen Kommandeur, ohne nachzudenken, Gehorsam – und was geschah?–das Resultat ihres blinden Gehorsams und des Nachäffens der ausländischen Soldatenwaren die Einnahme von Asow, die Siege bei Lesnaja und Poltawa, die Eroberung dervon den Schweden beherrschten Ostseeländer. Unsere ersten Leute von Welt erschreckten dieeuropäische Gesellschaft durch ihren Tatarismus, aber bald traten bei uns Leute auf den Plan,die dieser Gesellschaft zur Zierde [158] gereichen konnten und selbst die Pariser durch ihreLiebenswürdigkeit und ihren bon ton [modisch] in Erstaunen setzten.Auch die Erbauung Petersburgs wird seinem großen Gründer von vielen Leuten zum Vorwurfgemacht. Man sagt: im äußersten Winkel des riesigen Staates, auf Sumpfland, in einem* eitler [junger] Mann mit auffallend modischer Kleidung und auffälligem Benehmen; Stutzer, Geck.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 93Anglomanen, Löwen, Wildesel, petits maîtres * , Agronomen, Komfortschwärmer passen soherrlich in die Gogolsche Komödie hinein – der eine, um mit Anna Andrejewna über dashauptstädtische Leben und den Umgang mit Gesandten und Ministern zu parlieren, der andere,um mit dem Postmeister Schpekin und dem Richter Ljapkin-Tjapkin über die politischenBeziehungen Frankreichs und der Türkei zu Rußland zu debattieren. Es ist auch eine Folgeder Reform Peters des Großen, wenn der geniale Geist Lomonossows in der Poesie so sterilund rhetorisch in Erscheinung tritt und unsere Literatur vor Puschkin mit Ausnahme Krylowssich so sklavisch-nachahmend, farblos und ohne jedes Interesse für das Ausland darstellt. Ja,das ist alles richtig, nur ist es ebenso töricht, die Schuld hierfür Peter zu geben, wie wennman einen Arzt beschuldigen wollte, der, um einen Menschen vom Fieber zu heilen, ihn zuerstbis zum äußersten mit Aderlassen schwächt und entkräftet und den Genesenden danndurch strenge Diät quält. Die Frage ist nicht, ob Peter uns zu Halbeuropäern und Halbrussenund folglich weder zu Europäern noch zu Russen gemacht hat: die Frage ist, ob wir für ewigin diesem charakterlosen Zustand bleiben müssen. Und wenn es nicht für ewig ist, wenn wirberufen sind, zu europäischen Russen und russischen Europäern zu werden, so dürfen wirPeter keinen Vorwurf machen, sondern wir müssen uns darüber wundern, wie er ein seit Anbeginn[157] der Welt so unerhörtes, so gigantisches Werk vollbracht hat! Die Frage liegtalso in den Worten „werden wir?“ – und wir können kühn und frei darauf antworten, daß wirnicht irgendwann einmal europäische Russen oder russische Europäer sein werden, sonderndaß wir bereits im Begriffe sind, es zu sein, und zwar seit der Zeit der Herrschaft KatharinasII., und daß es uns gegenwärtig und von Tag zu Tag besser gelingt. Wir sind jetzt schonSchüler und nicht Nachbeter des Europäismus, wir wollen nicht mehr weder Franzosen nochEngländer, noch Deutsche, sondern Russen im europäischen Geiste sein. Dieses Bewußtseindurchdringt alle Sphären unsrer Tätigkeit und kam in der Literatur kraß zum Ausdruck mitdem Auftreten Puschkins – dieses großen, selbständigen, durchaus nationalen Talents. Wennaber auch jetzt der große Akt der völligen Durchdringung unseres Nationalgeistes mit Europäismussich noch nicht vollzogen hat und sich noch lange nicht vollziehen wird, so beweistdas lediglich, daß Peter in dreißig Jahren ein Werk vollbracht hat, das ganzen Jahrhundertenzu tun gibt. Deswegen ist er auch ein Gigant unter den Giganten, ein Genie unter den Genies,ein Zar unter den Zaren. Selbst Napoleon hat einen Nebenbuhler in der Antike – Julius Cäsar:unser Peter hat von Anbeginn der Welt bis heute weder einen Nebenbuhler noch ein Vorbildgehabt; er ist nur sich selbst ähnlich und gleich. Und sein großes Werk wurde durch die bedingungsloseAnnahme von Formen und Worten vollbracht: eine Form ist nicht immer eineIdee, aber sie zieht häufig eine Idee nach sich; ein Wort ist nicht immer eine Tat, aber es ziehthäufig eine Tat nach sich. Unsere Literatur begann als Form ohne Gedanken, ging nicht ausdem Volksgeist hervor, sondern aus der reinen Nachahmung, und dennoch sollen wir unserenachahmende Literatur nicht verachten: ohne sie würden wir keinen Puschkin gehabt haben.Von der Literatur kann man auch auf alles andere schließen. Die Soldaten Peters des Großenverstanden nicht, warum man sie marschieren und Griffe kloppen lehrte; in diesem Falle leistetensie ihrem Väterchen Kommandeur, ohne nachzudenken, Gehorsam – und was geschah?–das Resultat ihres blinden Gehorsams und des Nachäffens der ausländischen Soldatenwaren die Einnahme von Asow, die Siege bei Lesnaja und Poltawa, die Eroberung dervon den Schweden beherrschten Ostseeländer. Unsere ersten Leute von Welt erschreckten dieeuropäische Gesellschaft durch ihren Tatarismus, aber bald traten bei uns Leute auf den Plan,die dieser Gesellschaft zur Zierde [158] gereichen konnten und selbst die Pariser durch ihreLiebenswürdigkeit und ihren bon ton [modisch] in Erstaunen setzten.Auch die Erbauung Petersburgs wird seinem großen Gründer von vielen Leuten zum Vorwurfgemacht. Man sagt: im äußersten Winkel des riesigen Staates, auf Sumpfland, in einem* eitler [junger] Mann mit auffallend modischer Kleidung und auffälligem Benehmen; Stutzer, Geck.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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