13.07.2015 Aufrufe

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 79lich in uns durch die Reform Peters nicht unterdrückt worden, sondern hat durch sie nur einehöhere Entwicklung erfahren und eine höhere Form erhalten. Und wirklich – seit den ZeitenPeters hat sich der Raum Rußlands doch erweitert und nicht verengt; sind etwa unsre Steppennicht ebenso weiträumig und frei wie früher, ist der Schnee, der sie bedeckt, nicht ebensounverändert weiß und silberglänzend im fahlen Licht des Mondes? ... Wie prächtig sind dochdie Eigenschaften des russischen Menschen, die ihn nicht nur von Fremdstämmigen, sondernauch von den anderen slawischen Stämmen unterscheiden, sogar solchen, die mit ihm vondem gleichen Zepter beherrscht werden. Ein stets wacher Verstand, Wagemut, Findigkeit,Scharfblick, Gelehrigkeit – er drischt Roggen auf einem Beilrücken, verliert kein Körnchendabei, find’t sein Brot in jeder Not –‚ Bravour, Ausgelassenheit, Tollkühnheit – und in Freudund Leid kein Meer zu [133] tief! Und da sollte der Europäismus diese urwüchsigen, substantiellenEigenschaften des russischen Volkes ausglätten? Ist etwa der gebildete Russe heutenicht ebenso wie früher weit ausholend in Leid wie in Freud und ein echter Bruder dessen,der einst, mit der Hand am Ohr, mit Reckenstimme über die ganze Welt Gottes hinsang:„Hoch, so hoch ist unser Himmelszelt,Tief, so tief des Meeres Ozean,Breit, so breit das weite Erdenrund,Und des Dnjepr Wasser still und tief.“ 3Es ist lächerlich, zu meinen, der Europäismus stelle eine alles gleichmachende, glättende, aufdie gleiche Farbe bringende Nivellierung dar! Der Engländer, der Franzose, der Deutsche, derHolländer, der Schweizer – sie alle sind gleichermaßen Europäer, sie alle haben viel Gemeinsames,aber ihre nationalen Merkmale sind unversöhnlich scharf ausgeprägt und niemals auszuglätten:dazu müßte man zuerst ihre Geschichte vernichten, die Natur ihrer Länder verändern,ihr Blut von Grund aus erneuern.Einen Nationalgeist kann man auch in einem ganzen Buch nicht charakterisieren, geschweigedenn in einem Zeitschriftenaufsatz, besonders den Nationalgeist eines Volkes, das erst vorkurzem zu leben begonnen hat und noch ganz in seiner Gegenwart steckt. 4Der Nationalgeist ist die Gesamtheit aller geistigen Kräfte eines Volkes: die Frucht des Nationalgeistseines Volkes ist seine Geschichte. Deshalb wollen wir es auch nicht unternehmen,erschöpfende und befriedigende Aussagen darüber zu machen, worin eigentlich derrussische Nationalgeist besteht – es genügt, wenn wir es andeuten. Aber ohne Zögern könnenwir sagen, daß der russische Nationalgeist nicht in der altertümlichen Kleidung unsrer Bauern– den Láptí, dem Armják, dem Sarafán * –‚ nicht im Fusel, nicht in den Bärten, nicht in denverräucherten, unsauberen Hütten, nicht in Analphabetentum und Unwissenheit, nicht in derBestechlichkeit der Richter, nicht in Denkfaulheit besteht. Das sind nicht einmal Merkmaledes Volksgeists, sondern eher Auswüchse an ihm – die Folgen verdorbenen Blutes, überscharferSäfte. Und das alles gab es in Rußland vor Peter dem Großen, und mit alledem hatunser göttlicher Herkules sich wie mit der zwölfköpfigen Hydra herum-[134]geschlagen undhat sie mit der unwiderstehlichen Keule seines mächtigen Genies überwunden.Die Wahrheit sagen (besonders wenn jedermann sie versteht und fühlt) und eine Beleidigungaussprechen, ist nicht immer ein und dasselbe. Mögen der Dumme und der Betrunkene dieWahrheit fürchten, dem Klugen macht es nichts aus, einzugestehen, daß auch er in seinem3 Aus der Volkssage „Sadko“.4 Nach der Auffassung Belinskis liegt das Wesen eines jeden Nationalcharakters in der Weltanschauung, dieihrerseits Quelle und Grundlage jeder Literatur ist. Die Frage des Nationalcharakters nahm in den AufsätzenBelinskis eine zentrale Stelle ein, er hat jedoch keine Definition des Nationalcharakters gegeben und war sogarder Meinung, daß es vorläufig unmöglich sei, sie zu geben.* Láptí – aus Bast geflochtene Fußbekleidung; Armják – Bauernrock aus selbstgewebtem grobem Wollstoff;Sarafán – langes, ärmelloses Hängekleid, meist aus buntem Kattun. – Die Red.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!