13.07.2015 Aufrufe

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 8Die Franzosen nennen die Literatur den Ausdruck der Gesellschaft, diese Definition ist nichtneu: wir kennen sie seit langem. Aber trifft sie auch zu? Das ist eine andre Frage. Wenn wirunter dem Wort Gesellschaft einen auserwählten Kreis hochgebildeter Menschen verstehensollen, kurz die Große Welt, le beau monde, dann hat diese Definition Geltung und Sinn, undzwar einen tiefen Sinn, allerdings nur bei den Franzosen. Entsprechend seinem Charakter, dersich aus den örtlichen Gegebenheiten, der Einheit oder der Vielfalt der Elemente, die seinLeben geformt haben, und den historischen Umständen ergibt, unter denen dieses sich entwickelte,spielt jedes Volk in der großen Familie des Menschengeschlechts seine besondere,ihm von der Vorsehung vorgezeichnete Rolle und liefert seinen Anteil, seinen Beitrag zu demgemeinsamen Schatz der Erfolge der Menschheit auf dem Wege ihrer Selbstvervollkommnung;mit anderen Worten: jedes Volk bringt im Leben der Menschheit irgendeine Seite zumAusdruck. So bemächtigen sich die Deutschen des grenzenlosen Gebiets der philosophischenSpekulation und der Analyse, die Engländer zeichnen sich durch praktische Tüchtigkeit, [14]die Italiener durch künstlerische Veranlagung aus. Der Deutsche stellt alles unter allgemeineGesichtspunkte, leitet alles aus einem Prinzip ab; der Engländer überquert die Meere, bautStraßen, zieht Kanäle, treibt mit der ganzen Welt Handel, schafft sich Kolonien an und stütztsich bei alledem auf die Erfahrung, die Berechnung; das Leben des Italieners in früheren Zeitenwar nichts als Liebe und Schaffen, Schaffen und Liebe. Die Franzosen sind auf das Leben,das praktische, sprühende, ruhelose, stets in Bewegung befindliche Leben eingestellt.Der Deutsche bringt Gedanken hervor und entdeckt neue Wahrheiten; der Franzose bedientsich ihrer, benutzt sie und nutzt sie sozusagen ab. Die Deutschen bereichern die Menschheitmit Ideen, die Engländer mit Erfindungen, die das Leben annehmlicher machen. Die Franzosendekretieren uns die Mode und schreiben die Regeln des Anstands, der Höflichkeit unddes guten Tons vor. Kurz, das Leben des Franzosen spielt sich in der Gesellschaft, auf demParkett ab. Das Parkett ist sein Wirkungsfeld, dort kann er seinen Geist, seine Kenntnisse,sein Talent, seinen Witz, seine Bildung sprühen lassen. Für den Franzosen ist ein Ball odereine Abendgesellschaft dasselbe, was für die Griechen der öffentliche Platz oder die OlympischenSpiele waren: es ist eine Schlacht, ein Turnier, bei denen statt mit Waffen mit Geist,Witz und Bildung gekämpft wird, wo Ehrgeiz gegen Ehrgeiz ficht, wo viele Lanzen gebrochenund viele Siege errungen und verwirkt werden. Das ist der Grund, warum kein Volk esmit den Franzosen aufnehmen kann an jener Artigkeit, anmutiger Gewandtheit und Liebenswürdigkeit,für die wiederum nur die französische Sprache die adäquaten Worte besitzt; warumalle Bemühungen der europäischen Völker, es den Franzosen in dieser Hinsicht gleichzutun,stets zum Scheitern verurteilt waren; warum die Gesellschaft in allen anderen Ländernimmer nur eine lächerliche Karikatur, eine klägliche Parodie, ein boshaftes Epigramm auf diefranzösische Gesellschaft war, ist und sein wird; das ist, sage ich, der Grund, warum die Definition,nach der die Literatur der Ausdruck der Gesellschaft sein soll, für die Franzosen sotief richtig und wahr ist. Die französische Literatur war von jeher eine getreue Widerspiegelungder Gesellschaft und ging stets, die Volksmassen vergessend, Arm in Arm mit ihr daher,weil die französische Gesellschaft die höchste Erscheinungsform des französischen Volksgeistesund Volkslebens ist Für die französischen Schriftsteller ist die Gesellschaft die Schule, inder sie den Ge-[15]brauch der Sprache erlernen, der sie ihre Denkart entlehnen und die sie inihren Werken darstellen. Anders steht es bei anderen Völkern. In Deutschland z. B. gilt nichtderjenige als gelehrt, der reich ist und in den feinsten Häusern, in den vornehmsten Kreisenein- und ausgeht: im Gegenteil, der deutsche Genius liebt die ärmlichen Dachstuben, diedürftigen Studentenbuden und die schlichten Pastorenhäuser. In Deutschland schreibt undliest alles, dort zählt das Publikum nach Millionen, und die Dichter zählen nach Tausenden.Kurz gesagt, die Literatur ist dort nicht Ausdruck der Gesellschaft, sondern des Volkes. Ingleicher Weise, wenn auch nicht infolge der gleichen Ursachen, ist die Literatur auch andererVölker nicht Ausdruck der Gesellschaft, sondern des Volksgeistes; denn es gibt kein anderesOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!