Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig Zur PDF-Datei... - Max Stirner Archiv Leipzig

max.stirner.archiv.leipzig.de
von max.stirner.archiv.leipzig.de Mehr von diesem Publisher
13.07.2015 Aufrufe

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 338ren Schöpfungen so machtvoll dazu beigetragen hat, daß Rußland sich seiner selbst bewußtwird, indem er ihm Gelegenheit gab, sich wie im Spiegel anzuschaun, mit einem Buch an dieÖffentlichkeit, in dem er im Namen Christi und der Kirche den barbarischen Gutsherrn, ausseinen Bauern noch mehr herauszupressen, sie noch mehr zu schmähen lehrt... Und so etwassollte mich nicht in Empörung versetzen? ... Ja, selbst wenn Sie mir nach dem Leben getrachtethätten, könnte ich Sie nicht mehr hassen als für diese schändlichen Zeilen... Und nachalldem wollen Sie, man solle an die Aufrichtigkeit der Tendenz ihres Buches glauben! Nein!Wenn Sie wirklich der Wahrheit Christi und nicht des Teufels Lehre teilhaftig wären, Siehätten in Ihrem neuen Buch nicht so etwas geschrieben. Sie hätten dem Gutsherrn gesagt, daßer, da der Bauer sein Bruder in Christo ist und der Bruder nicht seines Bruders Sklave seinkann, den Bauern entweder die Freiheit geben oder sich wenigstens ihrer Arbeit zu ihremeigenen, denkbar größten Nutzen bedienen, sich dabei aber in der Tiefe seines Gewissensstets der Zweideutigkeit seiner Lage ihnen gegenüber bewußt sein müsse.Und der Ausdruck: „Ach, du ungewaschene Schnauze!“ Ja, welchem Nosdrew oder welchemSobakewitsch haben Sie denn diesen Ausdruck abgelauscht, um ihn nachher der Welt als einegroße Entdeckung zu Nutz und Frommen der Bauern zu unterbreiten, die sich ohnedies nichtwaschen, weil sie ihren Herren glauben und sich da-[569]her nicht für Menschen halten? UndIhre Vorstellungen von dem nationalrussischen Gericht und Strafvollzug, deren Ideal Sie inder dummen Redensart „man peitsche den Schuldigen wie den Unschuldigen“ gefunden haben?So wird’s ja bei uns ohnehin gewöhnlich gemacht, obschon häufig genug nur der Unschuldigedie Peitsche kriegt, wenn er nämlich nichts hat, um sich von dem Vergehen freizukaufen,und dann sagt eine andere Redensart: „Schuldlos schuldig.“ Und ein solches Buchsoll die Frucht eines schwierigen inneren Prozesses, einer erhebenden geistigen Erleuchtunggewesen sein! Ausgeschlossen! Entweder sind Sie krank, und dann sollten Sie schleunigstHeilung suchen, oder... ich wage es nicht, meinen Gedanken auszusprechen!Prediger der Knute, Apostel der Ignoranz, Vorkämpfer für Obskurantismus und Dunkelmännertum,Verherrlicher tatarischer Sitten – was tun Sie? Blicken Sie auf die Erde nieder – Siestehen ja am Rande eines Abgrunds! ... Daß Sie sich mit einer solchen Lehre auf die orthodoxeKirche stützen, kann ich noch verstehen: sie war von jeher ein Bollwerk der Knute und eineHandlangerin des Despotismus. Aber warum haben Sie Christus mit ins Spiel gezogen? Washaben Sie Gemeinsames zwischen ihm und irgendeiner, vor allem aber der orthodoxen Kircheentdeckt? Er brachte den Menschen als erster die Lehre von der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeitund besiegelte und bekräftigte mit seinem Martertod die Wahrheit seiner Lehre. Undsie war nur so lange eine Heilslehre für die Menschen, bis sie sich zur Kirche organisierte unddie Orthodoxie zu ihrem Grundprinzip erhob. Die Kirche aber trat als Hierarchie in Erscheinung,mithin als Vorkämpferin der Ungleichheit, als Liebediener der weltlichen Macht, alsGegner und Verfolger der Brüderlichkeit unter den Menschen – was sie auch bis auf den heutigenTag geblieben ist. Aber der Sinn des Wortes Christi ist durch die philosophische Bewegungdes vorigen Jahrhunderts aufgedeckt worden. Und das ist der Grund, warum ein Voltaire,der mit der Waffe des Spottes in Europa die Scheiterhaufen des Fanatismus und der Ignoranzauslöschte, selbstredend mehr ein Sohn Christi, mehr Fleisch von seinem Fleisch undBlut von seinem Blut ist als alle Ihre Popen, Bischöfe, Metropoliten und Patriarchen! SolltenSie das wirklich nicht wissen? Das ist doch heutzutage für keinen Gymnasiasten eine Neuigkeitmehr... Und da konnten wirklich Sie, der Verfasser des „Revisor“ und der „Toten Seelen“,da konnten Sie [570] ehrlichen und aufrichtigen Herzens einen Lobgesang auf die schmierigerussische Geistlichkeit anstimmen und sie dabei unvergleichlich höher stellen als die katholische?Nehmen wir einmal an, Sie wüßten nicht, daß die letztere einstmals etwas war, währenddie erstere niemals etwas gewesen ist, außer ein Diener und Sklave der weltlichen Macht; aberwissen Sie denn wirklich und wahrhaftig nicht, daß unsere Geistlichkeit in der russischen Ge-OCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 339sellschaft und im russischen Volk allgemein verachtet wird? Über wen erzählt sich das russischeVolk zotige Geschichtchen? Über den Popen, die Popenfrau, die Popentochter, den Popenknecht.Ist der Pope in Rußland nicht für jedermann der Inbegriff der Gefräßigkeit, desGeizes, der Unterwürfigkeit und der Schamlosigkeit? Und Sie tun so, als wüßten Sie das allesnicht? Seltsam! Ihrer Ansicht nach ist kein Volk der Erde so religiös wie das russische: Lüge!Die Grundlage der Religiosität sind Pietismus, Demut, Gottesfurcht. Der Russe aber kratztsich, wenn er den Namen Gottes ausspricht, an einer gewissen Stelle. Und vom Heiligenbildsagt er: „Taugt’s was, beten wir vor ihm, taugt’s nichts, decken wir Töpfe mit zu.“Blicken Sie schärfer hin, und Sie werden sehen, daß es ein von Natur tief atheistisches Volkist. Es steckt zwar noch viel Aberglauben in ihm, aber keine Spur von Religiosität. Der Aberglaubeverschwindet mit fortschreitender Zivilisation, die Religiosität dagegen verträgt sichoft recht gut auch mit ihr, wofür wir ein lebendiges Beispiel in Frankreich haben, wo es auchheute noch unter aufgeklärten und gebildeten Menschen zahlreiche aufrichtige Katholikengibt und wo viele, die sich vom Christentum losgelöst haben, auch weiterhin beharrlich aneinem Gott festhalten. Das russische Volk ist von anderm Schlag: mystische Exaltiertheitliegt ihm nicht; dafür hat es zu viel gesunden Sinn, Klarheit und nüchternen Verstand imKopf, und darauf beruht vielleicht die gewaltige Größe seines historischen Schicksals in derZukunft. Die Religiosität steckt bei ihm nicht einmal den Geistlichen im Blut, denn die paareinzelnen, außerordentlichen Persönlichkeiten, die sich durch solchen kühlen, kontemplativenAsketismus hervorgetan haben, beweisen gar nichts. Die Mehrzahl unserer Popen hat sichvon jeher nur durch feiste Bäuche, scholastische Pedanterie und dazu noch haarsträubendeUnwissenheit ausgezeichnet. Ihnen religiöse Intoleranz und Fanatismus vorzuwerfen, wäregrundfalsch, man könnte sie eher für mustergültige Indifferenz in Glaubensdingen beloben.Religiosität ist bei uns nur in den [571] Sekten der Spalter zutage getreten, die ihrem Geistnach in solchem Gegensatz zur Masse des Volkes stehen und ihr gegenüber zahlenmäßig sounbedeutend sind.Ich will mich nicht weiter über Ihren Dithyrambus auf den Herzensbund des russischen Volkesmit seinen Herrschern auslassen. Ich sage geradezu: dieser Dithyrambus * hat nirgendsSympathie erweckt und hat Sie sogar in den Augen von Leuten herabgesetzt, die Ihnen ihrerRichtung nach sonst sehr nahestehen. Was mich persönlich anlangt, überlasse ich es IhremGewissen, sich weiter an der Betrachtung der göttlichen Schönheit der Autokratie zu berauschen(das ist nicht riskant und zudem – vorteilhaft); bloß sollten Sie es vernünftigerweiseauch weiterhin aus Ihrer „schönen Ferne“ tun: aus der Nähe ist es nicht so schön und auchnicht ganz so ungefährlich... Ich will nur das eine bemerken: wenn ein Europäer, besondersein Katholik, vom religiösen Geist ergriffen wird, so wird er zu einem Ankläger der ungerechtenMacht, gleich den jüdischen Propheten, die die Willkür der Mächtigen dieser Erde anden Pranger stellten. Bei uns dagegen ist es umgekehrt: wird einmal ein Mann (er mag sonstredlich sein) von jener Krankheit befallen, die bei den Nervenärzten den Namen religiosamania ** führt, dann bringt er dem irdischen Gott alsbald mehr Weiheopfer dar als dem himmlischenund haut dabei dermaßen über die Schnur, daß jener, wenn er ihn auch gern für seinenknechtischen Eifer belohnen möchte, doch ein sieht, daß er sich damit in den Augen der Gesellschaftnur kompromittieren würde... Eine Bestie ist unser Bruder, der russische Mensch!Dabei fällt mir ein, daß Sie in Ihrem Buch als große, unumstößliche Wahrheit behaupten, dieKenntnis des Lesens und des Schreibens sei für das einfache Volk nicht nur nicht nützlich,sondern ausgesprochen schädlich. Was soll ich Ihnen hierauf entgegnen? Möge Ihr byzantini-* Gattung der antiken griechischen Chorlyrik, ein Hymnos zu Ehren des Gottes Dionysos, vorgetragen im Rahmender Dionysien im Wechselgesang zwischen Chor und Vorsinger.** religiöser WahnOCR-Texterkennung Max Stirner Archiv Leipzig – 23.11.2013

W. G. Belinski – Ausgewählte philosophische Schriften – 339sellschaft und im russischen Volk allgemein verachtet wird? Über wen erzählt sich das russischeVolk zotige Geschichtchen? Über den Popen, die Popenfrau, die Popentochter, den Popenknecht.Ist der Pope in Rußland nicht für jedermann der Inbegriff der Gefräßigkeit, desGeizes, der Unterwürfigkeit und der Schamlosigkeit? Und Sie tun so, als wüßten Sie das allesnicht? Seltsam! Ihrer Ansicht nach ist kein Volk der Erde so religiös wie das russische: Lüge!Die Grundlage der Religiosität sind Pietismus, Demut, Gottesfurcht. Der Russe aber kratztsich, wenn er den Namen Gottes ausspricht, an einer gewissen Stelle. Und vom Heiligenbildsagt er: „Taugt’s was, beten wir vor ihm, taugt’s nichts, decken wir Töpfe mit zu.“Blicken Sie schärfer hin, und Sie werden sehen, daß es ein von Natur tief atheistisches Volkist. Es steckt zwar noch viel Aberglauben in ihm, aber keine Spur von Religiosität. Der Aberglaubeverschwindet mit fortschreitender Zivilisation, die Religiosität dagegen verträgt sichoft recht gut auch mit ihr, wofür wir ein lebendiges Beispiel in Frankreich haben, wo es auchheute noch unter aufgeklärten und gebildeten Menschen zahlreiche aufrichtige Katholikengibt und wo viele, die sich vom Christentum losgelöst haben, auch weiterhin beharrlich aneinem Gott festhalten. Das russische Volk ist von anderm Schlag: mystische Exaltiertheitliegt ihm nicht; dafür hat es zu viel gesunden Sinn, Klarheit und nüchternen Verstand imKopf, und darauf beruht vielleicht die gewaltige Größe seines historischen Schicksals in derZukunft. Die Religiosität steckt bei ihm nicht einmal den Geistlichen im Blut, denn die paareinzelnen, außerordentlichen Persönlichkeiten, die sich durch solchen kühlen, kontemplativenAsketismus hervorgetan haben, beweisen gar nichts. Die Mehrzahl unserer Popen hat sichvon jeher nur durch feiste Bäuche, scholastische Pedanterie und dazu noch haarsträubendeUnwissenheit ausgezeichnet. Ihnen religiöse Intoleranz und Fanatismus vorzuwerfen, wäregrundfalsch, man könnte sie eher für mustergültige Indifferenz in Glaubensdingen beloben.Religiosität ist bei uns nur in den [571] Sekten der Spalter zutage getreten, die ihrem Geistnach in solchem Gegensatz zur Masse des Volkes stehen und ihr gegenüber zahlenmäßig sounbedeutend sind.Ich will mich nicht weiter über Ihren Dithyrambus auf den Herzensbund des russischen Volkesmit seinen Herrschern auslassen. Ich sage geradezu: dieser Dithyrambus * hat nirgendsSympathie erweckt und hat Sie sogar in den Augen von Leuten herabgesetzt, die Ihnen ihrerRichtung nach sonst sehr nahestehen. Was mich persönlich anlangt, überlasse ich es IhremGewissen, sich weiter an der Betrachtung der göttlichen Schönheit der Autokratie zu berauschen(das ist nicht riskant und zudem – vorteilhaft); bloß sollten Sie es vernünftigerweiseauch weiterhin aus Ihrer „schönen Ferne“ tun: aus der Nähe ist es nicht so schön und auchnicht ganz so ungefährlich... Ich will nur das eine bemerken: wenn ein Europäer, besondersein Katholik, vom religiösen Geist ergriffen wird, so wird er zu einem Ankläger der ungerechtenMacht, gleich den jüdischen Propheten, die die Willkür der Mächtigen dieser Erde anden Pranger stellten. Bei uns dagegen ist es umgekehrt: wird einmal ein Mann (er mag sonstredlich sein) von jener Krankheit befallen, die bei den Nervenärzten den Namen religiosamania ** führt, dann bringt er dem irdischen Gott alsbald mehr Weiheopfer dar als dem himmlischenund haut dabei dermaßen über die Schnur, daß jener, wenn er ihn auch gern für seinenknechtischen Eifer belohnen möchte, doch ein sieht, daß er sich damit in den Augen der Gesellschaftnur kompromittieren würde... Eine Bestie ist unser Bruder, der russische Mensch!Dabei fällt mir ein, daß Sie in Ihrem Buch als große, unumstößliche Wahrheit behaupten, dieKenntnis des Lesens und des Schreibens sei für das einfache Volk nicht nur nicht nützlich,sondern ausgesprochen schädlich. Was soll ich Ihnen hierauf entgegnen? Möge Ihr byzantini-* Gattung der antiken griechischen Chorlyrik, ein Hymnos zu Ehren des Gottes Dionysos, vorgetragen im Rahmender Dionysien im Wechselgesang zwischen Chor und Vorsinger.** religiöser WahnOCR-Texterkennung <strong>Max</strong> <strong>Stirner</strong> <strong>Archiv</strong> <strong>Leipzig</strong> – 23.11.2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!