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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 78Sicherheit angeben wie das Klima und die geographische Lage des Landes, welches ein Volkbewohnt. Alle Völker des Südens unterscheiden sich scharf von denen des Nordens; der Geistder ersteren ist lebhafter, leichter, klarer, ihr Gefühl empfänglicher, die Leidenschaften sindleicht zu entflammen; der Geist der zweiten ist träger, aber gründlicher, ihr Gefühl ruhiger,aber tiefer, die Leidenschaften entflammen schwerer, wirken aber nachhaltiger. Bei den Völkerndes Südens herrscht das unmittelbare Gefühl vor, bei denen des Nordens – das Sinnenund Nachdenken; die ersteren sind beweglicher, die anderen tätiger. In der letzten Zeit hat derNorden den Süden hinsichtlich des Erfolgs der Künste, der Wissenschaften und der Zivilisationweit hinter sich gelassen. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Bergvölkern undVölkern der Ebene, zwischen Küsten und Inselvölkern und Völkern, die vom Meer entferntwohnen. Und dieser Unterschied ist nicht äußerlich, sondern innerlich; er macht sich im Geistselbst, nicht nur in Formen bemerkbar. Werfen wir in dieser Hinsicht einen Blick auf Rußland.Seine Wiege war nicht Kiew, sondern Nowgorod, von dem es sich über Wladimir aufMoskau ausdehnte. Düster war der Himmel, den seine Kinderaugen sahen, wilde Schneestürmesangen ihm Wiegenlieder, und beißende Fröste stählten seinen Leib zu Gesundheitund Kraft. Wenn wir zur Winterszeit in einer flinken Troika dahinfliegen und der Schneeunter den Kufen unseres Schlittens knirscht, der frostige Himmel mit Myriaden von Sternenübersät ist und der Blick sich sehnend in der unendlichen schneebedeckten Ebene verliert, dieim Silberlicht des einsam wandernden Mondes daliegt und nur hier und dort von rauhreifbedecktenBäumen unterbrochen wird – wie verständlich erscheint uns dann das getragene,wehmütige Lied unseres Kutschers und wie harmoniert dann mit ihm das monotone Klingendes Glöckchens, das uns, wie Puschkin sagt, das Herz zerreißt! Schwermut ist das allgemeineMotiv unsrer Dichtung, sowohl der Volks wie der Kunstpoesie. Der russische Mensch hat esvon alters her nicht verstanden, amüsant und heiter zu scherzen: seine Scherze waren entwederplump oder sarkastisch, und unsre schönsten Volkslieder haben einen schwermütigenInhalt, eine getragene, wehmütige Weise. Puschkin wirkt dort mit unwiderstehlicher Stärkeauf die russische Seele, wo seine Poesie von Schwermut durchtränkt ist, und er ist dort amstärksten national, wo seine Poesie wehmütige [132] Töne findet. Hören wir seine eigenenWorte über die Schwermut als das Grundelement der russischen Poesie:„Figürlich oder wörtlich: alle wir,Vom Kutscher bis zum obersten Poeten,Sind trübe Sänger. Melancholisch schierSind Rußlands Melodien. Ich will wetten:Fangt Ihr beim Prosit an, so singt am Ende IhrEin Requiem. In Wehmutsklänge bettenUns unsre Musen, unsre Mädchen gern.Doch freut es uns, ihr klagend Leid zu hör’n.“ 2Doch diese Schwermut ist nicht die Krankheit einer schwachen Seele, nicht die Gebrechlichkeiteines kraftlosen Geistes, nein, es ist eine mächtige, unendliche Schwermut, die Schwermuteiner großen, edlen Natur. Der russische Mensch berauscht sich an der Trauer. Er unterliegtihr nicht, und niemand ist wie er fähig, mit solcher Schnelligkeit von der bedrückendsten,herzzerreißendsten Schwermut zur wildesten, ausgelassensten Fröhlichkeit überzugehen!Auch hierfür ist die Poesie Puschkins ein wichtiger Beleg: man kann sich nicht genugwundern, wie schnell sie im „Onegin“ von dieser tiefen Traurigkeit, deren Quelle ein unendlicherGeist ist, zu jener frischen, mächtigen Fröhlichkeit übergeht, deren Quelle geistigeStärke und Gesundheit sind.Und da haben wir auch schon das Gemeinsame, das unsere einfache Volkspoesie mit unserernationalen und unserer Kunstpoesie verbindet. Das substantielle, das Gattungsprinzip ist folg-2 Aus Puschkins Poem „Das Häuschen in Kolomna“.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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