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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 88üppig zu Ansehen, Macht, Reichtum, Bildung, Aufgeklärtheit und, fügen wir hinzu, zu Talentund innerer Würde aufblühte. Nur asiatische Seelen können Peter einen Vorwurf daraus machen,daß er dem Dienstadel den Charakter einer Bürokratie gegeben und ihn auch für Leuteniederer Herkunft, aber hohen Geistes, für begabte, fähige Leute zugänglich gemacht hat.Wenn sich unser [148] Dienstadel irgendwann einmal in eine reine Bürokratie verwandeln sollte,so hat Peter daran keine Schuld: es hieße nur, daß es notwendig so kommen mußte; es hießenur, daß es nicht anders kommen konnte; es hieße, daß der Adel nicht die substantielle Kraftbesaß, die ihm die Möglichkeit gegeben hätte, ohne sich selbst zu verändern, durch alle Veränderungender bürgerlichen Struktur und der Lebensformen Rußlands hindurchzugehen. Was istdie Aristokratie? Ein privilegierter Stand, der sich historisch entwickelt hat und, auf den Höhendes Staates stehend, den Vermittler zwischen dem Volk und der obersten Gewalt bildet, in seinemalltäglichen Leben und seiner Tätigkeit die idealen Begriffe von persönlicher Ehre, Adel,Unantastbarkeit ihrer Rechte entwickelt und von Geschlecht zu Geschlecht die höchste Bildung,die ideale Verfeinerung der Lebensformen fortpflanzt. Diesen Charakter hatte die Aristokratiein Europa bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts und hat heute noch die Aristokratie inEngland. Wenn die Könige im Mittelalter ihre Macht über ihre mächtigen Vasallen zumSchlimmen mißbrauchen konnten, so konnten sie ihnen doch nur das Leben nehmen, nicht aberdie Ehre, konnten ihnen den Kopf abschlagen, aber nicht sie mit Stöcken, Peitschen oder Knutenprügeln. Auch das Leben konnte ein König seinem Vasallen nicht anders als in der Formeines Gerichtsverfahrens und nach dem (wenn auch nicht immer gerechten) Urteil eines Gerichtsnehmen. Der Begriff der Ehre, der die Seele und das Blut der wahren Aristokratie bildet,entstand in Europa daraus, daß alle Aristokraten anfänglich selbst Herrscher waren; das Rittertumgab ihren Begriffen von Ehre noch mehr einen edlen, menschlichen Charakter. UnsereBojaren waren anfangs ebenfalls Herrscher; aber sobald sie aufhörten, es zu sein, verwandeltensie sich sofort in hochgestellte Diener: die tatarische Fremdherrschaft, die das Feudalsystemzum Einsturz brachte, war für unsre imaginären Feudalen das, was das Rittertum für die Feudalherrendes Westens war. Eine recht ungünstige Übereinstimmung! ... Deshalb rechnete essich unser Bojar auch nicht als Unehre an, wenn er nicht lesen und schreiben konnte, wederKenntnisse noch Bildung besaß: das alles stand nach alten Begriffen besser dem letzten Knechtals einem Bojaren an. Aus dem gleichen Grunde galten ihm als Unehre nicht Ruten, nicht Stökke,Peitschen, Knuten, Folterkammer und Gefängnis, sondern ein „Platz“ am Zarentisch unterhalbeines Bojaren, der ihm gleich nach Herkunft, aber nicht [149] gleich nach der Ehre seinerAhnen war oder ihn zwar an Verdiensten überragte, aber von Geburt niedriger war. Aus demgleichen Grunde pflegten unsre Bojaren, nach dem Ausdruck Koschichins, einander anzubellen,kreuzten aber nicht ritterlich die Waffen miteinander.Die Verteidiger der patriarchalischen gegen die zivilisierten Sitten berufen sich besonderstriumphierend auf die unerschütterliche Treue und den unbedingten Gehorsam des Volkesgegenüber der obersten Gewalt in den Zeiten Altrußlands. Die geschichtlichen Tatsachenwidersprechen dieser Überzeugung jedoch gar zu sehr und beweisen gar zu klar die alteWahrheit, daß „Gegensätze sich anziehen“. Die Aufruhre, die Rebellion der Strelitzen nochwährend der Kindheit Peters des Großen, die ununterbrochenen Attentate auf sein Leben,selbst in der Zeit seiner unumschränkten Herrschaft, beweisen, wie wenig fest bloß natürlicheBeziehungen zwischen dem ungebildeten Volk und einer wohltätigen Macht sind und daßeine Beziehung zwischen ihnen, die vom vernünftigen Bewußtsein ihrer Pflichten und Rechtedurchtränkt ist, bedeutend fester ist. Während der Volksempörung anläßlich des Sturzes desGeldkurses infolge der Einführung des Kupfergeldes packten, nach den Worten Koschichins,viele Leute den Zaren Alexej Michailowitsch bei den Rockschößen, und „einer von diesenMännern zwang den Zaren zum Handschlag“: das ist mehr als sansculottische Dreistigkeit,das ist schmutzige, widerwärtige Bestialität in Begriffen und Gefühlen.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 89Die Verteidiger unserer alten, patriarchalischen Zeit pflegen zu sagen, auch in Europa sei esin den Zeiten der Barbarei nicht besser gewesen als bei uns. Das gilt für die Zeiten der europäischenBarbarei, aber bei uns gab es im 18. Jahrhundert vor der Regierungszeit KatharinasII. das, was es in Europa im 4. und 5. Jahrhundert gab – nämlich Foltern, Fanatismus, Aberglauben,aber nicht die Knute, die uns die Tataren geschenkt haben. Was aber das Wichtigsteist: in Europa entwickelte sich das Leben, waren die Ideen in Bewegung; neben dem Giftwuchs dort auch ein Gegengift. Wenn die Gesellschaft dort falsche Wege einschlug oder sichungenügend entwickelte, folgte sofort die Negierung dieser Entwicklung durch eine andere,die den Anforderungen der Zeit besser entsprach. Deshalb findet man sich auch unwillkürlichmit all den Schrecken ab, die es in Europa zu jenen Zeiten gab, findet sich mit ihnen ab, umihrer edlen Quelle, ihrer positiven Ergebnisse willen. Rußland dagegen war [150] in die Kettender Stagnation geschlagen, sein Geist war unter einer dicken Eisschicht eingesperrt undfand keinen Ausweg.Einige Leute sind der Meinung, Rußland hätte sich auch ohne gewaltsame Reform, ohne –wenn auch nur vorübergehende – Trennung von seinem Volkscharakter an Europa annähernkönnen, nur durch seine eigne Entwicklung, durch sein eignes Genie. Diese Meinung hatganz den Anschein einer Wahrheit und ist deshalb blendend und verführerisch, aber innerlichhohl wie eine große, schöne, aber taube Nuß: sie wird einfach durch die Erfahrung, durch dieTatsachen der Geschichte widerlegt.Niemals war Rußland mit Europa so nahe aneinandergeraten, so von Angesicht zu Angesicht,wie in der Epoche seines Interregnums. Der falsche Demetrius mit seiner verführerischenMarina Mnischek und seinen Polen war nichts anderes als ein Einbruch deutscher Sitten undGebräuche in die russischen, aber die Hauptursache seines Untergangs war, außer der Dreistigkeitseines Unternehmens, daß er nach dem Essen nicht auf der Ofenbank schlief, sonderndie öffentlichen Arbeiten inspizierte, daß er Kalbfleisch aß und am Samstag nicht ins Dampfbadging. Der Schwede de la Gardie war befreundet mit dem jungen russischen Helden Skopin-Schuiski;aber nach dessen Tod war er gezwungen, zum Feinde der Russen zu werden.Aber es gibt eine noch erstaunlichere Tatsache: das ist Nowgorod. Sehr treffend ist der russischeAusdruck: „Freistatt * Nowgorod“, und sonderbar klingt die Meinung vieler Gelehrten,die ganz naiv, d. h. im Ernst, in Nowgorod eine Republik und ein lebendiges Glied des hanseatischenBundes sahen. Tatsächlich waren die Nowgoroder Freunde der „Deutschen“ undim ständigen Umgang mit ihnen; die deutschen Ideen jedoch wehten sie nicht einmal an.Nowgorod war keine Republik, sondern eine „Freistatt“, in der es nicht bürgerliche Freiheit,sondern eine dreiste Ungebundenheit der Knechte gab, die irgendwie ihre Herren losgewordenwaren – und die Unterwerfung Nowgorods durch Iwan III. und Iwan Grosny war einenicht nur politisch, sondern auch sittlich gerechtfertigte Tat. Seit Erschaffung der Welt hat eskeine solche unsinnige Karikatur auf die Republik gegeben. Sie entstand, wie die Dreistigkeitbei einem Sklaven durchbricht, der sieht, daß sein Herr am auszehrenden Fieber erkrankt istund nicht mehr die Kraft hat, mit ihm wie es sich gehört, fertig zu werden; sie verschwand,wie dieser Sklave seine Dreistigkeit ablegt, sobald sein Herr wieder gesund wird. Der einewie der andere Iwan [151] hatten das verstanden: sie eroberten Nowgorod nicht, sondernbrachten es zum Gehorsam, als ein Stück Stammland, das sich empört hatte. Das kostete siekeinerlei besondere Anstrengung. Die Eroberung Kasans war für Iwan Grosny tausendmalschwieriger. Nein! Es gab eine Mauer, die Rußland von Europa trennte: diese Mauer konntenur irgendein Simson zum Einsturz bringen, der dann dem Russenland in der Gestalt Petersauch erschien. Unsre Geschichte ging andere Wege als die Geschichte Europas, und unsereMenschwerdung mußte sich von Grund aus anders vollziehen. Die nichtzivilisierten Länder* Asyl, Zufluchtsort (an dem Dinge getan oder gesagt werden können, die anderswo nicht möglich sind).OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 88üppig zu Ansehen, Macht, Reichtum, Bildung, Aufgeklärtheit und, fügen wir hinzu, zu Talentund innerer Würde aufblühte. Nur asiatische Seelen können Peter einen Vorwurf daraus machen,daß er dem Dienstadel den Charakter einer Bürokratie gegeben und ihn auch für Leuteniederer Herkunft, aber hohen Geistes, für begabte, fähige Leute zugänglich gemacht hat.Wenn sich unser [148] Dienstadel irgendwann einmal in eine reine Bürokratie verwandeln sollte,so hat Peter daran keine Schuld: es hieße nur, daß es notwendig so kommen mußte; es hießenur, daß es nicht anders kommen konnte; es hieße, daß der Adel nicht die substantielle Kraftbesaß, die ihm die Möglichkeit gegeben hätte, ohne sich selbst zu verändern, durch alle Veränderungender bürgerlichen Struktur und der Lebensformen Rußlands hindurchzugehen. Was istdie Aristokratie? Ein privilegierter Stand, der sich historisch entwickelt hat und, auf den Höhendes Staates stehend, den Vermittler zwischen dem Volk und der obersten Gewalt bildet, in seinemalltäglichen Leben und seiner Tätigkeit die idealen Begriffe von persönlicher Ehre, Adel,Unantastbarkeit ihrer Rechte entwickelt und von Geschlecht zu Geschlecht die höchste Bildung,die ideale Verfeinerung der Lebensformen fortpflanzt. Diesen Charakter hatte die Aristokratiein Europa bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts und hat heute noch die Aristokratie inEngland. Wenn die Könige im Mittelalter ihre Macht über ihre mächtigen Vasallen zumSchlimmen mißbrauchen konnten, so konnten sie ihnen doch nur das Leben nehmen, nicht aberdie Ehre, konnten ihnen den Kopf abschlagen, aber nicht sie mit Stöcken, Peitschen oder Knutenprügeln. Auch das Leben konnte ein König seinem Vasallen nicht anders als in der Formeines Gerichtsverfahrens und nach dem (wenn auch nicht immer gerechten) Urteil eines Gerichtsnehmen. Der Begriff der Ehre, der die Seele und das Blut der wahren Aristokratie bildet,entstand in Europa daraus, daß alle Aristokraten anfänglich selbst Herrscher waren; das Rittertumgab ihren Begriffen von Ehre noch mehr einen edlen, menschlichen Charakter. UnsereBojaren waren anfangs ebenfalls Herrscher; aber sobald sie aufhörten, es zu sein, verwandeltensie sich sofort in hochgestellte Diener: die tatarische Fremdherrschaft, die das Feudalsystemzum Einsturz brachte, war für unsre imaginären Feudalen das, was das Rittertum für die Feudalherrendes Westens war. Eine recht ungünstige Übereinstimmung! ... Deshalb rechnete essich unser Bojar auch nicht als Unehre an, wenn er nicht lesen und schreiben konnte, wederKenntnisse noch Bildung besaß: das alles stand nach alten Begriffen besser dem letzten Knechtals einem Bojaren an. Aus dem gleichen Grunde galten ihm als Unehre nicht Ruten, nicht Stökke,Peitschen, Knuten, Folterkammer und Gefängnis, sondern ein „Platz“ am Zarentisch unterhalbeines Bojaren, der ihm gleich nach Herkunft, aber nicht [149] gleich nach der Ehre seinerAhnen war oder ihn zwar an Verdiensten überragte, aber von Geburt niedriger war. Aus demgleichen Grunde pflegten unsre Bojaren, nach dem Ausdruck Koschichins, einander anzubellen,kreuzten aber nicht ritterlich die Waffen miteinander.Die Verteidiger der patriarchalischen gegen die zivilisierten Sitten berufen sich besonderstriumphierend auf die unerschütterliche Treue und den unbedingten Gehorsam des Volkesgegenüber der obersten Gewalt in den Zeiten Altrußlands. Die geschichtlichen Tatsachenwidersprechen dieser Überzeugung jedoch gar zu sehr und beweisen gar zu klar die alteWahrheit, daß „Gegensätze sich anziehen“. Die Aufruhre, die Rebellion der Strelitzen nochwährend der Kindheit Peters des Großen, die ununterbrochenen Attentate auf sein Leben,selbst in der Zeit seiner unumschränkten Herrschaft, beweisen, wie wenig fest bloß natürlicheBeziehungen zwischen dem ungebildeten Volk und einer wohltätigen Macht sind und daßeine Beziehung zwischen ihnen, die vom vernünftigen Bewußtsein ihrer Pflichten und Rechtedurchtränkt ist, bedeutend fester ist. Während der Volksempörung anläßlich des Sturzes desGeldkurses infolge der Einführung des Kupfergeldes packten, nach den Worten Koschichins,viele Leute den Zaren Alexej Michailowitsch bei den Rockschößen, und „einer von diesenMännern zwang den Zaren zum Handschlag“: das ist mehr als sansculottische Dreistigkeit,das ist schmutzige, widerwärtige Bestialität in Begriffen und Gefühlen.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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