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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 58auftritt; man muß nur verstehen, ihn mit dem Geist und dem Gefühl aufzuspüren und ihn mitHilfe der Phantasie im Kunstwerke zu reproduzieren. Darin liegt alle Kraft und Bedeutung.Aber der Künstler muß eben ein Genie sein, wenn die Idee des russischen Lebens wirklich inseinen Werken atmen soll; das ist der schlüpfrigste Weg. Wir sind durch die Ära Peters desGroßen von den Lebensformen unserer Vorfahren so weit losgelöst oder, richtiger gesagt,losgerissen worden, daß man sie zuerst unbedingt gründlich studieren muß, ehe man ansWerk schreitet; man wäge also gut ab, sowohl die eigenen Kräfte wie das Ziel, und schreibenicht gleich allzu selbstsicher: die Russen im Jahre soundso und soundso... 65 Dabei ist nochzu vermerken, daß das russische Leben vor Peter dem Großen viel zu geruhsam und einseitigdahinfloß oder, richtiger, in eigenen, originellen Formen in Erscheinung trat: wer sich hier anWalter Scott hält, kann leicht ein böses Zerrbild entstehen lassen. Ein Schriftsteller, der dieLiebe zur Grundlage seines Romans und Herz und Hand einer treuen Schönen zum Ziel allerBemühungen seines Helden macht, zeigt damit nur deutlich, daß er von Altrußland nichtsversteht. Ich weiß, daß unsere Bojaren über Zäune stiegen, wenn sie zu ihrem Schatz schlichen,aber das war eine Schändung und Verzerrung des behäbigen, gemessenen und ruhevollenrussischen Lebens, nicht aber eine Äußerung desselben. Solche Ritter der Nacht wurdenvon den eifersüchtigen Gatten mit der Peitsche und dem Zaunpfahl gezüchtigt und nicht imedlen Zweikampf aus dem Sattel gehoben. Solche Schönen galten als Buhlerinnen und nichtals Sympathie und Anteilnahme verdienende Opfer der Leidenschaft. Unsere Altvordern liebtennach Gesetz und Recht oder auf kleinen Seitensprüngen, und sie legten ihrer Angebetetennicht das Herz zu Füßen, sondern zeigten ihr schon beizeiten die seidene Peitsche und hieltensich streng an die weise russische Regel: Lieb dein Weib von Herzen, rüttel sie wie einenBirnbaum oder klopfe sie aus wie einen Pelz. Allgemein gesprochen, lieben wir auch heutenicht ganz auf ritterliche Art, und Ausnahmen beweisen noch gar nichts.Was aber die lebendige, naturwahre Darstellung von Szenen aus dem Leben des einfachenVolkes anlangt, so bilde man sich nicht allzuviel auf sie ein. Im „Roslawlew“ gefällt mir sehrgut die Szene im Wirtshof, aber nur deshalb, weil dort der Charakter einer unserer Volksklassen,so, wie er sich in einer entscheidenden Stunde unse-[97]res Vaterlandes gezeigt hat, treffendgezeichnet ist. Sprichwörter, Redensarten und eine primitive Sprache bieten an sichnichts Unterhaltsames. Aus all dem Obengesagten geht hervor, daß unsere Volkstümlichkeitsich vorerst auf die naturgetreue Darstellung von Bildern aus dem Volksleben beschränkt,aber nicht den besonderen Geist und die besondere Richtung des russischen Wirkens erfaßt,die unabhängig vom Gegenstand und Inhalt gleicherweise in allen Werken zum Ausdruckkommen müßten. Jedermann weiß, daß die französischen Klassiker in ihren Tragödien diegriechischen und die römischen Helden gallifiziert haben. Das ist echte Volkstümlichkeit, diesich stets, auch in der falschen Darstellung, treu bleibt! Sie beruht auf der Denk- und Fühlweise,die diesem oder jenem Volke eigen ist. Ich glaube unverbrüchlich an die GenialitätGoethes, obgleich ich, da ich das Deutsche nicht beherrsche, äußerst wenig von ihm kenne.Aber, offen gestanden, ich glaube nicht recht an den Hellenismus seiner „Iphigenie“. Je größerdas Genie, desto mehr ist es ein Sohn seines Jahrhunderts, ein Bürger seiner Welt, undderartige Versuche, einen gänzlich fremden Volksgeist auszudrücken, laufen immer auf einemehr oder minder geglückte Imitation hinaus. Gibt es also in unserer Literatur Volksgeist indiesem Sinne? Nein. Und trotz allen edlen Wünschen der aufgeklärten Patrioten kann dasauch vorerst nicht der Fall sein. Unsere Gesellschaft ist noch zu jung und ungefestigt, sie hatsich noch nicht von der europäischen Vormundschaft frei gemacht, und ihre Physiognomie istnoch nicht klar herausgearbeitet und geformt. Den „Gefangenen im Kaukasus“, die „Fontänevon Bachtschissarai“ und die „Zigeuner“ hätte jeder europäische Dichter schreiben können,65 Anspielung auf die Romane „Juri Miloslawski oder die Russen im Jahre 1612“ und „Roslawlew oder dieRussen im Jahre 1812“ von Sagoskin.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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