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W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 340scher Gott Ihnen diesen byzantinischen Gedanken verzeihen, falls Sie wirklich nicht wußten,was Sie taten, als Sie ihn zu Papier brachten... Vielleicht werden Sie mir sagen: „Angenommen,ich habe mich geirrt und alle meine Erwägungen sind falsch, warum spricht man miraber das Recht darauf ab, mich zu irren, und weigert sich, an die Aufrichtigkeit meiner Irrungenzu glauben ?“ Darum, antworte ich Ihnen, weil diese Geistesrichtung in Rußland längstnicht mehr neu ist. Sogar erst unlängst noch ist sie von Buratschok und seiner Kumpanei erschöpfendvertreten worden. [572] Natürlich steckt in Ihrem Buch mehr Geist und selbst Talent(wenngleich es am einen wie am andern nicht grade reich ist) als in deren Schriften; dafürhaben diese aber die auch von Ihnen geteilte Lehre mit größerer Energie und größererFolgerichtigkeit entwickelt, sind kühn bis zu den letzten Konsequenzen gegangen, haben sichganz dem byzantinischen Gott ergeben und Satan leer ausgehen lassen; während Sie, in derAbsicht, dein einen wie dem andern eine Kerze zu stiften, in Widersprüche geraten sind undz. B. Puschkin, die Literatur und das Theater gelten lassen, die von Ihrem Standpunkt aus,wären Sie auch nur so gewissenhaft, um konsequent zu sein, nicht im mindesten zur Rettung,dafür ungemein zur Verderbnis der Seele beitragen können... Wessen Kopf konnte sich wohlmit dem Gedanken an eine Identität Gogols und Buratschoks abfinden? Sie haben sich in derMeinung des russischen Publikums einen viel zu hohen Platz erobert, als daß es solche Überzeugungenbei Ihnen für aufrichtig halten konnte. Was bei Dummköpfen natürlich erscheint,kann nicht ebenso erscheinen bei einem genialen Menschen. Manche wollten sich schon beidem Gedanken beruhigen, Ihr Buch sei die Folge einer geistigen Störung, die an ausgesprochenenWahnsinn grenze. Aber sie gaben dieses Urteil bald wieder auf – es ist klar, daß IhrBuch nicht an einem Tag, in einer Woche oder einem Monat entstanden ist, sondern vielleichtim Laufe von ein, zwei oder auch drei Jahren; es hat Zusammenhang; durch die zwangloseDarstellungsweise blickt ein wohldurchdachter Plan hindurch, und der Hymnus auf die Obrigkeitist der irdischen Position des gottesfürchtigen Verfassers recht förderlich. So konntesich in Petersburg das Gerücht verbreiten, Sie hätten dieses Buch zu dem Zweck geschrieben,eine Anstellung als Erzieher beim Sohn des Thronfolgers zu bekommen. Schon vorher war inPetersburg Ihr Brief an Uwarow bekanntgeworden, in dem Sie betrübt davon reden, daß manIhre Werke in Rußland falsch auslege, und weiter Unzufriedenheit mit Ihren früheren Büchernäußern und erklären, Sie würden mit Ihren Schriften erst dann zufrieden sein, wennauch der Zar mit ihnen zufrieden sei. 4 Nun urteilen Sie selbst, soll man sich wundern, wennIhr Buch Sie in den Augen des Publikums sowohl als Schriftsteller wie auch mehr noch alsMensch herabgesetzt hat? ...Soweit ich sehe verstehen Sie das russische Publikum nicht recht. Seine Wesensart wirddurch den Zustand der russischen Gesellschaft bestimmt, in der neue Kräfte gären und zumDurchbruch drängen, [573] aber von einem schweren Joch bedrückt und, ohne einen Auswegfinden zu können, nur Pessimismus, Trübsal und Apathie verbreiten. Einzig in der Literaturgibt es trotz der tatarischen Zensur noch Leben und Vorwärtsentwicklung. Daher steht auchder Schriftstellerberuf bei uns so hoch in Ansehen und läßt sich literarischer Erfolg selbst beigeringem Talent so leicht erreichen. Der Titel Dichter, die Bezeichnung Schriftsteller habenbei uns längst den Flitterglanz der Epauletten und der farbenprächtigen Uniformen in denSchatten gestellt. Aus demselben Grunde wird bei uns jede sogenannte liberale Tendenz sobesonders mit allgemeiner Aufmerksamkeit ausgezeichnet, auch wenn die Begabung dürftigist, und sinkt die Beliebtheit selbst hochbegabter Schriftsteller so rasch, sobald sie sich, sei esaufrichtig oder unaufrichtig, zu Liebesdiensten für Orthodoxie, Autokratie und Volkstümeleihergeben. Ein frappantes Beispiel ist Puschkin, der nur zwei oder drei alleruntertänigste Gedichtezu schreiben und die Livree eines Kammerjunkers anzulegen brauchte, um sofort dieLiebe des Volkes zu verlieren! Und Sie sind sehr im Irrtum, falls Sie im Ernst annehmen daß4 Gogol hatte das alles wirklich in einem Brief vom April 1845 an den Grafen S. S. Uwarow geschrieben.OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 341Ihr Buch nicht wegen seiner üblen Tendenz durchgefallen sei, sondern wegen der Schroffheitder Wahrheiten, die Sie angeblich allen und jedem ins Gesicht gesagt haben. Gesetzt denFall, Sie könnten das von Ihren Kollegen von der Feder annehmen, wie aber konnte das Publikumin diese Kategorie geraten? Haben Sie ihm etwa im „Revisor“ und in den „Toten Seelen“weniger schroff, mit weniger Überzeugungskraft und Talent, weniger bittere Wahrheitenins Gesicht gesagt? Und wirklich raste die alte Schule damals vor Wut, aber das brachte den„Revisor“ und die „Toten Seelen“ nicht zu Fall, während Ihr letztes Buch schmählich undradikal durchgefallen ist! Und hier hat das Publikum recht, es sieht in den russischen Schriftstellernseine einzigen Führer, Beschützer und Erretter vor der russischen Autokratie, Orthodoxieund Volkstümelei und ist daher stets bereit, einem Schriftsteller ein schlechtes Buch zuverzeihen, wird ihm aber nie ein böswilliges verzeihen. Das zeigt, wieviel frisches, gesundesFeingefühl, wenn auch noch im Keim, in unserm Volke steckt, und das zeigt weiter, daß eseine Zukunft hat. Wenn Sie Rußland lieben, dann freuen Sie sich gemeinsam mit mir überden Mißerfolg Ihres Buches! ...Nicht ohne ein gewisses Gefühl der Genugtuung sage ich Ihnen, daß ich das russische Publikumein wenig zu kennen glaube. Ihr [574] Buch hat mich erschreckt, weil es einen ungünstigenEinfluß auf die Regierung, auf die Zensur, nicht aber auf das Publikum haben kann.Als in Petersburg das Gerücht umging, die Regierung wolle Ihr Buch in einer Auflage vonvielen Tausenden von Exemplaren drucken und möglichst wohlfeil in den Handel bringen,ließen meine Freunde die Köpfe hängen; ich sagte ihnen aber schon damals, daß das Buchallem zum Trotz keinen Erfolg haben und bald vergessen sein würde. Und tatsächlich ist esmehr durch all die Artikel bekannt geblieben, die darüber erschienen sind, als durch sichselbst. Ja, der russische Mensch hat einen tiefen, wenn auch noch nicht entwickelten Instinktfür Wahrheit.Ihre Bekehrung konnte, das gebe ich zu, auch aufrichtig sein, aber der Gedanke, dem Publikumvon ihr Kenntnis zu geben, war höchst unglücklich. Die Zeiten naiver Frömmigkeit sindauch für unsere Gesellschaft längst dahin. Sie weiß bereits, daß es sich überall gleich gut betenläßt und daß nur solche Leute Christus in Jerusalem suchen, die ihn entweder nie im Herzengetragen oder ihn verloren haben. Wer beim Anblick fremden Leids selbst zu leiden fähigist, wem es Qualen bereitet, wenn er fremde Menschen unterdrückt sieht – der trägt Christusim Herzen und der braucht nicht erst zu Fuß nach Jerusalem zu pilgern. 5 Die Demut, die Siepredigen, ist erstens nicht neu, und zweitens schmeckt sie einesteils nach furchtbarer Überheblichkeitund andernteils nach erbärmlichster, menschenunwürdiger Selbsterniedrigung.Der Gedanke, es durch Demut zu irgendeiner abstrakten Vollkommenheit zu bringen, sichüber alle andern zu erheben, kann die Frucht entweder des Dünkels oder des Schwachsinnssein und führt in beiden Fällen unvermeidlich zu Heuchelei, Scheinheiligkeit und Chinoiserie* . Und dabei haben Sie sich in Ihrem Buch nicht nur zynisch-schmutzige Äußerungen überandere erlaubt (das wäre nur unhöflich), sondern auch über Ihre eigene Person, und das istschon widerwärtig, denn wenn ein Mensch, der seinen Nächsten ins Gesicht schlägt, Entrüstunghervorruft, so ruft ein Mensch, der sich selbst ins Gesicht schlägt, Verachtung hervor.Nein, Sie sind nur verdüstert und nicht erleuchtet; Sie haben weder den Geist noch die Formdes heutigen Christentums erfaßt. Nicht die Wahrheit der christlichen Lehre, sondern krankhafteFurcht vor Tod, Teufel und Hölle schlägt einem aus Ihrem Buche entgegen.Und was soll diese Sprache, was sollen diese Ausdrücke? „Ein Lump und Jammerlappen ist5 Gogol hatte in den „Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden“ unter anderem seine Absichtzu verstehen gegeben, eine Pilgerfahrt nach Jerusalem anzutreten.* an chinesischen Vorbildern orientierte Richtung der europäischen Kunst, die besonders im 18. Jahrhundertpopulär wurde und auf die vermeintlich heile Welt der Chinesen verweisen solltenOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 341Ihr Buch nicht wegen seiner üblen Tendenz durchgefallen sei, sondern wegen der Schroffheitder Wahrheiten, die Sie angeblich allen und jedem ins Gesicht gesagt haben. Gesetzt denFall, Sie könnten das von Ihren Kollegen von der Feder annehmen, wie aber konnte das Publikumin diese Kategorie geraten? Haben Sie ihm etwa im „Revisor“ und in den „Toten Seelen“weniger schroff, mit weniger Überzeugungskraft und Talent, weniger bittere Wahrheitenins Gesicht gesagt? Und wirklich raste die alte Schule damals vor Wut, aber das brachte den„Revisor“ und die „Toten Seelen“ nicht zu Fall, während Ihr letztes Buch schmählich undradikal durchgefallen ist! Und hier hat das Publikum recht, es sieht in den russischen Schriftstellernseine einzigen Führer, Beschützer und Erretter vor der russischen Autokratie, Orthodoxieund Volkstümelei und ist daher stets bereit, einem Schriftsteller ein schlechtes Buch zuverzeihen, wird ihm aber nie ein böswilliges verzeihen. Das zeigt, wieviel frisches, gesundesFeingefühl, wenn auch noch im Keim, in unserm Volke steckt, und das zeigt weiter, daß eseine Zukunft hat. Wenn Sie Rußland lieben, dann freuen Sie sich gemeinsam mit mir überden Mißerfolg Ihres Buches! ...Nicht ohne ein gewisses Gefühl der Genugtuung sage ich Ihnen, daß ich das russische Publikumein wenig zu kennen glaube. Ihr [574] Buch hat mich erschreckt, weil es einen ungünstigenEinfluß auf die Regierung, auf die Zensur, nicht aber auf das Publikum haben kann.Als in Petersburg das Gerücht umging, die Regierung wolle Ihr Buch in einer Auflage vonvielen Tausenden von Exemplaren drucken und möglichst wohlfeil in den Handel bringen,ließen meine Freunde die Köpfe hängen; ich sagte ihnen aber schon damals, daß das Buchallem zum Trotz keinen Erfolg haben und bald vergessen sein würde. Und tatsächlich ist esmehr durch all die Artikel bekannt geblieben, die darüber erschienen sind, als durch sichselbst. Ja, der russische Mensch hat einen tiefen, wenn auch noch nicht entwickelten Instinktfür Wahrheit.Ihre Bekehrung konnte, das gebe ich zu, auch aufrichtig sein, aber der Gedanke, dem Publikumvon ihr Kenntnis zu geben, war höchst unglücklich. Die Zeiten naiver Frömmigkeit sindauch für unsere Gesellschaft längst dahin. Sie weiß bereits, daß es sich überall gleich gut betenläßt und daß nur solche Leute Christus in Jerusalem suchen, die ihn entweder nie im Herzengetragen oder ihn verloren haben. Wer beim Anblick fremden Leids selbst zu leiden fähigist, wem es Qualen bereitet, wenn er fremde Menschen unterdrückt sieht – der trägt Christusim Herzen und der braucht nicht erst zu Fuß nach Jerusalem zu pilgern. 5 Die Demut, die Siepredigen, ist erstens nicht neu, und zweitens schmeckt sie einesteils nach furchtbarer Überheblichkeitund andernteils nach erbärmlichster, menschenunwürdiger Selbsterniedrigung.Der Gedanke, es durch Demut zu irgendeiner abstrakten Vollkommenheit zu bringen, sichüber alle andern zu erheben, kann die Frucht entweder des Dünkels oder des Schwachsinnssein und führt in beiden Fällen unvermeidlich zu Heuchelei, Scheinheiligkeit und Chinoiserie* . Und dabei haben Sie sich in Ihrem Buch nicht nur zynisch-schmutzige Äußerungen überandere erlaubt (das wäre nur unhöflich), sondern auch über Ihre eigene Person, und das istschon widerwärtig, denn wenn ein Mensch, der seinen Nächsten ins Gesicht schlägt, Entrüstunghervorruft, so ruft ein Mensch, der sich selbst ins Gesicht schlägt, Verachtung hervor.Nein, Sie sind nur verdüstert und nicht erleuchtet; Sie haben weder den Geist noch die Formdes heutigen Christentums erfaßt. Nicht die Wahrheit der christlichen Lehre, sondern krankhafteFurcht vor Tod, Teufel und Hölle schlägt einem aus Ihrem Buche entgegen.Und was soll diese Sprache, was sollen diese Ausdrücke? „Ein Lump und Jammerlappen ist5 Gogol hatte in den „Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden“ unter anderem seine Absichtzu verstehen gegeben, eine Pilgerfahrt nach Jerusalem anzutreten.* an chinesischen Vorbildern orientierte Richtung der europäischen Kunst, die besonders im 18. Jahrhundertpopulär wurde und auf die vermeintlich heile Welt der Chinesen verweisen solltenOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

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