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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 48bedient, deren jedes, für sich betrachtet, selbst stark genug ist, uns dem niederen Weltgetriebezu entreißen und uns in die unermeßlichen Gefilde des Erhabenen und Schönen emporzuheben?Was ist das also, frage ich Sie, dieses Theater? ... Oh, es ist der wahre Tempel der Kunst,bei dessen Betreten man augenblicks der Erde entrückt und von allen irdischen Banden befreitwird. Schon wenn im Orchester die Instrumente gestimmt werden, erfüllt eine wunderbar süßeErwartung uns das Herz, und das beklemmende Vorgefühl einer unerklärlichen Seligkeit beschleichtunsere Seele. Alle die Menschen, die das hohe Rund des Theaters füllen, teilen unsereungeduldige Erwartung, wir verschmelzen mit ihnen in einem einmütigen Gefühl; der prächtige,reichgeschmückte Vorhang, das Lichtermeer, alles deutet auf die Wunder und Herrlichkeitenhin, die über die ganze schöne Gotteswelt verteilt und hier auf dem engen Raum der Bühnevereinigt sind! Und nun setzt das Orchester ein, und unsere Seele kostet im voraus all die Eindrücke,die ihrer harren und sie überwältigen wollen; jetzt ist der Vorhang aufgegangen, undvor unsern Augen entrollt sich die unendliche Welt menschlicher Leidenschaften und Schicksale.Das flehende Jammern der sanften, liebenden Desdemona klingt in das wilde Gebrüll deseifersüchtigen Othello; in tiefer Mitternacht erscheint Lady Macbeth mit bloßem Busen undwallendem Haar und will vergebens die Blutstropfen von ihren Händen waschen, die sie inrächenden Gewissensqualen zu [80] sehen vermeint; der bleiche Hamlet tritt auf mit seinerSchicksalsfrage: Sein oder Nichtsein; der göttliche Träumer Posa zieht an Ihnen vorüber, undMax und Thekla 55 , die zwei Blumen des Paradieses mit ihrer himmlischen Liebe, kurz, dieganze grenzenlose, mannigfaltige Welt, die Shakespeare, Schiller, Goethe, Werner aus ihrerschöpfergewaltigen Phantasie hervorgezaubert haben... Hier leben wir nicht unser eigenes Leben,leiden wir nicht unser eigenes Leid, jubeln nicht über eigene Glückseligkeit und bangennicht um eigene Fährnis, hier löst sich unser kaltes Ich im glühenden Odem der Liebe auf.Wenn bedrückende Gedanken an die schweren Mühen des Lebens und die Hinfälligkeit unsererKräfte uns quälen – hier finden wir Vergessen; wenn unsere Seele je nach Liebe und Wonnelechzte, wenn je, einer nächtlichen Vision gleich, eine geliebte, längst vergessene Gestalt wieein unerfüllbarer Traum vor unserer Seele auftauchte – hier wird dies unser Verlangen mit neuer,unbändiger Kraft aufflammen, hier wird diese Gestalt von neuem uns erscheinen, wir werdenihre Augen sehnsuchtsvoll und hebend auf uns gerichtet sehen, werden uns berauschen anihrem himmlischen Atem, werden erbeben von der feurigen Berührung ihrer Hand... Aber läßtsich die Zaubermacht des Theaters, seine ganze magische Gewalt über die Menschenseeleüberhaupt beschreiben? ... Oh, wie schön wäre es, wenn wir unsere eigene russische Volksbühnebesäßen! Wahrlich, wenn man das ganze Russenland mit all seinem Guten und Schlechten,mit seinem Erhabenen und Lächerlichen auf der Bühne erblicken, wenn man seine glorreichen,durch die Kraft der Phantasie aus dem Grabe heraufbeschworenen Helden sprechen hören,wenn man den Pulsschlag seines gewaltigen Lebens fühlen könnte... Auf, auf, ins Theater! Dortsollt ihr leben und sterben, so ihr könnt!Doch leider ist das alles Poesie und nicht die Prosa, ein Traum und nicht die Wirklichkeit!Denn„Dort freilich, wo im SchaugeprängeMelpomene mit LeidenschaftVor einer stumpfen HörermengeDen flittergoldnen Mantel rafft“ 56 ‚dort, d. h. in jenem großen Haus, das sich das russische Theater nennt, dort, sage ich euch,findet man nur Parodien auf Shakespeare und Schiller, lächerliche, abstoßende Parodien, dortwerden Phan-[81]tasieverrenkungen als Tragödien ausgegeben, und man setzt Ihnen ein aufden Kopf gestelltes Leben vor!55 Max und Thekla aus Schillers Wallenstein“.56 Aus „Eugen Onegin“ (Siebentes Buch, Strophe L).OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 49Ich rate Ihnen, gehen Sie nicht dorthin; es ist ein sehr schales Vergnügen! ... Doch wollen wirnicht allzu streng über das Theater richten; es ist nicht schuld, wenn es so schlecht ist. Wosind unsere dramatischen Werke, wo unsere dramatischen Talente? Wo sind unsere Tragiker,unsere Komödiendichter? Es gibt ihrer viele, sehr viele, ihre Namen sind jedermann bekannt,und deshalb erspare ich mir, sie aufzuzählen, denn mein Lob würde nicht den großen Ruhmvermehren, den sie mit Recht genießen. Ich kehre also zu Gribojedow zurück.Gribojedows Komödie oder Drama (ich verstehe den Unterschied zwischen den beiden Wörternnicht ganz, und die Bedeutung des Wortes Tragödie ist mir vollends unklar) ging langeZeit im Manuskript von Hand zu Hand. Wie über alle hervorragenden Menschen wurde auchüber ihn viel gesprochen und gestritten. Er wurde von einigen unserer Genies beneidet, diegleichzeitig Kapnists „Angeber“ bewunderten, und jene Leute, die die Herren A. B., C. D., E.F. usw. bestaunten, wollten ihm keine Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber das Publikumentschied anders. Schon vor der Drucklegung und der Aufführung ergoß sich Gribojedowsnoch handschriftliche Komödie einer Sturmflut gleich über Rußland.Die Komödie ist nach meinem Dafürhalten genau so gut ein Drama wie das, was gemeinhin alsTragödie bezeichnet wird; Gegenstand der Komödie ist die Darstellung des wirklichen Lebens inseinem Widerspruch zur Idee des Lebens. Ihr Element ist nicht der harmlose Witz, der sich einzigund allein, um zu grinsen, über alles gutmütig lustig macht; nein, ihr Element ist jener galligeHumor, jene zornige Entrüstung, die nicht amüsiert lächelt, sondern grimmig lacht, die die Nichtigkeitund die Ichsucht nicht mit Epigrammen, sondern mit Sarkasmen geißelt. GribojedowsKomödie ist eine echte divina commedia * ! Sie ist alles, nur keine drollige Anekdote in Dialogform,keine Komödie, in der die handelnden Personen Liebherz, Schlauberg, Langfinger usw.heißen; ihre Gestalten sind uns aus der Wirklichkeit längst bekannt, wir sahen und kannten sie,bevor wir „Verstand schafft Leiden“ lasen, und doch bestaunen wir sie, als wären sie uns einegänzlich neue Erscheinung; das ist die höchste Wahrheit der dichterischen Erfindung! GribojedowsGestalten sind nicht ausgedacht, sondern in Lebensgröße der Natur abkonterfeit, [82] sindvom Grunde des realen Lebens geschöpft; sie tragen ihre Tugenden und ihre Laster nicht auf derStirn geschrieben, aber sie sind gestempelt mit dem Brandmal ihrer Nichtigkeit, gestempelt durchdie rächende Hand des Künstlers, der ihr Henker ist... Jeder Vers Gribojedows ist ein Sarkasmus,der sich in flammender Empörung der Seele des Künstlers entringt; sein Stil ist par excellence derder Umgangssprache. Unlängst bemerkte einer unserer beachtenswertesten Schriftsteller, derunsere Gesellschaft nur allzu gut kennt, daß nur Gribojedow die Redeweise unserer Gesellschaftin Verse zu fassen vermocht hat; zweifellos kostete ihn das nicht die geringste Mühe, was seingroßes Verdienst keineswegs verringert, denn die Umgangssprache unserer Komödiendichter...Aber ich versprach ja, nicht über unsere Komödiendichter zu sprechen... Gewiß, dieses Werk istin bezug auf seine Geschlossenheit nicht ohne Mängel, aber es war die erste Probe von GribojedowsTalent, die erste russische Komödie, ja mehr noch – alle Mängel, die ihm anhaften mögen,ändern nichts daran, daß es ein mustergültiges, geniales Werk ist, nicht nur in der russischenLiteratur, die mit Gribojedow ihren Shakespeare der Komödie verloren hat...Genug von den Versedichtern, reden wir über die Prosadichter. Wissen Sie, welcher Name inder Puschkinschen Periode unserer Literatur an erster Stelle steht? Der Name des Herrn Bulgarin,meine lieben Herrschaften! Das ist auch gar nicht verwunderlich. Herr Bulgarin warBahnbrecher, und Bahnbrecher sind, wie ich bereits die Ehre hatte Ihnen mitzuteilen, stetsunsterblich, und so erkühne ich mich, Ihnen zu versichern, daß der Name des Herrn Bulgarinim Bereich des russischen Romans ebenso unsterblich ist wie der Name des Moskauer EinwohnersMatwej Komarow ** . Die Namen des Petersburger Walter Scott, Faddej Wenedikto-* Göttliche Komödie** Komarow ist der Autor des „Polizion“, des „Englischen Lords“ und ähnlicher berühmter Werke. – W. B.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 49Ich rate Ihnen, gehen Sie nicht dorthin; es ist ein sehr schales Vergnügen! ... Doch wollen wirnicht allzu streng über das Theater richten; es ist nicht schuld, wenn es so schlecht ist. Wosind unsere dramatischen Werke, wo unsere dramatischen Talente? Wo sind unsere Tragiker,unsere Komödiendichter? Es gibt ihrer viele, sehr viele, ihre Namen sind jedermann bekannt,und deshalb erspare ich mir, sie aufzuzählen, denn mein Lob würde nicht den großen Ruhmvermehren, den sie mit Recht genießen. Ich kehre also zu Gribojedow zurück.Gribojedows Komödie oder Drama (ich verstehe den Unterschied zwischen den beiden Wörternnicht ganz, und die Bedeutung des Wortes Tragödie ist mir vollends unklar) ging langeZeit im Manuskript von Hand zu Hand. Wie über alle hervorragenden Menschen wurde auchüber ihn viel gesprochen und gestritten. Er wurde von einigen unserer Genies beneidet, diegleichzeitig Kapnists „Angeber“ bewunderten, und jene Leute, die die Herren A. B., C. D., E.F. usw. bestaunten, wollten ihm keine Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber das Publikumentschied anders. Schon vor der Drucklegung und der Aufführung ergoß sich Gribojedowsnoch handschriftliche Komödie einer Sturmflut gleich über Rußland.Die Komödie ist nach meinem Dafürhalten genau so gut ein Drama wie das, was gemeinhin alsTragödie bezeichnet wird; Gegenstand der Komödie ist die Darstellung des wirklichen Lebens inseinem Widerspruch zur Idee des Lebens. Ihr Element ist nicht der harmlose Witz, der sich einzigund allein, um zu grinsen, über alles gutmütig lustig macht; nein, ihr Element ist jener galligeHumor, jene zornige Entrüstung, die nicht amüsiert lächelt, sondern grimmig lacht, die die Nichtigkeitund die Ichsucht nicht mit Epigrammen, sondern mit Sarkasmen geißelt. GribojedowsKomödie ist eine echte divina commedia * ! Sie ist alles, nur keine drollige Anekdote in Dialogform,keine Komödie, in der die handelnden Personen Liebherz, Schlauberg, Langfinger usw.heißen; ihre Gestalten sind uns aus der Wirklichkeit längst bekannt, wir sahen und kannten sie,bevor wir „Verstand schafft Leiden“ lasen, und doch bestaunen wir sie, als wären sie uns einegänzlich neue Erscheinung; das ist die höchste Wahrheit der dichterischen Erfindung! GribojedowsGestalten sind nicht ausgedacht, sondern in Lebensgröße der Natur abkonterfeit, [82] sindvom Grunde des realen Lebens geschöpft; sie tragen ihre Tugenden und ihre Laster nicht auf derStirn geschrieben, aber sie sind gestempelt mit dem Brandmal ihrer Nichtigkeit, gestempelt durchdie rächende Hand des Künstlers, der ihr Henker ist... Jeder Vers Gribojedows ist ein Sarkasmus,der sich in flammender Empörung der Seele des Künstlers entringt; sein Stil ist par excellence derder Umgangssprache. Unlängst bemerkte einer unserer beachtenswertesten Schriftsteller, derunsere Gesellschaft nur allzu gut kennt, daß nur Gribojedow die Redeweise unserer Gesellschaftin Verse zu fassen vermocht hat; zweifellos kostete ihn das nicht die geringste Mühe, was seingroßes Verdienst keineswegs verringert, denn die Umgangssprache unserer Komödiendichter...Aber ich versprach ja, nicht über unsere Komödiendichter zu sprechen... Gewiß, dieses Werk istin bezug auf seine Geschlossenheit nicht ohne Mängel, aber es war die erste Probe von GribojedowsTalent, die erste russische Komödie, ja mehr noch – alle Mängel, die ihm anhaften mögen,ändern nichts daran, daß es ein mustergültiges, geniales Werk ist, nicht nur in der russischenLiteratur, die mit Gribojedow ihren Shakespeare der Komödie verloren hat...Genug von den Versedichtern, reden wir über die Prosadichter. Wissen Sie, welcher Name inder Puschkinschen Periode unserer Literatur an erster Stelle steht? Der Name des Herrn Bulgarin,meine lieben Herrschaften! Das ist auch gar nicht verwunderlich. Herr Bulgarin warBahnbrecher, und Bahnbrecher sind, wie ich bereits die Ehre hatte Ihnen mitzuteilen, stetsunsterblich, und so erkühne ich mich, Ihnen zu versichern, daß der Name des Herrn Bulgarinim Bereich des russischen Romans ebenso unsterblich ist wie der Name des Moskauer EinwohnersMatwej Komarow ** . Die Namen des Petersburger Walter Scott, Faddej Wenedikto-* Göttliche Komödie** Komarow ist der Autor des „Polizion“, des „Englischen Lords“ und ähnlicher berühmter Werke. – W. B.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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