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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 54nach am besten, daß wir keine Literatur und demzufolge auch keine Geschichte der Literaturhaben; denn keine Erscheinung in ihr ergab sich folgerichtig aus einer anderen Erscheinung,kein Ereignis entsprang einem andern Ereignis. Die Geschichte unseres Schrifttums ist nichtmehr und nicht minder als die Geschichte von verfehlten Versuchen, durch blinde Nachahmungder Auslandsliteraturen eine eigene Literatur zu schaffen, aber eine Literatur läßt sich nichtschaffen; sie entsteht ebenso wie die Sprache und die Gebräuche unabhängig vom Wollen undWissen des Volkes. Und so hörte denn im Jahre dreißig die Puschkinsche Periode auf, oderrichtiger, sie brach plötzlich ab, denn in diesem Jahr hörte Puschkin selbst auf, und mit ihm seinEinfluß; seither entrang sich seiner Leier fast keiner der einstigen Klänge mehr. Seine Gehilfen,seine Gefährten in der Kunst sangen ihre alten Lieder und sattsam bekannten Träume weiter,aber es hörte ihnen niemand mehr zu. Das Alte war allen schon zum Überdruß geworden, undetwas Neues bekam man von ihnen nicht zu hören, denn sie blieben auf der gleichen Linie stehen,bei der sie angefangen hatten, und wollten sich nicht von der Stelle rühren. Alle Zeitschriftengingen ein, als wären sie vom Schlagfluß oder tatsächlich vom Choleramorbus hingerafft.Die Ursache dieses jähen Todes oder dieser verheerenden Seuche war die gleiche wie die, infolgederen wir keine Literatur haben. Sie waren fast alle ohne zwingenden Grund, einfach ausLangerweile oder Sensationsbedürfnis entstanden und hatten daher weder eigenen Charakterund Selbständig-[90]keit noch Kraft oder Einfluß auf die Gesellschaft, und so sanken sie unbeweintin ihr frühes Grab. Nur für zwei von ihnen darf man eine Ausnahme machen! Nur zweikönnen mit reichen Ergebnissen aufwarten, die für den Betrachter interessant und lehrreichsind. Die eine, ein ehrwürdiger Greis, der einst unsere junge Gesellschaft am Gängelband führte,der von jeher eine enorme Autorität genoß und despotisch die literarischen Meinungen lenkte;die andere, ein Jüngling mit feurigem Herzen und edlem Drang zum Gemeinwohl, im Besitzaller Voraussetzungen, sein schönes Ziel zu erreichen, was ihm dennoch nicht gelang. Der„Westnik Jewropy“ hat etliche Generationen überlebt und etliche Generationen herangebildet,von denen die letzte, die er großgezogen hatte, erbittert gegen ihn revoltierte. Aber er blieb stetsder gleiche, wandelte sich nicht und kämpfte bis zum letzten Atemzug; es war ein edler, einaller Achtung werter Kampf, ein Kampf nicht um kleinliche, persönliche Vorteile, sondern uminnerste Auffassungen und Überzeugungen. Die Zeit und nicht die Gegner haben diese Zeitschriftgetötet, und daher war ihr Tod ein natürlicher und kein gewaltsamer. ** Interessant ist, daß Herr Katschenowski, der die Puschkingeneration gegen sich in Harnisch brachte und alsLiterat und Kritiker zur Zielscheibe ihrer heftigsten Anfeindungen und Verfolgungen wurde, in der nächstenGeneration als Gelehrter und Erforscher der vaterländischen Geschichte eifrige Anhänger und Verteidiger fand.Das ist übrigens keineswegs verwunderlich. Ein Mensch kann nicht alles in sich vereinen; allumfassender Verstandund vielseitiges Talent zugleich werden nur einigen wenigen Auserwählten zuteil. Daher lese man beiHerrn Gogol seine vorzüglichen Märchen und bei Herrn Katschenowski die Aufsätze über russische Geschichte,die entweder von ihm oder unter seinem leitenden Einfluß geschrieben sind, und gedenke dabei der lateinischenRedensart suum cuiqtte oder beser noch des weisen Ausspruchs unseres großen Fabeldichters:„Es taugt nicht, wenn der Schuster Brote bäcktUnd wenn der Bäcker Schuhe flickt.“*)Ich bin kein Gelehrter und habe nur sehr vage Begriffe von Geschichte. Ich urteile nicht als Fachmann, sondernals Laie, aber schließlich besteht das Publikum ja auch aus Laien. Deshalb verdient jede ehrliche Meinung einesLaien ein gewisses Maß von Beachtung, zumal wenn sie ein Widerhall der allgemeinen, d. h. herrschendenMeinung ist. Wir haben gegenwärtig zwei [91] historische Schulen, die von Schlözer und die von Herrn Katschenowski.Die eine stützt sich auf ihr Alter, auf Gewohnheit, auf die Achtung vor der Autorität ihres Begründers,die andere, soweit ich verstehe, auf den gesunden Menschenverstand und tiefe Gelehrtheit. Obzwar ichhinsichtlich dieser gänzlich ohne Schuld bin, erhebe ich doch einen gewissen Anspruch auf jenen, und daherwill es mir durchaus natürlich scheinen, daß die heutige Generation, die frei ist von Erinnerungen an die alteZeit und von den Vorurteilen der Autoritäten, die Geschichtsauffassung des Herrn Katschenowski mit Begeiste-OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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