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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 89Die Verteidiger unserer alten, patriarchalischen Zeit pflegen zu sagen, auch in Europa sei esin den Zeiten der Barbarei nicht besser gewesen als bei uns. Das gilt für die Zeiten der europäischenBarbarei, aber bei uns gab es im 18. Jahrhundert vor der Regierungszeit KatharinasII. das, was es in Europa im 4. und 5. Jahrhundert gab – nämlich Foltern, Fanatismus, Aberglauben,aber nicht die Knute, die uns die Tataren geschenkt haben. Was aber das Wichtigsteist: in Europa entwickelte sich das Leben, waren die Ideen in Bewegung; neben dem Giftwuchs dort auch ein Gegengift. Wenn die Gesellschaft dort falsche Wege einschlug oder sichungenügend entwickelte, folgte sofort die Negierung dieser Entwicklung durch eine andere,die den Anforderungen der Zeit besser entsprach. Deshalb findet man sich auch unwillkürlichmit all den Schrecken ab, die es in Europa zu jenen Zeiten gab, findet sich mit ihnen ab, umihrer edlen Quelle, ihrer positiven Ergebnisse willen. Rußland dagegen war [150] in die Kettender Stagnation geschlagen, sein Geist war unter einer dicken Eisschicht eingesperrt undfand keinen Ausweg.Einige Leute sind der Meinung, Rußland hätte sich auch ohne gewaltsame Reform, ohne –wenn auch nur vorübergehende – Trennung von seinem Volkscharakter an Europa annähernkönnen, nur durch seine eigne Entwicklung, durch sein eignes Genie. Diese Meinung hatganz den Anschein einer Wahrheit und ist deshalb blendend und verführerisch, aber innerlichhohl wie eine große, schöne, aber taube Nuß: sie wird einfach durch die Erfahrung, durch dieTatsachen der Geschichte widerlegt.Niemals war Rußland mit Europa so nahe aneinandergeraten, so von Angesicht zu Angesicht,wie in der Epoche seines Interregnums. Der falsche Demetrius mit seiner verführerischenMarina Mnischek und seinen Polen war nichts anderes als ein Einbruch deutscher Sitten undGebräuche in die russischen, aber die Hauptursache seines Untergangs war, außer der Dreistigkeitseines Unternehmens, daß er nach dem Essen nicht auf der Ofenbank schlief, sonderndie öffentlichen Arbeiten inspizierte, daß er Kalbfleisch aß und am Samstag nicht ins Dampfbadging. Der Schwede de la Gardie war befreundet mit dem jungen russischen Helden Skopin-Schuiski;aber nach dessen Tod war er gezwungen, zum Feinde der Russen zu werden.Aber es gibt eine noch erstaunlichere Tatsache: das ist Nowgorod. Sehr treffend ist der russischeAusdruck: „Freistatt * Nowgorod“, und sonderbar klingt die Meinung vieler Gelehrten,die ganz naiv, d. h. im Ernst, in Nowgorod eine Republik und ein lebendiges Glied des hanseatischenBundes sahen. Tatsächlich waren die Nowgoroder Freunde der „Deutschen“ undim ständigen Umgang mit ihnen; die deutschen Ideen jedoch wehten sie nicht einmal an.Nowgorod war keine Republik, sondern eine „Freistatt“, in der es nicht bürgerliche Freiheit,sondern eine dreiste Ungebundenheit der Knechte gab, die irgendwie ihre Herren losgewordenwaren – und die Unterwerfung Nowgorods durch Iwan III. und Iwan Grosny war einenicht nur politisch, sondern auch sittlich gerechtfertigte Tat. Seit Erschaffung der Welt hat eskeine solche unsinnige Karikatur auf die Republik gegeben. Sie entstand, wie die Dreistigkeitbei einem Sklaven durchbricht, der sieht, daß sein Herr am auszehrenden Fieber erkrankt istund nicht mehr die Kraft hat, mit ihm wie es sich gehört, fertig zu werden; sie verschwand,wie dieser Sklave seine Dreistigkeit ablegt, sobald sein Herr wieder gesund wird. Der einewie der andere Iwan [151] hatten das verstanden: sie eroberten Nowgorod nicht, sondernbrachten es zum Gehorsam, als ein Stück Stammland, das sich empört hatte. Das kostete siekeinerlei besondere Anstrengung. Die Eroberung Kasans war für Iwan Grosny tausendmalschwieriger. Nein! Es gab eine Mauer, die Rußland von Europa trennte: diese Mauer konntenur irgendein Simson zum Einsturz bringen, der dann dem Russenland in der Gestalt Petersauch erschien. Unsre Geschichte ging andere Wege als die Geschichte Europas, und unsereMenschwerdung mußte sich von Grund aus anders vollziehen. Die nichtzivilisierten Länder* Asyl, Zufluchtsort (an dem Dinge getan oder gesagt werden können, die anderswo nicht möglich sind).OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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