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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 76andrerseits etwas Gemeinsames. Aber dieses Gemeinsame ist durchaus nicht der Volksgeist,sondern der Nationalgeist. Dieser versteht ungehindert jenen (denn als der höhere schließt erihn in sich ein), um jedoch mit dem Volksgeist in einer verständlichen Sprache reden zu können,muß der Nationalgeist sich zu ihm hinabbeugen. Die ungeschmälerte Herrschaft desVolksgeists setzt im Staate einen Zustand natürlicher Unmittelbarkeit, einen patriarchalischenZustand voraus, bei dem die Stände sich nicht einmal in der Form, sondern nur in Formnuancenund jedenfalls nicht dem Wesen nach voneinander unterscheiden. In diesem Zustand befandRußland sich in der Zeit vor Peter dem Großen. Man lese Koschichin, und man wirdsehen, daß der erste Bojar genau so Hochzeit feierte wie der letzte Bauer: der Unterschiedbestand nur im Überfluß der Speisen, im Wert der Gewänder, mit einem Wort im Wert undder Menge dessen, was dabei ausgegeben wurde. Ein und dieselbe Knute schwebte drohendsowohl über dem Bauern wie über dem Bojaren, und beide machte die Knute unglücklich,entehrte sie jedoch nicht. Der Knecht [128] verstand ohne Schwierigkeit seinen Bojaren, ohnesich dabei auch nur um ein Haar zu höheren Begriffen aufschwingen zu müssen; der Bojarverstand seinen Knecht, ohne daß er gezwungen war, sich seinem Verständnis anzupassen.Der gleiche Branntwein erfreute das Herz des einen wie des anderen: der Unterschied bestandnur darin, daß der eine Fusel trank, der andere dagegen reinen Korn. Ein und derselbe Meterfreute diesen und jenen: der Unterschied bestand darin, daß der eine ihn aus einem Holzkrugoder einer eisernen Schöpfkelle trank, der andere dagegen aus silberner oder goldenerSchale. Und plötzlich veränderte sich das alles so schnell und so jäh durch den Willen Peters:so wenig der gemeine russische Mann Wörter verstand wie: Viktoria, Rang, Armee, Généralen chef, Admiral, Hofmarschall u. dgl. – ebensowenig verstand er auch die Sprache und dieTaten nicht nur seines Herrschers oder seines adligen Herrn, sondern auch die jedes Offiziersmit seinem Point d’honneur, seinem Menuett, seinen Reithosen u. dgl. Das Oben verstandauch weiterhin das Unten, aber das Unten hörte auf, das Oben zu verstehen. Das Volk trenntesich von den Herren und den Soldaten. Aber im Staatssinne gab es bereits kein Volk mehr –es gab die Nation. Dieses Fremdwort wurde notwendig und ging unbewußt in den allgemeinenGebrauch über und erhielt Bürgerrecht im Wörterbuch der russischen Sprache.Das Wesen eines jeden Nationalgeists besteht in seiner Substanz. Die Substanz ist jenes Unvergänglicheund Ewige im Geiste eines Volkes, das, ohne sich zu verändern, alle Änderungenaushält, heil und unbeschädigt durch alle Phasen der historischen Entwicklung hindurchgeht.Es ist das Samenkorn, in dem jede Möglichkeit zukünftiger Entwicklung beschlossenist. Wenn wir eine Eichel betrachten, sind wir nicht dessen gewiß, daß aus ihr unbedingt einriesiger hundertjähriger Eichbaum hervorgehen wird, sondern nur dessen, daß aus ihr eingroßer Eichbaum, nicht aber ein Apfelbaum hervorgehen kann, vorausgesetzt, daß der Baumausgepflanzt und nicht vor der Zeit abgehauen wird oder unter irgendwelchen anderen Umständen,die seine freie Entwicklung hemmen können, zugrunde geht. Und wir wissen dasdeshalb, weil in der Eichel die Substanz des Eichbaums beschlossen liegt, d. h. die Möglichkeitseines starken Stammes, seiner breiten Blätter und der anderen Kennzeichen, die seinerForm eigen sind. Wenn wir einen Säugling betrachten, so wissen wir, daß aus ihm mit derZeit nicht nur ein von körperlichen [129] und geistigen Kräften übersprudelnder Jünglingwerden kann, sondern auch ein gebrechlicher, grauhaariger Greis, und sogar nicht einfach nurein Erwachsener, sondern auch ein Genie. Denn in dem kleinen Kind, in den verborgenenGeheimfächern eben seines Organismus, liegt bereits die Substanz, d. h. die Möglichkeit allesdessen beschlossen, was es in der Folge werden kann, was mit der Zeit zu werden es von derNatur bestimmt ist. Ein guter Soldat und ein guter Offizier kann so ziemlich jeder werden;aber zum großen Feldherrn kann nur der werden, in dessen Substanz von Geburt an die Möglichkeit,ein großer Feldherr zu werden, gelegen hat. Die Substanz enthält den Grund, warumder eine zum großen Dichter, aber nicht zum auch nur mittelmäßigen Mathematiker werdenkann, und ein anderer imstande ist, Dampfmaschinen zu erfinden, und nicht imstande, sichOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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