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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 70und Byrons, sie besaßen die Vernunft, in ihnen lebte der seiner selbst bewußt werdendemenschliche Geist, und in dieser Vernunft, in diesem Geist lag das Ideal der Kunst beschlossen,das dunkle, erregende Vorgefühl wahrer schöpferischer Werke. Wenn die Werke derAntike nicht zu diesem Ideal paßten, so bedeutete das, daß sie diese Werke entweder nichtrichtig verstanden oder daß diese Werke unwahr und nicht künstlerisch waren. Nehmen wirirgendein Beispiel, um uns das klarer vor Augen zu führen. Ich bin überzeugt, die Poesie istder unbewußte Ausdruck des schöpferischen Geistes und der Dichter mithin im Augenblickdes Schaffens ein mehr leidendes als handelndes Wesen, sein Werk aber eine eingefangeneVision, die ihm in dem hellen Augenblick der Offenbarung von oben erscheint und folglichkeine Erfindung seines Geistes, kein bewußtes Produkt seines Willens sein kann. Indem ichdas zur absoluten Grundlage nehme, spreche ich Poesie allem ab, was nicht nach diesem Gesetzgeschaffen wurde, allem, was ein Ziel hatte oder das Resultat einer Nachahmung war.Aber, wird man mir sagen, diese oder jene Werke passen nicht zu diesem Gesetz. Darausfolgt, daß sie unwahr sind, antworte ich. –Aber ist Ihr Prinzip wahr? – Widerlegen Sie es!Gehen wir jetzt weiter. Ich bin überzeugt, daß das epische Gedicht, um ein wahres Kunstwerkzu sein, das Leben eines ganzen Volkes wie in einem Spiegel wiedergeben muß; weiter mußes, um als Kunstwerk gelten zu können, nach dem Gesetz des Schaffens entstanden sein, vondem ich bereits gesprochen habe, d. h. es muß der unbewußte Ausdruck [115] des schöpferischenGeistes, vom bewußten Willen eines Menschen unabhängig, folglich im höchsten Gradeoriginell, im höchsten Grade von jeder Nachahmung frei sein. Solcherart ist die „Ilias“, obsie nun das Werk eines ganzen Volkes oder irgendeines Blinden namens Homer sein mag, die„Ilias“, die das Symbol der Idee des heldischen Griechenlands ist; solcherart ist Goethes„Faust“, das Werk eines Mannes, der selbst der vollkommenste Ausdruck Deutschlands warund in seinem Werk das Symbol der Mentalität seines Vaterlands in einer originellen, seinemJahrhundert eigentümlichen Form geliefert hat. Nicht von dieser Art jedoch sind die„Aeneis“, das „Befreite Jerusalem“, das „Verlorene Paradies“, der „Messias“, denn sie sindnicht absichtslos, nicht urtümlich geschaffen, sondern im Gefolge der „Ilias“, und leben mithinnicht ihr eigenes, sondern ein fremdes Leben. Deswegen geben sie weder ein volles Gemäldevom Leben des Volkes, dem sie angehören, und können es nicht geben, noch eine richtigeWiderspiegelung des Geistes der Zeit, in der sie entstanden sind. Gewiß besitzen sie einzelnegroße Schönheiten; dennoch aber sind diese Werke unwahr und fehlerhaft. – Aber siesind doch von allen Jahrhunderten anerkannt worden? – Jawohl: aber man beweise mir, daßmeine Begründung falsch ist; dann werde ich zugestehen, daß die Jahrhunderte recht gehabthaben. Nur wird es für mich dann keine Poesie mehr geben: die Poesie verwandelt sich in einHandwerk, ein Spiel, einen unschuldigen Zeitvertreib von der Art des Kartenspiels oder desTanzens. Wir wollen noch ein Beispiel anführen. Kürzlich wurde einmal in einer Zeitschriftein recht mäßiges, aber von einem guten Bekannten geschriebenes Büchelchen gegenheftigeAngriffe des gesunden Menschenverstandes in Schutz genommen, und man fand dazu keinbesseres Mittel, als dem ungebildeten und unwissenden Volk die Fähigkeit zur Poesie abzusprechen,als ob die Poesie eine Frucht der Wissenschaft und der Zivilisation und nicht diefreie Frucht des menschlichen Geistes wäre. Zu diesem Zweck klammerte sich der ritterlicheBeschützer des Büchelchens seines Bekannten mit Zähnen und Klauen an das russischeVolksliedchen:„Auf dem Hofe hinterm HausDehnt ein ganzer Berg sich aus –“und bewies, daß, wie zwei mal zwei vier ist, den russischen Volksliedern jegliche Poesie fehle,weil sie, man höre, von analphabetischen Bauern und nicht von Leuten „von Welt“, nichtvon Kandi-[116]daten, Magistern und Doktoren verfaßt sind, und das alles auch, ohne nur aufden Gedanken zu kommen, daß das von ihm als Beispiel angeführte Lied überhaupt keinOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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