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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 50witsch Bulgarin, und des Moskauer Walter Scott, Alexander Anfimowitsch Orlow, werdenjederzeit ein strahlendes Zweigestirn am Himmel unserer Literatur bilden. Der geistreicheKossitschkin hat die Vorzüge der besagten Berühmtheiten bereits miteinander verglichen undbeide nach Gebühr gewertet, und da ich nicht wiederholen möchte, was schon Kossitschkingesagt hat, spreche ich hier eine Meinung über Herrn Bulgarin aus, die zwar jetzt allgemeinverbreitet, aber schwarz auf weiß noch nicht niedergelegt ist. 57 Ist Herr Bulgarin tatsächlich[83] Herrn Orlow ganz gleichwertig? Nein, behaupte ich mit Bestimmtheit; denn als Schriftstellerim allgemeinen steht er unvergleichlich höher, als Künstler im besonderen jedoch einwenig tiefer als dieser. Möchten Sie den Hauptunterschied zwischen diesen beiden Leuchtenunseres Schrifttums erfahren? Der eine hat viel gesehen, viel gehört, viel gelesen, war und istüberall zu Hause. Der andere, der Arme! hat nicht nur Spanien niemals erblickt 58 , sondern istüberhaupt nicht über die Grenze Rußlands hinausgekommen; bei einer gewissen Bekanntschaftmit dem Lateinischen (die allerdings durch keine Horaz-Ausgabe 59 mit eigenen oderfremden Anmerkungen bewiesen ist), beherrscht er auch seine Muttersprache nicht besonders,und das ist kein Wunder: er hat keine Gelegenheit gehabt, den Reden der guten Gesellschaftzu lauschen. Der ganze Unterschied ist also, daß die Werke des einen glattgeölt undblankgebohnert wie Salonparketts sind, während die des anderen nach dem Trödelmarkt riechen.Erstaunlich ist übrigens eins: obzwar jeder der beiden für eine andere Klasse von Lesernschrieb, fanden sie ihr Publikum in ein und derselben Klasse. Und es ist anzunehmen,daß dieses Publikum mehr Zuneigung zu Alexander Anfimowitsch haben wird, weil er mehrDichter ist, im Gegensatz zu Faddej Wenediktowitsch, der mehr Philosoph ist, und die Poesiegeht allen Klassen leichter ein als die Philosophie.Fast gleichzeitig mit Puschkin betrat auch Herr Marlinski den literarischen Schauplatz. Er isteiner unserer allerbemerkenswertesten Schriftsteller. Er genießt heute unbedingt die denkbargrößte Autorität; heute liegt alles vor ihm auf den Knien; wenn ihn noch nicht alle Weit wieaus einem Munde den russischen Balzac nennt, so nur darum, weil man fürchtet, ihn dadurchherabzuwürdigen, und abwartet, daß die Franzosen ihren Balzac den französischen Marlinskinennen. In Erwartung dieses Wunders wollen wir einmal etwas kaltblütiger untersuchen,welche Anrechte er auf eine so enorme Autorität hat. Natürlich ist es eine gewagte Sache,gegen die öffentliche Meinung zu Felde zu ziehen und sich offen gegen ihre Idole aufzulehnen;aber ich wage es dennoch, weniger aus Kühnheit als aus selbstloser Wahrheitsliebe.Allerdings ermutigt mich in diesem Fall der Umstand, daß diese vielgefürchtet öffentlicheMeinung nach dem betäubenden Schlag, den ihr die Gesamtausgabe der „Russischen Novellenund Erzählungen“ des Herrn Marlinski versetzt hat, langsam wieder zu sich zu kommenbeginnt. Man munkelt etwas von [84] Künstelei, Manieriertheit, langweiliger Einförmigkeitu. a. m. Und so wage ich es, mich zum Sprachrohr der neuen öffentlichen Meinung zu machen.Ich weiß, daß diese neue Meinung noch auf allzu viele Gegner stoßen wird, aber sei es,wie es sei, die Wahrheit geht über alle Autoritäten der Welt.Bei der Öde an echten Talenten in unserer Literatur ist das Talent des Herrn Marlinski gewiß einesehr beachtenswerte Erscheinung. Er verfügt über unverfälschten Witz, ist ein guter, oft lebendigerund packender Erzähler, und bisweilen gelingt es ihm, allerliebste Bildchen nach der Natur zukopieren. Doch dabei muß man gestehen, daß sein Talent höchst einseitig ist, seine Ansprüche57 Der Verfasser des gegen Bulgarin gerichteten, mit dem Pseudonym F. Kossitschkin gezeichneten Artikels warPuschkin, der hier Bulgarin einem Kitschschriftsteller jener Zeit, A. A. Orlow, an die Seite stellte.58 Die Bemerkung, daß Orlow „Spanien niemals erblickt“ habe, enthält eine giftige Anspielung gegen Bulgarin,der im Jahre 1811 Rußland verriet und mit der napoleonischen Armee an den Feldzügen in Italien, Spanien undRußland teilnahm.59 Puschkin schrieb anläßlich der von Bulgarin herausgegebenen „Ausgewählten Odem von Horaz“, daß Bulgarinkein Latein verstünde.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 51auf feuriges Gefühl hingegen recht verdächtig sind, daß seine Werke der Tiefe, der Philosophieund der Dramatik entbehren; daß folglich alle seine Helden über einen Leisten geschlagen sindund sich lediglich durch den Namen unterscheiden; daß er sich in jedem neuen Werk wiederholt,daß man bei ihm mehr Phrasen als Gedanken, mehr rhetorische Interjektionen als Gefühlsausdrucktrifft. Wir haben wenige Schriftsteller, die so viel schreiben würden wie Herr Marlinski.Aber diese Fülle der Erzeugnisse entspringt nicht einer übermäßig starken Begabung, nicht einemÜberfluß an Schöpferkraft, sondern ist Gewohnheitssache, Schreibroutine. Wer auch nur einFünkchen Begabung besitzt, wer sich durch Lektüre gebildet und sich einen mäßigen Vorrat vonIdeen zugelegt und diesen einigermaßen den Stempel des eigenen Charakters, der eigenen Persönlichkeitaufgeprägt hat, der greife getrost zur Feder und schreibe von früh bis spät. Er wird esmit der Zeit zu der Kunst bringen, jederzeit und in jeder Gemütsverfassung über jeden beliebigenGegenstand schreiben zu können; bat er sich ein paar schwungvolle Monologe ausgedacht, sowird er mit Leichtigkeit einen Roman, ein Drama oder eine Novelle drumherum schreiben können;er gebe nur gut auf Form und Stil acht, die müssen originell sein.Man erkennt die Dinge am besten durch Vergleich. Wenn zwei Schriftsteller im gleichen Genreschreiben und eine gewisse Ähnlichkeit miteinander aufweisen, so kann man ihren wechselseitigenWert am besten ermessen, indem man Parallelen zwischen ihnen zieht; das ist derbeste Prüfstein. Man sehe sich Balzac an; wieviel hat dieser Mann geschrieben, und doch findetman in seinen Romanen auch nicht einen Charakter, eine Gestalt, die einer anderen annäherndähnlich wären. Oh, diese unerreichte Kunst, Charaktere mit allen Nuancen [85] ihrerIndividualität zu zeichnen! Hat Sie niemals der kalte, unheimliche Ferragus verfolgt und sichwie ein unablässiger Schatten an Ihre Fersen geheftet, so daß Sie ihn im Wachen und imTräumen vor sich sahen? Oh, unter Tausenden würden Sie ihn erkennen, und doch steht er inder Erzählung Balzacs im Schatten, ist nur wie im Vorübergehen flüchtig umrissen und vonanderen Figuren verdeckt, auf die sich das Hauptinteresse der Dichtung konzentriert. Weshalbruft dann diese Gestalt so starke Teilnahme hervor und hinterläßt so tiefe Spuren im Geiste desLesers? Das kommt daher, daß Balzac sie nicht erdacht, sondern erschaffen hat, daß sie ihmvorschwebte, bevor er noch die erste Zeile seiner Erzählung niederschrieb, daß sie denKünstler so lange quälte, bis er sie aus seiner inneren Welt heraus zur allgemein faßbaren Erscheinungformte. Wir sehen uns hier nur „Einen andern der Dreizehn“ an: Ferragus und Montriveausind offenbar Menschen vom gleichen Zuschnitt, Menschen mit Seelen so tief wie derMeeresgrund und einem Willen so unbezwinglich stark wie Schicksalsmacht. Und dennoch –frage ich Sie –: haben diese beiden Gestalten auch nur die leiseste Ähnlichkeit miteinander,haben sie auch nur irgend etwas gemeinsam? Wie viele Frauenporträts sind unter dem fruchtbarenPinsel Balzacs hervorgegangen, aber hat er sich dabei auch nur bei einem von ihnenwiederholt? ... Was zeigen uns nun in dieser Hinsicht die Schöpfungen des Herrn Marlinski?Sein Amallat-Beg, sein Oberst W. ...‚ sein Held aus der „Schaurigen Weissagung“, sein„Hauptmann Prawin“ – alle sind sie leibliche Brüder, die auch ihr Erzeuger selber nur mitMühe auseinanderhalten kann. Höchstens der erste unterscheidet sich ein wenig von den anderndurch sein asiatisches Kolorit. Wo bleibt da die künstlerische Gestaltung? Und dabeiwieviel Gezwungenheit! Man kann wohl sagen, daß die Gezwungenheit Herrn MarlinskisSteckenpferd ist, von dem er nur selten absteigt. Keine einzige seiner Personen gibt auch nurein Wort einfach von sich, sondern stets in Begleitung einer Grimasse, eines Epigramms, einesKalauers, einer Metapher. Kurz, bei Herrn Marlinski ist jede Kopeke eine Schaumünze undjedes Wort ein Schnörkel. Man muß ehrlich sagen, daß die Natur ihn reichlich mit jenem gutmütig-lustigenWitz ausgestattet hat, der stichelt, aber nicht durchbohrt, der kitzelt, aber nichtzubeißt. Doch auch hier tut er oft zu viel des Guten. Er hat lange Romane, wie z. B. die „Besuche“,geschrieben, die von A bis Z nichts als ein einziger großer Krampf sind. Er hat Talent,aber kein über-[86]mäßiges, und zwar ein Talent, das durch beständigen Zwang geschwächtist und sich an den Stöcken und Steinen eines gewaltsamen Witzes abgenutzt und wundgesto-OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 50witsch Bulgarin, und des Moskauer Walter Scott, Alexander Anfimowitsch Orlow, werdenjederzeit ein strahlendes Zweigestirn am Himmel unserer Literatur bilden. Der geistreicheKossitschkin hat die Vorzüge der besagten Berühmtheiten bereits miteinander verglichen undbeide nach Gebühr gewertet, und da ich nicht wiederholen möchte, was schon Kossitschkingesagt hat, spreche ich hier eine Meinung über Herrn Bulgarin aus, die zwar jetzt allgemeinverbreitet, aber schwarz auf weiß noch nicht niedergelegt ist. 57 Ist Herr Bulgarin tatsächlich[83] Herrn Orlow ganz gleichwertig? Nein, behaupte ich mit Bestimmtheit; denn als Schriftstellerim allgemeinen steht er unvergleichlich höher, als Künstler im besonderen jedoch einwenig tiefer als dieser. Möchten Sie den Hauptunterschied zwischen diesen beiden Leuchtenunseres Schrifttums erfahren? Der eine hat viel gesehen, viel gehört, viel gelesen, war und istüberall zu Hause. Der andere, der Arme! hat nicht nur Spanien niemals erblickt 58 , sondern istüberhaupt nicht über die Grenze Rußlands hinausgekommen; bei einer gewissen Bekanntschaftmit dem Lateinischen (die allerdings durch keine Horaz-Ausgabe 59 mit eigenen oderfremden Anmerkungen bewiesen ist), beherrscht er auch seine Muttersprache nicht besonders,und das ist kein Wunder: er hat keine Gelegenheit gehabt, den Reden der guten Gesellschaftzu lauschen. Der ganze Unterschied ist also, daß die Werke des einen glattgeölt undblankgebohnert wie Salonparketts sind, während die des anderen nach dem Trödelmarkt riechen.Erstaunlich ist übrigens eins: obzwar jeder der beiden für eine andere Klasse von Lesernschrieb, fanden sie ihr Publikum in ein und derselben Klasse. Und es ist anzunehmen,daß dieses Publikum mehr Zuneigung zu Alexander Anfimowitsch haben wird, weil er mehrDichter ist, im Gegensatz zu Faddej Wenediktowitsch, der mehr Philosoph ist, und die Poesiegeht allen Klassen leichter ein als die Philosophie.Fast gleichzeitig mit Puschkin betrat auch Herr Marlinski den literarischen Schauplatz. Er isteiner unserer allerbemerkenswertesten Schriftsteller. Er genießt heute unbedingt die denkbargrößte Autorität; heute liegt alles vor ihm auf den Knien; wenn ihn noch nicht alle Weit wieaus einem Munde den russischen Balzac nennt, so nur darum, weil man fürchtet, ihn dadurchherabzuwürdigen, und abwartet, daß die Franzosen ihren Balzac den französischen Marlinskinennen. In Erwartung dieses Wunders wollen wir einmal etwas kaltblütiger untersuchen,welche Anrechte er auf eine so enorme Autorität hat. Natürlich ist es eine gewagte Sache,gegen die öffentliche Meinung zu Felde zu ziehen und sich offen gegen ihre Idole aufzulehnen;aber ich wage es dennoch, weniger aus Kühnheit als aus selbstloser Wahrheitsliebe.Allerdings ermutigt mich in diesem Fall der Umstand, daß diese vielgefürchtet öffentlicheMeinung nach dem betäubenden Schlag, den ihr die Gesamtausgabe der „Russischen Novellenund Erzählungen“ des Herrn Marlinski versetzt hat, langsam wieder zu sich zu kommenbeginnt. Man munkelt etwas von [84] Künstelei, Manieriertheit, langweiliger Einförmigkeitu. a. m. Und so wage ich es, mich zum Sprachrohr der neuen öffentlichen Meinung zu machen.Ich weiß, daß diese neue Meinung noch auf allzu viele Gegner stoßen wird, aber sei es,wie es sei, die Wahrheit geht über alle Autoritäten der Welt.Bei der Öde an echten Talenten in unserer Literatur ist das Talent des Herrn Marlinski gewiß einesehr beachtenswerte Erscheinung. Er verfügt über unverfälschten Witz, ist ein guter, oft lebendigerund packender Erzähler, und bisweilen gelingt es ihm, allerliebste Bildchen nach der Natur zukopieren. Doch dabei muß man gestehen, daß sein Talent höchst einseitig ist, seine Ansprüche57 Der Verfasser des gegen Bulgarin gerichteten, mit dem Pseudonym F. Kossitschkin gezeichneten Artikels warPuschkin, der hier Bulgarin einem Kitschschriftsteller jener Zeit, A. A. Orlow, an die Seite stellte.58 Die Bemerkung, daß Orlow „Spanien niemals erblickt“ habe, enthält eine giftige Anspielung gegen Bulgarin,der im Jahre 1811 Rußland verriet und mit der napoleonischen Armee an den Feldzügen in Italien, Spanien undRußland teilnahm.59 Puschkin schrieb anläßlich der von Bulgarin herausgegebenen „Ausgewählten Odem von Horaz“, daß Bulgarinkein Latein verstünde.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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