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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 4Fürst Schalikow nachweist, gleich beim ersten Anhieb mit der Grammatik in Konflikt geriet,wahrscheinlich weil die Phantasie mit ihm durchging; ungeachtet dessen, daß unser Herr Kalaschnikowmit seinen üppigen Beschreibungen der uferlosen Öde Sibiriens – des russischenAmerikas – und mit der Ausmalung seiner wilden Schönheit einen Cooper glatt in die Taschegesteckt hat; ungeachtet dessen, daß unser genialer Baron Brambäus in seinem umfangreichenphantastischen Buch 10 Champollion und Cuvier, zwei große Scharlatane und Schwindler, diedas unwissende Europa bisher dumm genug war, für große Gelehrte zu halten, auf den Todblamiert und mit seinem beißenden Witz einen Voltaire, den prominentesten Witzbold undPossenreißer der Welt, an die Wand gedrückt hat; ungeachtet, sage ich, der überzeugenden undberedsamen Widerlegung des absurden Gedankens, wir hätten keine Literatur, einer Widerlegung,die der scharfsinnige asiatische Kritiker Tjutjundshi-Oglu 11 in der „Lesebibliothek“ mitso viel Geist und Verve vorgebracht hat – ungeachtet alles dessen wiederhole ich: wir habenkeine Literatur!... Uff, ich kann nicht mehr! Laßt mich Luft schöpfen – ich bin völlig außerAtem! ... Wirklich, nach einer so langen Periode wird sich sogar der Baron Brambäus räuspernmüssen, obgleich er selber ein großer Meister in gewaltigen Perioden ist... Was ist Literatur?Die einen sagen, unten der Literatur eines Volkes sei der gesamte Komplex seiner geistigenBetätigung zu verstehen, soweit sie ihren Niederschlag im Schrifttum findet. Demnach bestündezum Beispiel unsere Literatur aus der „Geschichte“ Karamsins und der „Geschichte“der Herren Emin und S. N. Glinka, den historischen Untersuchungen Schlözers, Ewers’, Katschenowskis,dem Aufsatz des Herrn Senkowski über die isländischen Sagas, aus den Physikbüchernvon Wellanski und Pawlow, der „Zerstörung des kopernikanischen Systems“,samt dem Broschürchen über die Wanzen und Küchenschaben; aus dem „Boris Godunow“von Puschkin und ein paar Szenen aus historischen Dramen mit obligaten Kohlsuppen und[8] Anisschnäpsen, den Oden Dershawins und der „Alexandreis“ des Herrn Swetschin usw.Wenn das stimmt, dann haben wir eine Literatur, und zwar eine Literatur, reich an klangvollenNamen und nicht minder klingenden Werken.Andere wiederum verstehen unter Literatur die Zusammenfassung einer bestimmten Anzahlschöngeistiger Werke, d. h. wie die Franzosen sagen, chefs-d’œuvre de littérature * . Auch indiesem Sinne haben wir eine Literatur, denn wir können mit mehr oder minder zahlreichenSchriften von Lomonossow, Dershawin, Chemnitzer, Krylow, Gribojedow, Batjuschkow,Shukowski, Puschkin, Oserow, Sagoskin, Lashetschnikow, Manlinski, Fürst Odojewski undnoch verschiedenen anderen aufwarten. Gibt es denn aber irgendeine Sprache auf Erden, dienicht wenigstens ein paar vorbildliche Kunstschöpfungen aufzuweisen hätte, und wären esauch nur Volkslieder? Ist es da verwunderlich, wenn Rußland, das an Raum ganz Europa undan Bevölkerungszahl jeden einzelnen europäischen Staat übertrifft, ist es verwunderlich,wenn dieses neue Römische Reich der Zahl nach mehr talentierte Männer hervorgebracht hatals beispielsweise ein Serbien, ein Schweden, ein Dänemark und andere Zwergländer? Das istnur ganz natürlich, und daraus folgt noch lange nicht, daß wir eine Literatur haben.Aber es gibt noch eine dritte Auffassung, die mit keiner der beiden vorhergehenden etwas gemeinhat, eine Auffassung, nach der der Name Literatur der Sammlung solcher künstlerischerSchriftwerke zukommt, die aus der freien Inspiration und den einmütigen (wenn auch unverabredeten)Bemühungen von Menschen hervorgehen, die für die Kunst geschaffen sind, nurfür sie leben und ohne sie zugrunde gehen müßten, von Menschen, die in ihren schöngeistigen10 Mit dem „umfangreichen phantastischen Buch“ ist die „Phantastische Reise des Barons Brambäus“ gemeint, inder zahlreiche Philosophen und Gelehrte von Weltruhm lächerlich gemacht werden, unter ihnen auch der französischeÄgyptologe Champollion und der französische Naturforscher Cuvier. Gleich nach dem Erscheinen des Buchestrat W. Odojewski in seinem Artikel „Über die Feinde der Aufklärung“ gegen diese grobe Taktlosigkeit auf.11 Tjutjundshi-Oglu ist ein weiteres Pseudonym von O. I. Senkowski.* Meisterwerke der LiteraturOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 5Werken vollauf den Geist des Volkes, in dem sie geboren und erzogen sind, dessen Leben sieteilen und dessen Geist sie atmen, ausdrücken und wiedergeben, die in ihren Schöpfungen dasinnere Leben und Weben ihres Volkes bis in seine geheimsten Tiefen und Regungen zumAusdruck bringen. Eine Literatur in diesem Sinne kennt in ihrer Geschichte keine Sprünge,und kann sie nicht kennen. Im Gegenteil, in ihr ist alles folgerichtig, natürlich, es gibt keinegewaltsamen oder erzwungenen Brüche, wie sie durch fremde Einflüsse zustande kommen.Eine solche Literatur kann nicht zugleich französisch, deutsch, englisch und italienisch sein.Dieser Gedanke ist nicht neu: er ist längst wohl tausendmal ausgesprochen worden. [9] Esscheint also keinen Grund zu geben, ihn zu wiederholen. Aber leider gibt es viele Binsenwahrheiten,die man bei uns tagaus, tagein immer von neuem wiederkäuen und zu aller Ohrenbringen muß. Ja, bei uns, deren literarische Meinungen so schwankend und vage und derenliterarische Probleme in so geheimnisvolles Dunkel gehüllt sind; bei uns, wo der eine denzweiten Teil des „Faust“ nicht leiden kann und der andere sich an der „Schwarzen Dame“ begeistert;wo der eine sich über die blutigen Greuel der „Lucrezia Borgia“ entrüstet und tausendandere sich an den Romanen der Herren Bulgarin und Orlow nicht satt lesen können; bei uns,wo das Publikum ein getreues Abbild der Menschheit nach dem Turmbau von Babel darstellt,wo der eine hü! und der andere hott! ruft; bei uns endlich, wo die Genie-Lorbeerkränze für sobilliges Geld verkauft und gekauft werden, wo sich jedes bißchen Gescheitheit mit der nötigenDreistigkeit und Skrupellosigkeit einen Namen machen und sich unter der Maske irgendeinesBarons 12 schamlos an allem Heiligen und Großen der Menschheit vergreifen kann; bei uns,bei denen ein Kaufvertrag auf die gesamte Literatur und alle ihre Genies so manchem geschäftstüchtigenJournal Tausende von Subskribenten verschafft; bei uns, wo läppische Faseleien,in denen die längst vergessene Gelahrtheit eines Tredjakowski und eines Emin fröhlicheUrständ feiert, als weltbewegende Artikel ausposaunt werden, die berufen seien, einen entscheidendenUmschwung in der russischen Geschichte herbeizuführen? ... Nein, es schreibe,rede, schreie ein jeder, in dessen Brust auch nur ein Fünkchen von uneigennütziger Liebe zumVaterland, zum Rechten und Wahren glüht. Ich sage nicht: Erkenntnis, denn viele traurigeErfahrungen haben uns gezeigt, daß Erkenntnis des Wahren und Gelehrsamkeit bei weitemnicht ein und dasselbe sind wie Unvoreingenommenheit und Gerechtigkeit...Rechtfertigt nun also unser Schrifttum die letzte der von mir eben angeführten Definitionendes Begriffes Literatur? Um diese Frage zu lösen, wollen wir einen flüchtigen Blick werfenauf die Entwicklung unserer Literatur von Lomonossow, ihrem ersten Genie, bis zu HerrnKukolnik, ihrem letzten.(Die nächste Nummer wird es zeigen) [10]Literarische Träumereien(Fortsetzung)„La vérité! La vérité, rienplus que la vérité!“ *„Wie, was wird das denn? Etwa gar ein Rundblick?“ höre ich meine entsetzten Leser fragen.Jawohl, meine verehrten Herren, zwar nicht ganz ein Rund. blick, aber doch so etwas Ähnliches.Also – silence! Doch was sehe ich? Sie verziehen das Gesicht, Sie zucken die Achseln,Sie rufen mir im Chor entgegen: „Nein, mein Lieber, der Trick ist alt, darauf fallen wir nicht12 Die Wendung „Unter der Maske irgendeines Barons“ enthält eine Anspielung auf denselben O. I. Senkowski(Baron Brambäus).* Die Wahrheit! Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit!OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.12.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 4Fürst Schalikow nachweist, gleich beim ersten Anhieb mit der Grammatik in Konflikt geriet,wahrscheinlich weil die Phantasie mit ihm durchging; ungeachtet dessen, daß unser Herr Kalaschnikowmit seinen üppigen Beschreibungen der uferlosen Öde Sibiriens – des russischenAmerikas – und mit der Ausmalung seiner wilden Schönheit einen Cooper glatt in die Taschegesteckt hat; ungeachtet dessen, daß unser genialer Baron Brambäus in seinem umfangreichenphantastischen Buch 10 Champollion und Cuvier, zwei große Scharlatane und Schwindler, diedas unwissende Europa bisher dumm genug war, für große Gelehrte zu halten, auf den Todblamiert und mit seinem beißenden Witz einen Voltaire, den prominentesten Witzbold undPossenreißer der Welt, an die Wand gedrückt hat; ungeachtet, sage ich, der überzeugenden undberedsamen Widerlegung des absurden Gedankens, wir hätten keine Literatur, einer Widerlegung,die der scharfsinnige asiatische Kritiker Tjutjundshi-Oglu 11 in der „Lesebibliothek“ mitso viel Geist und Verve vorgebracht hat – ungeachtet alles dessen wiederhole ich: wir habenkeine Literatur!... Uff, ich kann nicht mehr! Laßt mich Luft schöpfen – ich bin völlig außerAtem! ... Wirklich, nach einer so langen Periode wird sich sogar der Baron Brambäus räuspernmüssen, obgleich er selber ein großer Meister in gewaltigen Perioden ist... Was ist Literatur?Die einen sagen, unten der Literatur eines Volkes sei der gesamte Komplex seiner geistigenBetätigung zu verstehen, soweit sie ihren Niederschlag im Schrifttum findet. Demnach bestündezum Beispiel unsere Literatur aus der „Geschichte“ Karamsins und der „Geschichte“der Herren Emin und S. N. Glinka, den historischen Untersuchungen Schlözers, Ewers’, Katschenowskis,dem Aufsatz des Herrn Senkowski über die isländischen Sagas, aus den Physikbüchernvon Wellanski und Pawlow, der „Zerstörung des kopernikanischen Systems“,samt dem Broschürchen über die Wanzen und Küchenschaben; aus dem „Boris Godunow“von Puschkin und ein paar Szenen aus historischen Dramen mit obligaten Kohlsuppen und[8] Anisschnäpsen, den Oden Dershawins und der „Alexandreis“ des Herrn Swetschin usw.Wenn das stimmt, dann haben wir eine Literatur, und zwar eine Literatur, reich an klangvollenNamen und nicht minder klingenden Werken.Andere wiederum verstehen unter Literatur die Zusammenfassung einer bestimmten Anzahlschöngeistiger Werke, d. h. wie die Franzosen sagen, chefs-d’œuvre de littérature * . Auch indiesem Sinne haben wir eine Literatur, denn wir können mit mehr oder minder zahlreichenSchriften von Lomonossow, Dershawin, Chemnitzer, Krylow, Gribojedow, Batjuschkow,Shukowski, Puschkin, Oserow, Sagoskin, Lashetschnikow, Manlinski, Fürst Odojewski undnoch verschiedenen anderen aufwarten. Gibt es denn aber irgendeine Sprache auf Erden, dienicht wenigstens ein paar vorbildliche Kunstschöpfungen aufzuweisen hätte, und wären esauch nur Volkslieder? Ist es da verwunderlich, wenn Rußland, das an Raum ganz Europa undan Bevölkerungszahl jeden einzelnen europäischen Staat übertrifft, ist es verwunderlich,wenn dieses neue Römische Reich der Zahl nach mehr talentierte Männer hervorgebracht hatals beispielsweise ein Serbien, ein Schweden, ein Dänemark und andere Zwergländer? Das istnur ganz natürlich, und daraus folgt noch lange nicht, daß wir eine Literatur haben.Aber es gibt noch eine dritte Auffassung, die mit keiner der beiden vorhergehenden etwas gemeinhat, eine Auffassung, nach der der Name Literatur der Sammlung solcher künstlerischerSchriftwerke zukommt, die aus der freien Inspiration und den einmütigen (wenn auch unverabredeten)Bemühungen von Menschen hervorgehen, die für die Kunst geschaffen sind, nurfür sie leben und ohne sie zugrunde gehen müßten, von Menschen, die in ihren schöngeistigen10 Mit dem „umfangreichen phantastischen Buch“ ist die „Phantastische Reise des Barons Brambäus“ gemeint, inder zahlreiche Philosophen und Gelehrte von Weltruhm lächerlich gemacht werden, unter ihnen auch der französischeÄgyptologe Champollion und der französische Naturforscher Cuvier. Gleich nach dem Erscheinen des Buchestrat W. Odojewski in seinem Artikel „Über die Feinde der Aufklärung“ gegen diese grobe Taktlosigkeit auf.11 Tjutjundshi-Oglu ist ein weiteres Pseudonym von O. I. Senkowski.* Meisterwerke der LiteraturOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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