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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 39selbst beim verhängnisvollen Übergang über die Beresina, auf einem Ast hockend, sich miterstarrter Hand die Locken wickelten und mit dem traditionellen Puder bestreuten, währendringsum der Wintersturm des rachsüchtigen Nordens toste und starr vor Angst und Kälte Menschenzu Tausenden niederfielen ... So wurden die Franzosen, zutiefst betroffen von den gewaltigenGeschehnissen, nun gesetzter, solider und hörten auf, auf einem Bein zu hüpfen; daswar der erste Schritt zu ihrer Bekehrung zur Wahrheit. Alsbald erfuhren sie, daß ihre Nachbarn,diese täppischen Deutschen, die sie stets als ein Muster des schlechten Geschmacks hingestellthatten, eine Literatur besaßen, eine Literatur, die verdiente, eingehend und gründlichstudiert zu werden, und zugleich erfuhren sie, daß ihre eignen, über alles gelobten Dichter undPhilosophen dem Genius der Menschheit keineswegs Herkulessäulen errichtet hatten. Es istallgemein bekannt, wie das alles geschah, und deshalb möchte ich mich hier nicht weiter darüberauslassen, daß Chateaubriand der Taufpate und Madame de Staël die Hebamme der jungenRomantik in Frankreich gewesen sind. Ich sage nur, daß diese Romantik nichts andereswar als die Rückkehr zur Natürlichkeit und somit zur Ursprünglichkeit und Volksmäßigkeit inder Kunst, als die Bevorzugung der Idee gegenüber der Form und die Abschüttelung der fremden,beengenden Formen der Antike, die zu den Schöpfungen der modernen Kunst genau sopassen wie ein griechischer Chiton oder eine römische Toga zur Allongeperücke, zum betreßtenRock und den ausrasierten Backen. Daraus folgt, daß diese sogenannte Romantik eine sehralte Neuheit war und keineswegs ein Kind des 19. Jahrhunderts; sie war sozusagen der Volksgeistder neuen christlichen Welt Europas. Deutschland war von alters her ein vorwiegendromantisches Land, sowohl seiner feudalen Regierungsweise als der idealistischen Richtungseines Geisteslebens nach. Die Reformation hat dort den Katholizismus und mit ihm auch denKlassizismus umgebracht. Diese selbe Reformation, wenn auch in etwas anderer Form, hatauch England die Hände frei gemacht: Shakespeare war Romantiker. 38 Offenbar war dieRomantik nur für Frankreich etwas Neues und noch für die Staaten, die überhaupt keine Literaturbesaßen, wie Schweden, Dänemark usw. So stürzte sich Frankreich denn mit dem ganzenihm eigenen Elan auf diese alte Neuheit und riß auch die literaturlosen Länder mit. Das jungeSchrifttum ist nichts anderes als die Reaktion auf das alte; und da in Frankreich das gesellschaftliche[66] Leben und die Literatur Hand in Hand gehen, so braucht es nicht wunderzunehmen,wenn seine heutige Literatur sich durch Überschwenglichkeiten auszeichnet 39 ; reaktiveErscheinungen pflegen niemals gemäßigt zu sein. In Frankreich möchte heute jeder auspurer Mode so tiefgründig und willensstark sein wie etwa Ferragus 40 , so wie einst jedermann,gleichfalls aus Mode, flatterhaft, leichtfertig, vertrauensselig und unernst sein wollte.Und seltsam! Nie zuvor hat Europa ein so einmütiges und starkes Bestreben bekundet, dieFesseln des Klassizismus, des Scholastizismus, Pedantismus oder Idiotismus (das ist alles einund dasselbe) abzuschütteln wie eben jetzt. Byron, der andere Beherrscher unserer Geister 41 ,und Walter Scott erdrückten mit ihren Werken die Schule von Pope und Blair und gabenEngland die Romantik zurück. In Frankreich trat Victor Hugo auf mit einer ganzen Scharweiterer starker Talente, in Polen Mickiewicz, in Italien Manzoni, in Dänemark Öhlenschläger,in Schweden Tegnör. Und nur Rußland sollte keinen literarischen Luther hervorgebrachthaben?Der Klassizismus in Europa war nichts anderes als ein literarischer Katholizismus; was aberwar er in Rußland? Diese Frage ist unschwer zu beantworten: der Klassizismus in Rußland38 Ende 1839 änderte Belinski seine Anschauung und betrachtete Shakespeare und eine Reihe anderer Dichternicht mehr als Romantiker.39 Mit dem Ausdruck „junges Schrifttum“ bezeichnet Belinski hier die französische Romantik.40 Ferragus ist der Held der gleichnamigen ersten Erzählung aus Balzacs Novellen-Trilogie „Geschichte derDreizehn“.41 Die Wendung „der andere Beherrscher unserer Geister“ stammt aus Puschkins Gedicht „An das Meer“.OCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.12.2013

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