W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 80Leben manchmal danebengehauen hat, und dem Nüchternen, daß auch er manchmal angeheitertwar. Der Nationalstolz ist ein erhabenes, edles Gefühl, ein Unterpfand wahrer Würde; nationaleRuhmrederei und Empfindlichkeit dagegen sind reine Chinoiserie * . Wer die Substanzdes Volkes, den Nationalgeist, im wahren Sinn dieses Wortes negiert oder herabsetzt, begehtVolksbeleidigung (lèse-nation); wer dagegen (selbst in übertriebener Weise) die Mängel undFehler des Volksgeists angreift, begeht kein Verbrechen, sondern macht sich verdient, handeltals echter Patriot. Das, was ich von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit meinem ganzenWesen liebe, kann mir nicht gleichgültig sein, bei ihm liebe ich stärker als an etwas anderem,was an ihm gut ist, und hasse (nach dem gleichen Gesetz) starker, was an ihm übel ist.Manche Leute haben die Gewohnheit, auf die Engländer zu verweisen, die es lieben, barbarischeund blöde nationale Possen zu reißen, und bis heute einige Gebräuche aus der wildenund rohen alten Zeit beibehalten, von dem Wollsack, auf dem dort ein Parlamentsmitgliedsitzt, bis zu dem Recht, die eigne Frau auf dem Markt zu verkaufen. Diese Herren, d. h. unsreBierbankpatrioten, lieben es, durch Berufung auf solche Dinge uns Vorwürfe über denGleichmut zu machen, mit dem wir Russen uns von den Überlieferungen unserer langzipfeligenAltväterzeit trennen, und über die Bereitschaft, mit der wir alles Neue aufnehmen unduns aneignen. Was mich betrifft, so muß ich sündig gestehen: ich sehe hierin einen guten Zugunsres Nationalgeists, ein Unterpfand unsrer zukünftigen Größe, und jedenfalls natürlich keineErniedrigung, sondern ein Zeichen der Überlegenheit über die Engländer, die, übrigenseine große Nation in allem anderen, nur gerade hierin uns nicht als Beispiel dienen könnenund dürfen und besser daran täten, wenn sie uns nachahmten. Ja, das ist ein großer Charakterzugdes russischen Volkes: er zeigt, daß wir die Fähigkeit und den Wunsch haben, uns bedingungslosvon allem Üblen frei zu machen; was aber das Gute betrifft, das die Grundlage unddas Wesen unsres Nationalgeists bildet – so ist es [135] ewig, unvergänglich, und wir könntenuns nicht von ihm losmachen, selbst wenn wir wollten. Aber wir haben mehr als irgendjemand anders die Möglichkeit und das Recht, uns unsrer nationalen Mängel und Fehler nichtzu schämen und offen von ihnen zu reden. Es gibt zwei Arten nationaler Fehler: die einenentspringen aus einem substantiellen Geist, wie z. B. der politische Eigennutz und Egoismusder Engländer; der grausame religiöse Fanatismus der Spanier; die Rachsucht und der zu Listund Hinterlist neigende Charakter der Italiener; die anderen sind die Folge einer unglücklichengeschichtlichen Entwicklung und verschiedener äußerer zufälliger Umstände, wie z. B.die politische Nichtigkeit der Völker Italiens. Und deshalb kann man die einen nationalenLaster substantielle, die anderen aufgepfropfte nennen. Wir sind durchaus nicht der Meinung,daß unser Nationalgeist ein Höchstmaß von Vollkommenheit darstellt: es gibt nichts Vollkommenesunter der Sonne; jedes Positive hat irgend etwas Negatives zur Vorbedingung.Jede Individualität ist schon allein deshalb beschränkt, weil sie Individualität ist; jedes Volkaber ist eine Individualität, gleich dem einzelnen Menschen. Uns genügt es schon, daß unsrenationalen Mängel uns vor den edelsten Nationen in der Menschheit nicht herabsetzen können.Was aber die aufgepfropften Fehler betrifft, so werden wir unsrer eignen Würde um somehr Achtung erweisen, je lauter wir von ihnen reden, werden das erfolgreiche Fortschreitenim Guten und in der Wahrheit um so mehr fördern, mit je größerer Energie wir diesen Fehlernzu Leibe gehen. Ein inneres Laster ist eine Krankheit, mit der eine Nation geboren wird,eine Krankheit, deren Aufgabe manchmal das Leben kosten kann; ein aufgepfropftes Lasterist ein Auswuchs, der, wenn die kunstreiche Hand des Chirurgen ihn, wenn auch nichtschmerzlos, abschneidet, dem Körper nichts wegnimmt, sondern ihn nur von Mißbildung undLeiden erlöst. Die Mängel unsres Volksgeists entstammen nicht dem Geist und Blut der Nation,sondern der Ungunst der geschichtlichen Entwicklung. Die Stämme der barbarischen* an chinesischen Vorbildern orientierte Richtung der europäischen Kunst, die besonders im 18. Jahrhundertpopulär wurde und auf die vermeintlich heile Welt der Chinesen verweisen solltenOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013
W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 81Teutonen hatten, als ihr wilder Strom sich über Europa ergoß, das Glück, von Angesicht zuAngesicht dem klassischen Genie Griechenlands und Roms gegenüberzutreten, auf jenenedlen Boden zu geraten, auf dem der breitverzweigte Baum des Europäismus emporgesprossenwar. Das altersschwache, ausgemergelte Rom, das ihnen den wahren Glauben übermittelthatte, übermittelte ihnen im Laufe der Zeit auch sein Zivilrecht; indem es sie [136] mit Virgil,Horaz und Tacitus bekannt machte, machte es sie auch mit Homer, den Tragikern, mitPlutarch und Aristoteles bekannt. In eine Vielzahl von Stämmen zerteilt, drängten sie sichgewissermaßen auf einem für ihre große Volkszahl nicht ausreichenden Raum und neben sichsozusagen ständig aneinander wie Stahl und Stein, um die Funken eines höheren Lebens aussich herauszuschlagen. Das Leben Rußlands dagegen begann isoliert, in einer Wüste, der dieAllgemeinentwicklung der Menschheit fremd war. Die Urstämme, aus denen sich in der Folgezeitdie Masse seiner Bevölkerung bildete, bewohnten alle in gleicher Weise Talländer, diemonotonen Steppen ähnelten, besaßen keinerlei scharf ausgeprägte Unterschiede und konntendaher nicht in der Richtung einer zivilisatorischen Höherentwicklung aufeinander einwirken.Böhmen und Polen hätten Rußland zu Europa in Beziehung setzen und ihm als charaktervolleStämme selbst nützlich sein können, aber ein feindlich verschiedener Glaube hatte sie fürimmer von Rußland getrennt. Folglich war Rußland gleich vom Anbeginn seiner Existenz anvom Westen abgeschnitten, Byzanz aber konnte ihm, was Zivilisation betrifft, nur die Sittezum Geschenk machen, sich die Zähne schwarz und das Gesicht weiß zu färben und Feindenund Verbrechern die Augen auszustechen. Die Fürstentümer lagen miteinander im Streit, aberdiesem Streit lag kein vernünftiges Prinzip zugrunde, und er brachte deshalb keine bedeutendenErgebnisse hervor. Ist es danach verwunderlich, daß die Geschichte der Fehden zwischenden Teilfürsten so sinnlos und langweilig ist, daß selbst das beredte Erzählertalent Karamsinssie nicht interessant machen konnte? ... Dann brachen die Tataren herein und schweißten diezerstückelten Glieder Rußlands mit deren eignem Blut zusammen. Hierin bestand der großeNutzen der zwei Jahrhunderte dauernden tatarischen Fremdherrschaft; aber wie viele Übelhat sie auch Rußland zugefügt, wie viele Laster ihm aufgepfropft. Die Aussperrung der Frauvom öffentlichen Leben, Sklavengeist in Begriffen und Gefühlen, die Knute, die Gewohnheit,sein Geld zu vergraben und in Lumpen einherzugehen, aus Angst, als Reicher angesehen zuwerden, Bestechlichkeit im Gerichtswesen, asiatische Lebenssitten, Denkfaulheit, Ignoranz,Selbstverachtung – mit einem Wort, alles das, für dessen Ausrottung Peter der Große kämpfte,alles, was in Rußland dem Europäismus genau entgegengesetzt war –‚ dies alles warnichts uns von Geburt an Eigenes, sondern war uns von den Tataren [137] aufgepfropft.Selbst die Unduldsamkeit der Russen gegenüber den Ausländern im allgemeinen war eineFolge des Tatarenjochs und durchaus nicht eines religiösen Fanatismus: der Tatar machte inden Vorstellungen des Russen alles abstoßend, was nicht russisch war – und das Wort „Bassurman“* ging von den Tataren auch auf die Deutschen über. Daß die bedeutsamsten Mängelunsres Volksgeists uns nicht wesentlich sind, nicht im Blut liegen, sondern uns aufgepfropftwurden – der beste Beweis hierfür liegt darin, daß wir die volle Möglichkeit haben, uns vonihnen frei zu machen, und bereits damit anfangen, uns frei zu machen. Betrachten wir einmalnäher die Pestbeule unsres Volksorganismus – die Bestechlichkeit... Es ist natürlich ein betrüblichenAnblick, eine übelberatene Öffentlichkeit vor sich zu haben, die selbst in ihrenedelsten Mitgliedern den persönlichen, menschlichen Mut dadurch ausrottet und niederdrückt,daß sie sie in die Notwendigkeit versetzt, entweder aus der Reihe zu tanzen und damitdie ganze Gesellschaft zu kränken oder die Waage der Gerechtigkeit, ohne das Gewissen zuverletzen, sozusagen legal und beinahe ganz förmlich zum eignen Nutzen zu handhaben unddie ihnen zur Bewahrung und Betreuung anvertrauten Staatsreichtümer zu vergeuden. In Chinanennt man das „eine einträgliche Stelle innehaben“, und dort redet jeder Mandarin ohne* Bezeichnung für Tatar, Fremder; diese Bezeichnung wurde später auf alle Fremdvölker ausgedehnt.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013
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